Johannes Schlaf: Meister Oelze. Drama in drei Aufzügen
Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Heinrich Wilhelm Trübner, Der Sargtischler, 1871
ISBN 978-3-7437-0269-1
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-7437-0224-0 (Broschiert)
ISBN 978-3-7437-0225-7 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck: Berlin (Fischer) 1892. Erste öffentliche Aufführung am Ostersonntag 1900 in Magdeburg.
Der Text dieser Ausgabe folgt:
Naturalismus – Dramen. Lyrik. Prosa. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ursula Münchow, Band 2: 1892–1899, Berlin und Weimar: Aufbau, 1970.
Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.
Franz Oelze, Tischlermeister.
Mariechen, ihre Tochter.
Rese, seine Frau.
Frau Weidenhammer.
Emil, ihr Sohn.
Patschke, der Geselle.
Die alte Frau Oelze.
Frau Kramer.
Pauline, Oelzes Stiefschwester.
Zeit: Gegenwart. – Die beiden ersten Aufzüge spielen an demselben Abend; der dritte Aufzug spielt einige Tage später.
Ort: Ein mitteldeutscher Marktflecken.
Das ganze Drama in thüringisch-sächsischer Dialektfärbung.
Ein mittelgroßes, düstres, dunkeltapeziertes Wohnzimmer mit niedriger, getünchter, rauchgebräunter Decke, die von zwei dicken Balken durchquert ist, an denen Kräuter zum Trocknen, ein Vogelbauer, Mützen usw. hängen.
In der Mitte des Hintergrundes steht ein großes Familiensofa. Darüber ein runder Spiegel; um diesen herum gruppiert Photographien und Silhouetten. Rechts vom Sofa die Kammertür; links vom Sofa eine Tür, die auf den Hausflur führt. Über ihr hängt ein großer Erntekranz aus Roggenstroh mit Blumen, Fähnchen, Schleifen und Bändern aus buntem Papier. Links von der Tür, in der Ecke, der Kasten einer alten Standuhr. – An der linken Seitenwand, zwei niedrige, tiefnischige Fenster mit Zwirngardinen und Blumenstöcken;[177] draußen vor den Fenstern Weinlaub. Am Zwischenpfeiler, auf einem Fenstertritt, ein Tischchen mit allerlei Nähgerät. Vor jedem Fenster ein Rohrstuhl. – An der rechten Seitenwand, in der Mitte, ein großer, grünglasierter Kachelofen mit einer ringsherumlaufenden Ofenbank. Auf dem Ofen Horden, auf denen Obst dörrt. Links vom Ofen, gegen den Hintergrund, ein großer dunkelpolierter Kleiderschrank mit Vasen aus buntem Glas drauf, Büchern und einem ausgestopften Vogel. Rechts vom Ofen, gegen den Vordergrund, ein großer, altmodisch gepolsterter Sorgenstuhl mit einer gestickten Schlummerrolle. Darüber in vergoldetem Rahmen die Photographie eines alten Mannes. – In der Mitte des Raumes steht ein großer Eßtisch mit Rohrstühlen ringsherum. Der Fußboden ist mit Läufern bedeckt.
Das Zimmer liegt in einem dämmrigen Herbstnachmittagslicht. Von Zeit zu Zeit während des Gesprächs zwischen Pauline und Mariechen noch ein flüchtiger Sonnenblick. – In Pausen Windgebrause. – Pfeifen im Schornstein. – Gegen Ende des Aufzugs steigert sich der Wind.
Vor dem Nähtischchen, nach der Tür zu, sitzt Pauline. Sie schläft, zurückgelehnt, die Hände lässig über eine Weißnäherei auf ihrem Schoß weg. Sie ist eine kräftige Frau in der Mitte der Vierziger mit hübschen derben, energischen Gesichtszügen. Glatt nach beiden Seiten gescheiteltes Haar. Ein einfaches, kattunenes Hauskleid. – Zu ihren Füßen sitzt Mariechen auf dem Fenstertritt mit einem Strickstrumpf beschäftigt.
Nach Aufgang des Vorhangs eine Pause. Dann draußen vom Flur her ein lauter, greller Aufschrei von einer Weiberstimme.
MARIECHEN schrickt zusammen. Mutterchen!
Pauline schläft weiter. Eine Weile bleibt es still; dann ein zweiter Schrei, der in ein langgezogenes Heulen verläuft. Die Schreie und das darauffolgende Heulen während des folgenden Gesprächs in Pausen.[178]
MARIECHEN läßt den Strickstrumpf fallen; klammert sich an Pauline; angstvoll aufweinend. Mutterchen, ach Mutterchen!!
PAULINE schrickt auf; verschlafen. Hm?! – Na?! Reibt sich die Augen. Was ... Was is ... hast 'enn?! Horcht. Stille mal!!
MARIECHEN stammelnd. Die ... die alte – Großmutter ...
PAULINE beugt sich gegen die Tür vor, lauscht einen Augenblick und will dann in die Höhe; hastig. Laß mich mal! – Ich – will mal ...
MARIECHEN sich dichter gegen sie drängend. Ach nee, Mutterchen, nee!!
PAULINE. Dumme Gans! – Der Onkel schläft je hinten in der Kammer!
MARIECHEN. Ach nee! Nee! – Ich ...
PAULINE. Stille!
Beide lauschen.
MARIECHEN. ... ferchte mich so!
PAULINE. Äh! Hab dich nich! – Laß mich los! De zerrst een'm je de Kleider vom Leibe!
Steht auf, tritt zur Tür und lauscht einen Augenblick hinaus.
MARIECHEN. Geh nich! Geh nich naus, Mutterchen!
PAULINE von der Tür her ärgerlich, nachdrücklich. Stille mal!! Horcht. Das Heulen draußen verliert sich. Das is wohl was, wenn de mal e Oogenblickchen alleene bleibst! – So e altes großes Mächen! – Schäme dich! – Beißt dich denn wer?! – Hä?!
MARIECHEN beschämt. Nee.
PAULINE. Na also!
Sie horcht noch einen Augenblick, seufzt, und geht wieder zu ihrem Stuhl; setzt sich.
MARIECHEN stammelnd. Horch doch, Mutterchen! Se hört je schon widder uf.
PAULINE ihre Arbeit wieder aufnehmend, ärgerlich. Äh! Du sollst nich uf sagen! Kannste denn nich orndlich deitsch sprechen?! Lernt 'r denn das nur in der Schule?!
MARIECHEN. Nee.
PAULINE. Na, nu rück mal e bißchen vor! Mer kann sich je[179] nich riehrn! – Äh, sei vernünft'g! – Nu?! – Herrje, de zitterst je orndlich?!
MARIECHEN. Ich – hawwe mich so – erschrocken.
PAULINE, sie streichelnd. Na, na, na! Mei armer kleener Affe!
MARIECHEN. Die alte Großmutter wird wohl nich widder gesund, Mutterchen?
PAULINE. Nee! Du lieber Gott!
Kleine Pause. Pauline näht.
MARIECHEN. Hu! 's is schon so finster!
PAULINE. Ja.
MARIECHEN. Du! Mutterchen!
PAULINE. Na?
MARIECHEN. Reisen mer nu bald widder nach Hause?
PAULINE. Gefällt dir's denn hier nich mehr?
MARIECHEN. Ach nee, gar nich.
PAULINE. Awwer du sollst mer hier doch widder rote Backen kriegen, du?
MARIECHEN. Ach, zu Hause is es doch besser. Wemmersch auch nich so gut hamm wie die hier. Un wenn ich auch in de Schule muß. Un wenn ... wenn Vater auch ... manchmal ...
PAULINE. Ach, bis' stille, meine Kleene!
Seufzt.
MARIECHEN schmeichelnd. Mutterchen?
PAULINE. Hm? – Schmeichelkatze! – Na ja, na ja!
MARIECHEN. Die alte Großmutter immer. Das is een'm so schaurig. – Un denn der Onkel, der is auch immer krank. Leise, wichtig. Du! Mutterchen!
PAULINE. Was denn?
MARIECHEN. Ich kann 'n nich ausstehn.
PAULINE lacht. Mei Klugschnabel! Warum denn?
MARIECHEN. I, ich weeß nich. – Du! Warum macht e denn immer so e finstres Gesichte? E mag uns wohl gar nich leiden, he?
PAULINE mit ironischem Lachen. I ja, das mag wohl schon sein, daß e uns nich leiden kann.[180]
MARIECHEN. Warum denn?
PAULINE. I, bis' stille. Das is nischt fer dich. Nimmt sie zu sich herauf, drückt sie gegen sich. Loof mer nur hier immer recht hibsch in der scheen', frischen Luft rum un iß ticht'g, daß de mer fer 'n Winter recht hibsch gesund un kräft'g bist, Meine! – Heerste? Küßt sie.
MARIECHEN gedehnt, nachdenklich. Jaaa! – Minna wird awwer doch wohl zu Hause ihre liebe Not hamm mit der Wirtschaft, he?
PAULINE lacht. Du Plappermaul! – Na ja, lange bleib'n mer nu nich mehr hier.
Pause.
MARIECHEN. Horche mal wie de Uhr geht, he?
PAULINE nähend. Ja.
MARIECHEN. Immer tack – tack – tack. – Orndlich zum Ferchten, nich?
PAULINE seufzt.
MARIECHEN. War die schon so, wie du hier noch so e kleenes Mächen warst wie ich un wie dei Vater un deine Mutter noch lebt'n?
PAULINE. Ja, mei Mariechen. – So gehn de Zeiten. Lieber Gott. –
MARIECHEN. Die is wohl schon hundert Jahre alt?
PAULINE. I ja, so alt mag se wohl sein.
MARIECHEN. Mutterchen?
PAULINE. Hm?
MARIECHEN. Du bist je so stille?
PAULINE abwehrend. I!
MARIECHEN. Heere mal! Morgen frieh nehm se draußen uf 'm – auf 'm Felde Kartoffeln aus, hat de Tante gesagt. Emil fährt mit naus auf Weidenhammers ihr'n Wagen. Un denn wollten mer e großes Feier anmachen un uns Kartoffeln braten. Derf ich mit?
PAULINE. Ja, wenn 's Wetter gut is.[181]
MARIECHEN sich ängstlich anschmiegend. Hu, horch mal! Da geht's widder los! Draußen das Schreien. Sie horchen.
PAULINE selbstvergessen, die Faust gegen die Kammer hin schüttelnd. Na, du Hund! Du Hund!
MARIECHEN erschrocken. Mutterchen?!
PAULINE streichelnd. Bis' stille, Meine! Bis' stille!
MARIECHEN weinerlich. 's is mer gar so schauerlich!
PAULINE. Na, na, na! M!
MARIECHEN. Ach, das is so schrecklich, nich?
PAULINE aus ihren Gedanken heraus, ernst. Das is auch eine Strafe Gottes!
MARIECHEN. Wie?
PAULINE. Nischt, Meine! Nischt!
Kleine Pause.
MARIECHEN. Der alte Wind draußen! – 's donnert orndlich!
PAULINE weint plötzlich auf.
MARIECHEN. Mutterchen! Mutterchen! – Was hast 'enn?!
PAULINE, sie an sich drückend, die Augen gegen ihren Scheitel. Ach Meine, Meine!
MARIECHEN. Liebes Mutterchen!
PAULINE. Ja! Ja! Ich bin schon ruh'g!
Küßt sie.
MARIECHEN seufzt tief auf.
PAULINE. Wart mal e bißchen. Der Arm wird mir taub. – So. –
MARIECHEN schüchtern. Nich wahr? Die hamm's gut. – So viele scheene Sachen hamm die. – Drieben in der guten Stube das scheene Klavier. – Das is immer so hibsch, wenn Emil drauf spielt. – Ich möchte auch so spielen könn' ,Mutterchen?
PAULINE. Das könnteste auch, wenn se's uns nich weggestohlen hätten!
MARIECHEN. Das Klavier?! – Hamm se's uns gestohl'n?!
PAULINE. Ja, das Klavier, un das Haus, un den Garten, und die Felder un alles, alles![182]
MARIECHEN. Wie denn? Gestohl'n?
PAULINE. Ja, ja.
MARIECHEN. Awwer da könn mer so doch bei der Polezei anzeig'n?
PAULINE. I ja, wenn mer das könnten! Sich besinnend. Awwer daß de mehr zu keen'm Menschen driwwer plapperst, heerste?! Ja nich! – Zu keen'm Menschen!
MARIECHEN erschrocken. Nee. Kleine Pause. Mutterchen.
PAULINE. Na?
MARIECHEN. Ach!
PAULINE. Meine!
Draußen rumpelt es über die Gasse. Der Postillon bläst: »Goldene Abendsonne.« Die Töne verlieren sich die Gasse hinunter.
MARIECHEN am Fenster. De Post!
PAULINE. Ja.
MARIECHEN. Wemmer doch erscht widder mitfiehr'n!
PAULINE. Warte nur! Nu balde!
MARIECHEN. De Frau Weidenhammern!
PAULINE gegen das Fenster. Wo denn?!
MARIECHEN. Se is schon am Fenster verbei!
Die Hausklingel. Gleich darauf klopft's.
PAULINE. Herein?!
FRAU WEIDENHAMMER tritt ein, dem Posthorn nachträllernd, einen Strickstrumpf schwenkend, lacht. Brrr! Herbst! – Der Wind geht iwwer de Stoppeln! – 'n Tag! – Na? Keener weiter da?! – Das is ja hibsch, da könn' mer so recht hibsch gemietlich mal e Klätschchen fer uns machen! Lacht.
PAULINE. 'n Tag, Hannchen! – Franz schläft drinne!
FRAU WEIDENHAMMER. Ah! – Pst!
PAULINE. Rese is hinten bei d'r Mutter! – Hier is es mal widder hibsch!
FRAU WEIDENHAMMER. Ach! – 's is wohl widder ...[183]
PAULINE bestätigend mit den Händen winkend und damit gleichsam andeutend, wie schlimm es wieder mit der alten Frau steht. Na! – Na! –
FRAU WEIDENHAMMER. Na weeßte, denn will ich mich nur beizeiten widder uf de Strümpe machen! Sich zu Mariechen bückend. Na Mariechen? – Nu guck doch eener, wie die kleene Spitzmaus sich rausgemacht hat in den Wochen! 's is wohl hibsch bei der Tante? Was? – Hehe!
PAULINE. Setz dich doch e Weilchen?
FRAU WEIDENHAMMER. Na, denn awwer nich lange! – Was 'ch sagen wollte: mei Mann schickt morgen frieh um sechse den Knecht mit 'n Wagen fer de Kartoffeln!
PAULINE. Gut gut! Lächelnd von ihrer Arbeit auf. Das Posthorn haste gut nachgemacht vorhin!
FRAU WEIDENHAMMER. Nich wahr?
Lacht.
PAULINE. Du bist selber wie so 'ne Abendsonne!
FRAU WEIDENHAMMER. Na! Na! – Du! 's is denn wohl widder sehre schlimm mit der alten Frau?
PAULINE. Ach Gott, na! – Schrecklich, schrecklich! – Da?! – Heere doch?!
Draußen wieder für einen Augenblick das Schreien. Es kommt jemand durch den Flur, wie mit Holzpantoffeln, auf die Tür zu geklappert.
PAULINE. Das wird Rese sin!
RESE in der offnen Tür. Groß, vierschrötig, gesund. Die Kleidärmel in die Höhe gestreift, eine Küchenschürze vor. Stellt ihre Holzpantoffeln draußen neben die Tür, kommt in Strümpfen herein. Ruft zurück in den Flur. Kramern?! Ihr habt doch wohl noch e Weilchen Zeit?! – Ja?! – Na, denn tut mer nur den Gefall'n un bleibt noch e bißchen bei 'r! Drückt die Tür hinter sich zu und tritt ins Zimmer. Franz schläft wohl noch?
PAULINE. Ja.
RESE. Guten Tag, Weidenhammern!
FRAU WEIDENHAMMER. Guten Tag![184]
RESE läßt sich, erschöpft, schwerfällig auf einen Stuhl sinken; seufzt auf.Duich?!