Karl Emil Franzos: Der Bart des Abraham Weinkäfer

 

 

Karl Emil Franzos

Der Bart des Abraham Weinkäfer

und andere Novellen aus Osteuropa

 

 

 

Karl Emil Franzos: Der Bart des Abraham Weinkäfer und andere Novellen aus Osteuropa

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Vasily Polenov, Portrait eines alten Juden, 1882

 

ISBN 978-3-7437-0144-1

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-86199-914-0 (Broschiert)

ISBN 978-3-86199-915-7 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Der Bart des Abraham Weinkäfer

Im südrussischen Gouvernement Podolien, an dem Schienenstrang, der Kiew mit dem Schwarzen Meer verbindet, liegt das Städtchen Winniza. Dort lebte ein jüdischer Mann, Abraham Weinkäfer mit Namen, seines Zeichens ein Glasermeister. Still und friedlich lebte er dahin; ein guter Gatte und Vater, ein fleißiger Handwerker. Die öffentliche Aufmerksamkeit zog er durch nichts auf sich. Wohl hatte er vor seinen Mitbürgern einen Vorzug, doch kam dieser in Winniza, wo das Schönheitsgefühl wenig ausgebildet ist, nicht zur Geltung: Er hatte den stattlichsten Bart im Städtchen, einen Riesenbart, der besonders schön und ehrfurchtgebietend aussah, nachdem er ergraut war.

Es war im Jahre 1871, und Abraham stand damals in der Mitte der Fünfzig, als eines Tages der Generalgouverneur von Podolien nach Winniza kam. Eine neue Schule, für deren Begründung er sich lebhaft interessiert hatte, sollte eröffnet werden, und er wollte bei der Feier nicht fehlen. Der Mann war von altem Adel, hatte nicht nur eine vornehme Erziehung genossen, sondern auch wirklich etwas gelernt, schwärmte für alles Schöne und dilettierte in den Künsten; er machte niedliche Verse und malte recht nette Aquarelle. Aber er war nicht nur ein vollendeter Kavalier, sondern auch eine wahrhaft liebenswürdige, wohlwollende Natur und strebte auch als Beamter stets nur das Gute an. Nur, daß er etwas zerstreut war und überaus vergeßlich; man erzählte sich die lustigsten Anekdoten darüber, u. a. wie er einmal an der Hoftafel zu Petersburg – er gehörte zu den bevorzugten Lieblingen Alexanders II. und des ganzen kaiserlichen Hauses – seinen Teller zurückgeschoben, den Bleistift hervorgezogen und zum Entsetzen seiner Nachbarn auf der weißen Damastdecke zu zeichnen begonnen habe. Er selbst war sich dieser Schwäche bewußt und wählte, um sie auszugleichen, einen Adjutanten von ausgezeichnetem Gedächtnis.

Alle Bewohner des Städtchens hatten sich zu Ehren des hohen Besuchs im Festgewand vor der neuen Schule versammelt, auch unser Held war darunter. Er nahm sich in seinem schwarzen Seidenkaftan, im Schmuck des Riesenbartes, ganz prächtig aus und mußte ein Malerauge sofort fesseln. Daher blieb denn auch der Gouverneur, als er nach beendeter Feier, von dem Adjutanten und dem Polizeimeister der Stadt gefolgt, durch die Reihen schritt, vor ihm stehen, musterte ihn mit wohlgefälligem Lächeln und fragte freundlich nach seinem Stand und Namen. Der schlichte Mann war über diese unverhoffte Ehre so fassungslos, daß er die Antwort nur stammelnd zu geben vermochte.

»Das ist brav«, sagte der Gouverneur und klopfte ihm herablassend auf die Schulter. »Glasermeister – das höre ich gerne; Handwerk hat einen goldenen Boden ... Aber sage doch«, er sagte »Du« zu dem alten Manne, weil es nur eben ein Jude war, aber er meinte es gewiß nicht böse, »wie bist du zu diesem Bart gekommen?«

Darüber ward der gute Abraham noch viel verblüffter. »Wie soll ich zu meinem Bart gekommen sein?« fragte er endlich demütig. »Er ist mir eben gewachsen! ...«

»Ein herrlicher Bart!« rief die Exzellenz enthusiastisch. »Und was die Hauptsache ist, er stimmt zu deinem Gesicht, deiner ganzen Erscheinung. Du scheinst gar nicht zu wissen, guter Abraham, welche Merkwürdigkeit du bist ... Möchtest du mir Modell sitzen? Ich möchte dich zeichnen. Nur eine Bleistiftskizze, eine Stunde genügt.«

»Zeichnen?« rief Abraham und hob abwehrend die Hand. »Was ist an einem alten Juden zu zeichnen?«

»Also ebenso bescheiden wie schön!« lachte der Gouverneur. Aber der Polizeimeister verstand den weinerlichen Ton Abrahams besser. »Damit hat es seine besondere Bewandtnis!« erklärte er seinem Vorgesetzten. »Der Mann gehört wohl nicht selbst zu den streng Orthodoxen, fürchtet aber ihren Zorn. Diese nämlich halten es für sündhaft, wenn sich ein Jude porträtieren läßt ... Du wirst tun, was Seine Exzellenz befiehlt«, schloß er barsch, zu Abraham gewendet.

»Nicht diesen Ton!« wehrte der Gouverneur ab. »Der Mann ist ja nicht dazu verpflichtet, mir zu sitzen ... Aber wenn ich dich nochmals darum bitte«, sagte er zu dem Juden, »so tust du es vielleicht doch? Wie gesagt, nur eine Stunde, etwa morgen früh, da ich schon um die Mittagsstunde abreise ...«

Natürlich weigerte sich der Jude nun nicht länger, und am nächsten Morgen fand die »Sitzung« statt. Der Gouverneur unterhielt sich auf das leutseligste mit dem Juden und schenkte ihm beim Abschied eine wertvolle Bernsteinspitze. Diese Spitze und der Bericht Abrahams über seine Gespräche mit dem Gouverneur beschäftigten die Leute von Winniza noch durch Wochen. Der Glasermeister konnte die Herablassung seines hohen Gönners nicht genug rühmen; nur über die Skizze äußerte er sich ziemlich geringschätzig; er selbst, obwohl er doch sein eigenes Gesicht gut genug kenne, habe sich in diesem Krixkrax von Bleistiftstrichen nicht auszukennen vermocht. Doch tat er durch dies Urteil dem Talent des Gouverneurs schweres Unrecht; es war eine recht hübsche und charakteristisch durchgeführte Skizze.

Dieser Ansicht war denn auch einige Monate später eine sehr hohe Dame am Petersburger Hof, als ihr der Gouverneur das Blatt vorwies. Es war die dem Kaiserhause verwandte, durch feinen Kunstsinn ausgezeichnete Herzogin von L., die sich auch nicht ohne Glück als Malerin im historischen Genre versuchte. »Vortrefflich!« rief sie, und ihre Augen leuchteten auf. »Welch schöner Patriarchenkopf! Was wäre dies für ein Modell zum Erzvater Abraham in der biblischen Szene, die ich seit langem malen will! Immer wieder habe ich die Ausführung verzögert, weil sich eben kein ganz passendes Modell finden wollte ... Bitte, lassen Sie mir das Blatt hier!«

»Mit Vergnügen, Hoheit!« versicherte der General. »Aber ich könnte Ihnen ja auch den Mann selbst schaffen ...«

»Oh«, rief die Herzogin, »glauben Sie, daß dies möglich wäre ... Das wäre ja entzückend!«

»Es ist nichts unmöglich, wenn Hoheit befehlen!« erwiderte der Kavalier galant. »Übrigens dürfte es nicht einmal so schwierig sein; der Mann wird es gegen Geld und gute Worte sehr gerne tun. Er wohnt in Winniza; sein Name ist mir freilich entfallen, doch wird mein Adjutant ihn sicherlich noch wissen. Ich will ihm noch heute Auftrag geben; er wird die Sache gewiß rasch und bestens ordnen. In spätestens einer Woche haben Sie Ihr Modell hier.«

Der Adjutant wußte wirklich noch den Namen, ja alle sonstigen Einzelheiten, sogar daß Abraham einen Augenblick aus Furcht vor dem Fanatismus seiner Glaubensgenossen gezögert. Aber auch sonst wäre ihm die amtliche Requirierung als die einzig sichere erschienen. Die Herzogin von L. durfte man jedenfalls nicht warten lassen. Und so telegraphierte er denn an die Gouvernementskanzlei in Kaminnetz-Podolsk, daß der Jude Abraham Weinkäfer in Winniza sofort zur Reise nach Petersburg zu verhalten sei, wo er sich nach seinem Eintreffen ungesäumt bei dem Gouverneur zu melden habe, der auch die Kosten der Reise trage. Ein verläßlicher Mann sei dem Juden als Begleiter beizugeben.

Das Telegramm gelangte in die Hände des Vizegouverneurs, und dieser Beamte hätte sich vielleicht darüber gewundert, wenn er gerade mehr Zeit gehabt hätte. So aber trug er nur einem seiner Kanzleiräte rasch auf, den Juden nach Petersburg zu schaffen, auf kürzestem Wege und unter Bedeckung. Und der Kanzleirat hatte just auch keine Zeit und gab daher den Auftrag an seinen Sekretär weiter, nur daß er bereits das Wort »verhaften« gebrauchte. »Was kann denn dieser Winnizer Glasermeister angestellt haben«, fragte der junge Beamte neugierig, »daß man ihn direkt nach Petersburg schicken muß?« – »Offenbar ein politisches Verbrechen!« sagte der Kanzleirat. Das leuchtete dem Sekretär ein, und es mußte wohl ein schweres Verbrechen sein, da sonst nicht solche Raschheit befohlen worden wäre. Und so telegraphierte er denn an den Polizeimeister von Winniza, der Glasermeister Abraham Weinkäfer sei sofort, als schweren politischen Verbrechens angeklagt, unter Eskorte mit möglichster Beschleunigung nach Petersburg zu schaffen.

Der Polizeimeister las den Auftrag mit grenzenlosem Erstaunen; was immer er hinter dem schönen Bart gesucht hätte, politische Umtriebe sicherlich nicht. Auch kam ihm der Gedanke, daß hier ein Mißverständnis obwalte, aber das half ja nichts; der Auftrag lautete klar genug und mußte erfüllt werden. Er ließ den Juden vorladen, der in einiger Aufregung erschien; die Polizei hatte sich sein Leben lang nicht um ihn gekümmert. Von Entsetzen gelähmt, vernahm er den Befehl und konnte lange keinen Laut hervorbringen. »Erbarmen!« flehte er endlich und warf sich dem Polizeimeister zu Füßen. »Es kann nicht wahr sein, was habe ich mit ›Politik‹ zu tun. Wenn Sie es mir nicht eben erklärt hätten, ich verstünde das Wort nicht!«

Der Beamte war Menschenkenner genug, um zu wissen, daß dieser Ton echt sei. Von Mitleid für den Unglücklichen ergriffen, beschloß er, das einzige für ihn zu tun, was in seiner Macht stand: Er fragte telegraphisch beim Gouvernement an, ob hier nicht eine Namensverwechselung vorliege; inzwischen mußte er ihn freilich als Gefangenen verwahren. Weib und Kinder durften ihn natürlich besuchen. Nachdem der erste furchtbare Schrecken verwunden war, begannen auch sie, gleich ihm selbst, wieder zu hoffen: Die Sache mußte sich ja aufklären. Auch alle Bewohner von Winniza waren der festen Überzeugung, daß ihr braver, friedlicher Mitbürger, der sich bisher nie um die trüben Händel der Welt, sondern nur um seine klaren Fensterscheiben gekümmert, unmöglich ein gefährlicher Verschwörer sein könne.

Erst drei Tage später traf die Antwort des Gouvernements ein, von jenem Sekretär gezeichnet; sie enthielt einen Verweis für den Polizeimeister, weil er durch überflüssige Fragen den Gang der Justiz aufhalte; ein Mißverständnis liege nicht vor. Vielleicht hätte sich ein Beamter des Westens vorher nochmals genau instruiert, jeder hätte es wohl auch nicht getan, da ja der Befehl ganz bestimmt lautete. Jedenfalls handelte auch jener Sekretär nicht böswillig – und dieses ist eben das bezeichnende Moment dieser Geschichte.

Am nächsten Morgen wurde Abraham auf einem Wägelchen schwer gefesselt zur Bahnstation geführt. Ihm gegenüber saßen zwei Soldaten mit geladenem Gewehr; sein Weib und seine Kinder liefen jammernd neben dem Gefährt einher, und viele der Gemeinde folgten hinterdrein, aus Neugier oder aus Mitleid. Den unglücklichen Mann verließ die Fassung nicht; wohl rannen ihm die Tränen unablässig über das bleiche Antlitz, aber er fuhr fort, Weib und Kinder zu trösten. »Vertrauet auf den Allmächtigen, wie ich auf ihn vertraue«, rief er ihnen zu, »er wird mich Unschuldigen nicht zugrunde gehen lassen. Mir sagt's mein Herz: Ich sehe euch bald und in Freuden wieder.«

Drei Wochen währte es, bis Abraham nach Petersburg eingeliefert wurde, an das Festungsgefängnis, die Abteilung für politische Verbrecher. In der Aufnahmekanzlei wurde ein kurzes Verhör mit ihm aufgenommen; er beteuerte natürlich seine Unschuld, und ebenso natürlich wurde ihm nicht geglaubt. Wohl lag nur ein einziges Dokument über ihn vor: der Begleitbericht des Polizeimeisters von Winniza, worin dieser meldete, daß er den Abraham Weinkäfer, als politischen Verbrechens bezichtigt, dem Befehl eines hohen Gouvernements gemäß, anbei abliefere – aber dies genügte ja, um den Mann in Haft zu behalten. Die Akten, dachten die Herren, würden wohl bald nachfolgen. Der Gefangene wurde in Inquisitenkleider gesteckt, und da der lange Bart gegen die Gefängnisordnung ging, so wurde er ihm abrasiert. Der herrliche, der Patriarchenbart! Dem unglücklichen Mann tat dies weiter nicht weh; er hatte schwereren Kummer. Aber wie hätten die beiden kunstliebenden Seelen, der Generalgouverneur und die Herzogin, geklagt, wenn sie diesen unersetzlichen Verlust für die Kunst erfahren hätten. Das trefflichste Modell für einen Erzvater, das sich im Reiche fand, war freventlich verstümmelt worden.

Aber sie erfuhren es nicht. Wohl erkundigte sich die Herzogin, als vierzehn Tage seit ihrer Unterredung mit dem Generalgouverneur verstrichen waren, gelegentlich bei diesem, wie es um ihr Modell stehe, und er fragte sofort seinen Adjutanten, der seinerseits telegraphisch beim Gouvernement anfragte. Aber die Antwort: die Angelegenheit habe sich durch die Saumseligkeit des Polizeimeisters von Winniza verzögert, sei aber jetzt in bester Ordnung, und der Jude würde jedenfalls in den nächsten Tagen in Petersburg sein, beruhigte alle Beteiligten wieder.

Bald darauf verließ der Gouverneur die Hauptstadt, um eine Erholungsreise ins Ausland anzutreten. Von seinem Adjutanten nahm er nun für immer Abschied; er selbst hatte den trefflichen Mann für einen höheren Posten in einem nördlichen Gouvernement empfohlen.

Als der Gouverneur einige Monate später nach seinem Amtssitz zurückkehrte, war von dem Juden nicht weiter die Rede. Er hatte ihn gänzlich vergessen, ebenso seine Beamten. Um so inniger gedachte die arme, verlassene Frau ihres unglücklichen Gatten. Als ein Jahr vergeblichen Harrens verstrichen war, entschloß sie sich zur Reise nach Kaminnetz-Podolsk. Sie wollte den Gouverneur um Erbarmen anflehen; das Beweisstück seines einstigen Wohlwollens, die Bernsteinspitze, nahm sie mit; sie hatte sie nicht veräußert, obwohl allmählich die Not in das Haus, das seines Ernährers beraubt war, ihren Einzug gehalten. Ein schlimmer Zufall wollte es, daß der Gouverneur damals eben wieder in Petersburg war. Aber sein Stellvertreter empfing sie, und auch er war kein gewissenloser Mann; er hörte ihre Klagen geduldig an und gab ihr dann jene Antwort, die er ihr geben mußte: daß für politische Verbrechen einzig das Gericht maßgebend sei; weder er noch sein Chef könnten in dieser Sache etwas anordnen. Wenn aber ihr Mann wirklich unschuldig sei, so werde er ohne Zweifel bald heimkehren. Mit diesem kargen Trost kehrte sie zurück und harrte wieder geduldig. Als aber auch ein zweites Jahr verstrichen war, wollte sie die Reise zum Gouverneur wiederholen, obwohl sie nun die Bernsteinspitze nicht mehr vorweisen konnte. Aber da sagten ihr die Leute, daß ihr Gönner seit einigen Monaten versetzt sei; er habe einen hohen Verwaltungsposten in Moskau erhalten.

Inzwischen saß Abraham im Gefängnis zu Petersburg. Man hatte ihm gesagt, daß er bald zum Verhör werde vorgeführt werden, aber Tag um Tag, Monat um Monat und ein Jahr verging, ohne daß sich jemand um ihn bekümmerte. Seine Bitten um ein Verhör blieben vergeblich, sie gelangten nicht einmal zu dem Untersuchungsrichter. »Du wirst vorgeführt, sobald die Reihe an dich kommt«, sagte ihm der Gefangenenwärter. Endlich, bei einer Inspektion der Gefängnisse, lenkte sich die Aufmerksamkeit auf ihn. Ein Jahr Haft ohne Verhör – das schien dem Inspektor doch auffallend, und er fragte beim Untersuchungsrichter an. Aber dieser konnte sich darauf berufen, daß die Schuld ja nicht an ihm liege – die Akten seien eben noch nicht da, und diesen Grund mußte auch der Inspektor gelten lassen.

Ein zweites Jahr verstrich. Der alte Mann verfiel immer mehr; er hätte nun höchstens noch zu einem Hiob Modell sitzen können. Lange hatte ihn sein Gottvertrauen aufrechterhalten, endlich übermannte ihn die Wut der Verzweiflung. Er begann in seiner Zelle zu toben, so daß ihm eine schwere Disziplinarstrafe auferlegt wurde. Aber der Vorfall hatte doch das Gute, wieder an ihn zu erinnern. Das Untersuchungsgericht requirierte vom Gouvernement die Akten. Die Antwort lief erst nach Monaten ein; sie lautete natürlich, daß dort von der Sache nichts bekannt sei; die Verhaftung sei im Auftrage des einstigen Generalgouverneurs erfolgt, der jetzt in Moskau lebe. Nun richtete das Gericht eine Anfrage an diesen. Von seinem Stellvertreter kam die Antwort, Seine Exzellenz seien im Bade; die Sache werde ihm nach seiner Rückkunft vorgelegt werden.

Und wieder verstrich ein Jahr, da kam ein neuer Inspektor. Der Anblick des Greises erschütterte ihn, noch mehr dessen Erzählung. Er beschloß der Sache auf den Grund zu kommen und fing es ganz regelrecht an. Zunächst interpellierte er den Polizeimeister von Winniza. »Auftrag des Gouvernements«, war die Antwort, aber damit begnügte sich der brave Mann nicht; er wiederholte seine Vermutung, daß hier ein Mißverständnis vorliege. Wenn dem so sei, dann habe es bereits furchtbare Folgen gehabt: Das Weib des Gefangenen sei vor Gram gestorben, seine Kinder im größten Elend zurückgeblieben. Nun wandte sich der Inspektor an das Gouvernement: Es berief sich auf seine Antwort vom vorigen Jahre. Jetzt endlich wurde die Anfrage wieder an den einstigen Gouverneur gerichtet, und diesmal kam auch sofort die Antwort: Er habe niemals einen politischen Verbrecher direkt nach Petersburg schaffen lassen. In der Tat durfte der hohe Herr, so unverläßlich auch sonst sein Gedächtnis war, diesen Bescheid mit größter Sicherheit geben; er hatte politische Untersuchungen stets den Gerichten überlassen.

Jetzt wurde dem Inspektor die Sache vollends unheimlich: Er beantragte Freilassung des Gefangenen, denn ein Verbrecher sei wohl da, jedoch kein Verbrechen. Aber das Gericht verlangte zuerst völlige Klarstellung und stellte neue Recherchen an. Doch noch ehe diese zum Abschluß gelangten waren, kam Licht in die Sache. Der Gouverneur kam nach Petersburg, wohin inzwischen auch sein einstiger Adjutant versetzt worden war. Dieser suchte ihn auf und bat um seine Fürsprache zur Erlangung eines hohen Postens. Der Gouverneur versprach es gern; mit Hilfe der sehr einflußreichen Herzogin von L. werde es gewiß leicht gehen. Er begab sich zu der hohen Dame und empfahl ihr seinen Schützling. Sie versprach ihre Vermittlung in liebenswürdigster Weise, weil aber ihr Gedächtnis ebenso trefflich war als jenes des Gouverneurs schwach, so fragte sie mit etwas boshaftem Lächeln: »Es ist doch derselbe Herr, der mir das Modell so pünktlich besorgt hat?«

»Derselbe!« rief der Gouverneur eifrig. »Das hatte ich ganz vergessen. Haben Sie den Juden gemalt? Nicht wahr, ein prächtiger Kopf?«

»Gewiß – aber ich habe ihn nie gesehen!«

Der Gouverneur teilte es bestürzt seinem Schützling mit. Dieser leitete seine Recherchen kräftig ein; er wollte die hohe Gönnerin überzeugen, daß er das Seine getan. Schon am nächsten Tage konnte er dem Gouverneur entsetzt mitteilen, wo sich das arme Modell befinde. Beide Herren begaben sich sofort nach den Gefängnissen. Kein Zweifel, da stand ja der Name in der Liste. Der Kerkermeister wurde geholt. »Lassen Sie den Abraham Weinkäfer sofort herbeibringen!« ward ihm befohlen.

Der Beamte stand verlegen da. »Verzeihen, Exzellenz ... der Mann ist vor zwei Monaten gestorben. Es ist ein wahres Wunder, daß er es so lange ausgehalten hat. Aber er hoffte noch immer ...«

Die beiden Herren haben für die verwaisten Kinder gesorgt. Den Toten konnten auch sie nicht mehr lebendig machen.

Das ist die Geschichte vom Bart des Abraham Weinkäfer, und ich finde kein Wort, das ich ihr hinzufügen könnte.

 

Kossowiczs Rache

Es war am 7. Juli 1866 – das Schicksal hat dafür gesorgt, daß ich das Datum nie vergesse – morgens halb neun im Lehrsaal der Septima zu Czernowitz in der Bukowina; Unterprima würde man die Klasse in Deutschland nennen. Auf dem Katheder stand der Professor Wilhelm Lang, der ehrgeizige Mann, der mit uns den Horaz schon in Septima las, die schlanke, elegante Gestalt leicht vorgeneigt, sein Prüfungsbüchlein in der weißen, weichen, beringten Hand. »Kossowicz!« hatte er eben gerufen und dazu gelächelt, wie er immer zu lächeln pflegte, wenn er den großen, plumpen, dicken Menschen aufrief. Und der einfältige rumänische Popensohn hatte sich erhoben und die asklepiadische Strophe schlecht skandiert und stotterte nun bei der Übersetzung – alles wie immer. Wir Schüler aber grinsten fröhlich, nie machte Professor Lang bessere Witze, als wenn er den Kossowicz Eusebius prüfte, unsern armen, vielgehänselten »ultimus ultimorum«.

Diesmal sollte es nun vollends so lustig werden wie nie vorher. »Nil pictis timidus navita puppibus fidit«, hatte der Rumäne gelesen und sollte es nun übersetzen. »Der furchtsame Schiffer vertrauet nicht ...«, begann er, »vertrauet nicht ...«

»Seinem natürlichen Genie«, fiel der Professor ein, »sondern präpariert sich!«

Die Klasse wieherte. »Kossowicz! Was heißt pingere?«

»Malen«, flüsterte ein barmherziger Nachbar dem Prüfling ein.

»Malen«, wiederholte Kossowicz.

»Und puppis?«

»Hinterteil des Schiffs«, flüsterte derselbe Nachbar wieder. Aber Kossowicz verstand nur das erste Wort. Über das stumpfe Gesicht flog es wie ein Leuchten.

»Ich weiß schon!« sagte er freudig in seinem seltsamen Deutsch. Und dann mit Donnerstimme, jede Silbe wuchtig betonend: »Der furchtsame Schiffer vertrauet nicht auf sein bemaltes Hinterteil!«

Wir brüllten los, daß die Wände widerhallten. Auch Lang lachte und lachte, daß die Tränen über die Backen liefen. Dann aber rief er:

»Kossowicz Eusebius, setzen Sie sich auf Ihre puppis. Schade, daß Sie schon zu alt sind, um sie Ihnen blau und rot zu streichen: Es würde nichts mehr nützen!«

Seltsam, darauf blieb es still. Wir waren übermütige Bengels zwischen fünfzehn und siebzehn, Kossowicz unser Prügelknabe, Lang unser Abgott, jeder Witz von ihm wurde belacht, diesmal schwiegen wir. Denn wir fühlten: Das geht zu weit! So darf man einen dreiundzwanzigjährigen Mann nicht behandeln. Der arme, tölpelhafte Mensch, der spät aufs Gymnasium gekommen und jede Klasse zweimal durchmachte, war vielleicht nur zwei Jahre jünger als unser eleganter Lehrer.

Auch Kossowicz empfand es so. Zuerst stand er regungslos, das dumpfe, stumpfe Antlitz vorgeneigt, offenbar verstand er den »Witz« noch nicht. Dann ging ein Zucken durch den wuchtigen Körper, er wurde totenbleich.

»Herr Professor!« lallte er fast drohend. »Ich –« Weiter kam er nicht. In demselben Augenblick tat sich die Tür auf, der Direktor trat ein. Wir schnellten von den Sitzen empor, nicht bloß, weil es die Vorschrift gebot, auch aus Überraschung und Erwartung. Der Direktor kam während des Unterrichts – das war unerhört und mußte die gewichtigsten Gründe haben.

Keine angenehmen, das sah man dem würdigen Manne vom Antlitz ab. Stefan Wolf hieß er, wir nannten ihn Gorgias, weil er diesen Dialog des Plato in jeder Rede zitierte. Sein Antlitz war bleich, und der mächtige Schnurrbart zitterte.

Er trat aufs Katheder neben den Professor, der ihn nicht minder erstaunt anblickte als wir.

»Also«, begann er – nie hat ein sterbliches Ohr eine Rede des Wackeren vernommen, die mit einem anderen Wort begönnen hätte – »also, Sie können gehen. Also, der Unterricht für das Schuljahr ist zu Ende. Die Zeugnisse können Sie nach einer Woche bei mir abholen ...«

Ein Laut der Überraschung aus fünfzig Kehlen, dann ein Summen und Surren. »Warum?« riefen einige.

»Unfug!« donnerte Gorgias. »Schweigen Sie! Also, der Herr Landeschef hat es eben verfügt. Also – der Krieg, der entsetzliche Krieg. Also« – der Schnurrbart zitterte konvulsivisch – »die Schlacht von Königgrätz ... aber damit nicht genug. Also« – und bei diesen Worten hüpfte der Schnurrbart vollends wie ein selbständiges Wesen auf und nieder – »die Cholera ...«

Wieder ein Rufen und Flüstern.

»Unfug! Schweigen Sie! In solchen Zeiten ärgert man seinen Direktor nicht. Auch Obst dürfen Sie nicht essen. Also, wer Gurken ißt – Unfug, der streng bestraft werden muß! Also, heute Nacht sind in der Wassergasse drei Menschen gestorben! Gehen Sie nach Hause!« Wir begannen die Bücher zusammenzupacken.

»Ruhe! Unfug!« donnerte er wieder. »Im Gorgias sagt Plato ...« Er hielt inne. »Nein, das sage ich Ihnen morgen – wollte sagen nächstens. Also – die Cholera, Galle – Gallenruhr. Jede andere Ableitung ist falsch.« Und er wiederholte mit furchtbarer Entschiedenheit: »Ganz falsch, hört Ihr!« Dann aber brach sich die Stimme des Mannes – ich bin im Leben selten einem warmherzigeren begegnet. »Adieu Jungens! Schwere Zeiten! Haltet Euch vernünftig und fürchtet Euch nicht. Wir stehen in Gottes Hand. Auf Wiedersehen – im Herbst. Alle, hoffentlich wir alle.«

Und er rannte hinaus, damit wir die Tränen in seinen Augen nicht sehen sollten, und wir alle hinterdrein, er, die nächste Klasse aufzulösen, wir über die Korridore auf die Gasse.

Sie lag im Glanz der Julisonne. Die Kinder spielten auf den Trottoirs, die Leute gingen ihren Geschäften nach. Nirgendwo eine erregte Miene, ein ängstliches Wort. Wir lachten, riefen, pufften uns. Hätten uns nicht die letzten Worte des guten Alten, den wir alle, trotz seiner eigentümlichen rednerischen Leistungen wie einen Vater liebten und ehrten, im Ohr nachgeklungen, unsere Freude über die unverhofft frühen Ferien wäre eine ungetrübte gewesen.

Erst auf dem Marktplatz klang uns wieder jener Name entgegen, dessen richtige Ableitung er uns so energisch eingeschärft, aber auch nicht eben in furchterregender Art. Zwei Polizisten gingen von einer Hökerfrau zur anderen und konfiszierten die unreifen Kirschen und Stachelbeeren. Die Weiber jammerten, die Umstehenden lachten, auch die Polizisten nahmen ihr Geschäft nicht ernst. »Dumme Sache! Aber der Herr Bürgermeister hat's befohlen! Die Cholera! Platz, Ihr Leute!«

In der Siebenbürger Gasse holte ich meinen Coetanen Kossowicz ein. Er ging gesenkten Hauptes dahin und wich niemand aus, daß ihn die Leute zornig oder lachend aus dem Wege schoben. Ich holte ihn ein und sprach ihn an. »Nimm's dir nicht zu Herzen«, suchte ich ihn zu beruhigen. »Er hat's nicht so böse gemeint.«

Er schüttelte den großen, unförmigen Kopf. »Is mir bitter«, sagte er dumpf. »Is mir sehr bitter! Lang is Hund!« schrie er dann gellend auf.

»Das ist er nicht!« sagte ich. »Freilich hätte er den Witz nicht machen sollen!«

»Is Hund!« wiederholte er. »Bin ich schlecht? Nein! Bin ich faul? Nein! Bin ich Bub? Nein! Schlechten, faulen Bub droht man mit Prügel, aber mir? Ich bin ein alter Mensch mit Bart, unglücklicher Mensch! Warum? Kein Kopf zum Studieren! Muß doch studieren! Will Bauer werden, soll Pope werden. Guter Mensch hätte Mitleid mit mir – also Kossowicz kann nichts, bekommt dritte, aber man läßt ihn in Ruh! Schlechter Mensch tut mir das an! Aber ich werd' ich es ihm zeigen – ruf mich Hund, wenn ich's nicht tu'!«

Auf dem stumpfen Antlitz lag der Ausdruck eines ehernen Entschlusses. »Kossowicz«, sagte ich erschreckt und legte ihm die Hand auf die Schulter, »du wirst dich an Lang nicht rächen! Du wirst dich nicht unglücklich machen!«

»Mir ist alles eins«, erwiderte er. »Unglücklich bin ich auch so! Aber er soll lernen besser sein und vor Gott Furcht haben!«

»Was willst du tun?« fragte ich und hielt ihn fest.

»Wirst hören«, erwiderte er, riß sich los und trat in das kleine ebenerdige Haus, wo er mit vielen anderen Schülern bei einer Pfarrerswitwe zur Miete wohnte.

Das nahm ich viel schwerer als die Cholera und setzte meinen Weg ernster fort als bisher. Erst daheim kam mir eine Ahnung von dem Entsetzlichen, das der Name in sich barg. Als ich mit der Kunde ins Zimmer trat, ward das Antlitz meiner Mutter bleich wie das Linnen, an dem sie nähte. »Das ist furchtbar ...«, murmelte sie mit entfärbten Lippen. »Wenn es so kommt wie vor fünfunddreißig Jahren ...« Und sie erzählte mir von der Choleraepidemie von 1831, die sie als junges Mädchen in Brody durchgemacht, wie jeder zehnte Mensch gestorben und es nicht mehr Hände genug gegeben, die Toten zu bestatten.

Ich hörte zu, und weil sie selbst erregt war, machte es auch mir Eindruck, aber tief war er nicht. Dann nahm ich wieder die Mütze vom Nagel und wollte gehen.

»Wohin?«

»Zum Kossowicz. Der arme Kerl soll keine Dummheiten machen!« Ich erzählte ihr, um was es sich handelte.

Sie nickte. »Aber bis zwölf bist du zurück. Wir gehen zu deinem Vormund, der heute seinen Geburtstag hat, um ihm zu gratulieren. Auch speisen wir dort.«

Der Rumäne war nicht zu Hause. Was sei ihm denn widerfahren? empfing mich seine Wirtin. Er sei lange brütend dagesessen und dann plötzlich fortgerannt. Und ob es wahr sei, daß die Leute in der Wassergasse dahinstürben wie die Fliegen?!

Ich beschloß, hinzugehen, obwohl die Zeit knapp war, wenn ich mittags wieder daheim sein wollte. Czernowitz liegt auf einem Hügel, die Wassergasse umgibt, dem Lauf des Pruth folgend, den Fuß des Hügels. Damals wohnten nur arme Leute dort, namentlich Juden und Ruthenen. Den Hochsommer abgerechnet, wo man die Pruthbäder aufsuchte, kamen die Städter nie in die armselige, entlegene Vorstadt.

Wieder kam ich über den Marktplatz, er war nun etwas belebter als vorher, namentlich standen die Leute in dichten Gruppen um große, gelbe Plakate, die eben angeschlagen wurden. Der Bürgermeister teilte mit, daß sich seit gestern in der Pruthvorstadt drei Fälle von Brechdurchfall mit tödlichem Ausgang ereignet. Ob es sich um asiatische Cholera handle, sei noch nicht festgestellt, doch habe er ungesäumt alles Nötige veranlaßt. Eine Cholerabaracke sei im Bau, die Pruthvorstadt abgesperrt. Die Bekanntmachung schloß mit einigen hygienischen Ratschlägen.

Die Umstehenden beurteilten dies Schriftstück sehr verschieden. Die einen lobten den Bürgermeister seiner Energie wegen, die anderen fanden den Eifer höchst überflüssig. »Weil in der Pruthvorstadt drei Arbeiter sterben, die sich den Magen mit unreifem Obst vollgestopft haben, bringt er die ganze Stadt in Aufruhr!« Am schärfsten verurteilte Herr Gregor Lupul diese »Dummheiten«. Es war dies der Besitzer des schönsten Hauses, des mächtigsten Bauchs, der rötesten Nase und des lautesten Organs in ganz Czernowitz. »Wer ist denn 1831 hier oben gestorben? Kein Mensch, der zu essen hatte. Hab' ich nicht recht, Mayer, Sie müssen's ja auch noch wissen!«

»Gewiß weiß ich es, Herr von Lupul«, erwiderte der kleine, schmächtige Salomon Mayer geschmeichelt. »Die Cholera ist eine Art Hungertyphus, für die armen Leut.« – »Und deshalb soll ich keinen Salat essen?« rief Lupul entrüstet. »Justament eß' ich heut sogar einen Italienischen! Kommen Sie mit, Mayer, zum Anatowicz in die Weinstube!«

Mayer ging mit, ich aber der Wassergasse zu. Je tiefer ich den Berg hinabkam, desto mehr Leute standen da, desto lauter sprachen, desto heftiger gestikulierten sie. Überall dasselbe Thema und dieselben Urteile. Die einen priesen, die andern höhnten den Bürgermeister. Die einen mahnten zur Vorsicht, die anderen prahlten, was sie sich alles zu essen getrauten, die einen erzählten zitternd, alle Stunde stürben da unten einige Menschen, und alle Ärzte seien dort beschäftigt, die anderen schworen, die Leute in der Wasserstadt seien so vergnügt wie nur je. Sicheres wußte niemand.

Da kamen zwei Wagen die Straße herabgepoltert, große, unförmige Karren, mit schwarzem Tuch überdeckt. Auf dem Bock saßen zwei städtische Diener.

»Wohin? Wozu?« rief man sie an.

»Die Toten abholen!« erwiderte einer der Diener.

»Wieviel?«

»So ein Dutzend. Jetzt können's leicht mehr sein!«

Ein wildes Schreien und Lärmen, dazwischen ein gelles Lachen – und im nächsten Augenblick war die Straße wie reingefegt. Heulend, jammernd, fluchend stürzten die Leute den Berg empor, ihren Wohnungen zu, und gaben die Schreckenskunde verzehnfacht weiter.

Als ich den Eingang zur Pruthgasse erreichte, stand da ein großer Haufe Menschen und lachte und schrie: Lehrjungen, Strolche und Dirnen. Sie unterhielten sich damit, die städtischen Polizisten zu verhöhnen, die den Eingang zur Straße bewachten, damit niemand den verseuchten Stadtteil verlasse. Sonst war auch nichts zu sehen. Die wenigen Häuschen, die man überblicken konnte, boten denselben Anblick wie sonst. Vor den Türen spielten die schmutzigen Kinder in der Gosse, an den Fenstern flatterte zerlumpte Wäsche zum Trocknen, ein Schuster hockte auf seinem Dreibein vor der Werkstätte und flickte ein Paar Stiefel, ein Trunkener saß auf einer Bank und schlug mit einem Stecken um sich, eine Verlorene lehnte sich halbbekleidet aus ihrem Dachfenster weit vor und lachte uns frech an. Alles wie gewöhnlich an dieser Stätte des Elends und der Verworfenheit ...

Schon wandte ich mich zum Gehen, da klang ein Laut in mein Ohr, der mich anhalten ließ – ich glaube, ich höre ihn noch, während ich das schreibe. »Boze!« (»Gott«) rief eine Stimme schrill, verzweiflungsvoll. Selbst das rohe Gesindel um mich her wurde plötzlich still. Noch einmal »Boze!« und »Ratujcie!« (»Rettet!«) Und aus dem Hause, vor dem der Schuster saß, kam ein Mensch hervorgestürzt, ein junger todblasser, fast nackter Mensch, der eben aus dem Bett gesprungen sein mußte, und warf sich wie ein Kreisel in der Luft herum und stürzte in Krämpfen hin. Das war der erste Cholerakranke, den ich damals gesehen habe.

Als ich heimkam, war es längst zwölf vorbei. Meine Mutter schalt heftig auf mich ein, als sie erfuhr, wo ich gewesen, besprengte mich mit einer Essenz, die sie inzwischen besorgt, und ließ mich die Kleider wechseln. Dann gingen wir zum Hause meines gestrengen Vormunds. Die anderen Glückwünschenden waren schon dagewesen, man hatte mit dem Speisen auf uns gewartet, der alte Herr war sehr ungnädig.

»Das blödsinnige Gerede von der Cholera verdirbt einem die Laune!« rief er. »Und nun kommt man auch nicht rechtzeitig zu Tisch.«

»Aber der Doktor Atlas und der Lupul sind auch noch nicht da«, suchte ihn seine Frau zu begütigen.

»Der Doktor steht in städtischen Diensten«, rief er, »und muß tun, was der Bürgermeister will. Wahrscheinlich muß er gerade die Betrunkenen in der Wassergasse nüchtern machen! Aber der Lupul – richtig, der Lupul ist ja auch noch nicht da! Wo steckt denn der Alte? Schick doch zu ihm hinüber!«

Es währte lange, bis der Bote wiederkam. Wir setzten uns inzwischen zu Tische. Mein Vormund war sichtlich noch immer unwirsch, und seine Laune besserte sich nicht, als der Bote endlich meldete, die Haushälterin wisse nicht, wo der Herr von Lupul geblieben, er sei seit dem Morgen fort. »Der Kerl wird doch nicht vergessen haben!« rief der alte Herr in hellem Zorn. Das war verzeihlich, denn Lupul war sein bester Freund, auch pflegte dieser Demosthenes von Czernowitz seit fünfundzwanzig Jahren bei dem Diner am 7. Juli den Toast auf das Geburtstagskind zu sprechen. Weil aber das Essen gut war, der Wein noch besser, so erheiterte sich allmählich die Laune des Gastgebers, besonders, da ein anderer Freund des Hauses das Hoch beinahe ebenso gut ausbrachte wie sonst Lupul. Und so saßen wir da und aßen und tranken, und weil die beiden leeren Stühle an der Tafel ungemütlich waren, so schoben wir sie weg. Bei meinem Vormund geschah alles gründlich und ausgiebig, nach eins waren wir zu Tische gegangen, kurz vor sechs wurde der Kaffee serviert. Da erst erinnerte er sich des ausgebliebenen Freundes und schickte nochmals hinüber. Diesmal kehrte der Diener sehr bald zurück.

»Nun?« rief ihn der alte Herr an. »Ist er zu Hause?«

»Ja, seit zwei Uhr!«

»Warum kommt er nicht?«

»Er kann nicht!«

»Ist er krank?«

»Tot ist er!« stieß der Diener hervor. »An der Cholera gestorben, der Doktor Atlas war bei ihm.« Einige Minuten später war der Saal leer, die Gesellschaft zerstoben, als ob der Tote selbst in ihrer Mitte erschienen wäre. Auch meine Mutter und ich gingen heim.

Als wir an dem Häuschen jener Pfarrerswitwe vorübergingen, stand die alte Frau vor der Tür und spähte besorgt die Straße auf und nieder. »Ist der Kossowicz zu Hause?« fragte ich.

»Nein!« rief sie. »Ich sterbe vor Angst! Zum Essen nicht heimgekommen! In den neun Jahren, wo er bei mir wohnt, habe ich das nicht erlebt. Er und vom Essen wegbleiben! Es ist ihm etwas passiert. Die Cholera! Wenn ich nur wüßte, wo ich ihn suchen soll.«

Da wußte auch ich keinen Rat. Ich suchte sie zu beruhigen und bat, mich wissen zu lassen, wenn er wieder zurück sei.

Eine Stunde später kam das Kind der Witwe, Kossowicz sei eben heimgekommen und lasse mich bitten, ihn zu besuchen, er sei nicht ganz wohl.

Meine Mutter schärfte mir Vorsicht ein, ließ mich aber hingehen.

Ich traf ihn auf der Bank im Gärtchen vor dem Haus. Er war bleich und trug trotz der Schwüle seine »Bunda« (rumänischer Bauernmantel) umgeschlagen, als fröstelte es ihn. »Halt!« rief er mir entgegen, als ich das Gärtchen betrat. »Halt!« rief er noch einmal, als ich einige Schritte vorwärts tat. »Komm mir nicht zu nahe, ich war ich eben bei einem Cholerakranken!«

»Bei wem?«

»Bei Lang!«

Ich traute meinen Ohren nicht, er aber erzählte:

»Ich geh' ich um elf Uhr zu ihm! Wozu? Um ihn zu ohrfeigen. Dann soll man mich meinetwegen aufhängen, aber der schlechte Mensch soll seine Lehre haben. Komm ich hin. Sagt sein Mädchen: ›Herr Professor nicht zu Haus.‹ Frag ich: ›Wann kommt?‹ Sagt sie: ›Um zwei, nach dem Essen.‹ Ich lauf' ich bis halb zwei im Volksgarten herum, ganz wütend, und ich wiederhol' ich immer, was ich ihm sagen will. Dann stell' ich mich vor sein Haus. Umsonst. Kommt nicht. Endlich kommt, aber im Wagen. Ganz blaß, ganz elend. Denk ich: ›Schlecht! Kranken kann man nicht hauen!‹ Will gehen. Da seh' ich, er kann nicht mehr selbst vom Wagen. Tret' ich zu, helf' ich ihm. Sagt er: ›Vorsicht! Mir scheint – die Cholera.‹