Klabund: Moreau. Roman eines Soldaten
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Auguste Couder, Der Tod des General Moreau, 1813
ISBN 978-3-7437-0469-5
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-7437-0411-4 (Broschiert)
ISBN 978-3-7437-0412-1 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck: Berlin, Reiß, 1916
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Moreau schlug mit der Hand in die Luft.
Die Bretagne blendete.
Mütterliche Güte strich über seine Stirn.
Seine Wimpern zitterten. Er wollte weinen. Aber er schlief ein.
Hallo! Welch ein Lärm! Zusammenklang der blechernen Trompeten und hölzernen Schwerter. Schreie der kleinen Puppen mit Muschelaugen und grasgrünen Kleidern. Moreau tritt in die Reihe der Geschwister mit einem Papierhelm und einer Haselnußstaude als Degen.
Papa blickt über seine Hornbrille von den grauen Akten auf.
»Was willst du werden, Victor?«
Moreau salutiert: »General.«
Man lacht. Soweit man mit einem verstaubten Herzen noch lachen kann. Selbst die Akten lachen.
»Sieh da, General! Natürlich General! Madame, hören Sie nur, er will General werden! Der Tausend.«
Am Abend gab es Käse zum Diner.
Moreau aß keinen Käse.
Papa setzt die Hornbrille ab. Seine Augen hängen ihm wie Quallen aus dem Gesicht. Pfui, was für häßliche Augen, denkt Moreau.
»Du mußt den Käse essen.«
Moreau sah dem Alten starr auf die Stirn:
»Nein.«
Der Alte nahm die Haselnußstaude, die heute morgen Moreau als Degen gedient hatte.
Moreau sprang auf. Ein Puma. Er riß dem Alten den Stock aus der Hand.
»Mein Schwert«, schrie er, »mein Schwert.«
Dann warf er sich auf den Boden, biß die Zähne in die Diele und blieb die ganze Nacht so liegen.
Jeannette ist die Tochter des Bäckermeisters Renoir zu Morlaix.
Sie ist gleichaltrig mit Moreau, vierzehn Jahr.
»Ein kleines Weißbrot, bitte«, sagte Moreau. Er spart sich Sous, um Weißbrot zu kaufen.
Er hat so viel Überfluß an Weißbrot in seiner Schublade, daß er seinen Hund Rire damit zu Tode füttert.
»Wo ist Ihr kleiner Hund?« fragt Jeannette, ich sehe ihn nicht mehr.«
»Er ist tot. Er hat zuviel Weißbrot gefressen.«
Jeannette lacht.
»Oh, lala ...«
»Aber Sie leben noch, Victor, Sie essen doch auch ungewöhnlich viel Weißbrot?«
Man muß den Hund begraben.
Jeannette pflanzt eine Rose auf seinem Grab.
Ihre Hände begegnen sich.
Moreau packt sie an den Handgelenken.
Glück einer Sekunde. Glück einer Ewigkeit. Sterne läuten von allen Türmen.
Die kleine Kathedrale von Morlaix dröhnt.
Die Wälder sind voll Echo.
Der Himmel schlägt wie Meer rauschend an die Gestade seiner Brust.
Victor! Viktoria! Sieg!
Die Gartentür knarrt.
Jeannette ist nicht mehr da.
Er sinkt an einen Baum.
Die rauhe Rinde schneidet in seine Stirn.
Himmel, ein Zeichen! Gib ein Zeichen!
Winde verdüstern den Glanz.
Eine Wolke platzt donnernd.
Regen rast.
Moreau läuft durch den Garten.
Von den Nelken zu den Rosen.
Von den Rosen zu den Aprikosenbäumen. Zum Salatbeet. Zu den Kartoffeläckern, draußen, wo der braune Fluß der Felder strömt.
Die Strähnen schwarz und feucht in die Stirne hängend, verglommen und beklommen, tritt er ins Haus. Seine blaue Bluse klatscht am Körper. An seinen Sandalen klebt Lehm und Wiese.
Seine Augen sind betaut vom Regen wie zwei violette Blüten.
Madame ist entsetzt.
»Aber Victor, du blutest ja an der Stirn!«
Sie eilt, ein nasses Tuch zu holen.
Er sieht in den Spiegel: ein schmales rotes Kreuz ist in seine Stirn gepreßt. Ein Kreuz, wie es die schlanken Bäuerinnen Sonntags zum Kirchgang an einer silbernen Kette um den Hals tragen.
Der Baum! Jeannette! Das Zeichen!
»Nicht stillen, die Wunde! Mutter! Nicht stillen! Laß das Blut laufen!«
Seine Augen rollen wild und groß.
Madame fürchtet sich. Vor Stolz.
Er wird groß, ihr Junge. Er erwächst.
Sie erzählt es am Abend ihrem Gatten.
»Victor müßte ein Ritter werden.«
»Warum? Es gibt keine Ritter mehr.«
Sie blätterte in ihrer zierlichen Anthologie französischer Verse.
»Er ist tapfer und fromm.«
»Fromm?«
»Er betet jeden Abend zu Gott.«
»Zu welchem Gott? Voltaire hat die Götter abgeschafft.«
»Voltaire ist ein Dichter und braucht keinen Gott. Sein Stil ist sein Gott. Ihm mag's genügen. Aber du bist ein Advokat. Wenn du keinen Gott hast, was hast du dann?«
Er schob die Hornbrille auf die Stirn.
»Ich habe dich, meine Teure.«
Zärtlich führte er ihre Hand an seine Lippen.
Sie lächelte.
»Ich lasse mich gern durch Komplimente aufklären, aber bitte, versuch' es nicht mit Diderot bei mir. Und gönne Victor seinen Gott. Er wird schwer genug an ihm zu tragen haben. So schwer, wie eine Mutter an ihrem Kinde trägt.«
Der Advokat hörte nicht hin.
»Ich bin müde, Madame. Das Licht, bitte.«
Sonderbar, dachte sie: er ist das Sinnbild einer ganzen Generation, die müde wurde und die sich mit einer Kerze zum Schlaf geleiten läßt. Und nur bei einem öligen Nachtlicht schlafen kann.
Victor, glaube ich, fühlt sich wohler im Dunkeln.
Victor nimmt, siebzehnjährig, Dienst in einem Infanterieregiment. Er schläft mit fünfzig in einem Saal.
Der Geruch der vielen Männer betäubt ihn.
Wie ihn einst der Erdgeruch betäubte, als er mit Jeannette ins Gras sank.
Wie roch eigentlich Jeannette?
Er wußte es nicht mehr.
Oder: doch. Sie duftete wie leichter, ganz leichter Südwind.
Die Männer nahmen ihn in ihre Mitte.
Er war nun selbst ein Mann.
Das machte ihn stark.
Jeden Morgen um fünf tönte die Reveille.
Er sprang zur Tür und sah nach dem Wetter.
Rosengrau dämmerte der Osten. Der Horizont lag leer und unausgefüllt da wie ein schlaffer Schlauch.
Der Schritt der Schildwache tickte wie eine Uhr regelmäßig im Hof.
Ein alter Korporal stand am Brunnen und wusch sich.
Er stand vollkommen nackt, mit weißem, triefendem Bart wie Poseidon.
»Ah, mein kleiner Moreau. Sieh da. Gut geschlafen?«
Moreau hatte schlecht geschlafen.
Moreau hatte geträumt.
Die Narbe auf meiner Stirn läßt mich nicht ruhen.
Ich muß wie Jesus Christ mein Kreuz tragen.
»Korporal, bitte, betrachten Sie meine Stirn. Blutet sie nicht?«
Der Korporal prustete sich an ihn heran.
»Du träumst, mein Junge.«
Moreau trat an den Brunnen. Er pumpte sich einen Kübel voll.
Wie er ihn hochhob, war die Sonne aufgegangen, und ihm schien, als gösse er sich die Sonne übers Genick, so brannte ihn das eiskalte Wasser.
Moreau war ein Soldat des Königs.
Eines Tages sah er ihn von ferne: ein matter Mensch mit eleganten, nachlässigen Augen und einem funkelnden Dreispitz.
Seine linke Hand hing bösartig wie eine Schlange über den Wagenschlag.
Zu seiner Seite saß eine dicke, blond und rosa bemalte Puppe.
Ein dünnes Lächeln war ihm mit ganz feinem Pinsel um die Mundwinkel gezogen.
Moreau grüßte.
»Seine Mätresse«, sagte Moreaus Kamerad, ein welterfahrener Spanier kreolischen Geblütes, und spuckte aus. »Er hat hundert. Oder auch tausend. Wie es ihm beliebt. Und es beliebt ihm.«
»Sind sie alle so dick?« fragte Moreau betroffen und schon angewidert von einer Majestät, die ihm einst dünkte, wie ein Gestirn über den Menschen zu schweben.
»Sie sind alle so dick«, schnaubte der Spanier. »Und die meisten sind noch viel dicker.«
Ein fades, süßliches Aroma strömte durch die Allee.
»Sind das die Linden?« fragte Moreau.
»Junge: die Linden blühen noch nicht. Das ist die Mätresse des Königs, die so duftet.«
Moreau trat hinter eine Hecke und erbrach.
Der Spanier wiegte sich erheitert in den Hüften.
Moreau dachte, was für einen ehrlichen starken Geruch die fünfzig Mann in seinem Schlafsaal haben.
Sie riechen, wie Männer riechen sollen. Wie es die Natur ihnen zugeeignet hat.
Was sollte er mit Frauen: er, ein Soldat, der den Geruch der Erde, der Männer, des Weines, des Blutes und der Pferde liebte?
Er würde nie mehr eine Frau berühren.
Er erinnerte sich an Jeannette.
Aber Jeannette war dürr wie ein Knabe gewesen.
Und sie hatte geduftet: fern und leicht wie ein leiser Südwind.
Einige Tage später brachte der Spanier, der immer allerlei Neuigkeiten wußte, eine Nachricht in die Kaserne, die nur vorsichtig und im Flüsterton verbreitet werden durfte.
Moreau erfuhr sie nachmittags in einer Taverne, wo er mit dem alten Korporal und einem jungen Fähnrich, namens Rapatel, beim Roten hockte und würfelte.
Un ... deux ... trois ...
Moreau knallte den Becher auf die Tischplatte.
Dix-huit.
»Achtzehn! Holla! Das ist meine Zahl, achtzehn Augen beim Würfeln! Achtzehn Jahre bin ich alt!«
»Und achtzehn Mädchen hast du lieb«, scherzte der junge Fähnrich.
Moreau verdunkelte sich.
Der Fähnrich errötete hilflos. Da kam der Spanier, griff nach dem Becher, schlug um: sechzehn.
»Ludwig XVI.«
Er warf sein Gesicht in Falten und murmelte hinein: