Thomas Wolfe: Die Geschichte eines Romans
Übersetzt von Hans Schiebelhuth
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Carl van Vechten, Thomas Wolfe, 1937
ISBN 978-3-8430-9153-4
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-8430-9091-9 (Broschiert)
ISBN 978-3-8430-9092-6 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
The Story Of A Novel. Erstdruck: New York, Scribner, 1936. Hier in der Übersetzung von von Hans Schiebelhuth, Zürich, Arche Verlag.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.
Ein Verlagsleiter, ein Mann, der auch ein guter Freund von mir ist, sagte mir vor etwa einem Jahr, es täte ihm leid, dass er nicht Tagebuch geführt hätte über jene Arbeit, die wir gemeinsam getan haben, das Zurechtschlagen, Abdämmen, Fließenlassen, Auffangen und Zuendebringen, die zehntausend Anproben, Änderungen, Siege und Übergaben beim Fertigmachen eines Buches. Manches, bemerkte dieser Mann, wäre phantastisch, vieles unglaublich und das Ganze erstaunlich gewesen, und obendrein hatte er die Liebenswürdigkeit, zu sagen, diese Arbeit stelle die interessanteste Erfahrung dar, die er in den fünfundzwanzig Jahren seiner literarisch-verlegerischen Herausgebertätigkeit gemacht hätte.
Von dieser Erfahrung möchte ich hier sprechen.
Ich kann keinem Menschen sagen, wie man Bücher schreibt; ich kann auch nicht versuchen, Regeln aufzustellen, nach denen jemand instand gesetzt sein würde, seine Bücher bei Verlagen, seine Geschichten bei gutzahlenden Zeitschriften unterzubringen. Ich bin kein Erwerbsschriftsteller, ich bin nicht einmal gelernter Schriftsteller, ich bin einfach ein Schriftsteller, der im Begriff steht, sein Handwerk zu lernen, der gerade dabei ist, auf den Gebieten der Linienführung und Baufügung und der sprachlichen Verdeutlichung jene Entdeckungen zu machen, die er notwendig machen muss, um die Arbeit leisten zu können, die er leisten will. Gerade aus diesem Grund, eben weil ich patze, weil noch meine gesamte Lebenskraft und meine ganze Begabung in diesen Entdeckungsvorgang einbezogen sind, aus diesem Grund spreche ich, wie ich hier spreche. Ich möchte erzählen, wie und auf welche Art und Weise ich ein Buch schrieb. Das wird äußerst persönlich werden. Die Arbeit an dem Buch nämlich hat mich mehrere Jahre lang aufs äußerste und heftigste in Anspruch genommen, ist für mich des Daseins eigenster und innigster Anteil gewesen. Es ist nichts sehr Literarisches an der Sache. Es ist vielmehr eine Geschichte von Schweiß und Qual und Verzweiflung und teilweisem Gelingen. Ich weiß noch gar nicht, wie man eine Geschichte schreibt, ich weiß noch gar nicht, wie man einen Roman schreibt. Aber ich habe etwas über mich selbst und über schriftstellerisches Arbeiten ausfindig gemacht, und wenn ich's vermag, möchte ich sagen, was es ist.
Ich weiß nicht, wann ich zuerst auf den Gedanken kam, Schriftsteller zu werden. Wahrscheinlich bildete ich mir wie viele Amerikaner meiner Generation ein, es sei eine feine Sache, Schriftsteller zu sein, und damit ein Mann wie Lord Byron, Lord Tennyson, Longfellow oder Percy Bysshe Shelley. Ein Schriftsteller musste wie alle hier von mir Genannten Ausländer sein, und da ich selbst Amerikaner war, und nicht zur vermögenden oder studierenden Klasse gehörte, meinte ich, ein Schriftsteller gehöre einer isolierten Gruppe von Menschen an, zu der ich nie Zugang haben würde. Ähnlich dachten wir wohl alle oder doch wenigstens die meisten Amerikaner. Das seltsame Wesen des schriftstellerischen Berufes irritiert uns nach wie vor mehr als irgendein anderes Volk der Erde, das ich kenne. Ich glaube, das ist auch der Grund, weshalb viele unserer Landsleute, vor allem die arbeitenden Schichten und die Menschen vom Lande, von denen ich selbst abstamme, voller Verwunderung und Zweifel und voller romantischer Gefühle dem Schriftsteller gegenüberstehen. So können sie sich auch kaum vorstellen, dass ein Schriftsteller durchaus einer von ihnen sein kann und nicht unbedingt ein Mann aus fernen Ländern sein muss, wie es Lord Byron, Tennyson oder Percy Bysshe Shelley waren. Andere Amerikaner wieder, die den akademisch gebildeten Kreisen angehören und die sich ebenfalls, aber auf andere Art, von Glanz und Differenziertheit dieses Berufes blenden lassen, geraten unter den Einfluss der Literatur; ihre Verständnisbereitschaft geht dann weiter als die ebenso stark von ihr beeinflusster gebildeter Europäer. Sie gebärden sich flaubertischer als Flaubert. Die Besten unter ihnen gründen kleine Zeitschriften und betreiben in ihren Spalten literarische Haarspaltereien, wobei sie dann mehr Haare spalten, als es sich Europäer je einfallen lassen würden. In Europa fragt man sich: »Mein Gott, wo kommen nur alle diese ästhetisierenden Amerikaner her?« Wir kennen das ja alles. Ich glaube, jeder, der in diesem Lande den Versuch unternommen hat, zu schreiben, gehörte erst einmal zu einer dieser beiden Gruppen wohlmeinender aber irregeführter Menschen. Wenn wir schließlich wirklich Schriftsteller geworden sind, so sind wir es trotz dieser Menschen geworden. Ich weiß nicht, wie ich Schriftsteller wurde, glaube aber, dass in mir eine gewisse Kraft danach verlangte, zu schreiben, die schließlich durchbrach und sich ihren Weg bahnte. Meine Familie gehörte zur arbeitenden Bevölkerung. Mein Vater, ein Steinmetz, war ein Mann, der der Literatur Achtung und Bewunderung entgegenbrachte. Er besaß ein erstaunliches Gedächtnis und liebte die Poesie. Und die Poesie, die er am meisten liebte, war rhetorischer Art, wie sie ein solcher Mann naturgemäß bevorzugen musste. Trotzdem war es gute Poesie. Hamlets Monolog, Macbeth, Marc Antons Rede, Greys Elegie und anderes dieser Art. Ich hörte das alles schon als Kind, prägte es mir ein und machte es zu meinem geistigen Besitz. Er schickte mich ins College auf die Staatsuniversität. Schon während meiner Schultage war der Wunsch, zu schreiben, in mir lebendig gewesen. Jetzt wurde er noch stärker. Ich war Herausgeber der College-Nachrichten, der College-Zeitschrift und so weiter. In den letzten ein bis zwei Jahren meines Studiums gehörte ich einer Arbeitsgruppe für Dramatik an, die man dort kürzlich gegründet hatte. Ich schrieb verschiedene kleine Einakter, zweifelte aber nicht daran, dass ich schließlich doch Rechtsanwalt oder Journalist werden würde. Nie hätte ich ernsthaft gewagt zu glauben, dass ich wirklich ein Schriftsteller werden würde. Dann ging ich an die Harvard-Universität. Auch dort schrieb ich noch einige Stücke und, besessen von der Idee, Dramatiker zu werden, verließ ich Harvard. Meine Stücke wurden jedoch abgelehnt. Schließlich fing ich im Herbst des Jahres 1926 an, mein erstes Buch zu schreiben; es war in London. Ich könnte nicht sagen, wie es dazu kam, warum ich es schrieb, oder auf welche Weise. Ich bin selbst nie recht dahinter gekommen, vermute aber, dass die unbestimmte Kraft in mir, die schon lange zum Schreiben drängte, und die sich ihren Weg bahnen wollte, mich dazu antrieb. Damals lebte ich ganz allein. Ich bewohnte zwei Zimmer, ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer in einem Hause, das an einem kleinen Platz in Chelsea lag, und mit seinen verräucherten Ziegeln, seinem cremegelben Verputz aussah wie alle Londoner Häuser. Wie schon gesagt, lebte ich damals allein und dazu noch in einem fremden Lande. Ich ahnte nicht, warum ich eigentlich dort war, oder welche Richtung mein Leben nehmen würde, und in dieser Verfassung begann ich mein Buch zu schreiben. Ich glaube, das ist die härteste Zeit, die ein Schriftsteller durchmacht. Es gibt für ihn keine Vergleichsmaßstäbe, kein Urteil von anderer Seite, an dem er seine Leistung messen könnte. Tagsüber schrieb ich stundenlang in große Geschäftsbücher, die ich mir zu diesem Zwecke gekauft hatte. Nachts pflegte ich dann mit hinter dem Kopf verschränkten Händen im Bett zu liegen und darüber nachzusinnen, was ich an dem betreffenden Tag geschrieben hatte. Draußen hörte ich den festen Polizeistiefeltritt des Londoner Bobby, der unter meinem Fenster vorbeiging. Ich erinnerte mich daran, dass ich in Nord Carolina geboren war und wunderte mich, wie zum Teufel ich jetzt hier in London in der Dunkelheit zu Bett lag und über Worte nachdachte, die ich an dem betreffenden Tag zu Papier gebracht hatte. Ein Gefühl äußerster Ausgehöhltheit und Vergänglichkeit überkam mich, und ich stand auf, machte Licht und las die Worte, die ich an dem betreffenden Tag geschrieben hatte, nach. Dann wunderte ich mich wieder: Warum bin ich jetzt hier? Wieso bin ich hierher gekommen?
Am Tag umgab mich der betäubende Lärm Londons und das golden-gelb neblige Oktober-Licht dieser Stadt. Das von Menschen wimmelnde, alte, spinnwebartige, rauchige London! Wie liebte ich diese Stadt, wie hasste ich und wie verabscheute ich sie!
Ich kannte niemanden hier, und vor langer Zeit war ich in Nord Carolina ein Kind gewesen. Aber jetzt lebte ich hier. In zwei Zimmern, in den gewaltigen Fangarmen des Oktopus, in dem grenzenlosen Spinnennetz dieser überwältigenden Stadt. Ich wusste nicht, warum ich hierher gekommen war, weshalb ich überhaupt hier war. Unter solchen Gefühlen und Gedanken arbeitete ich dort Tag für Tag. Dann kam ich im Winter nach Amerika zurück und arbeitete auch dort wieder. Tagsüber gab ich Unterricht und die ganze Nacht schrieb ich. Schließlich, zweieinhalb Jahre, nachdem ich in London das Buch begonnen hatte, beendete ich es in New York.