Maxim Gorki: Die Kleinbürger. Drama in vier Aufzügen
Übersetzt von August Scholz
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Pavel Filonov, Ostern, 1912-1913
ISBN 978-3-7437-0078-9
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-86199-518-0 (Broschiert)
ISBN 978-3-86199-519-7 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck: Sankt Petersburger Verlagsgesellschaft, 1902. Hier in der Übersetzung von August Scholz, Berlin, 1902.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.
Bessemjónow, Wassílij Wassíljewitsch, 58 Jahre alt, wohlhabender Kleinbürger, Ältester der Malerzunft
Akulína Iwánowna, seine Frau, 52 Jahre alt
Pjotr, ehemaliger Student, 26 Jahre alt
Tatjána, Lehrerin an einer Volksschule, 28 Jahre alt, seine Kinder
Nil, Pflegesohn Bessemjónows, Lokomotivführer, 27 Jahre alt
Pertschíchin, entfernter Verwandter Bessemjónows, Vogelhändler, 50 Jahre alt
Pólja, seine Tochter, Näherin, arbeitet gegen Tagelohn im Hause, 21 Jahre alt
Jeléna Nikolájewna Kriwzówa, Witwe eines Gefängnisinspektors, wohnt bei den Bessemjónows zur Miete, 24 Jahre alt
Téterew, Kirchensänger,
Schíschkin, Student,
Zwtájewa, Lehrerin, Freundin Tatjanas, 25 Jahre alt, Kostgänger der Bessemjonows
Stepanída, Köchin
Ein Arzt
Ein Malerlehrling
Ein Weib von der Straße
Ort der Handlung: eine kleine Provinzstadt.
Wohnzimmer in einem wohlhabenden kleinbürgerlichen Hause. Die rechte Ecke ist durch zwei blinde Scheidewände abgeschnitten; sie ragen unter einem rechten Winkel in das Zimmer hinein, und indem sie seinen Hintergrund verengern, bilden sie im Vordergrund ein zweites kleines Zimmer, das von dem großen Zimmer durch einen hölzernen Bogen abgeteilt ist. Durch den Bogen ist ein Draht gezogen, an dem ein bunter Vorhang hängt. In der hinteren Wand des großen Zimmers – eine Tür nach dem Hausflur und der anderen Hälfte des Hauses, in der sich die Küche und die Zimmer der Kostgänger befinden. Links von der Tür – ein großer, schwerer Geschirrschrank, in der Ecke eine Truhe, rechts eine altertümliche Wanduhr in einem Gehäuse. Der mondgroße Perpendikel pendelt hinter dem Glase langsam hin und her, und wenn es im Zimmer still ist, hört man sein seelenloses Ticktack! Ticktack! In der linken Wand – zwei Türen: die eine führt in das Zimmer der Alten, die andere zu Pjotr. Zwischen den Türen ein mit weißen Kacheln ausgelegter Ofen. Neben dem Ofen ein mit Wachstuch überzogenes Sofa, davor ein großer Tisch, auf dem zu Mittag gegessen und Tee getrunken wird. Billige Wiener Stühle sind in langweiliger Regelmäßigkeit an den Wänden aufgestellt. An der linken Wand, ganz am Rande der Szene, ein Glasspindchen, darin allerhand bunte Schächtelchen, Ostereier, ein Paar Bronzeleuchter, Tee- und Eßlöffel, eine Anzahl silberner Becher und Gläser. In dem Zimmer hinter dem Bogen, an der dem Zuschauer gegenüberliegenden Wand – ein Klavier, eine Etagere mit Noten, in der Ecke ein Philodendronkübel. In der rechten Wand – zwei Fenster, auf den Fensterbrettern Blumentöpfe, vor den Fenstern eine Chaiselongue, daneben, an der vorderen Wand – ein kleiner Tisch.
Es ist Abend, gegen fünf Uhr. Herbstliche Dämmerung schaut durch die Fenster. In dem großen Zimmer ist es fast dunkel.
Tatjana, halb liegend auf der Chaiselongue, liest in einem Buch; Polja am Tisch, näht.
TATJANA liest. »Der Mond ging auf. Und es war seltsam zu schauen, wie von ihm, der so klein und so traurig war, auf die Erde so viel silberblaues, sanftes Licht niederfloß ...« Wirft das Buch in ihren Schoß. Es ist dunkel.
POLJA. Soll ich die Lampe anzünden?
TATJANA. Nicht nötig. Ich bin müde vom Lesen ...
POLJA. Wie schön das geschrieben ist! So einfach ... und so wehmutsvoll ... es greift einem ans Herz ... Pause. Ich möcht gar zu gern wissen, wie es endet!? Ob sie sich heiraten – oder nicht?
TATJANA ärgerlich. Darauf kommt's doch nicht an ...
POLJA. Ich könnte mich in einen solchen Mann nicht verlieben – nein!
TATJANA. Weshalb nicht?
POLJA. Er ist so langweilig ... und er jammert in einem fort ... weil er sich selbst nicht traut ... Ein Mann muß wissen, was er im Leben zu tun hat.
TATJANA leise. Und ... Nil – weiß der es?
POLJA zuversichtlich. Gewiß weiß er's!
TATJANA. Nun – was will er denn?
POLJA. Ich ... kann Ihnen das nicht so auseinandersetzen ... aber ich seh's aus der Art, wie er spricht ... Die schlechten Menschen ... die bösen, habgierigen – werden jedenfalls übel mit ihm fahren! Er liebt sie nicht.
TATJANA. Wer ist böse? Und wer – gut?
POLJA. Er weiß es! Tatjana schweigt, ohne Polja anzusehen. Polja nimmt lächelnd das Buch von ihrem Schoß. Wie schön das geschrieben ist! Sie ist wirklich gar zu reizend ... so geradezu, so einfach und herzlich! Wenn man eine Frau so liebevoll geschildert sieht, kommt man sich selbst besser vor ...
TATJANA. Wie naiv ... Du bist wirklich spaßig, Polja! ... Mich kann diese ganze Geschichte nur wütend machen. Es gab nie ein solches Mädchen! Und auch eine solche Meierei, einen solchen Fluß, einen solchen Mond und so weiter – hat es nie gegeben! Alles das ist erfunden. Niemals schildern sie das Leben in den Büchern so, wie es wirklich ist ... Wir zum Beispiel ... ich und du ...
POLJA. Sie schildern eben nur das Interessante. Und was ist an unserem Leben interessant?
TATJANA ohne auf sie zu hören, gereizt. Ich habe oft den Eindruck, als ob die Bücher von Leuten geschrieben würden ... die mich nicht lieben ... und sich immer mit mir herumstreiten möchten. Als wollten sie zu mir sagen: das da ist besser, als du denkst, und jenes dort – schlechter ...
POLJA. Und ich meine wieder, daß alle Schriftsteller unbedingt gut sein müssen ... Ich möcht gern mal einen Schriftsteller kennenlernen!
TATJANA wie im Selbstgespräch. Das Böse und Abstoßende im Leben schildern sie nicht so, wie ich es sehe ... sondern auf ganz besondere Art ... in größerem Maßstab ... in tragischem Ton. Und das Gute erfinden sie einfach. Niemand macht eine Liebeserklärung so, wie es in den Büchern beschrieben wird! Und das Leben ist durchaus nicht tragisch ... es fließt so ruhig, so einförmig hin ... wie ein großer, trüber Strom. Und wenn du zusiehst, wie ein Strom dahinfließt, dann werden deine Augen müde, du fühlst Langeweile ... und es wird dir so dumm im Kopf, daß du gar nicht darüber nachdenken magst, warum eigentlich dieser Strom dort fließt.
POLJA schaut sinnend vor sich hin. Nein, ich möcht wirklich mal einen Schriftsteller kennenlernen. Wie Sie vorhin vorlasen, dacht ich in einem fort – wie mag er nur aussehen? Ob er jung ist? Oder alt? Blond – oder brünett? ...
TATJANA. Wer?
POLJA. Na, der Schriftsteller ... der das geschrieben hat ...
TATJANA. Er ist tot ...
POLJA. Ach ... wie schade! Schon lange? Ist er jung gestorben?
TATJANA. In mittleren Jahren. Er hat getrunken ...
POLJA. Der Ärmste ... Pause. Warum eigentlich gescheite Leute Branntwein trinken? Unser Kostgänger zum Beispiel, der Sänger ... der ist doch ein kluger Mensch, und – er trinkt! Warum das?
TATJANA. Weil das Leben so langweilig ist!
PJOTR verschlafen, kommt aus seinem Zimmer. Wie dunkel das ist! Wer sitzt denn da?
POLJA. Ich ... und Tatjana Wassiljewna ...
PJOTR. Warum macht ihr kein Licht an?
POLJA. Wir halten Dämmerstunde ...
PJOTR. In meinem Zimmer riecht es so nach Baumöl – der Duft kommt von den Alten herüber ... Davon hatt ich wohl auch die Träume – ich träumte, daß ich in einem Strome dahinschwimme, dessen Wasser so dick ist wie Birkenteer ... So schwer ist's, darin zu schwimmen ... und ich weiß nicht, wohin ich schwimmen soll, und sehe die Ufer nicht ... Trümmer von irgendetwas schwimmen mir entgegen, aber wenn ich nach ihnen greife, zerfallen sie zu Staub ... ganz morsch und faulig sind sie. Albernes Zeug ... Schreitet pfeifend im Zimmer auf und ab. 's ist Zeit, Tee zu trinken ...
POLJA zündet die Lampe an. Ich will gleich alles besorgen ... Ab.
PJOTR. Des Abends ist's hier bei uns ganz besonders eng ... und so ungemütlich. Alle diese vorsintflutlichen Möbel wachsen gleichsam aus dem Boden, sie erscheinen noch größer, noch schwerfälliger ... Sie nehmen die Luft weg, hindern einen am Atmen. Klopft gegen den Schrank. Dieser Speiseschrank steht nun schon achtzehn Jahre auf einem Fleck ... achtzehn Jahre ... Man sagt, daß das Leben rasch dahinflute ... nun, dieses Ungetüm hat es nicht um einen Zoll von der Stelle gebracht ... Wie oft hab ich mir als kleiner Junge an seiner Kante die Stirn wundgeschlagen ... und auch jetzt steht es mir im Wege ... Ein zu dummer Kasten ... Das ist kein Schrank, sondern eine Art Symbol ... der Teufel mag es holen!
TATJANA. Wie langweilig du bist, Pjotr, und deine Lebensweise ... Das ist nicht gut für dich ...
PJOTR. Was für eine Lebensweise?
TATJANA. Du gehst gar nicht aus ... Abend für Abend sitzt du oben bei Lena ... das beunruhigt die Alten ... Pjotr geht pfeifend auf und ab, ohne ihr zu antworten.
TATJANA. Ich weiß nicht – ich bin jetzt immer so matt ... In der Schule ermüdet mich der Lärm und die Unordnung ... und hier – die Stille und Ordnung. Seit Lena im Hause wohnt, geht es bei uns allerdings lustiger zu ... Ja – ich bin wirklich sehr müde! Und bis zu den Feiertagen ist's noch so weit ... November ... Dezember ... Die Uhr schlägt sechs.
BESSEMJONOW steckt den Kopf durch die Tür seines Zimmers. Die Eingabe hast du natürlich wieder nicht geschrieben?
PJOTR. Gewiß doch, gewiß – ich hab sie geschrieben ...
BESSEMJONOW. So – hast du wirklich Zeit dafür gefunden? ... He he! Verschwindet.
TATJANA. Was für eine Eingabe?
PJOTR. Wegen Beitreibung von siebzehneinhalb Rubeln vom Kaufmann Sisow, für Anstreichen eines Schuppendachs ...
AKULINA IWANOWNA kommt mit einer Lampe herein. Es regnet schon wieder. Geht an den Schrank, nimmt Geschirr heraus und deckt den Tisch. 's ist so kalt bei uns. Man heizt und heizt – und es wird nicht warm. Ein altes Haus ... da bläst der Wind durch ... hu–u! Der Vater ist wieder so schlechtgelaunt, liebe Kinder ... im Kreuz tut's ihm weh, sagt er. Wird auch schon alt. Und dabei die ewigen Mißerfolge ... Ärger, große Ausgaben, Sorgen ...
TATJANA zum Bruder. Warst du gestern bei Lena?
PJOTR. Ja ...
TATJANA. War's lustig?
PJOTR. Wie immer ... Tee wurde getrunken, es wurde gesungen ... disputiert.
TATJANA. Wer hat disputiert?
PJOTR. Ich mit Nil und Schischkin.
TATJANA. Wie gewöhnlich ...
PJOTR. Ja. Nil war wieder der begeisterte Optimist ... Ganz wütend hat er mich gemacht ... wie er so lospredigte, vom Lebensmut, von der Liebe zum Dasein ... Lächerlich! Wenn man ihn hört, bekommt man ein ganz sonderbares Bild von diesem Dasein, das kein Mensch näher kennt ... Wie eine amerikanische Tante stellt man sich's vor, die im nächsten Augenblick auftauchen und dich mit allen möglichen Glücksgütern überschütten wird ... Und Schischkin hielt wieder einen Vortrag über den Nutzen der Milch und die Schädlichkeit des Tabaks ... Außerdem wies er mir nach, ich hätte die Denkweise eines Bourgeois.
TATJANA. Immer dasselbe ...
PJOTR. Ja, wie gewöhnlich ...
TATJANA. Sag mal ... gefällt dir Lena sehr?
PJOTR. Sie ist ganz nett ... So lustig ...
AKULINA IWANOWNA. Eine windige Person ist's! Ein leichtsinniges Flittchen! Alle Tage hat sie Gäste, immer Tee und Zucker ... Tanzen und Singen ... Und dabei kann sie sich nicht mal 'nen Waschtisch kaufen! Wäscht sich in einem blechernen Waschbecken und spritzt die Dielen voll ... das Haus ruiniert sie uns ...
TATJANA zu Pjotr. Ich war gestern in Klub ... zum Familienabend. Herr Stadtrat Somow, der Kurator meiner Schule, hat mir kaum mit dem Kopf zugenickt ... ja! Und wie die Mätresse des Richters Romanow in den Saal trat, flog er ihr förmlich entgegen, verneigte sich so tief vor ihr, als ob sie die Frau des Gouverneurs wäre, und küßte ihr die Hand ...
AKULINA IWANOWNA. Der schamlose Kerl! Statt einem ehrbaren Mädchen den Arm zu geben und es respektvoll durch den Saal zu führen ... So vor allen Leuten ...
TATJANA zum Bruder. Nein, denk doch mal! Eine Lehrerin verdient in den Augen dieser Leute weniger Achtung als solch ein lasterhaftes, geschminktes Weib ...
PJOTR. Es lohnt sich nicht, auf solche ... Gemeinheiten zu achten ... Man muß über so etwas erhaben sein ... Das heißt – geschminkt ist sie nicht, wenn sie auch lasterhaft sein mag ...
AKULINA IWANOWNA. Woher weißt du denn das? Hast ihr vielleicht die Backen abgeleckt? Man hat seine Schwester beleidigt – und er verteidigt die Beleidigerin!
PJOTR. Mama! So misch dich doch nicht hinein ...
TATJANA. Nein, wenn Mama dabei ist, kann man wirklich kein Wort reden ... Hinter der Tür zum Hausflur lassen sich schwere Schritte vernehmen.
AKULINA IWANOWNA. Nun, nun! Wie das gleich böse wird ... Du, Pjotr, solltest lieber den Samowar holen, statt hier die Schritte abzuzählen ... Stepanida beklagt sich immer, daß er ihr zu schwer ist ...
STEPANIDA bringt den Samowar herein, stellt ihn neben den Tisch auf den Fußboden und schnappt, während sie sich aufrichtet, nach Luft. Zur Hausfrau. Na, wie's Ihnen beliebt, aber das kann ich nur immer wieder sagen – um so 'nen Satan zu schleppen, dazu reichen meine Kräfte nicht aus. Die Beine knicken einem ja ein!
AKULINA IWANOWNA. Soll ich vielleicht extra jemanden dazu halten – wie?
STEPANIDA. Wie Sie wollen. Mag doch der Sänger ihn reintragen, dem macht's nichts aus. Pjotr Wassilitsch, stellen Sie doch den Samowar auf den Tisch ... ich bin zu schwach dazu!
PJOTR. Na, gib mal her ... äh!
STEPANIDA. Dank auch schön. Ab.
AKULINA IWANOWNA. Sie hat eigentlich recht, Petja – sag du es doch dem Sänger, er möcht immer den Samowar reinbringen! Tu's doch!
TATJANA seufzt schwermütig. Ach, mein Gott ...
PJOTR. Soll ich ihm nicht auch sagen, er soll Wasser vom Brunnen holen, die Dielen scheuern, den Schornstein fegen und womöglich die Wäsche waschen?
AKULINA IWANOWNA mit einer ärgerlichen Handbewegung nach Pjotr. Rede doch keinen Unsinn! Das alles wird ja besorgt, auch ohne ihn ... Aber den Samowar hereinbringen ...
PJOTR. Mama! Jeden Abend bringst du diese schicksalsschwere Frage aufs Tapet – die Frage, wer den Samowar hereinbringen soll. Und glaube mir, diese Frage wird nicht eher entschieden werden, als bis ihr euch einen Hausknecht mietet ...
AKULINA IWANOWNA. Was, zum Kuckuck, soll uns ein Hausknecht? Der Vater macht doch alles selber, was im Haus nötig ist ...
PJOTR. Das nennt man eben knauserig sein ... Und knausern ist nicht hübsch von jemandem, der Geld auf der Bank liegen hat ...
AKULINA IWANOWNA. Pst! Still doch! Wenn dich der Vater hört – der wird dir die Bank anstreichen! Hast du vielleicht das Geld auf die Bank getragen?
PJOTR. Hör mal, Mama!
TATJANA aufspringend. Petja, hör du wenigstens auf ... Die Geduld geht einem aus ...
PJOTR tritt auf sie zu. Na, so schrei doch nicht! Eh man sich's versieht, steckt man mittendrin in diesen Zänkereien ...
AKULINA IWANOWNA. Da, wie sie sich haben! Der eigenen Mutter erlauben sie nicht, ein Wort zu sagen ...
PJOTR. Jeden Tag und jeden Tag – immer dasselbe ... Wie Rost legt es sich einem von diesen Reibereien auf die Seele, wie eine Staubschicht ...
AKULINA IWANOWNA ruft in die Tür ihres Zimmers hinein. Vater! Komm Tee trinken ...
PJOTR. Sobald die Frist meiner Ausschließung von der Universität abgelaufen ist, geh ich wieder nach Moskau. Dann komm ich hierher immer nur höchstens auf eine Woche, wie früher. In den drei Jahren, die ich auf der Universität verbrachte, hab ich mich ganz entwöhnt von zu Hause ... von dieser Knickerei, diesem kläglichen Spießbürgertum. Nichts Schöneres gibt's, als so für sich zu leben, fern von den sogenannten Annehmlichkeiten des Vaterhauses ...
TATJANA. Ich kann leider nirgends hingehen ...
PJOTR. Ich sage dir doch – besuch die Kurse ...
TATJANA. Ach, was sollen mir die Kurse? Ich will leben, leben, und nicht lernen ... verstehst du?
AKULINA IWANOWNA nimmt die Teekanne vom Samowar, verbrennt sich dabei die Hand und schreit auf. Ach, daß dich das Mäuschen beiße!
TATJANA zum Bruder. Und dabei weiß ich gar nicht, was leben heißt – hab gar keine Vorstellung davon! Werde ich's überhaupt können?
PJOTR. Hm – ja, man muß es verstehen, zu leben ... klug muß man's anfassen ...
BESSEMJONOW tritt aus seinem Zimmer, wirft einen Blick auf seine Kinder und nimmt am Tisch Platz. Habt ihr die Kostgänger gerufen?
AKULINA IWANOWNA. Petja! Ruf sie doch ... Pjotr ab; Tatjana tritt an den Tisch heran.
BESSEMJONOW. Habt ihr wieder Würfelzucker gekauft? Wie oft hab ich euch gesagt ...
TATJANA. Aber, Papa, ist denn das nicht ganz gleich?
BESSEMJONOW. Ich rede nicht mit dir, sondern mit der Mutter. Dir ist natürlich alles gleich, das weiß ich.
AKULINA IWANOWNA. Nur ein Pfund hab ich davon gekauft, Vater! 's ist noch ein ganzer Hut da, aber es war keine Zeit, welchen zu klopfen ... Sei nicht böse! ...
BESSEMJONOW. Ich bin durchaus nicht böse ... Ich sage nur: gesägter Zucker zieht Feuchtigkeit an und ist nicht süß, also ist's unpraktisch, ihn zu kaufen. Zucker muß immer im Hut gekauft und zu Hause geklopft werden. Das gibt freilich Krümel ... aber die kann man wieder beim Kochen verbrauchen. So bleibt der Zucker süß ... und ist bekömmlich. Zu Tatjana. Was ziehst du wieder die Stirn kraus und seufzest?
TATJANA. Nichts, nichts ... nur so ...
BESSEMJONOW. Wenn dir nichts fehlt, dann laß gefälligst das Seufzen. Fällt's dir so schwer, zuzuhören, wenn dein Vater etwas sagt? Nicht meinetwegen rede ich, sondern um euretwillen, ihr junges Volk. Wir sind fertig mit dem Leben, ihr – sollt erst noch anfangen zu leben. Wenn man euch so ansieht, begreift man's wirklich nicht, wie ihr's eigentlich halten wollt mit eurem Leben. Was für Absichten habt ihr? Unsre Ordnung hier gefällt euch nicht, das sehen und fühlen wir ... Was für eine Ordnung aber habt ihr euch ausgedacht? Das ist die Frage! Hm – ja ...
TATJANA. Papa, sag doch – zum wievielten Mal hör ich das schon von dir?
BESSEMJONOW. Und ich werde es dir immer und immer wieder sagen, bis ans Grab! Denn ich fühle mich beunruhigt – beunruhigt durch die Sorge um euch ... Es war unrecht von mir und unüberlegt, daß ich euch eine bessere Bildung habe geben lassen ... Jetzt habe ich die Bescherung: Pjotr ist von der Universität weggejagt, und du – bist eine alte Jungfer geblieben ...
TATJANA. Ich arbeite ... ich ...
BESSEMJONOW. Weiß ich, weiß ich. Aber wer hat Nutzen von deiner Arbeit? Deine fünfundzwanzig Rubel monatlich – kein Mensch braucht sie, auch du selbst nicht. Heirate, leb, wie es Sitte und Ordnung verlangt – und ich will dir selbst fünfzig Rubel monatlich zahlen ...
AKULINA IWANOWNA rückt während des Gesprächs zwischen Vater und Tochter unruhig auf dem Stuhl hin und her, versucht ein paarmal etwas zu sagen, und fragt schließlich in schmeichelndem Tone. Vater, möchtest du nicht ... etwas Käsekuchen? Es ist noch etwas von Mittag da ... hm?
BESSEMJONOW dreht sich nach ihr um, sieht sie erst ärgerlich an; dann, in den Bart hineinlächelnd. Na, bring ihn mal her, deinen Käsekuchen ... bring ihn, he he!
AKULINA IWANOWNA eilt geschäftig zum Schrank.
BESSEMJONOW zu Tatjana. Sieh doch, wie eure Mutter euch vor mir beschützt: wie 'ne Ente, die ihre Jungen gegen einen Hund verteidigt ... Immerfort zittert und zagt sie, daß ich euch ja nicht mit einem Wort weh tue! ... Ah, unser Vogelhändler! Na, bist du endlich da? Wir dachten schon, du wärst verlorengegangen!
PERTSCHICHIN erscheint in der Tür; hinter ihm Polja, mit leisem Schritt. Friede diesem Hause, dem graubärtigen Hausherrn, der schönen Hausfrau, den lieben Kindern – von Ewigkeit zu Ewigkeit!
BESSEMJONOW. Hast wieder mal ein Gläschen Branntwein genehmigt?
PERTSCHICHIN. Aus Gram!
BESSEMJONOW. Worüber denn?
PERTSCHICHIN erzählt, während er die Anwesenden begrüßt. Einen Finken hab ich heut verkauft ... Drei Jahre lang hab ich ihn gehalten ... getrillert hat er wie'n Tiroler – und jetzt hab ich ihn verschachert! Da kam ich mir so recht gemein vor – und fühlte Gewissensbisse. Der Vogel tat mir leid ... ich hatte mich an ihn gewöhnt ... ich liebte ihn ... Polja nickt lächelnd dem Vater zu.