ANGELS of DAWN

ANGELS of DAWN

Flügelschlag: Arian

Jeanine Krock

Inhalt

Einleitung

Buchstabenmagie

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Leseprobe: 2. Teil – Juna

Einmal Hölle und zurück

Die Autorin

Herzlichen Dank

Impressum

Mehr Bücher von Jeanine Krock

Glossar

ANGELS OF DAWN

Flügelschlag – Arian


Dieser Roman ist der erste Teil des 2010 im Heyne Verlag veröffentlichten Bestsellers

FLÜGELSCHLAG | Ein Engel-Roman


Kann man einen Engel lieben?

Seit Anbeginn der Zeit steht geschrieben: Engel sind gerecht und absolut loyal, aber sie besitzen kein Herz. Arian weiß genau, wer Gefühle zeigt, der wird verstoßen wie einst Luzifer, der Erste unter den Gefallenen. Als sein Makel entdeckt wird, glaubt er, es sei um ihn geschehen. Doch dann kommt es zu dramatischen Vorfällen: Ein Schutzengel nach dem anderen verschwindet spurlos aus Glasgow.


Bevor Arian der Sache nachgehen kann, muss sich der sinnlich schöne Krieger mit höchst irdischen Problemen befassen, denn er landet splitternackt und schwer verletzt in Junas Kleiderschrank. Die bezaubernde junge Tierärztin versorgt seine Wunden und nimmt ihn bei sich auf. Es dauert nicht lange, bis sie gänzlich unbekannte Empfindungen in ihm weckt. Den dunklen Mächten bleibt seine Ankunft jedoch nicht verborgen, und so schwebt Juna plötzlich in höchster Gefahr ...


Geheimnisvoll, übersinnlich und gefährlich – die Engel sind unter uns.


ANGELS of DAWN winged heart

Am Ende des Buches befindet sich ein Glossar mit Erläuterungen zur Welt von ANGELS of DAWN

(siehe Inhaltsverzeichnis)

Buchstabenmagie

»Jedes Mal, wenn ein E-Book illegal weitergegeben oder beschafft wird, stirbt ein Engel.«


Bitte verwende dieses E-Book nur auf Deinen Endgeräten (Reader, Computer, Smartphone, Tablet) zum persönlichen Gebrauch. Jede Weitergabe an andere schadet der Autorin, dem eigenen Karma und verstößt obendrein gegen geltendes Recht hierzulande und in der magischen Welt.

Offenbarung 7,2

»Und ich sah einen anderen Engel aufsteigen vom Aufgang der Sonne her ...«


Wie ein einsamer Tänzer in Trance breitete er die Arme aus und hob das Gesicht dem Himmel entgegen. Die aufgehende Sonne zeichnete messerscharfe Kontraste in die Felsen, und ohne hinzusehen wusste er, dass sein weißes Gewand für wenige Sekunden blutrot leuchten würde, bevor der Tag die Farben der Welt bestimmte. Als es so weit war, ließ er sich im festen Glauben an die Unsterblichkeit rücklings in die Tiefe fallen. Weit unten im Tal, wo die Nacht noch hauste, bremsten dunkle Schatten seinen Flug, genau, wie er es vorausgeahnt hatte. Gleich darauf hätte ein wahrhaft Sehender den Aufstieg des Schattengeborenen in das klare Blau des Sommermorgens beobachten können. Doch außer dem Adler gab es hier niemanden, der dieses Wunder je geschaut hatte.

Grenzenlose Leichtigkeit überwältigte Arian. In keinem anderen Augenblick konnte er sich mehr spüren als im freien Fall, und nirgendwo anders als in diesem heiligen Gebirge am Rande der Welt durfte er es sich gestatten, überhaupt ein Gefühl zuzulassen. Als habe er auf ihn gewartet, gesellte sich der Wind zu ihm. Kennst du deine Grenzen?, raunte er und zerrte an seinen Kleidern, als wolle er den verführerischen Versprechungen von Freiheit Nachdruck verleihen. Doch Arian wusste es besser, als einem Luftgeist zu vertrauen. Ein Teil dieses Universums zu sein, bedeutete auch, sich darin verlieren zu können. Sicherheit und Hochmut waren gefährliche Schwestern.

Arian rollte sich im Flug herum und begann seinen Aufstieg in die über ihm aufgespannte Unendlichkeit. Als er viel zu früh wieder festen Boden unter den Füßen spürte, legte sich sofort eine undurchsichtige Maske über sein Gesicht.


»Komm!« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sich Nephthys um.

Anstatt zu folgen, blieb er einen Augenblick lang stehen und sah ihr nach. Das flüsternde Versprechen ihrer Bewegungen war nicht zu übersehen und doch auf unheimliche Weise kühl. Sie war wahrscheinlich eine der schönsten Frauen, die er je gesehen hatte – ganz gewiss aber war sie die kaltherzigste, und Arian kannte niemanden, der sie überhaupt je berührt hätte. Gerade als sie sich zu ihm umdrehen wollte, setzte er sich in Bewegung. Jeder Wimpernschlag, den er tat, ohne seinen absoluten Gehorsam zu demonstrieren, wie sie ihn von all ihren Kriegern verlangte, war ihm unendlich kostbar. Er wusste, dass sie ihn nur gewähren ließ, weil es ihr gefiel. Dies war ein altes Spiel zwischen ihnen beiden, das seine Faszination niemals verlor.

Wortlos schritt er neben ihr durch die langen Gänge, bis sie nach vielen Drehungen und Wendungen, Treppen und Türen ein geräumiges Büro erreichten. Lautlos schlossen sich die Wände hinter ihnen, und er wusste, was in diesem Raum gesprochen wurde, würde keinen Weg hinaus finden. Hier wurde das Schicksal gemacht, nicht verkündet. Er war einer der Besten, und nichts an ihm verriet seine Gedanken.

Das war auch gar nicht erforderlich, denn Nephthys entging selten etwas. Beste Voraussetzungen für die Herrin der Vigilie, deren Krieger sie als Wächter in die Welt hinausschickte. Und dennoch hatte sie in der langen Zeit, die er nun schon für sie arbeitete, nicht ein einziges Mal erkennen lassen, dass sie von der ungeheueren Abnormität wusste, die sein Inneres beherrschte. Arian senkte den Blick, wie es Brauch war, und wartete.

»Sieh mich an!« Die Art, wie sie ihn betrachtete, ohne auch nur einmal zu blinzeln, erinnerte an ein Reptil auf der Jagd.

Er ließ sich Zeit, dann hob er den Kopf ein wenig höher als notwendig und sah ihr direkt in die Augen. In ihm brach ein Feuer aus, jede Faser seines Körpers schrie gepeinigt auf und verlangte, er solle sich klein machen, fliehen, im hintersten Winkel dieser Welt verbergen; alles tun, um ihrem Zorn zu entgehen. Unwillkürlich nahm er die Schultern zurück. Die Füße leicht auseinander, fest auf dem Boden: Alles an seiner Haltung verriet den Krieger.

»Was soll ich nur mit dir machen?« Nephthys kehrte ihm den Rücken zu und ging ein paar Schritte. Ihre Schultern wirkten steif, als könne sie weder seinen Anblick noch seine Nähe länger ertragen. »Du hättest es mir sagen müssen!«

Arian schwieg.

Er wurde für seine Geduld belohnt, als sie endlich fortfuhr: »Es ist nicht deine Schuld.« Sie hatte die Sterblichen lange studiert und verstand es, Wärme in ihre Worte zu legen.

Doch Arian ließ sich nicht täuschen: Es hatte andere wie ihn gegeben, doch keiner weilte noch unter ihnen. Als er an Gabriel dachte, war der Schmerz kaum noch beherrschbar. Sein ehemaliger Tutor hatte ihn immer wieder davor gewarnt, sich etwas anmerken zu lassen. Allerdings hatte er auch versprochen, die Emotionen, die Arian zu spüren glaubte, seien nicht mehr als ein Phantom, nur Überbleibsel seines Herzens. Doch anstatt zu vergehen, waren sie stärker geworden und immer schwerer zu ertragen. In diesem Augenblick hasste er es, anders zu sein, und verfluchte seine Gefühle.

»Ganz recht!« Sie fuhr herum, in der Linken das Michaelisschwert.

Arian fühlte kurzes Bedauern; doch schnell wurde daraus Erleichterung darüber, dass es mit dem Versteckspiel endlich ein Ende hatte. Stets hatte er zu verheimlichen versucht, was unter seinesgleichen unverzeihlich war: Emotionen nicht nur lesen zu können, sondern auch selbst zu besitzen. Justitias Schicksal war vergleichsweise harmlos. Ihr waren lediglich die Augen verbunden worden, um ihre Unparteilichkeit zu garantieren. Engel wie Arian dagegen besaßen kein Herz, denn es war ihnen nicht erlaubt, Gefühle zu haben. Diese, so hatten sie früh gelernt, störten die Ordnung.

Das also ist das Ende!

Nephthys hielt in der Bewegung inne. »Es ist dir egal?«

Arian schenkte ihr ein müdes Lächeln. »Wenn es das Schicksal so will.« Seine Worte waren noch nicht verklungen, da fand er sich bereits auf dem Boden wieder. Nephthys ragte über ihm auf, Flammen züngelten vor seinen Augen. »Schutzengel verschwinden ...«

Arian hörte ihr nicht weiter zu, seine Gedanken rasten. Schutzengel gehörten zur unteren Ordnung. Sie wurden zwar regelmäßig von Dämonen geplagt und in ihrer Arbeit behindert, doch solange er zurückdenken konnte, hatte niemand wirklich versucht, ihnen etwas anzutun.

»... herausfinden. Ich erlaube nicht, dass jemand unsere Grenzen ungesühnt verletzt. Hast du verstanden?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stieß Nephthys zu, und Arian stürzte aus dem Himmel.

Dem Untergang geweiht und in der sicheren Gewissheit, dass er diesen Weg zum letzten Mal nehmen würde, beobachtet er seltsam distanziert und zum ersten Mal seit langer Zeit wirklich emotionslos jedes Detail seines eigenen Untergangs. Die züngelnden Flammen der Verdammnis, die seinen Körper auffraßen, die Winde des Schicksals und den Schmerz, der nach ihm griff, um zuletzt auch sein Bewusstsein zu rauben.

Kapitel Eins

Juna lauschte. Draußen senkte sich die Nacht über den Garten, und ihre Leselampe zeichnete einen hellen Kreis auf den abgetretenen Teppich unter ihren Füßen. Außer dem Brummen des Kühlschranks in der offenen Küche war nichts zu hören. Aber hatte sie nicht gerade doch etwas gehört?

Da war es wieder. Ein leises, klapperndes Klirren, als würden Kleiderbügel aneinanderstoßen. Eine plötzliche Vorahnung beschleunigte ihren Herzschlag. So eindringlich warnte ihre innere Stimme davor, der Sache nachzugehen, dass Juna beinahe laut widersprochen hätte. Trotzdem zögerte sie, bevor sie das Buch beiseite legte und aufstand. Ängstlich war sie nicht. Das durfte man in Glasgow auch nicht sein. Obwohl sie in keiner besonders gefährlichen Gegend wohnte, galt hier wie überall: Wer am Spätnachmittag oder abends allein unterwegs war, tat gut daran, eine gewisse Selbstsicherheit auszustrahlen ... oder wenigstens schnell rennen zu können. Dies zumindest behauptete ihr englischer Halbbruder John, der die Schotten allgemein, aber die Glaswegians ganz besonders verachtete. Sie hatten keinen guten Ruf im restlichen Land. Unberechenbar, wenn nicht gar gefährlich sollten sie sein, grob und laut.

Dass Juna ausgerechnet an John denken musste, während sie leise durch den dunklen Hausflur ging, ließ sie frösteln. Vermutlich würde er sich liebend gern in ihrem Haus zu schaffen machen. Zu ihrem dreizehnten Geburtstag hatte er sie auf den Mund geküsst, und ein Jahr später war er eines Nachts in ihrem Zimmer aufgetaucht und hatte seltsame Dinge gesagt. Erst als sie gedroht hatte, sie würde das ganze Haus zusammenschreien, war er endlich verschwunden. Seither hatte sie sich häufig gefragt, was er in jener Nacht gewollt haben könnte.

Damals hatte sie gefürchtet, er empfände mehr als brüderliche Zuneigung. Genau dies war kurz zuvor auch einer ihrer Mitschülerinnen passiert. Später schämte sie sich für diese Verdächtigungen, denn eigentlich war er für einen großen Bruder ganz in Ordnung. Er machte sich zwar noch heute über den Akzent lustig, der ihre nördliche Herkunft verriet, wenn sie aufgeregt war, aber als sie ihm einmal erzählt hatte, dass die Schüler in der vornehmen Londoner Privatschule, die auch er besuchte, sie deswegen ständig hänselten, hatte er seine kleine Halbschwester in Schutz genommen.

»Niemand spricht schlecht über die MacDonnells!«, forderte er, und seltsamerweise hielten sich fortan die meisten Kinder daran.

George beispielsweise, der auch zu anderen Schülerinnen besonders gemein gewesen war, brach sich kurz darauf ein Bein. Richard, sein bester Freund, kam mit einem blauen Auge zur Schule, und mit Emma, der Tochter eines Abgeordneten im britischen Oberhaus, unter deren Sticheleien sie besonders zu leiden gehabt hatte, wurde Juna irgendwann selbst fertig.

John war nicht unrecht. Er hatte es nie leicht gehabt, seine ehrgeizige Mutter zufriedenzustellen, und überhaupt hatte niemand je mit Sicherheit sagen können, dass er hinter den »Unfällen« ausgerechnet der Schüler steckte, die seine Familie beleidigt hatten.

Juna bemühte sich, die Gedanken an ihren Bruder zu verdrängen. Je näher sie ihrem Schlafzimmer kam, aus dem nun kein Laut mehr drang, desto beunruhigender wurden ihre Fantasien, von denen die eines bewaffneten Einbrechers noch die harmloseste war. Ihr Herz klopfte laut. Wahrscheinlich würde sie es bei diesem Tumult in ihrem Inneren nicht einmal bemerken, wenn der Einbrecher plötzlich in die Hände klatschte.

Ich habe keine Angst, machte sie sich selbst Mut.

Nachdem sie eines Abends auf dem Weg vom Bahnhof Queen Street zum Bus von Betrunkenen angegriffen und wahrscheinlich nur durch das Eingreifen einer Unbekannten letztlich mit dem Schrecken davongekommen war, hatte Iris ihr ein paar gemeine, aber wirksame Tricks gezeigt, die sie auf der Straße gelernt hatte.

Der vergessene Besen, über den sie im dunklen Flur beinahe gestolpert wäre, kam ihr gerade recht. Die hölzerne Waffe in einer Hand, öffnete sie mit der anderen die Tür zum Schlafzimmer.


Tartarus hatte er sich anders vorgestellt. Gewiss würde sich ihm dieser letzte Zufluchtsort für verstoßene Engel doch nicht als der zart duftende Wäscheschrank präsentieren, in dem er offenbar gelandet war? Trotz der ausgezeichneten Sehkraft, die ihn unter normalen Umständen auch in einem verdunkelten Raum nicht im Stich gelassen hätte, blieb sein Blick verschwommen. Arian versuchte sich aufzurichten und schlug hart mit dem Kopf an. Etwas kitzelte ihn an der Nase, und als er es beiseiteschieben wollte, hielt er ein zartes Spitzengebilde in der Hand, das er jetzt, da seine Sicht wieder frei war, auch deutlich erkennen konnte. Sollte dies etwa seine persönliche Hölle sein: eingepfercht in einen Schrank, mit den Fantasien eines gesunden Mannes ausgestattet, der guten Gewissens behaupten durfte, seit Ewigkeiten keinen Sex mehr gehabt zu haben? Und was, wenn dieser Schrank im Schlafzimmer einer schönen jungen Frau stünde ...? Morgens würde sie, ohne ihn zu sehen, hineingreifen und das geblümte Sommerkleid vom Bügel ziehen, das direkt vor ihm hing. Vor dem Spiegel würde sie sich drehen und wenden, und ohne von dem heimlichen Beobachter zu wissen, vielleicht völlig ungeniert weitere Kleider anprobieren. Am Abend käme ihr Freund ...

Ein unbekannter Schmerz durchfuhr ihn. Das Grollen in seiner Kehle erschreckte sogar Arian selbst. War er wirklich eifersüchtig auf eine Fantasie? Es stimmte also: Getrieben von Gelüsten und Gier, hatte er durch den Sturz jegliche Kontrolle über sein Handeln verloren.

Bevor der Engelmacher ihm das Herz herausgeschnitten hatte, war er von einem weisen Lehrer unterrichtet worden. Nicht was, sondern wie man erträgt, ist wichtig, hörte er ihn sagen, als wäre es gestern gewesen. Jetzt hatte er Gelegenheit, diese Theorie zu überprüfen.

Mit den Fingerspitzen fuhr er über glattes Holz. Die Schranktür war nur angelehnt und schwang auf, Bügel klapperten. Arian hielt die Luft an und lauschte, ob sich etwas regte. Doch das Haus blieb still. Er machte einen Schritt hinaus, ein Dielenbrett knarrte unter seinem Fuß. Wieder verharrte er. Nichts. Oder war da ein leichtes Rascheln zu hören gewesen? Aufmerksam sah er sich um. Wie befürchtet, war er in einem Schlafzimmer gelandet. Jeder Dämon hätte sich in dieser Situation die Seele mit einem deftigen Fluch erleichtern können, doch kein Wort kam über seine Lippen. Engel durften nicht fluchen. Warum sollten sie einem Unmut Ausdruck verleihen, den sie gar nicht empfanden? Es war auch mehr Überraschung als Verärgerung, die ihn bewegte.

Nephthys hatte ihn, weiß Gott, schon an weit unangenehmere Orte geschickt. So gut immerhin kannte er sich in der menschlichen Welt aus, dass ein fremder Mann im Schrank eines Schlafzimmers selten gern gesehen war, zumindest vom Hausherrn. Arian hatte keine Lust, sich in seinem momentanen Zustand auf eine Auseinandersetzung einzulassen. Er sah sich um. Luftige Gardinen umrahmten zwei Sprossenfenster, ein mit Samt bezogener Sessel stand in der Ecke direkt neben einer altertümlichen Frisierkommode, auf der anstelle von Tiegeln und Töpfen ein Stapel zerlesener Bücher lag. Dem Titelbild nach zu urteilen, war das oberste ein Liebesroman. Seine Lippen kräuselten sich amüsiert. Zuletzt fiel Arians Blick auf das riesige Bett aus geschmiedetem Eisen, auf dem zwischen zahllosen Kissen ein Lämmchen thronte, dessen Fell eher räudig als weich wirkte. Hier schlief kein Mann. Arian fühlte sich in diesem romantischen Mädchentraum noch mehr wie ein unwillkommener Eindringling und wollte nur noch unbemerkt verschwinden. Engel, die zur Erde gesandt wurden, kamen dort jedoch ohne weltliche Besitztümer und nur in ihrem Geburtskleid an. Und als er an sich herabsah, hatte sich zumindest in dieser Hinsicht für ihn nichts geändert, egal, zu was ihn seine Begegnung mit dem Michaelisschwert gemacht hatte.

Er spürte Schwindel und stützte sich an der Schranktür ab. Momentan war er in keiner guten Verfassung und vermochte nicht einzuschätzen, was bei seinem Sturz mit ihm geschehen war. Was, wenn er nicht mehr unsichtbar wäre? Er trug keinen Faden am Leib und tat gut daran zu sehen, wie er seine Blöße bedeckte. Im jetzigen Zustand waren seine Sinne gedämpft, wie die eines Betrunkenen.

Dennoch, die leichte Bewegung der Atmosphäre warnte ihn gerade noch rechtzeitig: Jemand näherte sich behutsam, aber zielstrebig der Schlafzimmertür. Jemand, dessen innere Magie ein ungewöhnliches Profil aufwies ... Nein, doch nur ein Mensch – kein Dämon. Aber auch so standen die Chancen schlecht, dass derjenige freundlich auf Arians Eindringen in sein Haus reagieren würde.

Dem Himmel sein Dank! Gerade noch rechtzeitig entdeckte er einen geeigneten Schutz, der ihn unsichtbar für die menschliche Welt machen würde. Sekunden später flog die Tür auf, und eine Furie sprang herein. Sie trug einen Besen in der Hand und sah kampfbereit aus. Arian stand ganz still.


Juna erstarrte. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit, einen halbnackten Mann neben ihrem Bett vorzufinden. Es knackte leise, und ein Knopf sprang auf den Holzfußboden, drehte sich mehrmals um sich selbst. Juna verfolgte mit den Augen seinen Weg unter das Bett, bis er nicht mehr zu sehen war. Der Einbrecher hatte sich nicht vom Fleck gerührt, und weil sie sich absurderweise davor fürchtete, ihm ins Gesicht zu sehen, betrachtete sie stattdessen erst einmal seine Füße: ebenmäßig, leicht gebräunt, keine Schuhe, registrierte das Gehirn. Ihr Blick wanderte weiter hinauf. Fast beiläufig stellte sie fest, dass ihm der Kilt zu groß war und tief auf den Hüften saß. Ein leichtes Flattern in der Magengegend bewies, dass sie nicht gänzlich immun gegen diese Aussicht war. Juna hielt die Aufmerksamkeit fest auf die Fäden geheftet, die am Bund aus dem Stoff ragten, bis sie ihren Puls im Griff hatte.

Ein Knopf fehlte. Längst hatte sie ihn fester annähen wollen, doch es war ihr immer etwas dazwischengekommen. Sie ertappte sich bei der Vorstellung, wie das mürbe Garn des zweiten Knopfs ebenfalls reißen würde. Du spinnst, rief sie sich innerlich zur Ordnung.

Des Angestarrtwerdens offenbar müde, streifte der Fremde das ebenfalls reparaturbedürftige Hemd über, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, als habe er jedes Recht dazu.

Alle Furcht war vergessen, und endlich sah sie ihn an. »Hallo!« Juna räusperte sich, konnte aber vor Aufregung nicht weitersprechen.

Der Mann erstarrte erneut, als habe er nicht erwartet, dass sie ihn ansprechen würde.

Was hat er geglaubt? Dass ich wieder hinausgehe, als sei nichts geschehen? Erst jetzt begriff Juna, dass er sie die ganze Zeit ebenso konzentriert gemustert hatte wie sie ihn. Seine Augen leuchteten im strahlenden Blau eines klaren Highlandhimmels, und der Kontrast zum nahezu schwarzen, halblangen Haar war umwerfend. Doch das Bemerkenswerteste war seine Aura. Hätte sie die Hand ausgestreckt, sie wäre nicht sicher gewesen, ob sie Haut oder etwas Lichtes und weniger Stoffliches unter ihren Fingerspitzen gefühlt hätte.

»Bist du echt?«, platze es aus ihr heraus.

»Verdammt!« Er zuckte zusammen, als habe ihn der Klang seiner eigenen Stimme überrascht.

Mit einem Fluch hatte sie ebenso wenig gerechnet wie mit den unterschiedlichen Emotionen, die sein Gesicht wie flüchtige Schatten streiften: Erschrecken, Ärger ... schließlich Resignation und gleich darauf nur noch Leere. Juna Herz schmerzte bei diesem Anblick. Doch sofort schalt sie sich eine dumme Gans. Was kümmerten sie die Befindlichkeiten eines Einbrechers? Und plötzlich hoffte sie, dass er dies auch war: nur ein Eindringling, der glaubte, es gäbe in ihrem Haus etwas zu holen. Sie umfasste den Besenstiel fester.

»Wer bist du?«, fragte er scharf.

Juna wusste, sie hätte verschwinden sollen; die Tür schließen, einfach raus, unter Menschen, egal, wohin, nur schnell weit weg von diesem Fremden.

Stattdessen blieb sie stehen und entgegnete vehementer als geplant: »Wer ich bin? Jedenfalls niemand, der in fremden Häusern herumschleicht und Kilts klaut!« Sofort bereute sie ihre freche Antwort. Es war vermutlich nicht besonders klug, mit einem auf frischer Tat ertappten Einbrecher zu streiten, der noch dazu einen Kopf größer als sie war und nicht besonders schwächlich wirkte. Misstrauisch umklammerte sie ihre Waffe.

Der Mann vor ihr hielt den Kopf ein wenig schräg, als dächte er nach. Ein kurzes Lächeln erhellte sein Gesicht, was ihm einen jungenhaften Charme verlieh, den sie zuvor nicht an ihm bemerkt hatte. Sie hätte vorsichtiger sein müssen, hätte Hilfe rufen sollen, als noch Zeit dafür war. Unter normalen Umständen mochte der Fremde ein netter Kerl sein, doch er war offensichtlich in Schwierigkeiten, und das machte die meisten Menschen unberechenbar. Warum hörte sie nie auf ihre innere Stimme? Jetzt war es zu spät, um noch fliehen zu können. Schon streckte er die Hand nach ihr aus – da taumelte er plötzlich und stürzte schwer auf die Knie.

»Du bist verletzt!« Juna vergaß alle Vorsicht und verließ ihren strategisch günstigen Platz an der Tür, um ihm aufzuhelfen. Blut hatte das weiße Hemd an der linken Schulter rot gefärbt. Der Fleck wurde schnell größer, und kurz hatte sie die Vision von einer Romanheldin, die beherzt ihre Unterwäsche in Steifen riss, um den Geliebten zu verbinden. Hier war solcherlei Aufopferung natürlich nicht angebracht, denn ihnen stand eine gut ausgestattete Arztpraxis zur Verfügung. Die Frage war nur, wie sie ihn dorthin schaffen sollte.

Er war jetzt sehr blass unter dem olivfarbenen Teint und stützte sich schwer auf ihren Arm, während er sich langsam wieder aufrichtete und ihren leisen Anweisungen widerstandslos folgte. Juna bemühte sich, ihn ihre Verwunderung nicht spüren zu lassen.

Ich sollte dankbar sein, dass er keine Schwierigkeiten macht, dachte sie und führte den Fremden über den Flur und durch das leere Wartezimmer in den Behandlungsraum. Zweifellos wäre es klüger, ihn einfach vor die Tür zu setzen. Der Tisch aus Edelstahl, auf dem vorwiegend Vierbeiner behandelt wurden, war viel zu kurz für einen groß gewachsenen menschlichen Patienten.

Ihr Blick fiel auf den alten Ledersessel, in dem normalerweise ihr Großvater saß, um bei einer Tasse Tee in der Mittagszeit seine Zeitung zu lesen und nicht selten auch ein Nickerchen zu machen. Aber Duncan MacDonnell war in Kanada. Und er hätte gewiss nichts dagegen gehabt, dass sie dem Unbekannten half, denn gelegentlich verarztete er selbst einen Verletzten, der nicht in seinen Verantwortungsbereich fiel, und scherte sich nicht im Geringsten darum, ob es legal war, dass ein Tierarzt dies tat. Juna schickte er dann allerdings immer aus dem Zimmer. Mehr als einmal hatte sie heimlich gelauscht, wenn zu später Stunde einer dieser besonderen Patienten behandelt wurde. Meist ging die Initiative von Frauen aus, die ihre Brüder, Söhne oder Freunde herbeischleppten, weil die Ärzte in diesem Stadtteil verpflichtet waren, Verletzungen zu melden, die von Auseinandersetzungen rivalisierender Gangs herrühren könnten. Eine einfache Stichwunde konnte »McVet«, wie er von ihnen liebevoll genannt wurde, jedoch ebenso gut zusammenflicken.

Nun trat Juna also in seine Fußstapfen. Langsam geleitete sie ihren Patienten durch den Raum und half ihm, sich in den Ledersessel zu setzen. Nachdem sie sich die Hände gewaschen, Handschuhe übergezogen und einen Mundschutz angelegt hatte, beugte sie sich über ihn. Von seiner Aura war merkwürdigerweise nichts mehr zu spüren, und sie fragte sich, ob sie Opfer ihrer lebhaften Fantasie geworden war. Darüber würde sie allerdings später nachdenken müssen, die Behandlung forderte ihre gesamte Aufmerksamkeit.

Der Mann atmete schwer, und die Verletzung an seiner Schulter bildete sie sich nicht ein. Die Blutung war zwar zum Stillstand gekommen, aber die Wunde musste versorgt werden, das stand fest. Behutsam zog sie den blutdurchtränkten Stoff beiseite. Auf der Stirn des Mannes erschien eine steile Falte. Juna hoffte, er würde jetzt keine Schwierigkeiten machen, und überlegte, ob sie ihn mit einer einfachen Injektion ruhigstellen sollte. Aber das wäre unsportlich, um es höflich zu formulieren und bislang hatte noch nie jemand von ihr sagen können, sie griffe zu unfairen Mitteln. Mit einer entschlossenen Geste schob sie sich das dichte Haar aus der Stirn und beugte sich erneut über die Verletzung.

»Was tust du da?«

Der Klang seiner Stimme brachte Juna für einen kurzen Augenblick aus der Balance, doch sie riss sich zusammen und erwiderte geduldig: »Du hast eine Stichwunde, die versorgt werden muss.« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen und weil er schon halb aufgestanden war, legte sie ihm die Hand auf die Brust, mit der Absicht, ihn zurück in den Sessel zu drücken. Er sollte bloß nicht auf den Gedanken kommen, mit ihr zu diskutieren. Wenn es um medizinische Notwendigkeiten ging, ließ sie nicht mit sich handeln.

Anstelle einer Antwort sackte er plötzlich zusammen und sein Kopf fiel nach hinten, als habe das Genick es aufgegeben, ihn zu stützen. Erschrocken griff sie nach seinem Handgelenk, um den Puls zu fühlen. Er hatte schöne Hände, warm, kräftig und gerade sehnig genug, dass man ihnen zutrauen konnte, notfalls fest zuzupacken. Die Schwielen auf den Innenflächen zeugten davon, dass er körperliche Arbeit nicht scheute, und bildeten einen merkwürdigen Gegensatz zu den gepflegten, kurz geschnittenen Nägeln. Das mondförmige Weiß schimmerte wie Perlmutt, und als Juna ihre eigenen, immer ein wenig welligen und oft eingerissenen Nägel ansah, konnte sie den Impuls, die Hände hinter dem Rücken zu verstecken, kaum unterdrücken.

Sie schloss kurz die Augen und holte tief Luft. Du wolltest den Puls fühlen!, ermahnte sie sich und stellte wenig später zufrieden fest, dass dieser ebenso stabil war wie die Atmung des Mannes. Wahrscheinlich konnte er nur kein Blut sehen und hielt deshalb die Augen fest geschlossen. »Ich würde die Stelle gern betäuben ...«, begann sie.

»Nicht nötig, lass mich einfach nur einen Moment hier sitzen, okay?« Als habe er ihr Kopfschütteln gesehen, seufzte er. »Also gut. Aber keine Betäubung!«

Juna war es egal, ob er glaubte, hart im Nehmen zu sein oder nicht. Sobald der Schmerz unerträglich wurde, würde er wahrscheinlich um eine Spritze betteln. Erstaunlich, wie viele Männer Angst vor einer Nadel haben, dachte sie belustigt.

Der Stich wirkte relativ frisch, die Wundränder waren glücklicherweise glatt. Was ihr Sorgen machte, waren die schweren Verbrennungen um den Einstichkanal. Woher sie stammten, konnte sie sich beim besten Willen nicht erklären. Juna beugte ihren Patienten vorsichtig nach vorn, warf einen Blick auf seinen Rücken und hielt erschrocken die Luft an. Wer auch immer ihm diese Verletzung zugefügt hatte, hatte enorme Kraft aufgewendet, denn seine Schulter war glatt durchstoßen worden.

Ihr Großvater hatte erwähnt, dass einige Streetgangs der Gegend früher regelrechte Schlachten mit Claymores, den typischen schottischen Schwertern, geschlagen hatten. Heute konnte man damit nicht mehr so einfach durch die Straßen spazieren, deshalb benutzten die Jungs in der Stadt andere, aber keineswegs weniger tödliche Waffen. Juna erinnerte sich gut an die Geschichte, die Duncan MacDonnell immer wieder gern erzählte: Vor einigen Jahren hatte er in den Highlands einen Mann mit einer ähnlichen Verletzung zusammenflicken müssen, der es mit seiner Rolle als Rob Roy, dem bekannten schottischen Nationalhelden, zu ernst gemeint hatte. Genau genommen war es wohl der Gegner im Kostüm eines berüchtigten Rotrocks gewesen, der seinen Auftritt als Engländer deutlich übertrieben hatte. Immerhin war er vernünftig genug gewesen, nach dem Unfall sofort Hilfe zu holen, und der Doktor hatte den Todfeind des jungen Kriegers, der im wahren Leben sein bester Freund gewesen war, vor Schlimmerem bewahren können. Juna hoffte, dass es in diesem Fall ebenso glimpflich ausgehen würde.

Nachdem sie die Wunde gespült hatte, vergewisserte sie sich so gut es ging, dass keine größeren Blutgefäße, Nerven oder Sehnen verletzt waren. Für eine dermaßen frische Verletzung sah alles erstaunlich intakt aus, und Juna hoffte, nichts übersehen zu haben.

Konzentriert nähte sie die Wunde schließlich, legte anschließend einen Spezialverband auf und spritzte dem Fremden ein kombiniertes Beruhigungs- und Schmerzmittel, von dem sie hoffte, dass es ihm eine ruhige Nacht verschaffen würde.


Arian spürte seine Verletzung kaum. Ihre Berührungen wirkten beruhigend, mehr noch: Sie weckten eine Leichtigkeit in seiner Seele, wie er sie nie zuvor empfunden hatte. Ein Engel konnte von Menschen nur gesehen werden, wenn er sich ihnen zu erkennen gab – was natürlich unter allen Umständen vermieden werden musste, denn die wenigsten Sterblichen überstanden eine reale Begegnung mit den himmlischen Geschöpfen schadlos.

Die Vigilie jedoch waren mächtig genug, als ganz normale Menschen durchzugehen, wenn sie es darauf anlegten. Allerdings kamen auch sie nackt und obendrein ohne erwähnenswerte übersinnliche Fähigkeiten auf der Welt an. Waren die ersten Stunden jedoch sicher überstanden, konnten selbst erfahrene Dämonen ihre himmlische Abstammung nicht mehr erkennen. Und das sollte schon was heißen, denn die Diener Luzifers hatten eine ausgezeichnete Nase dafür, wo es etwas für sie zu holen gab.

Als Arian Gabriel einmal gefragt hatte, weshalb sie in den ersten Stunden nach ihrer Ankunft schutzlos und ohne ihre Kräfte waren, hatte dieser behauptet, es hätte etwas mit der biblischen Schöpfungsgeschichte zu tun. Arian glaubte ihm nicht. Sehr viel wahrscheinlicher war, dass es sich wieder einmal um einen dieser üblen Scherze handelte, von denen seine Auftraggeber mehr als genug auf Lager hatten. Für gewöhnlich fand er keinen davon besonders spaßig. Doch was auch immer der Grund sein mochte, es war gefährlich und er verspürte wenig Lust, sich von einem Dämon töten, oder, was noch schlimmer gewesen wäre, versklaven zu lassen. Deshalb hatte er bei seinen Einsätzen auf der Erde schnell eine Strategie entwickelt, um zu zeitgemäßer Kleidung zu kommen, mit der er auch unter Menschen nicht auffiel. Seine Blöße zu bedecken schien den Transfer merkwürdigerweise zu beschleunigen. Strategie war vielleicht ein zu großes Wort, gestand er sich ein. Ebenso wie Gabriel lieh er einfach alles Notwendige von irgendeiner Wäscheleine. Einen Kilt hatte er noch nie getragen, doch er mochte die Freiheit zwischen den Beinen, die ihn an die Kleidung früherer Zeiten erinnerte. Etwas erschrocken bemerkte er, dass eben diese Freiheit verräterisch sein konnte. Noch nie zuvor hatte es ihn nach einem Menschenweib gelüstet. Unangenehm berührt verbot er sich sofort jeden weiteren sündigen Gedanken.

»Fertig.«

»Was ist das?« Irritiert sah Arian auf seine komplett bandagierte Schulter. Offenbar war er weit davon entfernt, Herr seiner Sinne zu sein. Wie sonst hätte es ihr gelingen können, ihn solcherart einzuwickeln?

»Nichts, was nicht jeder andere Arzt auch getan hätte. Ich habe einem Verletzten geholfen.«


Juna wandte sich ab, um das Verbandsmaterial fortzuräumen. Sie mochte ja nur Tierärztin sein, aber eine solche Wunde konnte sie allemal versorgen. Der Mann im Sessel ihres Großvaters wirkte jetzt weniger hilflos und sie überlegte, ob sie ihn ins nächste Hospital schicken sollte. Wahrscheinlich wäre das sogar besser gewesen, aber sie zweifelte daran, dass er freiwillig dorthin ginge. Außerdem würde man in der Klinik unangenehme Fragen stellen und ihr garantiert Ärger machen.

Ein Räuspern unterbrach ihre Gedanken. Der prüfende Blick ihres halb bekleideten, unübersehbar männlichen Patienten machte sie auf einmal ziemlich nervös. Juna spürte, wie sich ihr Gesicht erwärmte.

»Für eine Ärztin bis du sehr jung.«

Ach das ist es! Sie wusste, was er sah. Früher hatten die Kinder sie Pippi Langstrumpf genannt, weil sie immer ein wenig unordentlich aussah. So sehr sie sich auch bemühte, stets hatte sie ein Loch im Strumpf gehabt oder Gartenerde unter den Fingernägeln. Wie oft hatte Großmutter ihr ein Blatt aus dem Haar gezogen und dabei lachend gedroht, die kaum zu bändigende Pracht einfach abzuschneiden. Gegen die deutliche Lücke zwischen ihren oberen Schneidezähnen half keine Zahnspange, aber immerhin versöhnte die Fähigkeit, mit ihrer Hilfe einen unglaublich schrillen Pfiff ausstoßen zu können. Leider war es ein selten gefragtes Talent, seit sie erwachsen geworden war.

Sie ärgerte sich über den ungläubigen Tonfall seiner Bemerkung. »Tierärztin, wenn du es genau wissen willst!« Ihre Antwort klang schnippisch.

»Das dürfte das Richtige für mich sein.« Er schien durch sie hindurchzusehen, und es wirkte, als sei er in Gedanken sehr weit fort.

Wer konnte es ihm verdenken? Der Mann musste eine unglaubliche Selbstbeherrschung besitzen, denn während der Behandlung hatte er keinen einzigen Laut von sich gegeben. Nur die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen verriet ihr, dass er versuchte, sich die Schmerzen nicht anmerken zu lassen. Sie dachte schon, er würde nichts mehr sagen, da glättete sich seine Stirn plötzlich. »Wie heißt du?«

Fast hätte sie ihn nicht verstanden, so leise hatte er gesprochen. Nach kurzem Zögern nannte sie ihm ihren Namen.

»Juna ...« Aus seinem Mund klang es wie ein Seufzer. Dann schloss er die Augen, sein Atem wurde ruhiger. Gerade wollte sie sich abwenden, um ihn seinem wohlverdienten Genesungsschlaf zu überlassen, da sagte er: »Es tut mir leid!«

Was genau er bedauerte, erfuhr Juna nicht, denn im gleichen Augenblick hörte sie einen Hund bellen. Lautlos schloss sie die Tür zwischen Wohnküche und Behandlungszimmer, und eine Sekunde später sprang Finn aufgeregt auf sie zu. Sie wandte sich ab, und er verstand ihr Signal. Erwartungsvoll setzte er sich auf die Hinterbeine. Juna konnte nie lange streng bleiben, also warf sie ihm einen Leckerbissen zu und blickte zur Tür.

Iris kam in die Küche gestürmt, sah Juna an und blieb abrupt stehen. »Du siehst aus, als wäre dir ein Gespenst begegnet!« Sie zog ihren Mantel aus, warf ihn über die Stuhllehne und kam näher.

Juna schüttelte den Kopf. Ihre Freundin hatte ein Talent, haarscharf an der Wahrheit vorbeizuschrammen. Plötzlich fühlte sie sich erschöpft und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

»Hey, das ist freaky! Du wirst ja totenblass!« Iris wollte ihr die Hand auf die Schulter legen, da begann Finn leise zu knurren. »Still, du Ungeheuer!« Sie hockte sich hin, um den Hund zu kraulen, der sich unter ihren sanften Berührungen beruhigte, hinlegte und dann sogar auf den Rücken drehte, damit sie seinen Bauch streicheln konnte. Juna atmete ein paar Mal tief durch, bis sie sich besser fühlte, und sah den beiden schweigend zu.


Etwa ein Jahr war es her, dass Iris in die Tierarztpraxis gestürmt war, im Arm ein zitterndes Fellknäuel, das sie ihr mit den Worten entgegenstreckte: »Mach ... es heile!«

Juna erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen: Sie hätte nicht sagen können, was mehr stank, der Hund, dessen Körper mit getrocknetem Blut überzogen war, oder das Mädchen. Sie war noch nicht lange zurück in Glasgow, doch den Geruch von Buckfast, einem hochprozentigen süßen Wein, den zumindest in diesem Stadtteil jeder zu trinken schien, kannte sie bereits von früheren Aufenthalten. Und Juna musste die Flasche nicht sehen, die in der Manteltasche der abendlichen Besucherin steckte, um zu wissen, dass diese reichlich davon getrunken hatte. Gewiss mehr, als ihr gut tat, so wie sie schwankend versuchte, im Türrahmen Halt zu finden. Als sie ihr den kleinen Hund abnehmen wollte, schüttelte die junge Frau vehement den Kopf. »Er bleibt bei mir!«

»Dann komm rein. Der Doktor hat gleich Zeit für euch.« Einer plötzlichen Eingebung folgend, fragte sie: »Möchtest du eine Tasse Tee?« Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab. Die Sprechstunde war längst vorüber, aber jeder wusste, dass Doktor MacDonnell niemanden abwies, egal, wie spät es war. Juna drehte sich um und ging am Empfangsschreibtisch vorbei durch das Wartezimmer. Eine der Türen führte in den Behandlungsraum der Praxis, die zweite in ihre Wohnküche. Während sie einen Kessel mit Wasser füllte und drei Tassen aus dem Schrank nahm, sah sie durch die offene Tür, wie sich die späte Besucherin vorsichtig auf einem Stuhl im Wartezimmer niederließ, den Blick fest auf das Tier geheftet.

»Milch, Zucker?«, fragte sie laut, um das Rauschen des Wasserkessels zu übertönen. Als sie keine Antwort erhielt, braute sie den Tee in allen drei Tassen gleich: »Zwei Löffel Zucker und Milch ohne Rahm, nur so kann ein Schotte dieses Gebräu genießen!«, pflegte ihr Großvater auch noch bei der zehnten Tasse des Tages vor sich hin zu murmeln. Als Juna alt genug war, um selbst Tee trinken zu dürfen, tat sie es ihm gleich. Seither war er ihr Heilmittel in fast allen Lebenslagen. Ob sie Bauchschmerzen hatte oder unglücklich war, eine gute Tasse Tee rückte vieles im Leben wieder zurecht.

Doktor MacDonnell nahm sich der beiden Streuner an. Der Hund, den Iris angeblich in einem Pappkarton gefunden hatte, bestand vorwiegend aus Fell und Knochen. Sein linkes Ohr war nur halb so lang wie das rechte, und der Rücken war von einem bösen Ekzem überzogen. Deshalb schlug er vor, ihn über Nacht da zu behalten. Und seine Rechnung ging auf: Iris weigerte sich, Finn, wie sie den Welpen nannte, allein zu lassen. Also durfte sie ebenfalls bleiben. »Nur bis morgen«, hatte sie verkündet und war auch tatsächlich am folgenden Tag wieder verschwunden. Nicht ohne Jeans und Shirt ihrer Gastgeberin, die sie nach einer ausgiebigen Dusche widerspruchslos angezogen hatte.

Wenige Wochen später kehrte Juna am Ende eines besonders scheußlichen Regentags spät aus Edinburgh zurück, wo sie Tiermedizin studierte. Finn saß unter dem schmalen Vordach ihrer Eingangstür. Er war ziemlich gewachsen und schien genau zu wissen, was er wollte. Bei ihr dauerte es etwas länger, aber nachdem sie vergeblich versucht hatte, ihn ins Haus zu locken und er immer wieder zum Gartenzaum lief, folgte sie ihm bis Crescent Gardens.

»Wohin schleppst du mich denn?«, fragte sie. Normalerweise mied Juna den kleinen Park, der auch tagsüber von Gangs unsicher gemacht wurde, die sich mit Vorliebe auf dem Kinderspielplatz trafen. Der Regen aber hatte heute selbst die Hartnäckigsten unter ihnen vertrieben. »Finn, was ist los?« Sofort hatte sie das Bild einer hilflosen Frau vor Augen, die irgendwo da draußen lag und die nächsten Stunden vermutlich nicht überstehen würde. Sie zögerte nicht. »Bring mich zu ihr!«

Juna würde Iris' Anblick niemals vergessen: ein blutiges Bündel, kaum ansprechbar. »Du holst dir den Tod!« Vor Angst schrie sie fast. Dann versuchte sie vergeblich, das Mädchen zum Aufstehen zu bewegen. »Himmel, Finn, wenn du doch nur helfen könntest!«

»Finn?«, fragte Iris. Dicke Regentropfen schlugen auf das Blätterdach über ihnen, sie war kaum zu verstehen.

Sie musste im Delirium sein, denn plötzlich lachte sie irre und rief: »Ich habe ihn vertrieben! Du bist frei. Hörst du, mein Kleiner? Frei! Er kann dir nie wieder etwas tun.«

Juna tat das Einzige, was ihr einfiel: Sie schulterte Iris und versuchte, sie in Sicherheit zu bringen. Bei jedem Schritt wünschte sie sich sehnlicher, die letzte Trainingsstunden ihres Sportclubs nicht versäumt zu haben. Als das Mädchen schließlich von ihrem Rücken auf den Küchenboden glitt, spürte sie ihre zitternden Muskeln längst nicht mehr, und die feuchte Kälte war jenseits jeder Wahrnehmung ein Teil ihrer Existenz geworden. Finn streckte sich auf den kalten Fliesen aus, legte den Kopf auf die Pfoten und sah zu Juna auf, als erwarte er eine Erklärung von ihr.

Sie hockte sich zu ihm und kraulte ihn hinter dem kurzen Ohr. »Wir kriegen sie wieder hin.« Sie sah zu ihrem Großvater. »Nicht wahr, du kannst ihr helfen?«

Zerberus

Die Tierärzte aus der Umgebung wechselten sich damit ab, die unglücklichen Bewohner einer nahe gelegenen Auffangstation für Hunde zu versorgen, und an diesem Wochenende war die MacDonnell-Praxis an der Reihe.

»Gehen wir hinterher frühstücken?« Iris' Augen leuchteten, und Juna hatte nicht das Herz, sie zu enttäuschen.

Jetzt wäre eine gute Gelegenheit gewesen, der Freundin von ihrem merkwürdigen Hausgast zu berichten, aber Juna wäre es wie Verrat vorgekommen. »Wenn es nicht zu lange dauert. Du weißt, am Nachmittag habe ich Notdienst.«

»Mist!«

»Was?«

»Das habe ich total vergessen. Ich habe Jamie versprochen, die Kids zu hüten.«

»Dann wirst du das wohl auch tun müssen.« Juna beneidete Iris keineswegs um die Aufgabe. Jamie hatte sechs Geschwister, auf die er aufpassen musste, wenn seine Mutter Wochenenddienst hatte. Und er war mit seinen zwölf Jahren selbst noch ein Kind.

»Danke!« Iris lächelte und griff nach den leeren Tassen.

»Lass mal, ich mach das schon.« Juna nahm sie ihr aus der Hand. Iris kochte gern und gut, aber diesen Teil der Hausarbeit hasste sie.

»Du bist ein Schatz. Bis morgen!« Sie ging zur Tür, drehte sich aber noch einmal um. »In der Praxis brennt übrigens Licht. Da sitzt doch hoffentlich nicht noch jemand und wartet auf deine Zuwendung?«

Lachend lief sie hinaus, als Juna ihr mit einem Kochlöffel drohte, um ihre Verlegenheit zu überspielen. Finn, der unter dem Küchentisch leise geschnarcht hatte, sprang auf und rannte hinter Iris her. Die Tür klappte, und Juna blieb mit ihrem beunruhigenden Gast allein im Haus zurück. Durch das Küchenfenster konnte sie im Schein der Laterne sehen, wie Iris und der Hund in dem kleinen Gartenhaus verschwanden, in das sie inzwischen gezogen waren. Letzten Sommer hatten sie es gemeinsam renoviert, und nachdem Gerümpel und Staub erst einmal verschwunden waren, erstaunt festgestellt, dass es sogar einen funktionierenden Ofen, ein winziges Bad mit Dusche und eine Küchenzeile gab. Als drüben ein Licht anging, räumte Juna lächelnd den Tisch ab, stellte das Geschirr ins Spülbecken und drehte den Wasserhahn auf.