Oskar Panizza: Dämmerungsstücke

 

 

Oskar Panizza

Dämmerungsstücke

Das Wachsfigurenkabinett

Eine Mondgeschichte

Der Stationsberg

Die Menschenfabrik

 

 

 

Oskar Panizza: Dämmerungsstücke. Das Wachsfigurenkabinett / Eine Mondgeschichte / Der Stationsberg / Die Menschenfabrik

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Vincent van Gogh, Landschaft in der Dämmerung, 1885

 

ISBN 978-3-7437-0421-3

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-0389-6 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-0390-2 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck unter dem Titel »Dämmrungsstücke«: Leipzig, Wilhelm Friedrich, 1890. »Dem Andenken Edgar Poe's gewidmet.«

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Oskar Panizza: Der Korsettenfritz. Gesammelte Erzählungen. Mit einem Beitrag von Bernd Mattheus, München: Matthes & Seitz, 1981.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

 

Das Wachsfigurenkabinet

Pour bien connaître les choses divines d'une religion, il faut se les figurer dans une forme tout-à-fait humaine.

Renan

 

Abendmahl

Es war im alten Nürnberg. Ich war auf der Reise und hatte etwas Eile. Wir mochten um Anfang Oktober sein. Auf dem Marktplatz war ein großer Jahrmarkt aufgeschlagen, oder »Dult«, wie dort die Leute sagen. Es war schon gegen Abend und bei der vorgerückten Jahreszeit schon etwas dunkel. Trotzdem war der Verkehr zwischen den Buden noch ein ziemlich reger. Nach Abschluß meiner Geschäfte führte mich mein Weg über den Marktplatz, und ich war eben im Begriffe nach Hause zu gehen, als ich auf einer der Schaubuden, vor der im Gegensatz zu allen anderen zu meiner Verwunderung kein Ausschreier stand, die Überschrift las: »Leiden und Sterben unseres Heilandes Jesu Christi.« – Ich bin von Haus aus allen religiös-theatralischen Vorstellungen abgeneigt, und ich wollte mich mit Abscheu von der Idee abwenden, einen so heiligen Stoff mitten in diesem Jahrmarkts-Getriebe fest, plastisch oder beweglich, mit Draht-Puppen, gemalt, geformt, geschnitzt oder gar tragiert dargestellt zu sehen. Gleich drauf kamen aber in meinem Kopf Schlagwörter wie »Nürnberg«, – »Spielwaren«, – »Puppen«, – »Figuren auf Lebkuchen« zum Vorschein. Ich erinnerte mich des großen Rufes, den die Nürnberger Arbeiten der Art genießen, und mehr aus Interesse für den mechanischen Apparat, mehr aus Neugier für die Marionetten-Künste kehrte ich um und schritt auf die Bude zu. – »Leiden und Sterben unseres Heilandes Jesu Christi« – las ich noch einmal auf der gemalten Überschrift.

Nur einzelne Leute standen vor der sehr primitiv gehaltenen Barake. Und diese gafften, wie das so Usus ist. Der Preis schien mir etwas höher als bei den andern künstlerischen Veranstaltungen. Ich trat ein. Ein Segeltuch-überspannter, mit Lampen etwas düster beleuchteter Raum, in dem sich ein Dutzend Menschen beiderlei Geschlechts und aus allen Ständen des Volkes befand. »Sie kommen gerade recht«, – sprach mich der Budenbesitzer,[13] der ein Sachse war, an – »soeben beginnt die Vorstellung.« Im Hintergrund der Bude, wohin Alles erwartungsvoll blickte, befand sich ein erhöhtes Gerüst, eine Art Bühne, die aber geschlossen war. Doch sah man an den durchschimmernden Lampen, daß sich dort etwas vorbereite. Und eben, als der Budenbesitzer die obigen Worte gesprochen hatte, ging der Vorhang auf, und Alles drängte nun vor bis zur Rampe.

Auf einer Estrade, die einige Fuß über dem Erdboden erhaben, und ringsum mit Soffiten-Werk entsprechend verkleidet war, befand sich eine große Gruppe dunkler, steifer Gestalten, sitzend, bunt gekleidet, zum Teil mit höchst pathetischem Gesichtsausdruck, aber regungslos, die einen schief, die andern gerad, die dritten buckelig, glotzend, stierend, lächelnd, entrüstet, vor Wehmut zerfließend, wie es gerade der Moment oder der Schauspiel-Part erheischte, an einem Tisch zusammen vereinigt. Es war kein Zweifel, es sollte das die Abendmahlszene vorstellen. Das Arrangement war das wie auf dem bekannten Bilde von Leonardo da Vinci: Eine nach vorn offene, weiß gedeckte Tafel; die Brüche im Tischtuch von der Büglerin stark prononciert, damit das Tafeltuch als unzweifelhaft neu erscheint, wodurch der Begriff des Feierlichen erhöht wird. Die ganze hintere Front gegen den Zuschauer zu mit Jüngern und Christus in der Mitte dicht gepfropft besetzt, aber doch so, daß auf den zwei schmalen Seitenkanten noch zwei bis vier Jünger Platz nehmen, die ja das Publikum noch immer von der Seite sehen kann, und, damit auch die Tafel nicht zu lang werde. Meistens nimmt man zwei untergeordnete Apostel, den Bartholomäus oder jüngeren Jakobus, für diese Seitenkanten, da ja das Hauptinteresse sich doch der Mitte zuwendet, wo Christus sitzt; und gewöhnlich begnügt man sich ein paar gut-profilierte Köpfe, die in nicht zu schreienden Kaftanen stecken, hier an die Enden des Tisches zu placieren, damit das Publikum hier zwar einen wohlthuenden Abschluß finde, aber ja nicht mit der Aufmerksamkeit abgelenkt werde.

Es ist klar, daß die späteren Apostel Paulus und Matthäus hier bei der Einsetzung des Abendmahls noch keine Verwendung finden können. Denn Paulus ist eigentlich Extraordinarius, hat mit der Zwölf-Zahl gar nichts zu thun, und hat so zu sagen auf eigene Verantwortung die Apostelgeschäfte ausgeübt, und Matthäus wurde an Stelle des später ausgeschiedenen Judas Ischariot[14] gewählt. Dieser letztere ist aber hier noch von der größten Wichtigkeit, und wird, wie der Leser bald sehen wird, eine imposante, eine imponierende, Alles elektrisierende Rolle spielen. Die ganze Gesellschaft war durch sechs am Boden durch ein Brett gegen das Publikum hin gedeckte Lampen aufs grellste beleuchtet. In der Mitte Christus mit einer fein gearbeiteten, blonden Perrücke; er hat die größte Ähnlichkeit mit einem englischen Lord, wie man sie bei uns auf dem Theater in komischen Stücken darstellt; nur ganz bartlos; die gleiche blasierte Langweile auf dem regungslosen Gesicht; man erwartet jeden Moment, daß er den Mund zum Gähnen öffnet; der Blick, regungslos blau den Beschauer anstarrend, hat etwas Lammfrommes, Trauriges, Kindlich-Unbewußtes; der bleiche, glatte Unterkiefer ragt etwas zu weit vor, und fordert zu Vergleichen mit Repräsentanten aus dem Tierreich auf; der Wachsguß ist etwas zu fettig ausgefallen; man meint Christus schwitze Fett, was nicht zur Heiligkeit beiträgt. Vor ihm auf einem zinnernen Teller liegt ein Karpfe aus dem Bach Kidron; auf dem Tisch verteilt stehen in Glasschalen Brode und einige Äpfel mit auffallend roten Backen. Christus streckt mit brünstiger Geberde die beiden lang-gefalteten Hände über den Fisch aus; doch ist es offenbar, er kann zu keiner Verteilung der Speisen, oder zu einem Brechen der Brode schreiten, denn beide Hände sind vorn an den Fingerspitzen zusammengepappt. – Das Publikum und ich waren beschäftigt, die einzelnen Gruppen und Persönlichkeiten in der Weise durchzumustern: und es herrschte eine lautlose Stille, als der Budenbesitzer plötzlich mit weinerlich-sächsischem Pathos laut die Worte in's Publikum rief: »Wahrlich, ich sage Euch, Einer unter Euch wird mich verraten!« – Nun ist es klar, daß diese Worte als aus dem Mund Christi hervorgehend gedacht waren. Sei es nun, daß der Sprach-Mechanismus dieser Hauptfigur nicht in Ordnung, oder durch vieljährigen Gebrauch ausgelaufen, oder daß er ihn gar niemals besessen, in jedem Falle konnte Christus die ihm zukommenden Worte nicht sprechen; er bekräftigte aber das eben Gehörte durch ein eigentümliches, norddeutsch klingendes und etwas schnarrendes »Nja!« –

Dieses »Nja« war so sonderbar prononciert, daß ich es dem Leser etwas analysieren muß: zuerst kam ein schnurrendes Geräusch, dann hob sich die Oberlippe und zeigte zwei Reihen vortrefflich eingesetzter Zähne fest aufeinandergebissen; da die[15] Holzpfeife, welche das schnurrende Geräusch hervorbrachte, ziemlich dicht hinter den Kiefern saß, so wurde der Ton jetzt bei geöffneten Lippen heller, hatte aber gleichzeitig einen gaumigen, holzigen Clarinettentimbre, der übrigens, wie ich glaube, beabsichtigt war; nun sprang der Unterkiefer auf, die Mundhöhle wurde sichtbar; die gleiche Feder, die dies bewirkte, mußte auch noch ein anderes Register öffnen, denn im gleichen Moment, und direkt anschließend an das schnurrende »N«, sprang ein helles, tönendes, frisches »ja!« heraus, welches insofern vortrefflich konstruiert war, als jetzt der Mund durch das etwas Offen-bleiben der Lippen einen zufriedenen, heiteren Ausdruck annahm, was doch mit dem bejahenden Charakter der Partikel »Ja!« durchaus im Einklang steht. – Nun kommen aber die Fehler hintennachgehinkt: Nachdem die Kiefer sich wieder geschlossen, blieb die Oberlippe viel zu lang oben, da Lippe und Kiefer getrennte Mechanismen hatten; die obere Zahnreihe mit ihren breiten, wie mit dem Meißel abgehackten Zähnen, gab dem ganzen Gesicht etwas peinlich Lustiges, etwas Lachendes; und als endlich die Oberlippe sich langsam herabsenkte, bekam der Mund einen solchen Ausdruck des Müden, des plötzlich Erstarrenden, Leichenähnlichen, wie ihn der Künstler gewiß nicht beabsichtigt hatte.

Gleichzeitig mit dem »Nja!« aber begann Christus Kopf und Arme ruckweise in die Höhe zu heben und die wächsernen Hände wie segnend über den Karpfen vor ihm auszustrecken. Dann sank er wieder zu der halb geknickten und resignierten Positur, die er anfangs eingenommen hatte, herab. Dieser Aktus hatte eine vehemente Wirkung auf das Publikum. An der veränderten Atmungsweise aus dem Dutzend oder wie viel Leute, die wir beisammen waren, konnte man dies deutlich abnehmen. Das blaue Christus-Auge, welches bei etwas veränderter Kopfstellung nun aus einer schrecklich breiten, wächsernen Apathie herausstarrte, blieb fast gerade mir gegenüber stehen und schaute mich an. Kinn, der rechts im Guß zusammengeflossene rote Mund, Nase und die massigen Fleischteile waren zweifellos auf größere Entfernung berechnet; aber wie schön war dieses blaue Auge! Wenn der Blick des wirklichen Heilandes nur halb so innig war, dann mußte er alle Frauen Jerusalems in dem Maße entzücken, daß sie nach Hause zu ihren Männern liefen, und unter Androhung der Entziehung aller weiblichen[16] Gnadenmittel erklärten, ein Mensch mit so schönen blauen Augen dürfe nicht hingerichtet werden. – Der Budenbesitzer hatte nach den schwerwiegenden, Christi Mund entnommenen Worten: »Einer unter Euch wird mich verraten!« offenbar dem Publikum Zeit gelassen sich zu orientieren. Er mußte aber auch warten, bis der Sinn dieser Worte in die Wachsköpfe der Jünger eingedrungen war. Und dieß schien nun wirklich der Fall gewesen zu sein. Denn als der artistische Leiter, ich meine der Budenbesitzer, noch einmal mit kräftigem Dresdener Dialekt, eindringlich, und mit echt protestantischer Verve betont hatte:

»Wahrlich, ich sage Euch, Einer unter Euch wird mich verraten!« – und Christus wieder mit zerschmelzendem Rythmus das breite Lords-Gesicht erhoben, die prachtvoll-weißen Hände über den Fisch ausgestreckt, und ein klingendes »Nja!« herausgestoßen, begann sofort eine wächsern-glänzige Revolution unter den Jüngern. Jakobus (der Ältere) und Andreas, ersterer in einem schottisch-karrirten Überwurf, die beide an der, vom Publikum aus betrachtet, linken äußersten Tischecke einander zugewandt saßen, und von denen der letztere bis dahin konstant in die rechte Soffite, Jakobus dagegen auf eine vor ihm stehende Schale mit roten Äpfeln geblickt hatte, begannen nun beide mit bedenklicher Miene die Köpfe hin und her, von den Jüngern zum Publikum und vom Publikum wieder zu den Jüngern, zu drehen, als wollten sie sagen: »Das ist ganz unmöglich! Diese Geschichte mit dem »Verraten« ist ganz unmöglich; wirklich ganz unmöglich!« – Einige Leute im Publikum fröstelnd getroffen von den schwarz lackierten Augen des Jakobus (des Älteren), räuspern verlegen und schauen vorsichtig um, ob sich der Verräter unter den Zuschauern befinde. Die ruhelos schnurrenden Köpfe der beiden Jünger bleiben schließlich dicht einander gegenüber stehen, und durchbohren sich gegenseitig mit glänzigstarrenden Blicken, als röchen sie mit den Augen gegenseitig auseinander heraus, wer von ihnen heute noch »den Herrn« verraten werde.

Zweifellos war auf der andern Seite des Tisches eine ähnliche Serie von Entrüstungen vor sich gegangen, ohne daß ich sie beobachten konnte; ich schloß dies daraus, daß die oben schon genannten Bartholomäus und jüngerer Jakobus, von denen der letztere einen gelbseidenen Kaftan an hatte, und die zu Anfang ruhig und gelassen dort saßen, nun mit Händen und Oberkörper[17] zum Tisch hineingelümmelt waren, und trotzig und wie herausfordernd zu Christus hinüberschauten. Der artistische Arrangeur hatte hier offenbar ein große Schwierigkeit zu überwinden und wäre durch diese Gruppe beinahe zu Fall gekommen. Zum Glück hatte der jüngere Jakobus, der eine von den beiden etwas ungeschlachten Jüngern, die hohlgemachte Hand am Ohr, so daß man sah, er horchte, und, was ihre wulstigen, dicken Lippen frugen, war etwa: »Was ist da gesagt worden von »Verraten«? Haben wir recht gehört? Wer verraten? Wie verraten? – Beim »Verraten« müssen wir bitten, unsere Namen auszuschließen!« – Eine sehr gute Geste hatte sich Matthäus einstudiert, der als späterer Evangelienschreiber seinen Platz gleich links vom »Herrn« hatte, und der mit der rechten Hand immer in bestimmten Pausen an die Stirne fuhr, als besänne er sich, ob denn ein ähnlicher Verdacht früher schon ausgesprochen worden sei, im Übrigen aber in der maßvollen Zurückweisung desselben mit seinen Genossen gleichen Sinnes war. Daß Thomas, der später durch seinen Unglauben soviel Aufsehen gemacht, und der wiederum links von Matthäus saß, ungläubig sein Haupt – nun schon seit fünf Minuten – schüttelte, war vom Mechaniker dieser Gruppe zu erwarten gewesen, und da in diesem Falle der Akteur – Thomas – von jedem Übertreiben sich fern hielt, also beim Schütteln auf der Höhe der Exkursion nicht jeweilig mit dem Blick das Ohr seines Nachbarn zur Rechten oder Linken (dort saß Philippus) streifte, so war sein ewiges Verneinen durchaus im Rahmen des Protestes der Andern.

In all dieser fleißigen Bewegung, diesem Fragen, Besinnen, Kopfschütteln, Entrüstet-Thun etc. war aber Christus, dieser schöne Mann in der Mitte, vollständig apathisch, und so zu sagen stocksteif; er kümmerte sich nicht im Geringsten um die Vorgänge um ihn, sondern blickte ruhig auf seinen Fisch. –

Nun aber ging es auf der linken Seite wieder mit verstärkter Vehemenz los. Petrus, ein Mann in den Sechziger, mit grauem, spitzig zulaufendem Vollbart und resoluten Gesichtszügen, der, zur Linken von seinem Bruder Andreas placiert, die ganze Zeit mit verdutztem Kopfe dortgesessen war, wurde plötzlich lebendig, hob den Kopf gegen das Publikum, zog ein mit Silber-Papier überzogenes, sensenartiges Messer hervor, und fuhr mit kopfabschneidenden, kräftigen Bewegungen hoch über seinem Haupt etwa fünf bis sechs mal hin und her, wobei der[18] dicht neben ihm (in der Richtung zu Christus zu) sitzende Judas Ischariot eine deutliche, ruckartige Bewegung machte und an seinen Hals langte, während im Publikum tiefe, Entsetzen verratende Atemzüge hörbar wurden, und ein Zuschauer zu meiner Linken, wie ich sah, seinen Rockkragen hinaufschlug. In der That, diese energische Handlung Petrus' machte den besten Eindruck; wie überhaupt auf dieser linken Seite (rechts vom »Herrn«), wo außer den schon genannten noch der agitatorisch angelegte Simon der Zelote saß (neben Judas), sich, wie man sofort erkannte, die älteren, reiferen und kritik-begabteren Elemente vereinigt hatten; während auf der andern Seite (links vom »Herrn«) man sich mit zweifelsüchtigen Mienen, Mundwinkel-Zucken und Augen-Zwinkern begnügte, aber keine großartig-theatralische Bewegung, Messerführung, oder resolutes Sich in den Bart-Greifen das Vorhandensein eines tiefer angelegten Räderwerks in den betreffenden Geistesmaschinen verriet. Aber weder hier Ruhe und Gleichgültigkeit, noch dort Aufgeregtheit und Petrus mit seinem Blank-Ziehen, vermochten das zu bewirken, was jetzt am allernötigsten gewesen, um die Sache vorwärts zu bringen, nämlich Christus aus seiner Lethargie aufzumuntern, oder ihn zu veranlassen, etwas darüber zu sagen, wer denn eigentlich der »Verräter« sei. – Christus hatte seine langen Hände auf dem Fisch und sein Gesicht war auf die Hände gerichtet und über dem Gesicht hing die prachtvoll- blonde englische Perrücke in unlösbarer Steifheit herunter über Gesicht, Fisch und Hände. – »Einer unter Euch wird mich verraten!« – Diese Worte aus dem Munde des »Herrn« muß ich statt des Budenbesitzers hier noch einmal dem Leser in's Gedächtnis zurückrufen; diese Phrase hat all die Aufregung in dieser wächsernen Gesellschaft hervorgerufen; alles Messer-Ziehen und Sich-an-den-Kopf-langen bezieht sich auf sie; und es wird keine Ruhe unter diesen ehrenwerten Männern eintreten, bis der Verräter bekannt ist. – Als demnach Christus jeden Versuch von Seiten der Apostel, sich näher zu äußern, trotzte, wandte man sich an Johannes, von dem bekannt war, daß er alle Gedanken des »Herrn« wußte. Alle Köpfe wandten sich also jetzt – erst am Tisch und dann im Zuschauerraum – dem rechts neben dem »Herrn« placierten jugendlichen Johannes zu, gleichsam mit der Frage, was er zu der schrecklichen Anklage meine. Dieser Johannes war ein blutjunger, liebenswürdig-schöner[19] Mensch mit vollen Mädchen-Wangen, blauen, unverdorbenen Augen, süßem, rotem Mund, trug ein rosafarbiges, bauschiges Kleid mit weiblichem Schnitt, das mit einem blendendweißen Kragen den jungfräulichen Hals abschloß; eine blonde Lockenfülle, die bis auf den schneeweißen Kragen niederfloß, ergänzte dieses bausbäckige Gesicht zu einer so verführerischen Erscheinung, daß die jungen Mädchen, die sich zu zwei oder drei im Zuschauerraum befanden, flüsternd zusammenrückten und sich mit dem Ellbogen anstießen, auch von diesem Moment an keinen Blick mehr von dem prächtigen jungen Menschen verwandten. Seine geheime Konstruktion erlaubte ihm, die Arme flügelähnlich vom Körper auf und nieder zu heben, und als er dies zum Zeichen der Bejahung, oder der Meinung, daß er an dem Wort des »Herrn« nichts zu ändern habe, etwa fünf bis sechs mal hintereinander mit luftiger Geschwindigkeit that, wurden plötzlich die Mienen aller Apostel bleich und käsig, bleicher fast als Wachs, und die zwei Hineingelümmelten, von denen ich oben sprach, am äußersten Ende des Tisches, Bartholomäus und der jüngere Jakobus, zogen sich von der Tischplatte zurück, wie durch die Geste des jungen Johannes gleichsam vergewissert, daß also wirklich der »Verräter« da sei; der jüngere Jakobus ließ die hohle Hand vom rechten Ohr niedersinken, als habe er genug gehört; Thomas stellte sein ungläubiges Schütteln ein; Matthäus schlug sich nicht mehr mit der Hand vor die Stirn; und auch drüben auf der linken Seite ließen Alle die steifen, teils zur Abwehr, teils staunend und fragend, erhobenen Arme fallen, und eine allgemeine resignierte Abspannung gab sich durch die Reihe der schwergetroffenen Jünger kund.

Nun darf der Leser nicht vergessen, was es für eine Bewandtnis damit hat, daß diese elf Apostel, alles bejahrte, ergraute Männer mit ernsten Gesichtszügen, durch diese kleine, fast flatterhafte Meinungskundgebung des jungen Johannes so im Innersten getroffen wurden. Johannes war eben der erklärte Liebling Jesu, er »lag an der Brust des ›Herrn‹«, wie es im Evangelium von ihm heißt, und wußte dessen Gedanken; Christus muß dem jungen Johannes wiederholt Dinge mitgeteilt haben, von denen die Andern erst viel später Kenntnis erhielten; dies erklärt die apodiktische Sicherheit, mit der jedes Wort und jede Geste von dem letzteren aufgenommen wurde; und dies erklärt auch den Umstand, daß der junge Fant den Ehrenplatz rechts neben[20] Christus einnimmt, und zwar auf einer Seite des Tisches, wo die Charakterköpfe der ältesten und wichtigsten Apostel den größten Gegensatz zu einem Milchgesichte bilden mußten, dessen Gesichtszüge zwar Unschuld aber auch vollständige Unerfahrenheit, verrieten. Denn auf dieser Seite, ihm zunächst, folgte – um noch einmal die Reihe zu nennen – der entflammte Zelot Simon (der Kananiter), dann der verwegene und zielbewußte Judas Ischariot (der, wie das gebildete Publikum wohl größtenteils weiß, der »Verräter« ist); dann der gleich vom Leder ziehende, stets bewaffnete Petrus; dann dessen nicht minder entschlossener Bruder Andreas; und schließlich der mürrisch und finster dreinschauende, jedenfalls sorgengequälte ältere Jakobus in seinem schottischen Anzug. Der Kontrast kam noch in anderer Weise zum Ausdruck: während nämlich alle Apostel sich so zu sagen von dem gedeckten Tisch losgelöst hatten, als hätten sie kein Recht mehr an dem heiligen Mahl Teil zu nehmen, und – durch geschickte Machination der unter dem Sitz befindlichen Hauptschraube jedes Einzelnen – mit freiem Oberkörper dort saßen, war Johannes neben Christus der Einzige, der, – wenn der Ausdruck verständlich ist – den Tisch belegt hatte. Aber wie belegt! Denn während Christus in seiner stereotypen Haltung, Hände und Gesicht in unerbittlicher Apathie über den Karpfen gebeugt, nach wie vor verharrte, lag der junge Johannes mit den beiden Armen über die ganze Tischplatte hereingelümmelt, das Kinn am Tischtuch, und die apfelblütigen Wangen hinaus in's Publikum gerichtet, wo er mit seinen naiven Unschuldsaugen ein junges Mädchen anguckte, die zitternd und erregt neben ihrer Mutter stand. Letztere war eine Postoffizials-Witwe, wie ich zufällig wußte, da ich sie draußen zwischen den Buden schon einmal hatte anreden hören. Und sie schien nichts gegen dieses gegenseitige Angucken der jungen Leute zu haben. – Nun will ich gerne zugeben, daß der Künstler den jungen Johannes zu jugendlich, zu läppisch gebildet hatte, vielleicht gerade um dem Publikum die Stelle begreiflich zu machen, in der es von ihm heißt, daß »ihn der »Herr« lieb hatte«, – und daß er an der Brust des »Herrn« ruhte, – aber das Alles hindert nicht, daß die alten Apostel von dem jungen Menschen in der unwürdigsten Weise abhingen, auf jedes seiner Worte lauschten, und daß dieses unnatürliche Verhältnis hier in der schroffsten Weise seinen Ausdruck fand. –[21]

Eine bleierne, trübe Stimmung lag nun auf der ganzen Versammlung. Der Heiland impassibel in seiner früheren Haltung. Die Apostel tief in Gedanken versunken. Der junge Johannes mit seinem bausbäckigen Lächeln schien von der ganzen Sache gar nichts zu verstehen. Auch im Publikum war eine gewisse trostlose Gedrücktheit zu bemerken. Ein schallendes »Nja!« entfuhr noch einmal den Lippen des Heilandes, – und zwar diesmal, ohne daß er aufsah, – und schien zum Überfluß noch einmal zu bekräftigen: »So ist's, wie ich gesagt habe. Und da wird Nichts d'ran geändert!« – Für mich war damit, nebenbei bemerkt, entschieden, daß der »Nja« – Mechanismus mit der Bewegung des den Kopf-Aufrichten's, des Fisch-Segen's nichts zu thun hatte. – Nun aber änderte sich plötzlich die Szene: Judas, der während der letzten Minuten sich mit dem schottisch-gekleideten Jakobus, – über den Tisch hinüber, – leise unterhalten hatte, und zweifellos des Englischen mächtig war, war plötzlich aufgesprungen, und indem er mit dem goldgestickten, gefüllten Beutel, den er in der Hand hatte, ein paarmal tüchtig auf den Abendmahls-Tisch einhieb, schrie er: »What's the matter?« dreimal mit so schneidender, inquisitorischer Stimme, daß alle heftig erschraken, und sogar Christus in leise zitternde Bewegung geriet. – »What's the matter? – What's about »wird mich verraten«? What's the matter?« Dabei warf er den wunderschönen, von schwarzem, hohenpriesterähnlichen Vollbart umrahmten, funkelnden Kopf heftig nach links und rechts, im Vorübergleiten den Heiland fest in's Auge nehmend. Er war ein prächtiger Mann, mit rassigem, scharfgeschnittenem Gesicht; eine kühne Adlernase gab dem ganzen Kopf etwas Siegreiches, Ideelles. Zweifellos war er der Bedeutendste der ganzen Gesellschaft. Von imponierendem Äußern. Gewiß hatte er längst die jede echte Genialität erstickende Gefahr der sanften, unscheinbaren Heilandslehre erkannt, die alle Menschen gleichmachen[22] wollte. Er verband mit der Schärfe des Denkens die Entschlossenheit des Handelns. Und nur das Herz fehlte ihm. Sein Plan der Unschädlichmachung der neuen Lehre war korrekt in Konzeption und Ausführung. (Die paar Silberlinge waren gar kein Gegenstand). Nur vergaß er, daß der blonde Heiland auch zum Sterben bereit sei. Ein süßer Herzenswahnsinn hatte in Letzterem längst Platz gegriffen, als er sich entschloß nach Jerusalem zu reisen. Eine fatalistische Schwelgerei ließ ihn innerlich lächeln über die Spieße und Stangen der Pharisäer, und die Mordtaktik des Judas. Aber dieser, wie gesagt, war ganz korrekt. Er war ein guter Schüler cäsarischer Berechnung und Rücksichtslosigkeit, welche er ja durch die römische Herrschaft täglich vor Augen hatte. Nur vergaß er, daß mit dem Tod Christi nicht Alles vorbei sei. Diesen blutigen Schachzug hatte er aus dem so milden, guten, thränenreichen Antlitz des Heilandes nicht herausgelesen. – Das Publikum konnte nicht umhin seiner Freude über die dramatische Kühnheit des Judas Ausdruck zu geben. Sie waren plötzlich fast Alle auf seiner Seite. Ein angenehmes Grausen über die schroffe Manier des schönen »Verräters« überkam Alle. Besonders die Weiber waren entzückt. Viele fanden den schwarzen Schnurrbart göttlich. Nur ein altes Weib neben mir, mit einer Zahnlücke auf der rechten Seite, pfiff und zischte aus dieser Lücke so vehement heraus, daß man ihr die Entrüstung anmerkte, ohne hinzusehen. Sie war jedenfalls bibelfest. – Vielleicht Protestantin. –

Judas trug prächtige Kleidung. Offenbar standen ihm bedeutende, hohepriesterliche Mittel zu Gebote. Die dreißig Silberlinge kamen nicht in Betracht. Schon der scharlachrote Überwurf, der mit goldnen, sich ringelnden Schlänglein bestickt war, konnte um diese Summe nicht hergestellt werden. Wie zur Sänftigung war das Untergewand aus merlinfarbenen matten Pers hergestellt. Der Kopf drehte sich vorzüglich. Er machte immer eine ganze halbe Wendung, vom Heiland hinüber zum Andreas, ohne das Publikum zu würdigen. – Die Direktion wußte, daß dieser Moment das Publikum auf's tiefste errege, und ließ zu Gunsten des Bekleidungsfonds für die Apostel einen Teller herumgehen.[23]

 

Pause

Während der Sachse mit dem Teller herum ging, fiel zu meiner größten Überraschung der Vorhang plötzlich über die Abend-Mahl-Szene. Auf den Moment, wo Christus Judas den Bissen reicht, schien also der Verfertiger der Gruppe, wohl wegen der großen mechanischen Schwierigkeiten, Verzicht geleistet zu haben. »Sogleich beginnt der zweite Akt!« rief der Budenbesitzer mit lauter Stimme jenem Teil des Publikums zu, welches sich nach Fallen des Vorhangs etwas in den Hintergrund des Zuschauer-Raums zurückgezogen. Er war wohl besorgt, es möchten Einige das Theater verlassen. Offenbar wurde noch einmal gesammelt. Ich suchte durch ein etwas größeres Geldstück die Aufmerksamkeit des Teller-Trägers auf mich zu lenken, da ich verschiedene Fragen zu stellen hatte. Auf der Bühne verdunkelten sich jetzt die Lampen und aus dem Rumoren und Poltern merkte man, es werde eine neue Szene aufgeschlagen. – »Sie haben da vortreffliche Figuren!« sprach ich den Sachsen an, der im Zuschauer-Raum die Herrschaft führte. »Ja, – meinte er, – seit wir den neuen Christus haben, geht es besser.« – »Hatten Sie früher einen andern Christus?« – »Ja, – der war geschnitzt, – aber ganz schlecht, – und schon ganz schwarz; – der nahm sich unter den schönen Wachsköpfen wie der Teufel aus; – wir haben ihn verkauft.« – »Allerdings, der neue Christus ist vortrefflich.« – »Oh, ich sag' Ihnen, der ist so schön, so sanft, – wissen Sie, das blonde Haar, das blaue Auge, – ich sag' Ihnen, die Leute haben oft geweint.« – »Spricht er denn nicht die Worte: Wahrlich, ich sage Euch ... etc.?« – »Nein, der hat nie gesprochen, das käm' zu teuer; das »Ja!«, welches er spricht, haben wir hier in Nürnberg erst machen lassen, das kostet uns allein über achtzig Gulden.« – »Dieses »Nja!« scheint aber selbst wieder sehr kompliziert zu sein?« – »Ja, es hat zwei Pfeifen und ein Schnarr-Register.« – »Sagen Sie ein mal: Warum spricht der Judas englisch?« – »Den haben wir von einer englischen Truppe gekauft.« – »Ja, aber gerade die inhaltsschweren Worte, die er zu reden hat, die versteht ja kein Mensch!« – »Oh, das macht nichts; im Gegenteil, es wirkt ungeheuer; die Leute sind ganz baff; – diesen Judas gäben wir für keinen andern her, – nicht einmal für einen hannoveran'schen, – der ist unsere beste Figur!« – »Was ist das, ein »hannoveranischer[24] Judas?« – »Pst!« machte der Sachse und deutete auf den Vorhang, der sich soeben erhoben hatte.

 

Kreuztragung

Eine weite kahle Heide. Auf dem Boden hie und da etwas buschiges Gras, dessen breite, prachtvoll grüne Halme, wie mir schien, in Schweinfurter-Grün getaucht und mit Silber-Puder bestreut waren. Keine Seele auf der weiten Fläche. Ob dieses Feld in der Nähe von Jerusalem war, ob der Zug nach Golgatha hier vorüber mußte, ob voraussprengende römische Kriegsknechte jeden Moment zu erwarten waren, oder ob es das Stelldichein einer friedlichen Szene werden würde, ob die schöne Magdalena hier vor dem Publikum ihre blonden Flechten auseinanderwickeln werde, um sie mit ihren Thränen zu waschen, – das Alles wußte kein Mensch, da ja im Vorausgehenden die Direktion bewiesen hatte, daß sie sich unmöglich, weder in der Aufeinanderfolge der Scene, noch in den Einzelheiten des jeweilig Dargestellten, wortgetreu an den Text der synoptischen Evangelien halten könne. Aber Stimmung machte schon diese weite, grünumflossene Ebene, die von den acht Lampen hinter der Verschaalung grell beleuchtet wurde. – Und plötzlich näherte sich aus der rechten Koulisse eine große Maschine, deren Schatten die Soffiten-Beleuchtung zu früh auf der hinteren Szenen-Wand zu Gesicht brachte. Man wußte noch nicht, was es war. Es schien nur ein kolossales Ding. Jetzt kam es näher. Und plötzlich erschien ein Balken, der hinunter ging; dann kam ein Balken der hinaufging; dann die Vereinigung der beiden Balken; und dann ein Kopf. Ein wachsbleicher Kopf mit wunderschönen blonden Haaren, die auf dem Scheitel geteilt waren. Es war wieder der weiße Lord. Es war Christus, der in ein großes bauschiges, helles Gewand gehüllt, unter dem Kreuz zusammengeknickt, auf der Szene vorüberzog. Doch bewegte er die Füße nicht. Im Gegenteil, alles war starr und steif. Und dieses vermehrte noch das Eindrucksvolle. Offenbar wurde durch einen Bühnen-Einschnitt über die ganze Breite der Bühne hin die im Souterrain genügend befestigte Figur hindurchgezogen. Der Rücken war wohl gekrümmt, und überhaupt die ganze Gestalt so tragisch und gebrechlich wie möglich hingestellt; trotzdem war[25] der Kopf in einer ganzen Viertelsdrehung nach links zum Publikum hinaus gedreht, und außerdem noch so weit zur Schulter hinauf gehoben, daß die Augen fast wagerecht zu liegen kamen; und schaute nun so mit gespenstig-bleichen, wie erstarrten, wie bei einer andern milden Gelegenheit gefrornen Gesichtszügen, aus denen jeder Schmerz und jede Anstrengung gewichen war, direkt aus der Bühne heraus; eine Kombination von Pose und Affekt, die in der Natur gar nicht möglich wäre, die aber hier die kolossalste Wirkung hervorbrachte. Es war nicht derselbe Christuskopf wie beim Abendmahl. Der dort war englischer, breitkiefrig, fleischig und die Perrücke glatt gestriegelt. Der hier war idealer, deutscher, etwas hohlwangig, ein feinfühliges Kinn, und wunderschöne blonde Locken flossen auf die Schulter hernieder. Langsam, starr, lautlos und stete zog dies gepeinigte Christusbild wie eine Vision quer über die Bühne. Es war jetzt beiläufig in der Mitte. Der Sachse sprach kein Wort. Dies war auch gar nicht nötig. Jedermann, das kleinste Kind, wer nur aus dem Publikum jemals einen Schulkursus in deutschen Landen mitgemacht hatte, oder einmal ein Bild von einem Franziskaner-Pater geschenkt bekommen hatte, der wußte, das ist Christus unter dem Kreuz. Dieser stumme Religions-Unterricht hatte die ungeheuerlichste Wirkung unter den Zuschauern, und setzte sich in ihrer Fantasie wie eine gewaltige Macht fest. Und ich war froh, als der weiße Mann endlich zwei Drittel der Bühne zurückgelegt hatte. Denn auf Momente hatte ich die Empfindung, das vor Entrüstung fassungslose Publikum möchte hinausstürmen und irgend Einen zwischen den Buden ergreifen und als »Verräter« halb totgeschlagen hereinschleppen. Denn was das blonde bleiche Antlitz da droben nicht sprechen konnte, das sprach wie mit Stentorstimme im Gewissen des Publikums: »Wer hat das angerichtet? Wer ist Schuld an dieser Marter? Wer ist der Teufel, der es zu verantworten hat, daß dieser wunderbare Mensch da droben so leidet?« – Wie es bei Vorüberführen von so fest-gegossenen Bildnissen geht, die Augen schauen, in welcher Stellung auch immer, stets den Beschauer an. Und als der Heiland sich der linken Soffite näherte, schauten seine wasserhellen, blauen Augen mit einem schmerzlichen, vorwurfsvollen Ausdruck zurück in's Publikum, als sprächen sie »Folge mir nach!« so daß einzelne Mädchen entsetzt von der äußersten Rampe, bis zu welcher das Publikum vorgehen konnte, zurückwichen.[26] Und in der Fantasie eines solchen, der leichter entzündbarer ist, als Andere, mochte jetzt der Gedanke entstehen, es könnte Einer von dem zurückschauenden Blick des Heilands verwirrt und seiner Umgebung vergessen, mit einem einzigen Satz über Rampe und Lichter hinweg auf die Bühne springen, um zerknirscht dem bleichen, wächsernen Bild zu Füßen zu sinken. Aber Gott sei Dank, Alles blieb still, wie durch ein Blei-Gewicht in der Brust hingefesselt, starr, fasziniert. – Jetzt war die lichtumflutete, gewaltige Erscheinung dicht bis an die linke Soffite gekommen. Eine Verzögerung schien zu entstehen. Das Bild machte Halt. Hinter ihm nach folgte, wie eine schwarze Schlange, der riesige Kreuz-Balken. Aber vorn schienen die kleinen Balken-Enden, die über die Schulter hereinhingen, nicht zur Soffite hineinzukönnen. Das Bild schwankte jetzt hin und her. Der Sachse ging vor und schaute in die Soffite. Nur jetzt keine Katastrophe, – dachte ich mir, – und Menschen, die diese weiße Gestalt bis in ihr spätestes Alter mit sich in der Fantasie herumschleppen werden, noch ein Ärgernis bereiten. – Doch jetzt ging's wieder vorwärts. Noch ein einziger, langer, blauer Blick über die ganze Versammlung, und das blonde Haupt verschwand hinter der Soffite, und der Vorhang fiel. – Ein einziger großer Atemzug im ganzen Publikum löste die Anwesenden wie von einem lange ertragenen Alp. »Zum Besten des Maschinisten!« – sagte der Sachse, und ließ einen Teller herumgehen.

 

Pause

Während noch Alles still dastand, Einige flüsterten, Niemand aber die feierliche Stille zu unterbrechen wagte, hörte man plötzlich von hinter der Bühne her einen schallenden Klatsch und gleich drauf in norddeutschem Dialekt an Jemanden zornig die Frage gerichtet: »Wie können Se man so dämlich sein und Christus an die Wandverkleidung anrennen lassen?« – Obwohl diese barbarische Unterbrechung, welche mit einem Schlag das ganze Komödiantenwesen aufdeckte, die feierliche Stimmung in's Gegenteil zu verkehren geeignet war, so zeigte sich doch im Publikum keine Neigung auf die Komik des Vorgangs einzugehen. Die Macht der weißen Christus-Erscheinung, die mit ihren[27]