Roadkill

– Ein Weg wird dein letzter sein

Ein Horrorroman von

Tanja Hanika

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

2. Auflage Mai 2020

Korrektorat: Doris Eichhorn-Zeller, www.perfekte-texte-coburg.de/

Unter Verwendung von:

© Umschlaggestaltung »Roadkill« Cathy Strefford

© Coverdesign »Hexenwerk« Cathy Strefford

© Coverdesign »Der Angstfresser« Christian Eickmanns

© Coverdesign »Scream Run Die« javarman / Fotolia.com

© Coverdesign »Zwietracht« by Rob Allen @n23art

© OpenClipart-Vectors / Pixabay.com

© 2020 Hanika, Tanja

www.tanja-hanika.de

kontakt@tanja-hanika.de

Gartenstr. 12, D-54595 Weinsheim

Alle Rechte in jeglicher Form vorbehalten. Sowohl Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme als auch mechanische, elektronische sowie fotografische Vervielfältigung – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Figuren, Namen und Handlung sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Institutionen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.


Für meine beste Freundin Denise,

die stets ein offenes Ohr, ein Lächeln und

spannenden Gesprächsstoff für mich hat.

Ich bin so froh, dass es dich gibt.


Inhaltsverzeichnis

EINS.

Blutparty

Ein Mann im Wald

Er hatte längst zu Hause sein wollen. Seine leere Wohnung war nicht besonders verlockend, aber besser, als im Wald wegen einer Bus-Panne festzusitzen. Eine Tiefkühlpizza hätte er in den Ofen geschoben und den Fernseher angeschaltet, um sich mit irgendeiner Serie abzulenken. Dabei war es ihm fast egal, welche Sorte Pizza und welche Serie es geworden wäre. Hauptsache, eine Pizza mit viel Käse und eine Serie mit viel Blut.

Der Busfahrer drückte wahllos auf einigen Knöpfen herum. Er nahm das Funkgerät und riss das Kabel ab, das er, wie der Spiegel zeigte, erschüttert anschaute. Das Lautsprechermikrofon samt Kabel warf er neben sich und beachtete es nicht weiter. »Bescheuerter alter Bus«, fluchte er, wobei neben seiner Wut auch deutlich seine Verzweiflung herausklang. Anschließend nahm er sein Handy und hielt es an die Scheibe, um ein Signal zu bekommen.

Es würde eine ganze Weile dauern, bis sie weiterfahren konnten, da war sich der Mann absolut sicher. Handyempfang gab es keinen im Langenbaarer Forst, wie in vielen Waldstücken der Eifel. Wer ländlich lebte, kannte es nicht anders. Er und die anderen Fahrgäste entschieden sich dafür, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen, um die Zeit totzuschlagen. Dem Busfahrer gefiel das zwar überhaupt nicht, aber er machte auch keine Anstalten, sie aufzuhalten. Da es sich nicht um eine Reifenpanne, sondern irgendetwas Mechanisches handelte, womit sich keiner auskannte, waren sie ohnehin nicht hilfreich.

»Willst du dich uns anschließen? Mit uns eine Runde laufen?«, fragte ihn ein hagerer und nicht mehr ganz nüchterner Kerl.

Der Mann winkte ab. »Passt schon«, sagte er und stieg aus dem Bus aus, dessen Fahrer hektisch vorne mit seinem Handy hantierte und verschiedene Knöpfe am Bus drückte. Seinen wachsenden Unmut konnte man deutlich erkennen, auch ohne auf die relativ zahmen Flüche zu hören, die der Busfahrer ausstieß. Er hatte das Gefühl, dass ihm die anderen die Luft wegatmeten, und war froh, Abstand zu ihnen gewinnen zu können. So waren ihm seine Mitmenschen generell am liebsten: weit weg von ihm.

Die Waldluft roch nach Holz, Harz und Tannennadeln. Seit die Sonne vom Himmel verschwunden war, wurde es rasch kühler, doch er fand die Frische angenehm. Er entschied sich für einen der Waldwege und dachte, solange er keine Abzweigung gehen würde, müsste er nachher einfach schnurstracks zurücklaufen. Er hatte viele Talente, manche eher zweifelhafter Natur, aber ein guter Orientierungssinn gehörte leider nicht unbedingt dazu. Er hatte vergeblich geübt und hätte ihn gut gebrauchen können, aber am Ende stand er doch da und fand nur mühsam den Weg zurück, den er suchte. Die beiden anderen Männer wandten sich einem anderen Pfad zu, was ihm recht war.

Hier huschte und dort knackte es im Gebüsch und der Mann fand es schade, dass er die Tiere nicht sah, die vor ihm flohen. Die Bewegung tat ihm gut und er nahm sich vor, wieder öfter spazieren zu gehen. Er schlenderte mehrere Minuten in entspannender Einsamkeit den Weg entlang, bis er jemanden fluchen hörte. Geschimpft wurden allerlei derbe Unflätigkeiten, worüber er grinsen musste. Der Busfahrer hätte hier einiges lernen können.

Dann dachte er an das Messer in seiner Tasche, seinen treuen Begleiter. Zwar hatte er nicht das Gefühl, es zum Selbstschutz zu benötigen, aber er wartete schon lange darauf, dass das hübsche Stück wieder zum Einsatz kam. Das Timing musste stimmen. Warum nicht jetzt? Er würde es bereuen, wenn er die Einsamkeit des Waldes verschwendete, die Möglichkeit, die sich so unverhofft aufgetan hatte. Seine Sinne schärften sich, sein Herz schlug kräftig und sein Verstand riet ihm, die Chance nicht verstreichen zu lassen. Seine Finger zuckten. Der Drang, es zu tun, war unbändig. Wieder über das hinauszuwachsen, was er von klein auf tat: Schon als Junge hatte sein Vater ihn mit in den Wald genommen, um Wild zu schießen, aus dem die Mutter die leckersten Eintöpfe kochte. Anfangs hatte er ihm geholfen, das Gewehr festzuhalten. Aber schnell wollte und konnte er es alleine tun. Alleine ein Leben beenden. Er vermochte nicht zu schätzen, wie viele Tiere er inzwischen umgebracht hatte. Es kümmerte ihn nicht. Bei jedem Abschuss hatte er sich gefragt, wie es sich anfühlen würde, wenn er zur Abwechslung nicht ein Wildschwein oder ein Reh erlegte, sondern ein Lebewesen seiner eigenen Spezies.

Dann war der Moment der erfüllten Faszination gekommen. Nicht ganz volljährig war er zum Mörder geworden: mitten in einer milden Regennacht, auf einem hinter der Schule verborgenen Sportplatz, nur mit seinem Messer als Komplizen. Anschließend befriedigte es ihn nicht mehr, ein Tier zu jagen, und doch war es das, womit er den Großteil seiner Zeit vorliebnehmen musste. Er war nicht dumm. Er würde sich nicht erwischen lassen und so passte er stets die richtigen Momente ab.

In ihm wurde es kalt. Jetzt. Er wollte es jetzt tun, um sich wenigstens für eine Weile nicht mehr damit begnügen zu müssen, lediglich davon zu träumen. Vielleicht stellte sich die Bus-Panne nun doch als Glücksfall heraus. Er schritt gemütlich auf den Mann zu, die Hand unter seinem Mantel am Messergriff. »Kann man helfen?«

»Ach, es ist doch alles scheiße. Die verfickte Kettensäge steckt fest. Ich wollte nach Feierabend noch ein bisschen Holz klein machen und jetzt das. Ist mir in den letzten zwanzig Jahren nicht passiert. Das Ding hier ist der letzte Drecksmist. Kauf keine Kettensäge im Sonderangebot, will ich dir geraten haben. So ein Scheiß.«

»Wenn Sie mir zeigen, wo ich anfassen soll, können wir vielleicht zusammen daran ziehen.« Er versuchte bei seinem abwegigen Vorschlag nicht zu lächeln.

Sein Gegenüber beugte sich vor, um ihm hier und da etwas an der Kettensäge zu erklären, aber es interessierte ihn kein Stück. Sein Fokus lag allein auf dem Menschen vor ihm, der nicht ahnte, was ihm geschehen würde, während er selbst sich in Gedanken ausmalte, wo er stechen, wo er schlitzen würde. Wie das Blut spritzen und fließen würde. Wie es riechen und schmecken würde. Sein Magen zog sich sehnsüchtig zusammen.

Da zog er das Messer. Seine Finger schlossen sich genüsslich um den Griff. Mit einem Hieb rammte er es ihm in den Rücken.

Sein ganzer Körper kribbelte mit einem Mal, als würden tausend kleine Höllenflammen ihn von innen nach außen verzehren, während der Mann vor ihm auf die Knie ging und japste.

Mit seinen Händen fuhr der Mann am Boden aufgeregt durch die Luft. Offensichtlich versuchte er den Griff der Klinge zu fassen, aber er erreichte ihn nicht.

Welche Organe er beim anderen genau getroffen hatte, war ihm egal. Der Killer legte einen Finger nach dem anderen um den Griff und zog das Messer langsam aus dem Körper des Fleischsacks. Dieses Gefühl! Und dazu das leise schmatzende Geräusch, als die Klinge den Körper verließ. Es betörte ihn. Nun rammte er es erneut durch die Jacke in das Fleisch seines Opfers. Mal für Mal durchstach er Haut, Nerven und Muskelstränge, nur selten traf er auf Knochen, die einen unschönen Widerstand leisteten. Seine Übung machte sich bezahlt: Immer wieder glitt sein Messer in das weiche Fleisch, wurde beinahe wie von einem Sog erfasst, der vom Körper ausging. Er verfiel einem natürlichen Rausch, wie ihn auch manche Tiere kannten: Die Bäume um ihn herum verschmolzen mit dem Schatten, sein ganzer Fokus legte sich auf den Köper vor ihm. Er roch das Blut und spürte, wie das Messer mit seinem Opfer verschmolz, das zusehends mehr erschlaffte. Er wollte nicht, dass es aufhörte. Nein, er wollte mehr. Brauchte viel mehr. Er musste einen neuen Fleischsack für sich finden, wie er seine Opfer gerne nannte.

Als der Mann vor ihm nicht mehr zuckte und sein eigener Arm müde war, trat er einen Schritt zurück. Schwer atmend betrachtete er sein Werk. Er streckte seinen Rücken durch und genoss mit einem Seufzen die Entlastung, nachdem er so lange vornübergebeugt gewesen war. Leckte sich die Lippen, auf denen seine Zunge ein paar kleine Blutspritzer fand.

Er entdeckte einen Hochsitz nur wenige Meter vor ihm am Wegesrand. Da kam ihm eine Idee, der er nicht widerstehen konnte. Und anschließend wollte er schauen, was aus diesen beiden Männern geworden war, die bei ihm im Bus gesessen hatten. Er hatte noch längst nicht genug davon, Menschen zu töten. Fleischsäcke. Die beiden wären perfekt, um diese Nacht unvergesslich zu machen.

Vielleicht war das Fest noch nicht zu Ende.

Vielleicht hatte seine Blutparty gerade erst begonnen.

ZWEI.

Bitte wenden!

Mira

»Fahrt vorsichtig«, sagte Lars‘ Mutter, ehe sie ihm einen Abschiedskuss auf die Wange gab und auch Mira ein letztes Mal umarmte. Lars‘ Mutter drückte ihren Sohn an sich, als wäre es die letzte Umarmung in ihrem Leben, ganz wie Mütter es taten, die der Meinung waren, ihren Nachwuchs viel zu selten zu Gesicht zu bekommen. Mira musste schmunzeln. Nachdem Lars‘ Mutter ihn endlich freigegeben hatte, blieben seine Eltern in der Haustür stehen, während Lars den Motor startete und das Licht einschaltete, und sahen den beiden nach, wie sie aus der Einfahrt rollten.

Trotz der Aufregung über das erste Kennenlernen seiner Eltern war Mira aufgefallen, wie seltsam die letzten Stunden auch für Lars gewesen waren: nicht, weil er sie ihnen endlich vorstellte, sondern weil das neue Haus seiner Eltern ihm so fremd war. Beim Umzug und den Renovierungsarbeiten hatte er zwar mit angepackt, aber jetzt, eingerichtet, musste er sich fremd und zu Hause zugleich gefühlt haben. Altbekannte Möbel, neues Haus. Mira kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass ihn das verrückt gemacht haben musste.

Nach einem letzten Blick in den Rückspiegel, aus dem Eltern und Haus inzwischen längst verschwunden waren, sagte Lars: »Was für ein Abend. Was sagst du? Wie findest du die beiden?«

»Nett. Wirklich freundlich und einige deiner Angewohnheiten und Eigenarten haben sich durch das Kennenlernen heute eindeutig erklärt.«

»Was zum Beispiel?« Gespielt entgeistert und ein Lachen unterdrückend, schaute er zu ihr.

»Den Tick mit deiner Augenbraue hast du von deinem Vater. Der zieht die auch so hoch, wenn er genau zuhört. Und dein Lachen klingt wie das von deiner Mutter. Keine Sorge, natürlich ist deins viel männlicher.«

Lars pikte sie mit dem Finger in die Seite. »War wohl keine so gute Idee, dich hierher mitzunehmen. All die Aufregung, ob ihr euch mögt oder an die Gurgel geht, und jetzt wirst du frech.«

»Hey, ich hab mich doch fantastisch benommen. Zumindest vor den beiden.«

»Ja, das muss man dir lassen.« Beide fielen in ein leises Lachen ein und Mira bekam ihr Lächeln für die nächsten Kilometer, die das Auto durch die Dunkelheit glitt, nicht mehr aus dem Gesicht. Es war wirklich gut gelaufen und sie war extrem beruhigt, dass Lars so nette Eltern hatte. Die Beziehung mit ihm war ihr überaus wichtig, sodass es für sie schlimm gewesen wäre, wenn sie seine Eltern nicht hätte leiden können.

Während Lars auf die Autobahn auffuhr und das Navi ankündigte, dass sie sechzig Kilometer zu fahren hätten, bevor sie die Autobahn wechseln mussten, entdeckte Mira die Mondsichel am Himmel und genoss es, einfach da zu sein, wo sie war. Miras Augen wurden trocken und ihre Lider schwer. Sie lehnte sich im Sitz zurück und sagte: »Ich mach mal für ein paar Minuten die Augen zu. Ich bin gleich wieder da.«

»Bis gleich, Schatz«, erwiderte Lars und schaltete leise die Radiomusik an, was ihr stets half, sich zu entspannen.

»In drei Kilometern rechts abbiegen. Danach links halten«, empfahl das Navi nach nur gefühlten fünf Minuten, in denen Mira vor sich hingedöst hatte. Als sie auf die Uhr schaute, verriet diese ihr jedoch, dass sie ungefähr eine halbe Stunde tief geschlafen haben musste.

»Da bist du ja wieder«, sagte Lars und spielte damit auf eine ihrer Insider-Storys an: Eines Nachts hatte Mira Geräusche in der Wohnung über ihnen gehört, und das, obwohl die betreffenden Nachbarn im Urlaub waren. Mira hatte versucht Lars zu wecken, wobei die beiden sich nicht einig waren, welchen Grad ihre Panik dabei hatte. Mira versicherte jedem, der die Geschichte zu hören bekam, dass sie nur leicht nervös gewesen wäre, wobei Lars stets breit grinsend »Hysterisch!« flüsterte. Da die Geräusche längst verstummt waren, bis sie Lars wachgerüttelt hatte, meinte Mira hinterher, dass er sie allein gelassen hatte, als wäre er weg gewesen. Heute konnte sie darüber lachen, aber damals war ihr deutlich anders zumute gewesen. Der Scherz, dass der andere abwesend wäre, sobald er oder sie schlief, hielt sich bei den beiden hartnäckig.

»Ja, zurück an Bord, Captain.« Sie setzte sich gerade hin und schaute sich um. »Warum sind wir nicht mehr auf der Autobahn? Es waren doch sechzig Kilometer und dann hätten es noch mal achtzig sein müssen, bevor wir abfahren. So lange habe ich aber nicht geschlafen.«

»Nein, ich dachte, wir fahren anders und lernen die Gegend kennen. Du hast wieder mit deinen kleinen Schnarchern angefangen, da war es nur eine Frage der Zeit, bis du aufwachst.«

»Oh nein, Mister, ich schnarche nicht. Niemals!« Mira fuhr sich durch die Haare. »Eine Erkundungstour gerade nachts, wo wir kaum was sehen?«

»Auf der Autobahn erlebt man keine Abenteuer, auf der Landstraße aber vielleicht schon.«

Mira grinste. »Deine Eltern waren mir heute genug Abenteuer. Willst du nicht schnell heim?«

»Nein, ich fühle mich fit, richtig aufgedreht. So spät ist es ja auch noch nicht. Wir können in zehn oder zwanzig Kilometern zurück auf die Autobahn wechseln.«

Mira war einverstanden. Sie wusste, wie neugierig Lars war und dass er gerne abseits von Wald- und Wanderwegen spazierte und auf Entdeckungstouren ging. Sie vermutete, dass er die Region, in der seine Eltern nun lebten, näher kennenlernen wollte, damit er sich dort nicht mehr fremd vorkam oder wie ein Gast fühlte. Obwohl es sie selbst nicht danach drängte, wollte sie ihm nicht den Spaß verderben, ein paar kurvigen Landstraßen durch kleine Eifeldörfer zu folgen. Hier herrschte kein Verkehr, was sie als Stadtkind selten erlebt hatte. Die Straßen waren leer, in den Ortschaften regte sich nichts, obwohl es erst kurz nach einundzwanzig Uhr war. Es war, als hätte die Dunkelheit alles Leben nach drinnen gedrängt, wenn nicht sogar ausgelöscht. Ein wenig fröstelte Mira bei dem Gedanken und schaltete die Sitzheizung ein. Obwohl der Herbst sich bisher mild gezeigt und längst nicht alle Blätter gefärbt oder von den Bäumen geblasen hatte, kühlte es nachts bereits ziemlich ab. Sie mukkelte sich in ihrem Sitz ein.

»Guck mal, wie sternenklar die Nacht ist. Vielleicht finden wir ja einen Parkplatz«, schlug Lars vor.

»Du Romantiker.«

»Nein, im Ernst, daheim in der Stadt gibt es das nicht mehr. Wenn du mal richtig viele Sterne sehen willst, dann hier und heute Nacht.«

Mira lehnte den Kopf an die Scheibe und betrachtete den Himmel genauer. Verblüfft stellte sie fest, dass Lars recht hatte. Sie wusste nicht, ob sie jemals so viele Sterne gesehen hatte – und das aus dem Auto heraus und während der Fahrt. »Wow, das sieht wunderschön aus. Gute Idee, halt an und dann machen wir uns über den Käsekuchen her, den deine Mutter uns eingepackt hat. Ein Sternenpicknick.«

»Klingt nach einem perfekten Plan.« Lars tippte auf dem Navi herum, was bei Mira während der Fahrt stets für eine leichte Unruhe sorgte. Sie verkniff es sich, ihn zu bevormunden, und schwieg dazu. »Ich habe einen Parkplatz gefunden, der mit einem Fernglas-Zeichen markiert ist. Das steht für schöne Aussicht, wenn ich mich richtig erinnere. Wahrscheinlich gute Voraussetzungen zum Sterneschauen, oder?«, sagte er schließlich. »Dann wirst du endlich unter einem ordentlichen Sternenhimmel stehen. Und wenn nötig können wir das noch mit einer Pinkelpause verbinden.«

»Deine Eltern haben sich für ihren Alterswohnsitz eine richtig schöne Gegend ausgesucht. Mir gefällt es hier.«

»Wirst du etwa doch noch zum Landei?«

»Ich muss mich doch an dich anpassen. Vielleicht ziehen wir ja auch eines Tages aus der Stadt raus. Wenn dich deine Landei-Wurzeln rufen.«

Lars lachte. »Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Du liebst den Trubel der Großstadt.«

»Vielleicht überzeugen mich ja die Sterne.«

Die Landstraße wand sich um Hügelkuppen und schwang sich durch Täler, die sie in angenehmem Schweigen durchfuhren. Mira konnte es kaum erwarten, hierher zurückzukehren und bei Tag eine kleine Wanderung zu unternehmen. Sie hatte ganz spontanen, aber umso heftigeren Gefallen an der Landschaft der Eifel gefunden, die sie hier und da an das malerische Schottland erinnerte, in dem sie den schönsten Urlaub ihres Lebens verbracht hatte, und nach dem sich ihr Herz nach wie vor sehnte. Schroffe Felsen, grüne Wälder und behagliche Einsamkeit. Eine kleine Pause vom Stadtkind-Dasein, die sie in den Ferien gerne in Anspruch nahm.

»Ist dir mal aufgefallen, wie viele Kreuze hier am Straßenrand stehen?«, fragte Lars irgendwann.

Mira nickte, zunächst noch in Gedanken versunken. Es beschäftigte sie, wie und wann sie wieder nach Schottland würde reisen können, dann bemerkte sie aber, dass er ihre Antwort nicht mitbekommen haben konnte. »Ja«, sagte sie und drehte sich nach dem um, an dem sie gerade vorübergegangen waren. »Woran liegt das wohl?«

»Enge Straßen bei teils heftiger Witterung. Aquaplaning, Eis und Schnee. Und vielleicht erlauben sie hier solche Erinnerungs- und Mahnmale eher als in der Stadt.«

»Irgendwie unheimlich zu wissen, dass man an einer Stelle vorüberfährt, an der ein Mensch gestorben ist.«

»Und es wären sehr viel mehr solcher Gedenksteine, wenn überall einer stünde, an dem jemals jemand abgekratzt ist. Überleg mal, wie viele Menschen es schon vor uns gab.« Lars trommelte mir den Fingern auf das Lenkrad. »Irgendwo müssen die ja gestorben sein.«

»Bitte wenden«, vermeldete das Navi und verlor dann ganz den Empfang. Mira konnte am Nachthimmel einige dicke Wolken entdecken, die schnell vom Westen her aufzogen.

»Du hast doch gar keine Ausfahrt verpasst«, sagte Mira überrascht und kaum hatte sie fertig gesprochen, bekam das Navi wieder ein Signal und zeigte ihnen die Route an.

Lars tätschelte ihren Oberschenkel. »Keine Sorge, du bist in guten Händen. Hier mitten im Nirgendwo unter dicken Wolken geht eben mal die Verbindung zum Satelliten flöten. Ich finde auch so zum Sternenparkplatz.«

»Sagte er und ward nie mehr gesehen.« Mira beugte sich zu Lars und küsste seinen Oberarm. »Wenn es noch bedeckter wird, können wir das Sternengucken vergessen. Und das GPS-Signal kommt dann auch nicht durch. Das alte Ding müssten wir wirklich mal ersetzen. Neue Geräte sollen ja fast immer ein Signal empfangen.«

»Die Wolken sind bestimmt so schnell wieder weg, wie sie aufgezogen sind. Ich bring dich zu den Sternen.«

Die Landstraße wurde schmaler und wand sich in Serpentinen hügelaufwärts. Mira sah, dass Lars das Lenkrad fester griff und seine Augenbrauen konzentriert zusammenzog. Wo bringst du uns nur hin?, fragte sie sich, wollte ihn aber nicht ablenken, indem sie es laut aussprach.

Sie fuhren über die Hügelkuppe, aber der Parkplatz war noch sieben Kilometer entfernt. Die Bäume standen immer dichter. Auf der schmalen Straße durch den verlassenen Wald zu fahren verursachte ihr einen Schauer: Es kam eine unheimliche Stimmung in ihr auf, die vor einem Kilometer noch nicht greifbar gewesen war, aber Mira genoss das kleine Abenteuer. Ihnen war lange kein Auto entgegengekommen und es kam ihr beinahe vor, als wären sie die letzten Menschen in einer postapokalyptischen Welt. Zur Krönung des Ganzen wurde der Bildschirm des Navis schwarz. In dessen Mitte prangte der Schriftzug »Signal Lost«.

»Sieht übler aus als eben«, stellte Mira fest.

»Wird schon wieder. Immerhin ist die Straße jetzt nicht mehr so kurvig. Gleich bekommt Madame ihr Käsekuchen-Sternenpicknick serviert.«

In Miras Magen war es flau geworden und sie konnte sich nicht vorstellen, etwas vom Kuchen zu essen, den Lars‘ Mutter ihnen eingepackt hatte. Sei keine Spielverderberin, mahnte sie sich selbst. Dass sie keinen Kuchen gewollt hätte, war noch nie vorgekommen und so würde sie auch dieses Picknick zu genießen wissen.

Lars drosselte die Geschwindigkeit, obwohl die Straße fast geradeaus führte und keine Kurve beschrieb. Mira brauchte einen Moment, um den Grund auszumachen. Rechts vor ihnen befand sich eine Parkbucht, in der ein Bus angehalten hatte. Obwohl die Rücklichter ihnen rot entgegenleuchteten und sogar die Innenbeleuchtung eingeschaltet war, konnte Mira weder einen Busfahrer noch irgendwelche Passagiere erkennen.

»Wo sind alle hin? Wo ist der Busfahrer?«, fragte Mira. »Sieht ganz einsam und verlassen aus.«

Lars starrte in die Dunkelheit und rollte an der Parkbucht vorbei. »Ich kann auch niemanden entdecken.«

»Das ist echt seltsam.« Mira spielte am Gurt herum, ihre Finger wollten etwas zu tun haben. »Der macht doch bestimmt nicht Pause hier, oder?«

»Vielleicht hatte er eine Panne und holt Hilfe.«

»Zu Fuß? Dann hätte er doch die Lichter ausgemacht. Damit die Batterie nicht leer wird.«

»Vielleicht hat er Angst, den Bus nicht wiederzufinden.«

Mira lachte einmal spitz auf. »Genau.« Ihr Gesicht verdüsterte schneller, als sich eine Gewitterwolke vor den Mond schieben konnte. »Was ist da nur los? Nicht, dass er über dem Lenkrad zusammengebrochen ist oder so. Sollten wir umkehren und noch mal nachsehen?«

Lars musterte sie. »Willst du das?« Noch hatte er nicht Gas gegeben, sondern rollte nur langsam über den Asphalt.

Mira stieß die Luft zwischen ihren Lippen aus, ehe sie sagte: »Andererseits sieht das schon sehr wie eine Falle aus. Das schreit: ›Kommt, Leute, steigt aus, schaut nach, und dann haben wir euch im Todesbus. Nächster Halt: Schlachthaus!‹«

»Wer ist ›wir‹ in deinem Szenario?«, fragte Lars schmunzelnd, wobei der vorsichtige Zug um seine Augen Mira ein nervöses Kribbeln durch den Körper schickte.

»Rocker, Hinterwäldler oder kannibalische Milchbauern? Entflohene Häftlinge oder gelangweilte Drogendealer? Such es dir aus, die Möglichkeiten sind vielfältig.«

»Aber unwahrscheinlich. Um einiges unwahrscheinlicher als ein Zusammenbruch oder ein Herzanfall oder ein Hirnschlag, schätze ich.«

Mira zog den Gurt vor, als würde er ihr die Luft zum Atmen nehmen. »Du willst nicht umkehren?«

»Nein, ich denke, die Leute hier kommen auch ohne unsere Hilfe klar. War eh nicht geplant, dass wir hier vorbeifahren. Im Bus war niemand. Wir hätten es gesehen, falls jemand über dem Lenkrad gehangen wäre. Weißt du, ich liebe deine Moral. Aber manchmal musst du die besser abstellen.«

Mira seufzte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass etwas nicht stimmte. Gleichzeitig warnte es sie dringend davor, sich einzumischen oder aus dem Auto auszusteigen. Sie fragte sich, ob man die eigene Moral zu einem Schalter machen sollte, um sie nach Bedarf an- und auszuknipsen.

»Letzte Möglichkeit, falls du dich umentscheiden möchtest«, sagte Lars im Tonfall eines Spielshow-Moderators. »Umkehren oder weiterfahren – entscheiden Sie sich jetzt!«