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Kurt Leland
Das Chakra-System

Kurt Leland

Das
Chakra-System

Die feinstoffliche Struktur
des Menschen

Aus dem Englischen übersetzt
von Karl Friedrich Hörner

Aquamarin Verlag

1. Auflage 2016

© der deutschen Ausgabe

Aquamarin Verlag GmbH

Voglherd 1 • 85567 Grafing

www.aquamarin-verlag.de

Titel der Originalausgabe: Rainbow Body. A History of the Western Chakra System from Blavatsky to Brennan

published by Ibis Press, a division of Nicolas-Hays, Inc., Lake Worth, FL (USA)

© 2016 by Kurt Leland

Edgar Cayce Readings © 1971, 1993–2007 by the Edgar Cayce Foundation

Übersetzung aus dem Englischen: Karl Friedrich Hörner

Umschlaggestaltung: Annette Wagner

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen,

fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art und

auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Druck: Ebner & Spiegel • Ulm

ISBN 978-3-89427-770-3 (Gedruckte Ausgabe)

ISBN 978-3-96861-219-5 (ePUB)

Inhalt

Illustrationen, Tabellen und Tafeln

Tafeln

Danksagungen

Einführung

Anmerkung zur Sanskrit-Transliteration

Die Evolution des östlichen Chakrasystems: eine Chronologie

TEIL 1 · Osten ist Osten und Westen ist Westen

Kapitel 1 · Die geheimnisvollen Zeichnungen von Bipin Behari Shom

»Irrtümer« des Hinduismus

Ost und West

Kapitel 2 · Das Universum nach Tantra

Das östliche Chakrasystem

Kapitel 3 · Die Schöpfung umgekehrt: Yoga und die Chakras

Hatha-Yoga

Mantra-Yoga

Nada-Yoga

Laya-Yoga

Kapitel 4 · Das westliche Chakrasystem

Typologie der Erklärer und Systeme

Quellen-Amnesie

Okkulte Entsprechungen

Forscher oder Ermittler? – Meine Position

TEIL 2 · Esoterische Matrix: Die Chakra-Lehren von H. P. Blavatsky (1879–1891)

Kapitel 5 · Abendlandfahrt

Flüchtige Blicke auf den tantrischen Okkultismus

Tantrische Anatomie

Kapitel 6 · Madame Blavatskys »Esoterische Instruktionen«

Hatha- versus Raja-Yoga

Die Epiphyse (Zirbeldrüse)

Chakras im Kopf

Weg der Heiligen

Die sieben Strahlen

Die Aura

Kapitel 7 · Unterweisungen in der Inneren Gruppe

Die Kundalini-Übung

TEIL 3 · Wirbelnde Räder: Theosophische Hellsichtigkeit (1890er – 1920er Jahre)

Kapitel 8 · Annie Besant und die höheren Ebenen Astralreisen

Kapitel 9 · Die Lotusblumenblätter von Rudolf Steiner

Erkenntnisse der höheren Welten

Kapitel 10 · Das Gesetz des Atems und der Lebensbaum

Subtile Kräfte (Rama Prasad)

Königlicher Yoga (Swami Vivekananda)

Die Aura des Menschen (Auguste Jean-Baptiste Marques)

Rhythmisches Atmen (Ella Adelia Fletcher)

Fliegende Schriftrollen (Golden Dawn)

Sphären, Säulen und Pfade (Kabbala)

Kapitel 11 · Chakras der Apokalypse (James Morgan Pryse)

Wiedersehen mit der Kundalini-Übung

Multiple Chakrasysteme

Die Schlange und das Kreuz

Kapitel 12 · Charles W. Leadbeater und das Schlangenfeuer

Das innere Leben

Der Alltag aus spiritueller Sicht

Kapitel 13 · Das Duell zwischen Leadbeater und Woodroffe

Die Schlangenkraft

Die Chakras

Leadbeaters Vermächtnis

TEIL 4 · Chromotherapie: Die Lehre von den Strahlen, Farben und Drüsen (1920er – 1950er Jahre)

Kapitel 14 · Alice Bailey und die sieben Strahlen

Initiation: menschliche und solare Einweihung

Briefe über okkulte Meditation

Der Yoga-Pfad

Die Seele und ihr Mechanismus

Esoterisches Heilen

Kapitel 15 · Geheimnisvolle Drüsen

Chemie der Seele (Herman Harold Rubin)

Die zahlreichen Leben der Cajzoran Ali (Amber Steen)

Steens Vermächtnis

Kapitel 16 · Der Sikh und das Medium

Edgar Cayce und die Freudigen Helfer

Östliche Weisheit für westliches Denken (Bhagat Singh Thind)

Das Vaterunser

Cayces Vermächtnis

Eine Frage der Rangfolge

Kapitel 17 · Verlorene Lehren von kosmischer Farbe

Meister und Strahlen

Ivah Bergh Whitten

Farben-Gewahrsein

Grundlagen kosmischer Farben

Farben-Entsprechungen

Whittens Vermächtnis

Kapitel 18 · Tempel strahlenden Glanzes

Color Temple College (Roland Hunt)

Cosmic Color Fellowship (S. G. J. Ousely)

Temple of Radiant Reflection (Mary L. Wiyninger)

TEIL 5 · Gelehrte, Swamis und Seelenklempner (1930er – 1970er Jahre)

Kapitel 19 · Der Schlange Brut

Jung und Die Schlangenkraft

Die Chakras der Jahrhundertmitte

Joseph Campbell und Sri Ramakrishna

Kapitel 20 · Kundalini-Thermalquellen – Esalen-Institut

Michael Murphy und Sri Aurobindo

Esalen und Energie

Kapitel 21 · Handbücher zum höheren Bewusstsein

Transzendente Bedürfnisse (Abraham Maslow)

Alles Leben ist Tanz (Ram Dass)

Here Comes Everybody (William Schutz)

Das Handbuch zum höheren Bewusstsein (Ken Keyes jr.)

Orgasmus (Jack Lee Rosenberg)

Kapitel 22 · Die Geburt des westlichen Chakrasystems

Yoga-Psychologie (Haridas Chaudhuri)

Der Yogi und die Seelenklempner (Swami Rama)

Kind des Körperbewusstseins (Ken Dychtwald)

TEIL 6 · Lichträder rollen weiter (1980er Jahre und darüber hinaus)

Kapitel 23 · Der Weg des Dodos – ausgestorbene Systeme

Unter der Kapuze (Peter Rendel)

Energie und Ekstase (Bernard Gunther)

Der Heilige Gral (Jack Schwarz)

Die Geheimnisse der Farben (Christopher Hills)

Kapitel 24 · Die große Chakra-Kontroverse

Räder, Farben und Kristalle (Anodea Judith und Joy Gardner)

Chakra-Wissenschaft (Hiroshi Motoyama und andere)

Deutsche Entwicklungen (Klausbernd Vollmar und andere)

Wiedersehen mit Bailey (David Tansley und Zachary Lansdowne)

Prana-Heilen (Choa Kok Sui)

Die Reise nach innen (Shirley MacLaine)

Kapitel 25 · Der multidimensionale Regenbogenkörper

Hände oder Räder (Brennan und Bruyere)

Auren, Körper und Ebenen

Mehrfach-Körper und -Systeme

Mehrdimensionale Chakras

Die neue Astral-Projektion

Chakras der Zukunft

Anmerkungen und Quellen

Bibliografie

Über den Verfasser

Stichwortverzeichnis

Illustrationen, Tabellen und Tafeln

Illustrationen

Vier fehlende Verbindungen

1. Geheimnisvolle Zeichnung A

2. Geheimnisvolle Zeichnung B

3. Chakras und Nadis

4. Anāhata-Chakra

5. Entsprechungen aus Blavatskys Esoterischer Instruktion Nr. 1

6. Aufsteigende Kundalini

7. Chakra-Positionen nach Crowley

8. Chakras und der Lebensbaum

9. Pryses Chakras, Planeten und Zeichen

10. Chakra-Positionen nach Pryse

11. Chakra-Funktionen nach Pryse

12. Chakra-Funktionen nach Leadbeater

13. Nadis und Hermesstab

14. Endokrine Drüsen

15. Alis Chakras und Drüsen

16. Das Vaterunser nach Cayce

17. Das Vaterunser nach Heindel

18. Kopf-Chakras nach Hodson

19. Meister und Strahlen nach Whitten

20. Chakras und Ebenen nach Whitten

21. Darstellung der Strahlen in Blavatskys Esoterischer Instruktion Nr. 2

22. Tibetische Chakras als Chörten

23. Westliche Chakras als Heiliger Gral

24. Vorder- und Rückseiten-Chakras

Tabellen

1. Das Sanskrit-Alphabet

2. Basus tantrische Anatomie (1888)

3. Basus Chakras (1888)

4. Entsprechungen aus Blavatskys Kundalini-Übung (1891)

5. Ebenen, Körper und Prinzipien nach Besant (1897-1912)

6. Chakras nach Steiner

7. Crowleys Chakra-Zuordnungen (1909)

8. Chakras nach Pryse

9. Leadbeaters Farben und Kräfte (1910)

10. Leadbeaters Farben und Kräfte (1927)

11. Baileys Beiträge zum Chakrasystem (1930–1953)

12. Cajzoran Ali über die Chakras (1928)

13. Chakra/Drüsen-Entsprechungen (1927 - 1936)

14. Whittens Haupt-Strahl-Entsprechungen (1932)

15. Whittens Typen und Bedürfnisse (1932)

16. Whittens Neben-Strahl-Entsprechungen (1932)

17. Tattvas, Symbole und Farben

18. Strahlen, Chakras und Farben (1920er - 1930er Jahre)

19. Ouseleys Entsprechungen (ca. 1950)

20. Evolution der Chakra-Eigenschaften (ca. 1970er Jahre)

21. Das Chakrasystem aus Voluntary Controls (1978)

22. Chakras nach Christopher Hills (1977)

23. Das westliche Chakrasystem (ca. 1990)

24. Chakras nach Rosalyn Bruyere (1988)

25. Brennans und Besants Ebenen

Tafeln

Farbtafeln

1. Chakras in Ost und West

2. Chakras nach Sabhapaty

3. Aura-Schichten und Prinzipien

4. Pryses Kontinuum menschlichen Potenzials

5. »Die Chakras nach Gichtel«

6. Leadbeaters Chakras, Vorderansicht

7. Leadbeaters Chakras, Seitenansicht

8. Alis Chakras und Drüsen

Danksagungen

Wie es eines ganzen Dorfes bedarf, um ein Kind aufzuziehen, so bedarf es einer intellektuellen Gemeinschaft von Menschen (die einander vielleicht gar nicht kennen), um ein Buch auf die Welt zu bringen. Den folgenden Menschen möchte ich für ihre Hilfe danken, mit der sie in verschiedenen Phasen zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben:

Dr. Karl Baier von der Universität Wien für die Erlaubnis, eine ins Internet gestellte Arbeit vor der Veröffentlichung in gedruckter Form zu zitieren, sowie für den Zugang zu einer deutschen Übersetzung von Sabhapaty Swamis The Philosophy and Science of Vedanta and Raja Yoga

Mary Bergman von der Brookline Public Library in Brookline, MA, für die Hilfe im Fernleihverkehr

Keith Cantú für die Gelegenheit, Ressourcen zusammenzulegen und verschiedene textliche Probleme in den Schriften von Sabhapaty Swami auszusortieren – das Thema seiner PhD-Dissertation

Ashley Clements, Alan Goodwin, Harry Hobbs und Jay Hovenesian für förderliche Gefälligkeiten und Freundschaft

Andrew Davies und Nancy Lehwalder für das Durchlesen und Kommentieren des Manuskripts

Jeannie S. Dean für die Erinnerung an Shirley MacLaines Chakra-Demonstration in der Tonight-Show

Sharron Dorr, Nancy Grace und Richard Smoley von Quest Books im Theosophical Publishing House für ihre Unterstützung bei der Vorbereitung der neuen, »maßgeblichen« Version von Charles W. Leadbeaters The Chakras, einem wichtigen Trittstein auf dem Weg zu dem vorliegenden Buch

Richard Dvorak für das Fotografieren und Wiederherstellen des brüchigen, beschädigten und problematisch konservierten Bildes von Sabhapaty Swami; ein Teil davon erscheint als Tafel 2

Ken Dychtwald für seine Erinnerungen an Esalen und das Verfassen von Bodymind, seinem ersten Buch

Brian Galford für Fotos der Verfasser in Vergangenheit und Gegenwart

Tinsley Galyean und Nicole Goott, Judson Scott und Susan Thornberg, Kevin und Sonora Thomas für Fluchtgelegenheiten, die es mir erlaubten, mit den Recherche-, Schreib- und Überarbeitungs-Phasen dieses Projekts weiterzukommen

Claire Gardner (Archivarin) und Laura Holt (Bibliothekarin) der Association for Research and Enlightenment, Virginia Beach, VA, für Unterstützung beim Recherchieren

Michael Gomes, Bibliothekarin der Emily Sellon Memorial Library, New York, NY, für Unterstützung beim Recherchieren

May Harshbarger für das Ausleihen eines Bandes der Secret Doctrine aus der Ozark Theosophical Camp Library in Sulphur Springs, AR, der es mir nach zahlreichen Versuchen mit früheren Ausgaben ermöglichte, eine lesbare Version der Abbildung 5 aufzunehmen

Karl Friedrich Hörner für seine überragende Geduld bei der Übersetzung ins Deutsche, während der endgültige Text noch in der Entwicklung begriffen war, und für seine außergewöhnliche Lektorats- und Faktenüberprüfungs-Kompetenz, die mich vor tausend Peinlichkeiten bewahrt hat

Robert Hütwohl für Hilfe beim Ausfindigmachen deutscher Versionen von Zitaten Blavatskys

Janet Kerschner, Archivarin der Theosophical Society in America, Wheaton, IL, für Material über Ivah Bergh Whitten und ihren Anruf, der es ermöglichte, dass das Bild von Sabhapaty Swami gefunden wurde

Judith Kiely, Bibliothekarin der Rudolf Steiner Library in Hudson, NY, für Hilfe beim Aufspüren der deutschen Original-Artikel, in denen Steiner seine Ideen über die Chakras erstmals vorstellte

Nancy Lehwalder, Bibliothekarin der Theosophical Library in Seattle, NY, für Unterstützung beim Recherchieren und Lektorieren

Marina Maestas, leitende Bibliothekarin der Olcott Memorial Library in Wheaton, IL, für Unterstützung beim Recherchieren und den Zugang zu Spezialsammlungen

Dr. Peter Michel vom Aquamarin Verlag dafür, dass er als Erster die Möglichkeiten dieses Buches sah und anbot, es auf Deutsch zu veröffentlichen

Lakshmi Narayan von der Krotona Library, Ojai, CA, für Unterstützung beim Recherchieren

Leslie Price, Archivar des College of Psychic Studies in London, UK, für seine Betreuung und kollegiale Unterstützung, insbesondere im Zusammenhang mit der Arbeit der theosophischen Hellsichtigen Phoebe Payne

Dr. James Santucci von der Universität von Südkalifornien in Fullerton, CA, für die Gelegenheit, einen Bericht über meine Arbeit als Herausgeber von Leadbeaters The Chakras in seiner Zeitschrift, Theosophical History, zu veröffentlichen, und für die E-Mail-Korrespondenz, die mir half, einige meiner Ideen zu präzisieren

Karen und Steve Schweizer für ihre Wiederentdeckung eines lange verschollenen Buches aus dem Jahr 1880 (mit dem Bild von Sabhapaty Swami) während ihres Besuchs im Hauptquartier der Theosophischen Gesellschaft in Adyar, Chennai, Indien

Pablo Sender, Auskunftsbibliothekar an der Henry S. Olcott Memorial Library in der Theosophical Society in America, Wheaton, IL, für Unterstützung beim Recherchieren

Professor Shinde vom Adyar Library and Research Centre im Hauptquartier der Theosophischen Gesellschaft in Adyar, Chennai, Indien, der für die Voraussetzungen sorgte, dass das Bild von Sabhapaty Swami ausfindig gemacht und fotografiert werden konnte

Dr. Mark Singleton, Verfasser von Yoga Body und Betreuer der Website modernyogaresearch.org, für Unterstützung im Zusammenhang mit dem Material über Cajzoran Ali

Donald Weiser, Yvonne Paglia und James Wasserman vom Verlag Ibis Press für ihre kreative Mitarbeit auf dem Weg dieses Buches in die greifbare Realität – und besonders James, der den zahlreichen Herausforderungen durch Fragen der Gestaltung mit Würde und Anstand begegnete

Martha Woolverton, wieder einmal, für ihre brillante Lektorats-Kunstfertigkeit bei diesem und drei früheren Büchern

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Vier verlorene Verbindungen

oben links: James M. Pryse, 1859–1942 (aus William Q. Judge, »Faces of Friends«, in: Path, vol. 9, June 1894)

oben rechts: Cajzoran Ali / Amber Steen, 1895–1966 (aus Cajzoran Ali, Divine Posture, 1928)

unten links: Ivah Bergh Whitten, 1873–1947 (aus Ivah Bergh Whitten, What Color Means to You, 1932)

unten rechts: S. G. J. (Stephen Geoffrey John) Ouseley, 1903–1957 (aus Stephen Ouseley, From Camaldoli to Christ, 1931)

Einführung

An einem Sommertag im Jahre 2014 – ich musterte gerade die Warenberge in der örtlichen Lebensmittel-Genossenschaft – stieß ich auf eine kleine Werbebroschüre, die jemand liegen gelassen hatte. Der Umschlag zeigte eine junge Frau, sie trug eine hauchdünne weiße Hemdbluse und saß aufrecht in Yoga- oder Meditationshaltung. Vor ihrem Körper waren sieben farbige Medaillons übereinander gereiht, jedes enthielt einen Buchstaben des Sanskrit-Alphabets. Die Farben gingen von Rot an ihrer Sitzfläche bis zu Violett am höchsten Punkt ihres Kopfes und folgten der Reihenfolge des Spektrums. Bei näherer Betrachtung zeigte sich, dass jede der bunten Flächen eine andere Zahl von blütenblatt-ähnlichen Strahlen aufwies.

Diese Medaillons waren Darstellungen der sieben Chakras (Sanskrit für »Räder«), eines Schemas, das schon vor Jahrhunderten in Verbindung mit einem bestimmten Yoga in Indien entstanden war, der zum zentralen Gegenstand für heutige Yoga-Gruppen und New-Age-Metaphysiker geworden ist. Die Chakras, so hören wir, zeigten sich dem Blick eines Hellsichtigen als rotierende Lichtwirbel, daher ihr Name »Räder«. Antike Texte lehrten, dass ihre Aktivierung durch eifriges Meditieren und rituelle Praktiken zu einem siebenstufigen Prozess der Bewusstseinserweiterung führe, der wiederum gesteigerte geistige Kräfte, Erleuchtung und Befreiung von dem karmischen Gesetz der Wiedergeburt mit sich bringe.

Das Produkt in der Werbebroschüre nannte sich »Biologischer Chakra-Ausgleichs-Aromatherapie-Deoroller«. Der Hersteller war eine Firma Aura Cacia, die duftende ätherische Öle vermarktete, die für heilsame Zwecke aus Kräutern und Blüten hergestellt wurden – daher »Aromatherapie«. Die Broschüre ließ sich zu einer hochformatigen Tabelle farblich hinterlegter Entsprechungen entfalten, die die Positionen, Eigenschaften und Wirkungen (auf Gefühle, Denken und Geist) der Chakras anzeigten, die durch den Gebrauch dieser aromatherapeutischen Deoroller »auszugleichen« seien; es gab für jedes Chakra einen, mit dem eine eigene Rezeptur ätherischer Öle zum Tragen kam.

Mehrere halb-amüsierte Fragen kamen mir in den Sinn: Konnte ein Duft wirklich »die Schleusen des Mitgefühls und Verständnisses« öffnen, die mit dem Herz-Chakra assoziiert wurden? Warum war das »ermächtigende« dritte Chakra mit einer »zarten Zitrus-Duftmischung« bedacht worden? Und wie würde ein vollkommen erleuchtetes Wesen riechen, wenn es alle sieben Düfte gleichzeitig trüge?

Die drängendste Frage aber lautete: Wie sind wir von dort nach hier gelangt? Die Liste der genannten Chakra-Eigenschaften klang vertraut nach Dutzenden von New-Age-Büchern zum Thema: Erdung in dem ersten Chakra, Sinnlichkeit oder Sexualität im zweiten, Ermächtigung im dritten, Mitgefühl im vierten, Kommunikation im fünften, intuitive Erkenntnis im sechsten und Erleuchtung im siebten. Doch jeder, der einen Blick auf die Ursprünge des Chakrasystems in Indien wirft, dürfte mit Erstaunen feststellen, dass die Chakras hier Farben haben, während es dort keinen Regenbogen gibt; sie besitzen wohl Eigenschaften und spirituelle Kräfte, aber nicht diejenigen in der Tabelle. Von Düften ist gar keine Rede. Die Vorstellung, dass Chakras auszugleichen sind, wird in den alten Schriften nirgends erwähnt. Dort sind die Chakras zu durchdringen, aufzulösen und zu transzendieren, um einen Zustand der »Befreiung innerhalb des Lebens« zu erlangen – nicht einen emotionell und spirituell ausgeglichenen Lebensstil (was auch immer mit »Lifestyle« gemeint sein mag).

Ende der 1970er Jahre hatte ich erstmals über die Chakras gehört; eine Freundin, die Schülerin eines indischen Yogis war, erzählte davon. Ich erfuhr, wo sie sich befanden und wie man atmen muss, um sie zu reinigen. Aus der metaphysischen Gerüchteküche kam mir eine Liste von Chakra-Eigenschaften in die Hände, die derjenigen in der Aura-Cacia-Broschüre ähnlich sah. In esoterischen Buchhandlungen waren damals nur wenige Bücher zum Thema erhältlich, die ich jedoch weder kaufte noch las.

Im Jahr 2002 wurde ich gebeten, ein Buch über die spirituellen Wirkungen der Musik zu schreiben. Ich erwog, das Chakrasystem als Rahmen zu verwenden, um mystische oder Gipfelerlebnisse zu schildern, die im Zusammenhang mit Komponieren, Musizieren und Musikhören berichtet wurden. Inzwischen waren Dutzende von Büchern über die Chakras auf dem Markt, und sie zeigten die unterschiedlichsten Auflistungen von Farben und Eigenschaften. Ich wollte mit der authentischsten Liste arbeiten, die ich finden konnte. Doch meine Untersuchung alter indischer Systeme brachte noch mehr Verwirrung: Manche hatten nur vier Chakras, andere sage und schreibe neunundzwanzig. Mehrere Fragen hatten mich beschäftigt – doch als mein Buch 2005 veröffentlicht wurde, waren sie immer noch unbeantwortet:

Wann gelangte der Begriff Chakra erstmals in die englische Sprache?

Wann entstand das Schema der Regenbogenfarben, und wer war dafür verantwortlich?

Woher kam die allgegenwärtige New-Age-Liste von Chakra-Eigenschaften, und wie lange kursiert sie schon?

Im Sommer 2012 trat man mit der Bitte an mich heran, eine neue Ausgabe eines Buches über die Chakras zu kommentieren, das 1927 von Charles W. Leadbeater veröffentlicht worden war – einem Hellsichtigen, der in der Theosophischen Gesellschaft wirkte. Sein Buch The Chakras (dt. Ausgabe: Die Chakras) war seit fünfundachtzig Jahren ständig nachgedruckt worden. Obwohl es als ein Klassiker auf dem Gebiet der New-Age-Chakra-Literatur galt, war dieses Buch keine leichte Lektüre. Leadbeater verwendete eine obskure Terminologie und ging offenbar davon aus, dass seine theosophische Leserschaft sie ohne weitere Erklärungen verstehen werde. Es gab mehrere Punkte, in denen sich seine hellsichtigen Wahrnehmungen der Chakras nicht nur von den alten indischen Texten unterschieden, sondern auch von jüngeren New-Age-Büchern. Ich bemühte mich, einen »verbindlichen«, eigenständigen Text zu erarbeiten – mit Anmerkungen, die alle Begriffe erklären, und einem Nachwort, in dem ich das Buch in seinem Kontext innerhalb der Entstehungsgeschichte der New-Age-Version des Chakrasystems würdigte. Dieses Projekt erlaubte mir, die Frage zu beantworten, wo das Regenbogenfarben-Schema herkam. Da ich einen sehr knappen Abgabetermin hatte, war es mir jedoch nicht möglich, den anderen Fragen nachzugehen.

Im Sommer 2014 jedoch erhielt ich eine Anfrage, einen Vortrag über das Chakrasystem zu halten. Diese Gelegenheit erlaubte mir, meine Nachforschungen weiter zu verfolgen. Es gelang mir tatsächlich, die ersten Erwähnungen des Chakrasystems in englischer Sprache aufzuspüren. Es war mir auch möglich, die jahrhundertelange Evolution dessen zurückzuverfolgen, was ich heute das westliche Chakrasystem nenne. Seine Evolution begann in den 1880er Jahren in den Schriften von Madame Helena Petrovna Blavatsky, der Gründerin der Theosophischen Gesellschaft, und war im Jahr 1990 mehr oder weniger abgeschlossen, als die Schauspielerin Shirley MacLaine in der Tonight-Show auftrat und ein landesweites Fernsehpublikum ergötzte, indem sie farbige Kreise, die das Chakrasystem darstellen sollten, auf Kleidung und Kopf ihres Gastgebers Johnny Carson befestigte.

Ich kam zu dem Ergebnis, dass die Evolution des westlichen Chakrasystems eine unbeabsichtigte Gemeinschaftsproduktion folgender Beteiligter war:

Esoteriker und Hellsichtige (viele von ihnen aus den Reihen der Theosophen)

Indologen (Akademiker, die sich mit indischer Kultur und Religion auskennen und befassen)

Joseph Campbell (Mythologe)

Psychologen (C. G. Jung und die Schöpfer der Human-Potential-Bewegung im Esalen-Institut in Big Sur, Kalifornien)

Indische Yogis (Die »uralten« Lehren so mancher von ihnen bedienten sich bei Leadbeaters Farbensystem.)

Die beiden wichtigsten Strömungen dieser evolutionären Reihe – das Schema der Regenbogenfarben und die Liste der Chakra-Eigenschaften – kamen erst 1977 in gedruckter Form zusammen. Damit war das vielgepriesene »antike« Chakrasystem des Westens kaum vierzig Jahre alt, und seine Geschichte verlor sich im Trüben, einer Gewohnheit der New-Age-Autoren, sowohl in gedruckten Werken als auch im Internet keine Anmerkungen und Quellen für ihre Informationen mitzuliefern – eine Angewohnheit, die man Quellen-Amnesie nennt.

Ich habe dieses Buch für Menschen geschrieben, die die wirkliche Geschichte des westlichen Chakrasystems erfahren wollen – eine wilde und verrückte Geschichte, die irgendwie einen Schatz an spirituellen und alternativen Behandlungsmethoden hervorgebracht hat, der die Leben von Millionen Menschen tiefgreifend veränderte.

Teil Eins, »Osten ist Osten und Westen ist Westen«, handelt von der frühen Evolution des Chakrasystems. Ich untersuche den indischen Hintergrund dieses Systems und entwickle nützliche Übersetzungen von wichtigen Sanskrit-Begriffen wie Tantra, Yoga, Chakra, Nāḍī und Kuṇḍalinī. Ich stelle auch klar, was ich mit östlichem und westlichem Chakrasystem meine und liefere Richtlinien zur Einordnung solcher Systeme.

In Teil Zwei, »Esoterische Matrix: Die Chakra-Lehren von H. P. Blavatsky (1879–1891)«, veranschauliche ich die Schlüsselrollen von Madame Blavatsky und der Theosophischen Gesellschaft bei der Übermittlung östlicher Lehren in den Westen – und deren radikale Veränderung auf diesem Wege.

Teil Drei, »Wirbelnde Räder: Theosophische Hellsicht (1890er – 1920er Jahre)«, beschreibt ausführlich die Beiträge von Theosophen wie Annie Besant und Charles W. Leadbeater zum westlichen Chakrasystem sowie jene von Rudolf Steiner und weniger bekannten Gestalten wie Rāma Prasād und Ella Adelia Fletcher, die frühe Anleitungen zur Yoga-Praxis veröffentlichten. Den Kontext bieten Darstellungen der Chakra-Lehren mehrerer Nicht-Theosophen wie Swami Vivekananda und Sir John Woodroffe, dessen Übersetzung von und Kommentar zu einer bedeutenden tantrischen Beschreibung der Chakras, The Serpent Power (dt. Ausgabe: Die Schlangenkraft), zu einem Klassiker unter den westlichen Chakra-Studien geworden ist.

Teil Vier, »Chromotherapie: Die Lehre von den Strahlen, Farben und Drüsen (1920er – 1950er Jahre)«, präsentiert die Ergebnisse meiner Recherchen darüber, wie die Regenbogenfarben und die endokrinen Drüsen mit dem westlichen Chakrasystem assoziiert wurden. Außer Alice Bailey und Edgar Cayce sind die hier behandelten Gestalten größtenteils unbekannt: Ivah Bergh Whitten, S. G. J. Ouseley und die geheimnisvolle amerikanische Yogini Cajzoran Ali, deren wahrer Name und Geschichte hier zum ersten Mal enthüllt werden.

In Teil Fünf, »Gelehrte, Swamis und Seelenklempner (1930er – 1970er Jahre)«, stelle ich Beiträge zur Evolution des westlichen Chakrasystems von europäischen und amerikanischen Gelehrten wie C. G. Jung und Joseph Campbell vor sowie die Arbeiten von mehreren indischen spirituellen Lehrern von Ramakrishna und Sri Aurobindo bis Swami Rama. Insbesondere konzentriere ich mich auf das Human Potential Movement des Esalen-Instituts, einer locker verbundenen Gruppe von Psychologen, Philosophen und Körperarbeitern – einschließlich Michael Murphys, des Esalen-Begründers –, die dazu beitrug, die Standardliste der Chakra-Eigenschaften zu formulieren. In diesem Teil gebe ich die Geburt des westlichen Chakrasystems in der uns bekannten Gestalt im Juni 1977 bekannt; sie ist ein Resultat von Esalens einzigartiger Kombination von östlicher Mystik, westlicher Esoterik und europäisch-amerikanischer Psychologie.

Teil Sechs, »Licht-Räder rollen weiter (1980er Jahre und darüber hinaus)«, handelt von den Spätfolgen dieser Geburt, darunter einer Reihe von heute vergessenen konkurrierenden Systemen sowie Kontroversen aufgrund unterschiedlicher Zahlen, Namen, Positionen, Farben und Funktionen zwischen diesen Systemen. In den 1980er Jahren begannen Autoren wie Anodea Judith (Wheels of Life, dt. Ausgabe: Lebensräder) Informationen aus unterschiedlichen Systemen zusammenzutragen und zu verdichten, um solche Kontroversen aufzulösen und die Vorherrschaft des Systems zu stärken, das wir heute als traditionelles betrachten.

Dies war auch das Jahrzehnt, als innovative Praktiker auf dem sich neu entwickelnden Gebiet der Energiemedizin anfingen, das Chakrasystem in verschiedenen Formen der Körpertherapie anzuwenden, darunter Akupunktur, Polarity und Reiki. Gegen Ende der Dekade bot die Bestseller-Autorin und Schauspielerin Shirley MacLaine öffentliche Workshops über die Chakras an – und ihren Auftritt in der Tonight-Show am 4. Oktober 1990 könnte man als die Coming-out-Party des westlichen Chakrasystems bezeichnen. Dieses war nun nicht länger eine esoterische Yoga-Lehre, sondern Teil der Populär-Kultur geworden.

In den 1990er Jahren kam es zu einer starken Vermehrung von Büchern, Workshops, Websites und Musik, die auf den Chakras basierten; sie berührten dabei viele Formen der spirituellen und heilenden Praxis – auch wenn sie oft nur wiederholten, was schon vorher dagewesen war. Es wäre unsinnig, jede Variante oder Innovation auf der nun zum Standard gewordenen Verknüpfung von Regenbogenfarben und Chakra-Eigenschaften zurückzuverfolgen. Stattdessen schließe ich das Buch mit Spekulationen darüber, was man als das letzte Stadium in der Entwicklung des westlichen Chakrasystems betrachten könnte – die Festschreibung von esoterischen Lehren über Chakras, feinstoffliche Körper und Ebenen und ihre Nutzung in der Astralprojektion. Solche Spekulationen begleiteten die Entwicklung des westlichen Chakrasystems wie ein schemenhaft blasser Nebenregenbogen während eines großen Teils des 20. Jahrhunderts und traten am deutlichsten in dem Werk von Barbara Brennan hervor.

Weil das Chakrasystem eine Verknüpfung so vieler Themen darstellt – von Kundalini-Yoga zu hellsichtiger Wahrnehmung der Aura, von Psychotherapie zu Körperarbeit –, beschränke ich meine Untersuchungen auf Material mit unmittelbarer Relevanz für die Entwicklung des westlichen Chakrasystems. Deshalb befasse ich mich nicht mit Techniken des Kundalini-Yogas oder mit Übungen zur Ausbildung der Chakras. Aus Mangel an Platz habe ich viele Yogis, Hellsichtige, wissenschaftliche Forscher und Kundalini-Erfahrene ausgelassen, die innerhalb dieser Tradition gearbeitet haben. Diejenigen, die ich zitiere, insbesondere in Verbindung mit der Übertragung des Chakrasystems in verschiedene Typen von Körperarbeit, stehen wohl nur für die jeweils früheste Manifestation in gedruckter Form derjenigen Entwicklungsphasen, die sie repräsentieren. Sie sind vielleicht nicht die Urheber des Materials gewesen, das sie weitergeben; diese sind vielleicht anonym geblieben oder erst später publiziert worden.

Nach dieser Einführung folgt eine Chronologie der Entwicklung des Chakrasystems in Indien, um den historischen Kontext zu umreißen. Ausführliche Anmerkungen und eine Bibliografie am Ende des Buches dokumentieren meine Quellen. Vierundzwanzig Illustrationen und acht Farbtafeln zeigen, wie das westliche Chakrasystem im Laufe seiner Entwicklung im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert dargestellt wurde. Einige dieser Abbildungen wurden seit ihrer ursprünglichen Veröffentlichung nie wieder reproduziert. Fünfundzwanzig Tabellen fassen die Lehren über die Chakras von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zusammen und veranschaulichen den reichen, wenn auch weitgehend verborgenen Schatz metaphysischer Spekulationen, die zu der Entwicklung des westlichen Chakrasystems führten, und weisen auf, wann und wie die wichtigsten Komponenten dieses Systems in Erscheinung traten.

Zeitgenössische Historiker südasiatischer Religionen, die sich auf Gebiete spezialisiert haben, in welchen die Chakras eine Rolle spielen, wettern zuweilen gegen die westliche New-Age-Aneignung dieser Lehren.1 Dessen ungeachtet spiegelt das unbeabsichtigte Zusammenwirken von Esoterikern, Hellsichtigen, Gelehrten, Psychologen, Yogis und Energiebehandlern, welches das westliche Chakrasystem hervorgebracht hat, wahrscheinlich die über viele Jahrhunderte erfolgte Verbreitung tantrischer Lehren in Ostasien wider. In beiden Fällen bestimmten eine konstante Auslese und Neukombinationen von Einzelheiten, was ausgelassen wurde bzw. was von einer Generation an die nächste weiter überliefert wurde. Wenn jene Verbreitung alte kulturelle und spirituelle Bedürfnisse erfüllt hat, könnte man das Gleiche auch vom modernen Westen sagen – selbst wenn das Ergebnis auf Arten und Weisen kommerzialisiert worden ist, die in Indien vor tausend Jahren unvorstellbar waren (wie im Falle von Aromatherapie-Deorollern).

Ich betrachte die Entwicklung des westlichen Chakrasystems als die Verkörperung eines zutiefst bedeutungsvollen Archetyps der Erleuchtung, dem Osten und dem Westen gemeinsam – dem Archetyp des geistig vollendeten Wesens, das in dem Bild grafisch dargestellt ist, das wir so oft auf den Umschlägen von Büchern über die Chakras sehen: Eine strahlende, meditierende menschliche Gestalt, hell im regenbogenfarbenen Licht, die unser spirituelles Potenzial ganz verwirklicht hat, so dass jedes Chakra eine Stufe der Evolution auf dieser heiligen Entwicklungsreise repräsentiert.

Anmerkung zur Sanskrit-Transliteration

Weil dies ein Buch über das westliche Chakrasystem ist und die Schreibweise von Chakra mit ch für Bücher über dieses Thema der Norm entspricht, verwende ich die korrekte Transliteration cakra nur in seltenen Fällen, zum Beispiel im Zusammenhang mit der buchstabengetreuen Umsetzung des Sanskrit-Namens eines Chakras – deshalb Anāhata-Cakra.

Andere Sanskrit-Wörter werden bei ihrem ersten Erscheinen in der Chronologie, im Buchtext, den Anmerkungen und bei bestimmten Illustrationen nach dem IAST (International Alphabet of Sanskrit Transliteration), dem internationalen akademischen Sanskrit-Transliterationssystem) behandelt – deshalb kuṇḍalinī (beim ersten Erscheinen) und Kundalini (im weiteren Verlauf). Nach dem ersten Erscheinen eines Sanskrit-Wortes verzichte ich nicht nur auf die diakritischen Zeichen, sondern bilde auch Pluralformen durch Anhängen des Buchstabens s, wie es im Englischen üblich ist – deshalb Nadis statt nāḍī-s.

Im Falle von Sanskrit-Begriffen, die in westlichen Büchern über Chakras allgemein gebräuchlich sind, verwende ich die einfachste anglisierte Form, die ś oder häufig durch sh ersetzt – deshalb Kosha statt Kośa. Weil ich Bücher über die Chakras akademischer und nichtakademischer Autoren aus einem Jahrhundert zitiere, die jeweils ihr eigenes (oder gar kein) Transliterationssystem zugrunde legen, habe ich mich dafür entschieden, Zitate auf die gleiche vereinfachte Weise zu behandeln, anstatt sie buchstäblich-originalgetreu zu reproduzieren oder sie nach dem IAST zu standardisieren – deshalb Akasha statt ȃkȃsa oder ākāsha oder ākāśa. Diese Entscheidung betrifft in erster Linie Zitate aus Werken von H. P. Blavatsky und anderen frühen theosophischen Autoren, die heute veraltete Transliterationssysteme verwendeten – welche spätere Herausgeber oft auf verschiedene Weisen zu aktualisieren versuchten. Die eine Ausnahme ist der Name des zweiten Chakras, Svadhishthana (IAST: svādhiṣṭhāna), den New-Age-Bücher über Chakras häufig als Svadhisthana vermitteln.

Sanskrit-Namen von religiösen Sekten und Philosophien, Göttern und Göttinnen, Orten, Texten (wie Upanischaden und Tantras) und Autoren werden durchweg nach dem IAST transliteriert – deshalb Sāṃkhya, Śiva, Nālandā, Yoga-Sūtra des Patañjali.

Die Evolution des östlichen Chakrasystems: eine Chronologie

[Die meisten Daten sind verallgemeinert, spekulativ und Gegenstand akademischer Debatte.2]

1500–1000 v.u.Z. • Zusammenstellung der Vedas, der heiligsten Grundlagentexte des Hinduismus

13. Jahrhundert • Zusammenstellung des Atharva Veda, aus dem sich das Āyurveda-System der Gesundheit und Heilkunst entwickelt, einschließlich des Prinzips der marmāṇi (Vitalpunkte); einige von diesen befinden sich in Bereichen des physischen Körpers, die später mit den Chakras assoziiert werden.

9.–3. Jahrhundert • Die Sāṃkhya- (aufzählende) Philosophie entsteht, eine der sechs Darshanas (darśana: »Ansicht«) der späteren Hindu-Philosophie; einschließlich der Vorstellung von tattva (»Dasheit«; Kategorien oder Essenzen), von denen die fünf mahā-bhūta (grobstoffliche Elemente) Erde, Wasser, Feuer, Luft und Akasha (ākāśa: »Strahlung« oder »Raum«, häufig als »Äther« übersetzt) Schlüsselaspekte sind, die später mit den Chakras verknüpft werden.

6. Jahrhundert • Früheste Upanischaden. Vedānta (Ende der Vedas) in Entwicklung – ein weiteres der sechs Darshanas (der klassischen Philosophiesysteme Indiens), die sich aus den Upanischaden entwickelten und als die letzten offenbarten heiligen Schriften des Hinduismus gelten. Erste Erwähnung von nāḍī (Kanälen, Bahnen, Gefäßen), nervenähnlichen Verteilern von prāṇa (Vitalenergie) im feinstofflichen Körper, in der Bṛhadāraṇyaka-Upaniṣad (4.2.3; nicht Nadis, sondern hita genannt, d.h. »gesund«) und in der Chāndogya Upaniṣad (8.6.1–5; hier auch Zusammenhang zwischen Prana und Sonnenlicht und Erwähnung von fünf Typen und Farben; erwähnt auch eine Nadi, die vom Herzen zum Kopf führt, durch welche die Seele im Tode austritt – ein Hinweis auf das »Zentralgefäß« in späteren Texten). Das Leben von Gautama Buddha (traditionelle Zeitangabe; die heutige Forschung tendiert zunehmend zum 5. Jahrhundert).3

3.–1. Jahrhundert • Früheste Definition von Yoga (Vereinigung) in der Kaṭha-Upaniṣad (6.10–11); der Yoga wird ein weiteres der sechs Darshanas.

2. Jahrhundert v.u.Z. – 4. Jahrhundert u.Z. • Nach Jahrhunderten der Entwicklung in mündlicher Überlieferung entsteht die schriftliche Form der Mahābhārata, des großen Nationalepos Indiens.

100 v.u.Z. • Gautama Buddhas Lehren werden in Sri Lanka als Theravāda-Kanon in Pali (-Sprache) schriftlich niedergelegt. Der Mahāyāna-Buddhismus entwickelt sich.

2. Jahrhundert • Die Caraka-Saṃhitā, ein wesentliches Werk im Āyurveda, listet mehrere »wichtige Vitalpunkte« (mahā-marmāṇi), die später evtl. eine Basis für das Chakrasystem bilden (vielleicht über das Bhāgavata-Purāṇa – siehe unten).4

3. Jahrhundert • Im westlichen Indien entwickelt sich der Shivaismus (ein Zweig des Hinduismus, in dem Śiva und seine Verehrung die zentrale Rolle spielen) – der gütige »Zerstörer«-Aspekt des Göttlichen, dessen Funktion darin besteht, »die Ego-Persönlichkeit abzubauen, so dass sie durchlässig wird für das göttliche Licht«.5

3.–4. Jahrhundert • Die Maitrī-Upaniṣad, das (als spätere Ergänzung geltende) sechste Buch, erwähnt einen Lotos im Herzen (6.1–2), und das suṣumṇā-nāḍī (»gnädige Nadi«; 6.21; auch »Zentralgefäß« genannt). Die Yoga-Philosophie kristallisiert sich in Buch 6 des Mahābhārata, das die Bhagavad-Gītā enthält. Yoga und Sāṃkhya kristallisieren sich in Buch 12 des Mahābhārata, im Mokṣadharma-Parvan, dem »Abschnitt über den Weg der Befreiung« – welcher spätere Lehren über Chakras vorwegnehmen mag (d.h. Konzentration auf Nabel, Herz, Kehle und Kopf, die Positionen des dritten bis sechsten Chakras).6

4. Jahrhundert • Das Viṣṇu-Purāṇa formuliert eine Kosmologie aus sieben himmlischen (loka) und sieben höllischen Bereichen (tala).

350–450 • Das Yoga-Sūtra des Patañjali (Zeitangabe umstritten, mancherorts zitiert als aus dem 2. Jahrhundert v.u.Z.) und sein Kommentar, die Yoga-Bhāṣya von Vedavyāsa, erwähnen Nadis und Chakras und heben vier Positionen hervor, die mit dem späteren Chakrasystem assoziiert werden (Nabel, Herz, Kehle und »das Licht im Kopf«).7

5.–6. Jahrhundert • Mahāyāna-Buddhismus und Brahmanismus blühen in Indien Seite an Seite. Mahāyāna-Texte werden nach China und von dort weiter nach Japan exportiert; es entstehen erste Übersetzungen dieser Texte aus dem Sanskrit ins Chinesische (viele sind nur noch in dieser Form erhalten).

7. Jahrhundert • Im östlichen Indien entwickelt sich der tantrische Buddhismus. In West- und Südindien löst der Shivaismus den Buddhismus ab.

7.–8. Jahrhundert • Das nur aus chinesischen Übersetzungen aus dem 8. Jahrhundert bekannte, aber möglicherweise aus Nālandā (einer bedeutenden indischen Klosteruniversität des Mahāyāna-Buddhismus) stammende Śūraṅgama-Sūtra lehrt die Auflösung von sechs »Knoten«, um zur Erleuchtung zu gelangen – diese Knoten sind verbunden mit Elementen und Kategorien der Wahrnehmung, wie man sie in späteren tantrischen Lehren über die Chakras erwähnt findet, sind aber nicht als Brennpunkte für die Konzentration im Körper lokalisiert.8

8. Jahrhundert • Das Bhāgavata Purāṇa verweist auf das Zentralgefäß (suṣhumnā); sechs »Örtlichkeiten« (sthāneṣu) innerhalb des Körpers (Nabel, Herz, Brustkorb, Gaumenwurzel [Zäpfchen?], Stirn, Kopf), durch welche sich Yogis vom Körper und den groben und subtilen Sinnen und Elementen und Bereichen des Universums befreien, die von diesen Sinnen wahrgenommen werden (2.2.19–31);9 erwähnt wird auch ein Vier-Chakren-System (Nabel, Herz, Kehle und Stirn) (4.4.25). Vedānta voll kristallisiert in den Schriften von Śaṅkara (788–820).10 Der tantrische Buddhismus breitet sich nach China hinein aus, wo er Mìzōng (esoterische Schule) genannt wird, und nach Tibet, wo er Vajrayāna (Diamantpfad) genannt wird. Ein Vier-Chakren-System (Nabel, Herz, Kehle und Kopf) erscheint in tantra-buddhistischen Texten wie im Caryāgīti und Hevajra-Tantra.11 Ein Fünf-Chakren-System wird im buddhistischen Guḥyasamāja-Tantra gelehrt.

9. Jahrhundert • Das Hindu-Tantra entwickelt sich. Der tantrische Buddhismus breitet sich von China nach Japan aus, die Shingon- und die Tendai-Schule entstehen.

9.–10. Jahrhundert • Das Kaula-Jñāna-Nirṇaya von Matsyendranātha präsentiert ein Sechs-Chakren-System mit Zentren, die erstmals als cakra (Räder) an ihren bekannten Positionen bezeichnet werden; führt auch die Vorstellung von »Örtlichkeiten« (sthāna, manchmal ein Synonym für cakra) im feinstofflichen Körper ein mit »Speichen, Blättern und Blütenblättern«12 ebenso wie die Praxis, Phoneme aus dem Sanskrit-Alphabet in »Knoten« (granthi, manchmal ein Synonym für cakra) zu platzieren. Das Netra-Tantra präsentiert ebenso ein Sechs-Chakren-System und gebraucht dabei das Wort cakra, aber mit exzentrischen Namen und Positionen. Im Tantrasadbhāva-Tantra entwickelt sich die Vorstellung von kuṇḍalinī-Energie (wie kuṇḍali, »ringförmig«).

9.–13. Jahrhundert • Erblühen des Siddha-Kults (»vollendete Wesen«, die durch meditative und alchemistische Prozesse versuchen, körperliche und spirituelle Vervollkommnung und Kräfte [siddhi] zu erlangen), sowie des Śaktismus (Verehrung der Göttin Śaktī, der Gefährtin Śivas), des Kaulismus (initiatische, innerhalb von Sippen vermittelte Form des Tantras) und des kaschmirischen Shivaismus. Entwicklung des Haṭha-Yoga.

10. Jahrhundert • Das Kālacakra-Tantra (buddhistisch) lehrt ein Sechs-Chakren-System.13

10.–11. Jahrhundert • Früheste bekannte Verwendung des Wortes kuṇḍalinī im Jayadrathayāmala im Hindu-Tantra. Das Kubjikāmata präsentiert ein System von sieben Chakras (ohne jedoch das Wort cakra zu gebrauchen) nicht nur mit den bekannten Positionen, sondern auch mit den vertrauten Namen und Verbindungen zu Göttinnen (Ḍākinī, Rākiṇī, Lākinī etc.). Das Tantrāloka des Abhinavagupta (bl. 975–1025), ein Grundlagenwerk des Kaschmir-Shivaismus, der die Lehren früherer Schulen festschreibt, vermittelt ein Fünf-Chakren-System (die ersten beiden Chakras kombiniert) und entwickelt die Vorstellung von einem Kreislauf der Kundalini (»der Abstieg des transzendenten Bewusstseins in den menschlichen Mikrokosmos [Körper] und die Rückkehr des menschlichen Bewusstseins zu ihrem Ursprung«).14

12. Jahrhundert • Beginn der islamischen Invasionen auf dem indischen Subkontinent; Zerstörung der Universität Nālandā, (lt. Wikipedia: der größten buddhistischen Universität, gegründet im 5. Jh., größtes Lehrzentrum der antiken Welt überhaupt)

12.–13. Jahrhundert • Gorakṣanātha schreibt die Prinzipien des Hatha-Yogas fest und gründet den Mönchsorden Nāth-Siddha (»Vollendete Herren«). Das Gorakṣa-Paddhati lehrt ein Sechs-Chakren-System mit Standardnamen und Lotos-Blütenblätter-Zahlen; iḍā und piṅgalā werden als linkes und rechtes Gefäß bezeichnet; Kundalini wird erwähnt, ebenso wie der »große Lotos« am höchsten Punkt des Kopfes (sahasrāra, was wir heute das siebte Chakra nennen); die Elemente werden jedoch auf fünf Zentren verteilt, nämlich Herz, Kehle, Gaumenwurzel (Zäpfchen?), Stirn und Scheitel.15

13. Jahrhundert • Der Buddhismus ist in Indien buchstäblich nicht mehr existent.

1290 • Das Jñāneśvarī (auch bekannt als Bhāvārtha-Dīpikā) von Jñānadeva (1275–1296; auch bekannt als Jñāneśvar und Dnyāneshwar), ein Kommentar in Versform über die Bhagavad-Gītā in der Nāth-Tradition, enthält einen Bericht über die erwachende Kundalini, die hier als »Mutter der Welt« bezeichnet wird – ein häufig verwendetes Epitheton (6.14).

13.–14. Jahrhundert • Das Śāradā-Tilaka-Tantra von Lakṣmaṇa Deśikendra, ein Handbuch des Mantra-Yogas (Worte der Kraft), ordnet den Blütenblättern der sechs Chakras fünfzig Buchstaben des Sanskrit-Alphabets zu und vermittelt eine Technik des Visualisierens und Auflösens derselben; das Kapitel 25 erklärt die Praxis des Yogas im Einzelnen und erwähnt, dass die Meinungen über die Anzahl der Chakras (die ādhāra genannt werden, d.h. »Stützung), auseinandergehen. Das Rudrayāmala verknüpft bei jedem Chakra nicht nur Buchstaben mit Blütenblättern, sondern verbindet auch Göttinnen mit Göttern (Brahmā, Viṣṇu, Rudra, Īśvara, Sadāśiva und Parāśiva); früher Gebrauch der Bezeichnung sahasrāra (»tausendfältig« – das siebte Chakra); svayambhū-liṅga (»selbstseiendes Zeichen«; das Phallus-Symbol Śivas, um das sich die Kundalini windet) ist mit dem Wurzel-Chakra verbunden und bāṇa-liṅga (Bogen-Mark) mit dem Herz-Chakra.16 Das Ṭoḍala-Tantra beschreibt die Praxis des Kundalini-Yogas und verbindet Bereiche des Kosmos mit Chakras; erwähnt Saatsilben-Mantras der Elemente und nyāsa (Visualisieren von Sanskrit-Phonemen in verschiedenen Teilen des Körpers, möglicherweise als Vorstufe zum Assoziieren der Phoneme mit den Chakras).17

14.–15. Jahrhundert • Die Yoga-Upanischaden entwickeln sich – das Sieben-Chakren-System (oder »sechs plus eins«, wie David Gordon White es nennt18) ist umfassend eingeführt, das Sahasrara ist das siebte Chakra (obgleich ein Text drei weitere Chakras aufführt); jedes Element hat sein Yantra19Haṭha-Yoga-PradīpikāSvātmarāma