Christoph von Schmid: Gottfried, der junge Einsiedler und andere Erzählungen
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
John Everett Millais, Die Rückkehr der Taube, 1851
ISBN 978-3-7437-0580-7
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-7437-0542-5 (Broschiert)
ISBN 978-3-7437-0543-2 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
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Gottfried wurde in einem Alter von zwölf Jahren in eine schauerliche Wüste versetzt und lebte da als Einsiedler. Das scheint allerdings wunderlich und seltsam. Allein es ist der Mühe wert, die merkwürdige Geschichte, die sich schon vor mehreren hundert Jahren zugetragen hat, ausführlich zu hören.
Die Eltern Gottfrieds waren sehr gottselige und tugendhafte Leute und wohnten in einem kleinen Dorf am Meer. Sie hatten sieben Kinder, unter denen Gottfried das älteste war. Beide Eltern vereinigten ihre Kräfte, die vielen Kinder ordentlich zu ernähren und zu kleiden. Der Vater namens Philipp bestellte sein kleines Ackerfeld, seine Wiese und den Baumgarten am Haus mit so großem Fleiß, dass die Haushaltung stets reichlich mit Brot, Milch und Obst versehen war. Auch die Bienenzucht betrieb er mit Einsicht und vielem Glück. Er war ein sehr geschickter, fleißiger Korbmacher, und seine Knaben mussten ihm mit Abschälen der Weiden und dergleichen kleinen Geschäften in die Hand arbeiten. Nebenbei half er den Fischern im Dorf beim Fischen und bekam immer seinen redlichen Anteil am Fang. Die Mutter namens Margareta besorgte die Hauswirtschaft auf das beste und strickte fleißig Fischnetze, wozu die Mädchen den Hanf spinnen mussten. So fehlte es den Kindern nie an dem nötigen Lebensunterhalt. Zur wichtigsten Angelegenheit aber machten es sich die Eltern, ihre Kinder fromm und gut zu erziehen. »Eine gute Erziehung«, sagten sie öfters, »ist das beste Erbteil, das Eltern ihren Kindern hinterlassen können.«
Gottfried, der älteste Knabe, war der Liebling seiner Eltern. Er hatte einen aufgeweckten Verstand, war in allem, was er anfing, flink und geschickt, bei der Arbeit ganz ungemein fleißig und gegen alle Menschen überaus dienstfertig und gefällig. Dabei war er schlank gewachsen und schön und blühend von Angesicht. Vorzüglich gaben seine hellen Augen, die zarten Augenbrauen und seine lichtbraunen lockigen Haare ihm ein sehr feines Aussehen. Auch seine hechtgraue Schifferkleidung, eine kurze Jacke mit langen Beinkleidern bis an die Knöchel, die ihm sein Taufpate, der reiche Fischer Thomas, hatte machen lassen, stand ihm sehr gut.
Allein ein so hoffnungsvoller Knabe Gottfried war, so hatte er doch seine großen Fehler. Er war sehr eigensinnig, wollte immer recht haben, niemals zugeben, dass man ihm widersprach, und seine Eltern mussten oft Ernst anwenden, ihn zum Gehorsam zu bringen. Er wollte seine Geschwister beherrschen, ward auffahrend und zornig, wenn sie ihm nicht gehorchten, stritt mit ihnen und gab ihnen rauhe, unfreundliche Worte. Da er zuzeiten bei seinem reichen Taufpaten essen durfte, so wollte er mit der einfachen Kost an dem väterlichen Tisch nicht mehr zufrieden sein, murrte manchmal bei dem Essen und hielt es dann in seinem Unwillen kaum der Mühe wert, Gott und seinen Eltern dafür zu danken. Die Eltern ermahnten ihn, so oft sie einen Fehler an ihm bemerkten. Er weinte und versprach Besserung; allein bald fiel er wieder in die alten Fehler. Seine Eltern wurden darüber oft recht betrübt und fürchteten, er werde die schönen Hoffnungen, die sie von ihm sich machten, wohl gar noch vereiteln. Sein Taufpate, der alte Fischer, sagte aber öfter zu ihm: »Gottfried, Gottfried, gibt acht! Der liebe Gott muss dich noch in eine eigene Schule führen und dich besonders in Zucht nehmen, wenn etwas aus dir werden soll!«
Von der Anhöhe, auf der Gottfrieds väterliches Haus stand, hatte man eine unermessliche Aussicht auf das Meer. Eine kleine Insel, die man von den Fenstern der Stube aus sehen konnte, gewährte einen besonders schönen Anblick. Sie war ganz mit laubreichen Bäumen und Gebüschen von mancherlei Grün überwachsen und wurde deshalb die grüne Insel genannt. Die Insel war nicht bewohnt; der Vater fuhr jedoch von Zeit zu Zeit hinüber, um Weidenzweige zum Korbflechten zu schneiden, deren es dort eine Menge gab. Gottfried, der nunmehr stark genug war, dem Vater beim Rudern zu helfen, und ihm auch bei dem Abschneiden der Weiden gute Dienste leistete, durfte jetzt gewöhnlich mitfahren, was dem lebhaften Knaben allemal große Freude machte. Eines Abends sagte nun der Vater: »Wenn Himmel und Meer so still und ruhig bleiben wie heute abend, so fahren wir morgen früh miteinander auf die Insel.« Gottfried sprang vor Freude hoch auf und konnte vor Vergnügen über die morgige Seereise kaum schlafen.
Mit Anbruch des folgenden Tages, da der Morgenhimmel anfing sich zu röten und der helle Morgenstern bereits erbleichte, war Gottfried schon auf. Er half der Mutter sehr geschäftig, alles Nötige in das Schifflein zu bringen. Denn die Anstalten zu der kleinen Seereise waren nicht klein. Es war schon einmal geschehen, dass sich das Wetter schnell änderte und der Vater mit Gottfried drei Tage auf der Insel zubringen musste. Die Mutter versah sie daher mit einem hinreichenden Vorrat von Brot, Milch und Butter. Sie gab ihnen überdies einen Kochtopf und eine irdene Schüssel mit, damit sie im Notfall sich doch eine warme Suppe kochen könnten. Auch brachte sie noch des Vaters dichten, wollenen Mantel, damit der Vater und Gottfried, wenn sie auf der Insel über Nacht bleiben müssten, sich damit zudecken könnten.
Da alles zur Abreise in Ordnung war, holte Gottfried den neuen Strohhut, den ihm sein Taufpate Thomas am letzten Markt gekauft hatte; Martha, Gottfrieds freundliche Schwester, hatte ihm ein hübsches, grünes Band geschenkt und es mit einigen Stecknadeln auf dem Hut befestigt. Der Vater aber sprach: »Gottfried, nimm auch ein paar Körbe mit; wir werden sie nötig haben.« – »Je, wozu denn?« fragte Gottfried. »Das wirst du schon sehen«, sprach der Vater lächelnd. »Du machst es mit mir geradeso wie viele Menschen mit dem lieben Gott, die es schon vorhinein wissen möchten, warum er dieses oder jenes anordne oder geschehen lasse. Tu du, was ich dir sage, und am Ende wird es dann schon recht herauskommen.« Gottfried eilte fort und holte die Körbe.
Der Vater machte sich nun mit Gottfried auf den Weg. Mutter und Kinder begleiteten sie hinab an das Meer bis zum Schifflein und riefen ihnen noch lange nach: »Glückliche Reise und eine fröhliche Heimkehr!« Gottfried wetteiferte im Rudern mit seinem Vater so sehr, dass ihm warm wurde und er seine Jacke ausziehen musste. Sie kamen glücklich bei der Insel an und fuhren eine Strecke um sie herum, bis an einen Platz, wo es die schönsten Weiden gab und gut zu landen war. Hier stiegen sie an das Land, und der Vater knüpfte das Schifflein mit einem Strick an einen nahen Weidenbaum fest. Beide machten sich sogleich an die Arbeit. Der Vater hieb mit seinem Handbeil Weidenzweige ab und band sie mit dünnen Weidensprossen in Büschel. Gottfried machte es mit seinem kleinen Handbeil ebenso, nur band er die abgehauenen Zweige in kleinere Büschel zusammen. Hierauf trugen sie die Büschel, der Vater die größeren und Gottfried die kleineren, in das Schifflein. Der Vater freute sich, an seinem Gottfried einen so fleißigen Gehilfen zu haben. »So ist's recht!« sagte er; »Kinder müssen nach Kräften ihren Eltern helfen. Wie der Vater die schwerere Last gerne auf sich nimmt, so soll der Sohn willig die leichtere Bürde tragen.«
Nachdem sie die Weiden in das Schifflein gebracht hatten, sagte der Vater: »Nun lass uns ausruhen und unser Mittagsmahl halten! Nach der Arbeit ist die Ruhe süß, und das Essen schmeckt, wenn man sich hungrig gearbeitet hat, noch einmal so gut.« Gottfried freute sich, seinen Vater zu bedienen. Er brachte einen Krug Milch unter einen schattigen Pappelbaum am Ufer des Meeres, brockte Brot in die irdene Schüssel und goss die Milch daran. Nachdem beide, wie sie es zu Hause vor Tisch gewohnt waren, gebetet hatten, setzten sie sich auf den schönen grünen Rasen und griffen nach den blechernen Löffeln. Die süße, frische Milch schmeckte ihnen herrlich. Nachdem die Schüssel leer war, aßen sie noch Butterbrot, das ihnen ebensogut schmeckte.
Unter dem Essen erzählte der Vater, wie sein Großvater einst auf dieser Insel gewohnt habe, aber späterhin auf das feste Land hinübergezogen sei. »Er war ein sehr gottesfürchtiger, rechtschaffener Mann«, sagte der Vater. »Das Haus, das er drüben in unserem Dorf erbaute, haben wir, seine Enkel und Urenkel, noch jetzt inne.« – »Nun«, sagte Gottfried, »da hat mein seliger Urgroßvater sehr wohl daran getan, dass er sich näher zu den Menschen heranmachte. Es ist zwar sehr schön auf dieser Insel. Allein um alles in der Welt möchte ich nicht so entfernt von den Menschen hier wohnen.«
Als beide satt waren und Gott für seine Gaben gedankt hatten, sprach der Vater: »Jetzt will ich dir noch eine besondere Freude machen! Hole die Körbe aus dem Schifflein und komm mit mir!« Der Vater führte Gottfried tief in das Dickicht. Sie kamen auf einen freien grünen Platz, auf dem ein herrlicher Walnussbaum stand. Der Baum breitete sein schönes Laub weit in die blauen Lüfte aus und hing voller reifer Nüsse. Gottfried hatte über den unerwarteten Anblick eine ganz ungemeine Freude, denn da die Nüsse schon seit mehreren Jahren nicht geraten waren, so war nie die Rede von dem Baum, und Gottfried wusste nichts von ihm.
»Sieh«, sagte der Vater, »diesen Nussbaum hat dein Urgroßvater gepflanzt. Von andern Bäumen, die er pflanzte, sind wenige mehr übrig. Dort aber am Felsen stand vor uralter Zeit das Haus des braven Mannes!« Gottfried lobte seinen Urgroßvater, dass er den schönen Baum gepflanzt hatte, fing aber sogleich an, von den abgefallenen Nüssen, die im Grase umherlagen, einige aufzulesen. Er schälte die grüne Schale mit den Zähnen ab und versuchte, die braune Schale aufzubeißen, um den Kern herauszubringen. Es kostete ihn nicht wenig Mühe, und er sagte: »Vater, warum hat doch Gott den süßen Kern in zwei Schalen, eine gallbittere und eine steinharte, eingeschlossen?«
»Lieber Gottfried«, sagte der Vater, »Gott hatte dabei die weisesten Absichten. Er wollte den köstlichen Kern, aus dem ein so herrlicher Baum werden soll, in der harten Schale wohl verwahren; die bittere Schale aber hält die Mäuse und andere Nagetiere ab, die harte Schale anzunagen und den Kern zu verzehren. Noch eine andere Absicht ist zuverlässig diese: Gott wollte uns in einem Sinnbild belehren, wie wir das Bittere und Harte, das in dieser Welt über uns kommt, ansehen sollen. Wie wir diese Nüsse, trotz der bitteren und der harten Schale, nicht verachten oder wegwerfen, sondern sie wegen des süßen, nützlichen Kerns für Wohltaten Gottes erkennen; so sollen wir es auch mit den Leiden und Widerwärtigkeiten machen. Das Äußerliche daran, das wir zuerst zu verkosten haben, ist nun freilich bitter und hart; wir müssen aber fest glauben, das Innere, der süße Kern, werde am Ende zum Vorschein kommen und uns Nutzen und Segen bringen.«
Der Vater stieg nun auf den Baum und fing an, einen Ast nach dem andern zu schütteln. Gottfried sammelte voll Freude die Nüsse, die auf ihn herab regneten, in seinen Korb. Er achtete nicht darauf, dass sie ihm manchen Puff versetzten. Er lachte nur. Indes wurde ihm der Nussregen, wie er sich ausdrückte, doch zu stark, und er fand für gut, ihm ein wenig auszuweichen, ohne jedoch das Auflesen der Nüsse ganz zu unterlassen. So oft er einen Korb gefüllt hatte, eilte er damit dem Schifflein zu, schüttelte die Nüsse in dem Schifflein aus und sprang mit dem leeren Korb wieder zurück zu dem Baum, unter dem immer aufs neue eine Menge Nüsse umherlag. »Wie wird die Mutter sich freuen«, rief er zu dem Vater hinauf, »wenn wir so viele Nüsse nach Hause bringen! Und was für ein Jubel wird unter meinen Geschwistern entstehen, wenn ich ihnen so reichlich davon austeilen kann! Ich freue mich schon darauf! Es gibt doch keine größere Freude als andern Freude zu machen.«
Während Gottfried und der Vater in dem Wäldchen so beschäftigt waren, zogen, ohne dass sie es zur Zeit noch bemerkten, schwarze Gewitterwolken auf. Gottfried war eben wieder mit einem Korb voll Nüsse in das Schifflein gestiegen, hatte den Korb ausgeleert und freute sich über den zunehmenden Haufen der Nüsse – da erhob sich plötzlich ein furchtbarer Sturmwind, beugte die Bäume am Ufer und empörte die Meereswellen. Ein gewaltiger Windstoß riss das Schifflein los und nahm es mit sich fort in das Meer.
Gottfried schrie vor Entsetzen, so laut er konnte. Der erschrockene Vater eilte an das Ufer. Da erblickte er den jammernden Knaben bereits in weiter Ferne. Das ungestüme Meer brauste hoch auf. Das kleine Schifflein schwebte bald hoch auf einer Meereswelle, bald sank es wieder zwischen die Wellen herab, dass der Vater nichts mehr davon sah; bald hob es sich wieder und schwankte so immer weiter und weiter fort. Der Vater sah den armen Knaben die Hände bald zum Himmel, bald gegen das Ufer ausstrecken; sein Jammergeschrei konnte er aber vor dem Sausen des Sturmes in den Bäumen und vor dem Getöse des Meeres nicht mehr hören. Der ganze Himmel überzog sich in wenigen Augenblicken mit finstern Wolken, und dunkle Nacht bedeckte das Meer. Gezackte Blitze, die unter entsetzlichem Krachen hoch vom Himmel in das Meer schlugen, erhellten von Zeit zu Zeit das finstere Gewölk und die dunklen Fluten. Nur beim Leuchten der Blitze sah der bestürzte Vater auf Augenblicke noch das schwankende Schifflein und die emporgestreckten Arme des unglücklichen Gottfrieds. Die weißen Hemdärmel machten sich noch in weiter Ferne sichtbar. Ein heftiger Platzregen stürzte jetzt hernieder und verschloss, gleich einem niederrauschenden Vorhang, die Aussicht auf das Meer. Der Vater sah nichts mehr von seinem lieben Gottfried und von dem Schifflein, sank trostlos unter einen Weidenbaum hin und brachte den Abend und die Nacht in tiefer Betrübnis zu.
Die Mutter und die Kinder waren indessen zu Hause in großen Ängsten. Als das Gewitter so plötzlich ausgebrochen und die grüne Insel in Regenschauer und Gewitternacht verschwunden war, rief die Mutter totenbleich ihren zitternden Kindern zu: »Oh Kinder, betet! Gott gebe, dass dieses fürchterliche Wetter euren Vater und Bruder nicht auf dem offenen Meere überfiel. Wenn das wäre, so wäre es schrecklich! Oh dann wolle Gott sich ihrer erbarmen.« Sie kniete in Mitte ihrer Kinder nieder und betete. Als das Wetter anfing, sich zu verziehen, und die grüne Insel wieder zum Vorschein kam, schauten Mutter und Kinder beständig aus dem Fenster, ob sie kein Schifflein erblickten. Sie sahen keines. Die Mutter brachte die Nacht sehr bekümmert zu und schloss fast kein Auge.
Als endlich der Morgen ganz ungemein schön und heiter anbrach, die Sonne bereits hoch am Himmel stand und das Schifflein noch immer nicht kommen wollte, ward ihr sehr bange. Es wurde Mittag und noch immer wartete sie vergebens. Ihre Angst stieg aufs höchste. Sie lief jammernd zum Fischer Thomas und klagte ihm ihre Not. Der Fischer erschrak, schüttelte den Kopf und sagte: »Das ist sehr bedenklich, dass sie noch nicht da sind! Ich will einmal hinüberfahren auf die grüne Insel und sehen, was sie treiben, dass sie so lange nicht kommen.« Er stieg mit einem Schifferknecht eilends in ein Schifflein und ruderte hinüber.
Mutter und Kinder waren indes voll banger Erwartung. Endlich sahen sie das Schifflein in der Ferne kommen. »Oh gottlob«, rief die Mutter, »Thomas kommt nicht allein mit seinem Knecht! Es sind mehr als ihrer zwei im Schiff. Nun ist alles gut!« Sie eilte mit ihren Kindern voll Freude ans Ufer. Als aber das Schifflein dem Lande näher kam, rief sie erschrocken: »Wo ist Gottfried?« Der Vater war totenbleich, blickte sie schmerzlich an und schwieg. Sein tiefer Kummer machte ihn stumm.
Nachbar Thomas sprach zur Mutter: »Gott tröste Euch in Eurem Leid! Gottfried ist in dem Meer ertrunken. Ergebt Euch in den Willen Gottes! Was Gott tut, ist immer gut! Gottfried war, obwohl er seine Fehler hatte, ein gutherziger, frommer Knabe und hat es, wie wir hoffen, jetzt im Himmel besser als wir hier auf Erden!«
Die Mutter wollte sich aber nicht trösten lassen. Ihr Jammer war unaussprechlich. Die Kinder weinten und schrien laut. Sie dachten nicht mehr an Gottfrieds Fehler, sondern nur an seine lobenswerten Eigenschaften. Der Vater, selbst innig betrübt, vermochte nicht, sie zu trösten. Eltern und Kinder fanden endlich ihre einzige Beruhigung über Gottfrieds Verlust in dem tröstlichen Gedanken: »Es war nun einmal Gottes Willen so! Gott hat ihn zu sich genommen, ihm sei er zurückgegeben. Im Himmel werden wir unsern lieben, guten Gottfried wiedersehen!«
Gottfried, der von Eltern und Geschwistern als tot beweint wurde, lebte noch. Er hatte zwar auf dem tobenden Meer eine wahre Todesangst ausgestanden. Jeden Augenblick meinte er, das Schifflein, über dem die Meereswellen zusammenschlugen, werde untersinken. In seiner großen Angst hatte er ohne Aufhören die Hände zum Himmel ausgestreckt und Gott um Gnade und Erbarmung angefleht. Endlich warf der Sturm das Schifflein auf eine felsige Insel. Gottfried sprang, sobald er merkte, das Schifflein sei auf festen Grund gestoßen, eilends heraus, watete durch das schäumende Wasser vollends ans Land und erklomm, tröpfelnd von Platzregen und Meerwasser, den nächsten Felsen. Als er sich von Angst und Schrecken etwas erholt hatte und in das stürmische Meer hinausblickte, sich aber in Sicherheit sah, da fiel er auf die Knie und dankte Gott mit aufgehobenen Händen. »Du, oh Herr«, rief er, »du, dem Wind und Meer gehorchen; du, zu dem ich in meiner Todesangst um Hilfe flehte, hast mein Flehen erhört! Dir sei unendlicher Dank!«
Er blickte jetzt hinab auf sein Schifflein. Die gewaltige Meereswoge hatte es gerade zwischen zwei hohe Felsen geschleudert, die hier eine Lücke ließen. »Guter Gott!« sagte Gottfried gerührt; »der trefflichste Schiffer hätte die Öffnung zwischen den Felsen nicht genauer treffen können! Wer lenkte das Schifflein, ohne ein Ruder zu gebrauchen, so sicher hierher? Wer gab den Winden und Meereswellen sozusagen den Verstand, dass sie mich gerade hierher trieben? Wäre das Schifflein nur um einige Spannen mehr rechts oder links an das Land geworfen worden, so wäre es an den Felsen in Stücke zerschellt, und ich wäre in den gewaltigen Fluten untergegangen! Deine allmächtige Güte, deine allwaltende Vorsicht, barmherziger Gott, hat mich diesen Weg zu meiner Rettung geführt! Mein ganzes Leben will ich dir dafür danken!«
Das Gewitter fing an, sich zu verziehen. Die untergehende Sonne blickte aus zerstreuten goldenen Wolken hervor. Gottfried schaute von dem hohen Felsen hinaus in das weite Meer. Die grüne Insel mit den großen, schattigen Bäumen kam ihm so klein vor wie ein Büschchen grünes Moos, das er leicht hätte mit seinem Strohhut bedecken können. Das noch weiter entfernte Land erblickte er nur mehr an der äußersten Grenze des Himmels, wo Himmel und Meer zusammenzufließen schienen. Die höchsten Berge glichen einem niedrigen dunkelblauen Gewölbe, das der Glanz der Abendsonne da und dort beleuchtet. Von Gottfrieds väterlicher Hütte, von dem Hügel, auf dem sie stand, von den Bäumen, die sie umgaben, war nichts mehr zu sehen. »Ach du lieber Gott«, sagte Gottfried weinend, »wie unermesslich weit bin ich von meiner lieben Heimat entfernt! Diese Felsen, auf denen ich mich befinde, kann man von dem Land aus nicht einmal sehen! Ich wenigstens habe sie nie gesehen, nie etwas davon gehört! Ich hörte nur immer sagen, gegen diese Seite des Meeres hin befinde sich auf fünfzig Meilen weit kein Land. Mein Vater glaubt sicher, ich sei ertrunken. Ihn holen die Fischer, wie ich nicht zweifle, von der grünen Insel sogleich wieder ab; allein mich hier abzuholen kann ihnen gar nicht einfallen. Ich werde es schon wagen müssen, in dem kleinen Schifflein zu meinen lieben Eltern bis auf das feste Land hinüber zu fahren.«
Die stürmischen Wellen legten sich nach und nach; das Meer wurde ruhig und glich wieder einem grünen Spiegel. Die Meeresflut hatte sich zurückgezogen, und das Schifflein lag auf dem Trockenen. Gottfried kletterte von dem Felsen herab, stieg in das Schifflein – und hatte keinen geringen Schrecken. Der Boden des Schiffleins war zerborsten. Mehrere Nüsse waren hinausgerollt und lagen auf dem felsigen Grund umher. Die Seitenwände des Schiffleins hielten nur mehr so schlecht zusammen, dass sie beinahe von selbst auseinanderfielen. So mächtig hatte der Sturm das Schifflein auf den Felsengrund geworfen. »Ach Gott«, rief der bekümmerte Knabe, »das Schifflein ist nicht mehr zu gebrauchen! Auch die beiden Ruder sind verloren. Ich bin auf dieser wüsten Insel wie gefangen und eingesperrt. Ich werde mein Leben lang hier bleiben müssen und Vater und Mutter und Geschwister auf dieser Welt nicht mehr sehen!« Er stand mit gerungenen Händen in dem Schifflein; sein Angesicht war bleich von Schrecken, und reichliche Tränen flossen über seine erblassten Wangen.
Allein jetzt erschien in den schwarzen Gewitterwolken, die nur mehr die eine Seite des Himmels bedeckten, ein lieblicher Regenbogen, er spiegelte sich in dem Meer und bildete mit seinem Widerschein einen großen, herrlichen, siebenfarbigen Ring. Gottfried war von dem wunderschönen Anblick entzückt und sagte: »Oh Gott, da du in deinen Werken so freundlich bist, wie können Menschen noch traurig und verzagt sein! Der schöne Regenbogen soll mir ein liebliches Zeichen deiner Huld und Gnade sein, wie einstens dem Noah! Wie du nach Regen wieder Sonnenschein schicktest und nach Blitz und Donner den schönen Regenbogen erscheinen lässest, so schickst du nach dem Leiden wieder Freude und nach Trübsal wieder fröhliche Tage. Was du auch noch für Not und Jammer über mich senden wirst, so wirst du doch meine Traurigkeit wieder in Freude verwandeln. Du hast mich ja eben vom Tod errettet – wie solltest du nicht weiter für mich sorgen! Auf dich will ich vertrauen und wieder guten Mut fassen!«
Gottfried dachte nun vor allem darauf, seinen kleinen Vorrat von Lebensmitteln in Sicherheit zu bringen. Die Nüsse fasste er in den Korb, trug sie auf dem Kopf an eine ebene Stelle zwischen den Felsen und schüttete sie da aus. Er konnte den Korb mehrmals füllen. Die Milchkrüge waren während des Sturmes umgeworfen und zerschmettert worden. Nur ein irdener Krug, die Schüssel und der Kochtopf waren ganz geblieben. Er trug sie sorgfältig an die Stelle zwischen den Felsen. Hierauf brachte er auch die wenigen Gerätschaften dahin, die sich in dem Schifflein befanden. Er war froh, dass er nach vollbrachter Arbeit das größere und kleinere Handbeil und nach dem kleinen Mittagsmahl die Geschirre, Messer und Löffel sogleich wieder ordentlich in das Schifflein getragen hatte. Auch die Bretter des Schiffleins machte er vollends los und zog sie weiter hinein auf das Land. »Wer weiß, ob ich sie nicht brauchen kann?« dachte er; »es wäre schade, wenn das Meer, sobald es wieder höher steigt, sie hinwegschwemmte.« Er brachte auch noch die Weidenbüschel an eine sichere Stelle und arbeitete bis spät in die Nacht; der Vollmond, der Meer und Felsen erhellte, leuchtete ihm dazu.
Die Arbeit des Tages und die ausgestandenen Schrecken und Ängste hatten ihn sehr ermüdet. Es machte ihm bange, so einsam unter freiem Himmel übernachten zu müssen; er wurde aufs neue bekümmert, wie es ihm auf dieser Insel noch weiter gehen werde. Allein, er dachte: »Gott hat bisher gesorgt; er wird weiter sorgen. Und sein lieber Sohn sagte ja: Sorget nicht auf morgen!« Gottfried betete, wie er es gewohnt war, sein Abendgebet und legte sich neben seinen wenigen Habseligkeiten nieder. Es hatte auf der Insel nur wenig geregnet, und der felsige Grund war schon wieder vollkommen trocken. Er deckte sich mit dem Mantel seines Vaters zu und schlief, indem er sich noch einmal dem Schutz Gottes empfahl, getrost ein.
Gottfried schlief, da er sehr müde war, die Nacht hindurch auf dem harten Felsenlager so sanft wie auf Flaumfedern. Anfangs hatte er zwar unruhige Träume. Er meinte noch immer, das Krachen des Donners und das Brausen des Meeres zu hören und in dem Schifflein hin und her zu schwanken. Bald war es ihm, er sinke samt dem Schifflein in den tobenden Meeresfluten unter; bald kam es ihm vor, das Schifflein werde an den Felsen zerschmettert, er falle ins Wasser und bemühe sich vergebens, an den steilen Felsen emporzuklimmen. Allein gegen Morgen hatte er einen sehr lieblichen Traum. Es träumte ihm, er komme nach Hause. Seine Eltern und Geschwister waren eben im Garten; alle Bäume prangten mit frischem, grünem Laub und mit purpurroten Äpfeln und goldgelben Birnen, die so schön waren, wie er sie in seinem Leben noch nie gesehen hatte. Der Vater saß auf dem Ast eines großen Apfelbaumes, den er eben schüttelte. Die herabgefallenen Äpfel glänzten hell wie Flut in dem Gras. Mutter und Kinder sammelten sie geschäftig in zierliche Körbe und grüßten Gottfried, sobald sie ihn erblickten, mit unbeschreiblicher Freude. Der Vater stieg eilends vom Baum herab und reichte ihm liebreich die Hand. Die Mutter schenkte ihm die allerschönsten Äpfel, die in einem großen Korb hoch aufgehäuft waren.
Allein als Gottfried in seinem erfreulichen Traum eben die Hand nach einem Apfel ausstrecken wollte – erwachte er. Das Geschrei der Seevögel, die mit anbrechendem Morgen an den hohen Felsen umherflogen, hatte ihn aufgeweckt. Als er nun die Augen aufschlug und die furchtbaren Felsen erblickte, die drohend über ihn herhingen, und als er hinausschaute in das weite Meer und nichts sah als Himmel und Wasser, da schauderte ihn. Er wurde recht von Herzen betrübt und fing an, schmerzlich zu weinen.
Eine Schar von Seevögeln flog mit freudigem, lautem Geschrei dem festen Land zu. »Ach ihr lieben Vögel«, dachte Gottfried, »könnte ich euch doch Grüße an meine lieben Eltern aufgeben; könntet ihr ihnen doch die Nachricht bringen, dass ich noch lebe, aber hier von dem Meer eingeschlossen sei. Mein guter Vater und mein lieber Taufpate wagten es gewiss, so gefährlich es auch wäre, mich nach Hause zu holen.«