Ob Impfdebatte, Corona- oder Klimakrise – viele politische Streitfragen werden heute als Wissens-konflikte verhandelt. Man beschäftigt sich immer weniger mit normativen Aspekten und individuellen Handlungsoptionen, sondern streitet um die überlegenen Erkenntnisse: Wer am genauesten mit den Ergebnissen der Wissenschaft übereinstimmt, so die implizite Annahme, der verfügt damit auch über Lösungen, die dann alternativlos sind.
Alexander Bogner untersucht diese Fixierung auf Wissensfragen und ihre Folgen. Dabei wird deutlich, dass diese »Epistemisierung des Politischen« gefährlicher für unsere Demokratie ist als das leicht durchschau bare Spiel mit Fake News und Twitter-Lügen. Die Hoch konjunktur von Verschwörungsideologien und alternativen Fakten, über die alles gesagt zu sein scheint, erscheint unter diesen Vorzeichen in völlig neuem Licht.
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1
Vgl. etwa Robert E. Lane, »The Decline of Politics and Ideology in a Knowledgeable Society«, in: American Sociological Review 31 (1966) S. 649–662; Peter F. Drucker, The Age of Discontinuity. Guidelines to Our Changing Society, New York 1969; Daniel Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, übers. von Siglinde Summerer und Gerda Kurz, Reinbek b. Hamburg 1979 (Orig. 1973).
2
Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, Frankfurt a. M. 2006, S. 15 (Orig. 1903).
3
Vgl. zum Zusammenhang zwischen Krimi als Rätsellösungsspiel und Psychotherapie als Versuch, eine zusammenhängende Geschichte zu erzählen, Hannes Fricke, »Erlösung durch Rekonstruktion und Rätsellösen. Warum werden Psycholog_innen in Kriminalfilmen als allmächtig-zwielichtige Retter dargestellt? Und was bedeutet das?«, in: Journal für Psychologie 24 (2016), S. 149–179.
4
Max Weber, Wissenschaft als Beruf, Stuttgart 1995, S. 19 (Orig. 1919).
5
Eva Illouz, Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, übers. von Martin Hartmann, Frankfurt a. M. 2006, S. 113 ff.
6
Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Stuttgart 1993, S. 93 (Orig. 1872).
7
Erstmals mit diesem Bezug Jan Skudlarek, Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist, Stuttgart 2019, S. 175.
8
Vgl. Tom Nichols, The Death of Expertise. The Campaign Against Established Knowledge and Why it Matters, New York 2017.
9
Anja Karliczek, »Die Stunde der Erklärer«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. April 2020, S. N1.
10
Deutscher Ethikrat, »Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise. Ad-hoc-Empfehlung«, Berlin 2020.
11
Zit. nach: Inmaculada Melo-Martín / Kristen Intemann, The Fight Against Doubt. How to Bridge the Gap between Scientists and the Public, New York 2018, S. 130.
12
John Cook [u. a.], »Quantifying the Consensus on Anthropogenic Global Warming in the Scientific Literature«, in: Environmental Research Letters 8 (2013) Nr. 2.
13
Richard S. J. Tol, »Comment on ›Quantifying the Consensus on Anthropogenic Global Warming in the Scientific Literature‹«, in: Environmental Research Letters 11 (2016) Nr. 4.
14
Vgl. Reiner Grundmann, Transnational Environmental Policy. Reconstructing Ozone, London 2001.
15
Dies unterstreicht auch Johannes Müller-Salo in Klima, Sprache und Moral. Eine philosophische Kritik, Stuttgart 2020. Die zwingend notwendige Diskussion über Normen und Werte, mit Hilfe derer die Politik das Tatsachenwissen in konkrete Handlungsziele übersetzen kann, bezeichnet Müller-Salo als »die große Leerstelle des gesellschaftlichen Klimadiskurses« (S. 13).
16
Sander van der Linden, »Why Doctors Should Convey the Medical Consensus on Vaccine Safety«, in: BMJ Evidence-Based Medicine 21 (2016) S. 119.
17
Vgl. Maya J. Goldenberg, »Public Misunderstanding of Science? Reframing the Problem of Vaccine Hesitancy«, in: Perspectives on Science 24 (2016) S. 552–581.
18
Martina Lenzen-Schulte, »Wer impft, hat recht – meistens«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. April 2019, S. N2.
19
Ebd.
20
Diese Passage findet sich in einem CNN-Transkript aus dem Jahr 2016 unter: http://transcripts.cnn.com/TRANSCRIPTS/1607/22/nday.06.html.
21
Lee McIntyre, Post-Truth, Cambridge (MA) 2018.
22
Vgl. Larry Diamond, »Facing Up to the Democratic Recession«, in: Journal of Democracy 26 (2015) S. 141–155.
23
Steven Levitsky / Daniel Ziblatt, Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können, übers. von Klaus-Dieter Schmidt, München 2018; Yascha Mounk, Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, übers. von Bernhard Jendricke, München 2018.
24
Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, übers. von Nikolaus Gramm, Frankfurt a. M. 2008; s. auch: Stephan Lessenich, Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem, Stuttgart 2019.
25
Ingolfur Blühdorn, Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Berlin 2013.
26
Vgl. Jacques Rancière, Dissensus. On Politics and Aesthetics, London 2010; Slavoj Žižek, Die Tücke des Subjekts, übers. von Eva Gilmer, Frankfurt a. M. 2010, S. 272 ff.
27
Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 82005, S. 427 f. (Orig. 1942).
28
Jason Brennan, Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen, übers. von Stephan Gebauer, Berlin 2017, S. 35.
29
Ebd., S. 372.
30
Vgl. Helmut Willke, Dezentrierte Demokratie. Prolegomena zur Revision politischer Steuerung, Berlin 2016.
31
Ebd., S. 21.
32
Mark E. Warren, »Deliberative Democracy and Authority«, in: American Political Science Review 90 (1996) S. 46–60, hier S. 49.
33
Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Stuttgart 2018, S. 132 (Orig. 1929).
34
Im Kulturkampf der liberalen Intellektuellen in den USA gegen einen faschismusfreundlichen Katholizismus sowie gegen den totalitären Kommunismus galt der Verhaltenskodex der Wissenschaft ebenfalls als Garant der Demokratie. So heißt es bei John Dewey (in: Freedom and Culture, New York 1939, S. 148): »Obwohl es natürlich weder wünschenswert noch machbar ist, dass jeder ein Wissenschaftler wird […], ist doch die Zukunft der Demokratie eng mit der Verbreitung einer wissenschaftlichen Gesinnung verbunden.«
35
Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, übers. von Christa Krüger, Frankfurt a. M. 1989, S. 96.
36
Georg Simmel, »Der Streit«, in: G. S., Gesamtausgabe, Bd. 11: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hrsg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1992, S. 284–382 (Orig. 1908).
37
Vgl. dazu Paul Boghossian, Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus, übers. von Jens Rometsch, Berlin 2013.
38
Myriam Revault d’Allonnes, Brüchige Wahrheit. Zur Auflösung von Gewissheiten in demokratischen Gesellschaften, übers. von Michael Halfbrodt, Hamburg 2019.
39
Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, hrsg. von Hubert Kiesewetter, Bd. 1: Der Zauber Platons, Tübingen 2003, S. 238 (Orig. 1945).
40
Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, Frankfurt a. M. 1986 (Orig. 1975).
41
Ebd., S. 188 f.
42
Ebd., S. 392 f.
43
Paul Feyerabend, Erkenntnis für freie Menschen, Frankfurt a. M. 1980, S. 37 (Orig. 1976).
44
Bruno Latour, Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, übers. von Gustav Roßler, Frankfurt a. M. 2001, S. 100 f.
45
Ebd., S. 191.
46
Ebd., S. 165
47
Ebd., S. 218.
48
Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus; Tagebücher 1914–1916; Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1984, S. 520.
49
Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, übers. von Gustav Roßler, Frankfurt a. M. 2000, S. 175 ff.
50
Vgl. dazu Kathrin Braun, »Not Just for Experts. The Public Debate about Reprogenetics in Germany«, in: Hastings Center Report 35 (2005) S. 42–49; Ulrike Riedel, »›Alle Macht den Räten?‹ Politikberatung durch bioethische Gremien«, in: Zeitschrift für Biopolitik 3 (2004) S. 3–8; Suzanne S. Schüttemeyer, »Deparliamentarisation. How Severely Is the German Bundestag Affected?«, in: German Politics 18 (2009) S. 1–11.
51
Vgl. Alvin W. Gouldner, Die Intelligenz als neue Klasse. 16 Thesen zur Zukunft der Intellektuellen und der technischen Intelligenz, übers. von Constans Seyfarth, Frankfurt a. M. / New York 1980 (Orig. 1979).
52
Im Folgenden beziehe ich mich auf Steven Epstein, Impure Science. Aids, Activism, and the Politics of Knowledge, Berkeley 1996; Michel Callon / Vololona Rabeharisoa, »Research ›in the Wild‹ and the Shaping of New Social Identities«, in: Technology in Society 25 (2003) S. 193–204; Alan Irwin, Citizen Science. A Study of People, Expertise and Sustainable Development, London 1995.
53
Vgl. Bruno Latour / Steve Woolgar, Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, Beverly Hills 1979; Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1984.
54
Vgl. dazu, als ein Dokument gehobener Ratlosigkeit angesichts der Attacken der Klimawandelleugner: Bruno Latour, Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, übers. von Heinz Jatho, Zürich 2007.
55
Georg Vobruba, Die Kritik der Leute. Einfachdenken gegen besseres Wissen, Weinheim 2019.
56
Steve Fuller, Post-Truth. Knowledge as a Power Game, London 2018.
57
Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 21976 (Orig. 1962).
58
Vgl. Steve Fuller, Post-Truth (s. Anm. 56) S. 107 ff.
59
Ebd., S. 180.
60
Ingrid Gilcher-Holtey, Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen, Weilerswist 2007, S. 10.
61
Zum Folgenden vgl. Dietz Bering, Die Epoche der Intellektuellen: 1898–2001. Geburt – Begriff – Grabmal, Berlin 2010, S. 24 ff.
62
Caspar Hirschi, Skandalexperten, Expertenskandale. Zur Geschichte eines Gegenwartsproblems, Berlin 2018, S. 197 ff.
63
Julien Benda, Der Verrat der Intellektuellen, übers. von Arthur Merin, Frankfurt a. M. 1988 (Orig. 1927).
64
Lewis A. Coser, Men of Ideas. A Sociologist’s View, New York 1965.
65
In diese Richtung argumentiert Frank Furedi, Where Have All the Intellectuals Gone?, London 2006.
66
M. Rainer Lepsius, »Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen«, in: M. R. L., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 270–285 (Orig. 1964).
67
Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, übers. von Otto Pfersmann, Wien 1994, S. 16 (Orig. 1979).
68
Wissenschaft im Dialog, Wissenschaftsbarometer 2017, Berlin 2017, S. 28, unter: https://www.wissenschaft-im-dialog.de/fileadmin/user_upload/Projekte/Wissenschaftsbarometer/Dokumente_17/WB_2017_Web.pdf
69
Der Begriff denial machine findet sich bei Riley E. Dunlap, »Climate Change Scepticism and Denial. An Introduction«, in: American Behavioural Scientist 57 (2013) S. 691–698, hier S. 692.
70
Naomi Oreskes / Erik M. Conway, Merchants of Doubt. How a Handful of Scientists Obscured the Truth on Issues from Tobacco Smoke to Global Warming, New York 2010.
71
Bertolt Brecht, Leben des Galilei, Frankfurt a. M. 1963, S. 11 (Orig. 1939).
72
Hans Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt a. M. 1987, S. 10.
73
Vgl. dazu Milena Wazeck, Einsteins Gegner. Die öffentliche Kontroverse um die Relativitätstheorie in den 1920er Jahren, Frankfurt a. M. / New York 2009.
74
Zur Logik des traditionellen Weltbildes siehe Günter Dux, Historisch-genetische Theorie der Kultur. Instabile Welten – Zur Prozessualen Logik im kulturellen Wandel, Wiesbaden 42017, S. 86 ff. (Orig. 2000).
75
Hannah Arendt, »Truth and Politics«, in: Peter Baehr (Hrsg.), The Portable Hannah Arendt, New York 2000, S. 545–575, hier: S. 555 (Orig. 1967).
76
Roger A. Pielke Sr. [u. a.], »Unresolved Issues with the Assessment of Multidecadal Global Land Surface Temperature Trends«, in: Journal of Geophysical Research 112 (2007) H. D24, unter: https://doi.org/10.1029/2006JD008229.
77
Die empirischen Befunde sind in den folgenden beiden Publikationen dokumentiert: Souleymane Fall [u. a.], »Analysis of the Impacts of Station Exposure on the U. S. Historical Climatology Network Temperatures and Temperature Trends«, in: Journal of Geophysical Research 116 (2011), H. D14, unter: https://doi.org/10.1029/2010JD015146; Matthew J. Menne / Claude N. Williams Jr. / Michael A. Palecki, »On the Reliability of the U. S. Surface Temperature Record«, in: Journal of Geophysical Research 115 (2010), H. D11, unter: https://doi.org/10.1029/2009JD013094.
78
Vgl. Gil Eyal, The Crisis of Expertise, Cambridge 2019, S. 138 f.
79
Vgl. dazu Ragnar E. Löfstedt / Ortwin Renn, »The Brent Spar Controversy. An Example of Risk Communication Gone Wrong«, in: Risk Analysis 17 (1997) S. 131–136.
80
Winand von Petersdorff, »Viel Wind und dicke Schlitten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Dezember 2019, S. 22.
81
Vgl. Robert Putnam, Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community, New York 2000.
Würde man die Frage gestellt bekommen, in welcher Gesellschaft wir denn heute eigentlich leben, dürfte man mit einiger Sicherheit als Antwort erwarten: in der Wissensgesellschaft. Mit dieser Diagnose verbindet sich die Vorstellung, dass sich seit einigen Jahrzehnten ein gesellschaftlicher Strukturwandel vollzieht, der ähnlich bedeutsam ist wie der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft vor über 200 Jahren. Wissen, so die Erwartung, wird zur zentralen Triebfeder technologischer Innovation und wirtschaftlichen Wachstums und damit zum Garanten allgemeinen Wohlstands, kurz: zur zentralen Ressource spätmoderner Gesellschaften, wichtiger noch als Arbeit, Bodenschätze oder Kapital.
Klassische Beschreibungen der Wissensgesellschaft haben vor allem die Stabilisierungswirkung des Wissens, insbesondere wissenschaftlichen Wissens, hervorgehoben.1 Tatsächlich trägt Wissenschaft mittels Durchsetzung eines rationalistischen Weltbildes zur Stabilisierung der sozialen Ordnung bei, sorgt sie doch dafür, dass die Menschen – gleich welcher Klasse, Schicht oder Hautfarbe – in derselben Welt leben. Schließlich beziehen sie sich – wenngleich mit oftmals unterschiedlichen Absichten – auf dieselbe von der Wissenschaft entwickelte Infrastruktur von Fakten, Relevanzen und Evidenzen. Damit ergibt sich auf der Wissens- bzw. epistemischen Ebene ein Zusammenhalt, der – Stichwort Klassengesellschaft – auf sozialer Ebene fehlt.
Unsere Weltanschauung basiert auf Einsichten der Wissenschaft, und mit dem Siegeszug der modernen Wissenschaft etablieren sich neue Anforderungen an Logik, Vernunft und Konsistenz, die längst auch zur Richtschnur für unser alltägliches Denken und Handeln geworden sind. Versachlichung, Intellektualisierung des Lebens sowie die Vorherrschaft eines rechnerischen Kalküls: Schon Georg Simmel, einer der Gründerväter der Soziologie, hat dies als Kennzeichen der Moderne ausgemacht:
Der moderne Geist ist mehr und mehr ein rechnender geworden. Dem Ideale der Naturwissenschaft, die Welt in ein Rechenexempel zu verwandeln […] entspricht die rechnerische Exaktheit des praktischen Lebens […].2
Affekte und Leidenschaften haben natürlich auch weiterhin ihre Existenzberechtigung, aber nur in relativ eng abgezirkelten Bereichen. Wirklich ausleben können wir sie nur in Partnerschaft und Familie, ab und zu auch bei Sportveranstaltungen oder auf dem Oktoberfest.
In vielen gesellschaftlichen Bereichen jedoch stehen rationales Kalkül, Wissen und Expertise im Vordergrund. In der Politik wird wissenschaftliche Expertise als zentrale Legitimationsressource geschätzt, in der Wirtschaft gilt das Wissen (auch jenes der Konsumenten) als wichtigster Innovationsfaktor; in der Wissenschaft dreht sich sowieso alles um das Wissen, genauer gesagt: um die Produktion neuen Wissens, und im Bildungsbereich geht es nur am Rande um Persönlichkeitsentwicklung und soziales Lernen. Im Vordergrund steht die Vermittlung von (Lehrbuch-)Wissen. Entsprechend bildet (Experten-)Wissen die höchste Entscheidungsinstanz in vielen politischen Kontroversen. So stellt Wissen den wichtigsten Rohstoff gesellschaftlicher Reproduktion und sozialen Wandels in spätmodernen Gesellschaften dar.