Eduard von Keyserling: Im stillen Winkel / Nicky

 

 

Eduard von Keyserling

Im stillen Winkel

Nicky

Zwei Erzählungen

 

 

 

Eduard von Keyserling: Im stillen Winkel / Nicky. Zwei Erzählungen

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

William Merritt Chase, 1905-1907

 

ISBN 978-3-8430-8779-7

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-8710-0 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-8711-7 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Im stillen Winkel

Erstdruck: Velhagen und Klasings Monatshefte, 31. Jahrgang, 2. Band, 1916/1917

Nicky

Erstdruck: Die neue Rundschau 26, 1915.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Im stillen Winkel

Die Familie von der Ost ging, wie sie es gewohnt war, auf das Land hinaus. Sie wollte wieder die alte Villa beziehen, die drüben im Gebirge am Ende der Dorfstraße stand. Bruno von der Ost verließ für einen Tag die Bank, deren Direktor er war, um den Umzug der Familie zu leiten. Er war ein großes organisatorisches Talent und liebte es, diese Eigenschaft auch in den kleinen Angelegenheiten des Hauses und der Familie zu zeigen. Es machte ihm Vergnügen, in der Bahnhofshalle mitten unter Kisten und Körben zu stehen und den Trägern kurze Befehle zu erteilen. »Alles«, pflegte er zu sagen, »auch das Geringste, muß vernunftgemäß durchgeführt werden.« Später auf dem Bahnsteig ordnete er die Unterbringung des zahlreichen Handgepäcks an, dann mußte die Familie ihre Plätze einnehmen. Frau von der Ost, Tante Dina, der kleine Paul und die alte Marie, Pauls frühere Wärterin. Paul ließ seinen Vater nicht aus den Augen, es verursachte ihm ein seltsam aufregendes Wohlgefühl, die hohe, breitschultrige Gestalt zu betrachten, die graublauen Augen hinter den blanken Brillengläsern, der blonde Schnurrbart, der sachte im Winde flatterte, dazu die schnarrende, befehlende Stimme – all das war prachtvoll und erregend.

Nun war alles geordnet, Herr von der Ost stieg in den Wagen, und die Türe ward zugeschlagen. Durch das niedergelassene Fenster wurde noch ein Rosenstrauß hereingereicht, und ein lachendes Gesicht erschien: Hugo von Wirden war es, der Volontär der Bank, der Herrn von Ost zu besonderer Aufsicht empfohlen war. Der junge Mann war leichtsinnig gewesen und sollte in der Bank wieder ein ordentlicher Mensch werden. Paul lächelte, er mußte immer lächeln, wenn er dieses hübsche Gesicht mit den lustigen, braunen Augen und dem breiten, roten Munde sah. Paul liebte es, wenn Herr von Wirden zu ihnen kam, es wurde dann gleich so heiter, Mama lachte soviel, Herr von Wirden neckte Tante Dina, Paul, und selbst die alte Marie. »Er ist hübsch«, sagte einmal Paul zur alten Marie, »er hat ein hübsches, unartiges Gesicht.«

»Wie schön die Familie hier verfrachtet ist«, rief Herr von Wirden in den Wagen hinein. »Glückliche Reise! Ich komme bald nach.« Frau von der Ost nahm die Rosen in Empfang und beugte sich nahe auf sie nieder. »Wie sie duften!« sagte sie.

»Noch gibt es keinen Urlaub«, meinte Herr von der Ost.

»Ich weiß, ich weiß«, entgegnete Wirden; »daß Sie auch immer an die Ketten erinnern müssen, lieber Direktor! Gleichviel, ich komme doch. Adieu.« Damit verschwand er.

»Ein Windhund«, bemerkte Herr von der Ost. Die alte Marie lachte. Der Zug setzte sich in Bewegung.

Paul drückte sich in seine Ecke. So war es gut. Sie saßen hier alle beisammen, und er fühlte sich geschützt und geborgen. Dieser Knabe hatte ein seltsam starkes Gefühl für die Unsicherheit unsres Daseins, er wußte nicht, was es war, aber er ahnte überall in der Welt dunkle Mächte, die ihm und denen, die er liebte, auflauerten. Wenn die Lebenslage einmal sicher und behaglich war, dann empfand er ein starkes Wohlgefühl. Er selbst war klein und schwächlich, er wurde »der kleine Paul« genannt, obgleich er schon über elf Jahre zählte, sein bleiches Gesicht hatte runde, kindliche Züge, die grauen Augen konnten in der Erregung hell werden wie Silber, das dichte, krause Blondhaar ließ seinen Kopf seltsam groß erscheinen.

Paul begann in seiner nachdenklichen Art die Gesichter seiner Angehörigen zu studieren. Zuerst das schmale, schöne Gesicht seiner Mutter; unter dem großen, gelben Sommerhut stahlen sich blonde Löckchen über die Stirn, die Lippen waren geschlossen, feine, sehr rote Striche, die sich an den Enden ein wenig hinaufbogen. Die grauen Augen waren ganz blank und die sonst blassen Wangen leicht gerötet. Es ergriff Paul stets, wenn seine Mutter erregte, blanke Augen und gerötete Wangen hatte, sie sah dann so jung und leicht verwundbar aus, und er fürchtete, jemand könnte ihr etwas zuleide tun. Das Gesicht der Tante Dina war für Paul stets ein interessanter Gegenstand der Beobachtung gewesen, es ging auf ihm soviel vor; all die Falten und Fältchen, die wunderliche Muster auf der Stirn und den Schläfen bildeten, die tiefen Augenhöhlen, der weiche, bewegliche Mund, die Härchen am Kinn, all das war merkwürdig genug. Das braune Gesicht der alten Marie mit den kleinen, wie mit dem Messer hineingeritzten Falten, den trübblauen, schläfrigen Augen war Paul bekannt und vertraut wie seine Kinderstube. Endlich galt es, den Vater anzusehen, und das war gefährlich, denn wie leicht konnten die stahlblauen Augen sich auch auf Paul richten, mit dem strengen, ein wenig unzufriedenen Blick. Paul wußte, er gefiel seinem Vater nicht, er gefiel ihm nicht, weil er klein und schwach war. Dennoch verursachte es Paul einen aufregenden Genuß, die hohe Stirn mit den zwei aufrechten Fältchen zu betrachten, die gerade Nase, das mächtige Kinn, die Haare an den Schläfen, die schon ein wenig grau wurden – alles das schüchterte Paul ein und gefiel ihm dennoch. Immerhin mußte es nicht gemütlich sein, Tag und Nacht mit solch einem Gesicht einherzugehen. Jetzt aber richteten sich wirklich die Augen hinter den Brillengläsern auf Paul, dieser wandte schnell den Kopf ab und schaute zum Fenster hinaus. Draußen regnete es, das Land war von einem Schleier kleiner, schräger Striche verhangen, die Telegraphenstangen rannten vorüber – eilig, eilig – das machte schläfrig. Paul bog den Kopf zurück und schloß die Augen, er konnte ja schlafen, hier war er in Sicherheit, nichts Bedrohliches stand in Aussicht, er freute sich auf die Villa, auf den Garten, die Schule war weit. Ja, die Schule, die war auch solch ein Ort der Gefahren. Nicht das Lernen machte Paul Mühe, nicht die Lehrer fürchtete er, sondern die Kameraden. Anfangs hatten sie ihn geneckt und gequält, jetzt beachteten sie ihn kaum mehr. Wenn in der Erholungspause alle in den Hof gingen, dann schlich auch Paul sich hinunter, er lehnte sich gegen eine Mauer und schaute zu, wie die anderen Jungen miteinander kämpften. Seine Augen wurden dann groß und blaß wie Silber und seine Hände kalt. Besonders dem langen Müller schaute er gern zu, er war der Stärkste. Wie mühelos er die anderen zu Boden schleuderte, wie er auf ihnen kniete und mit den Fäusten auf ihnen trommelte! Paul haßte ihn und bewunderte ihn. Zu Hause dann in seiner Kinderstube spielte er »stark sein«, ein Stuhl war der lange Müller, und er kämpfte mit ihm bis zur Ermattung. Nun, an diese Dinge brauchte er jetzt lange Zeit nicht mehr zu denken, er konnte ruhig schlafen.

Von dem Stoß des haltenden Zuges erwachte Paul, schlaftrunken blickte er auf. Um ihn her war es unruhig. Die Wagentür wurde geöffnet, Handgepäck wurde hinausgereicht, endlich stiegen alle aus. Auch Paul mußte hinaus. Auf dem Bahnsteig schien es ihm, als liefen viele Menschen erregt umher und schrien, auch die Stimme seines Vaters war vernehmbar, er ärgerte sich wohl, denn er sprach sehr laut. Ein Wagen stand bereit, Paul mußte hineinsteigen und sich zwischen Tante Dina und seine Mutter setzen, sein Vater und Marie saßen auf dem Rücksitz. So fuhren sie in das dämmerige Land hinaus. Der Direktor schalt noch ärgerlich auf die Kofferträger: »Auch in die einfachste Hantierung versteht dieses Volk keine Spur von Methode zu legen.«

»Sie haben soviel zu tun«, wandte Tante Dina ein, die stets verteidigte, wenn jemand getadelt wurde. Der Direktor jedoch winkte mit der Hand ab: »Da gibt es nichts zu verteidigen, diese Leute sind dumm und faul.«

Der Regen hatte aufgehört, die Luft war kalt und feucht, es duftete stark nach Heu, die Berge, groß und schwarz, schienen ganz nah, und weiße Wolken rannen an ihnen nieder. Dunkel standen die kleinen Häuschen am Rande der Wiesen, und struppige Hunde kläfften dem vorüberrollenden Wagen giftig nach. Das sonst so vertraute Tal erschien Paul heute fremd und unheimlich.

Endlich hielt der Wagen vor der Villa. Auch diese stand seltsam schwarz zwischen den schwarzen, nassen Bäumen. Die alte Bäuerin, welche im Winter die Villa hütete, und die beiden Mägde, Babette und Käti, erwarteten die Herrschaften vor der Haustür, sie lächelten alle drei zum Willkomm, als der Direktor jedoch rief: »Was, alles dunkel! Kein Feuer, kein Licht? Das ist ein schöner Empfang!« da machten sie erschrockene Gesichter. Dann stieg man aus. Im großen, finsteren Flur war es auch kalt und feucht und roch nach Heu. Eine Treppe führte zu den Zimmern hinauf, erregt rannten die Mägde hin und her. Paul stand mitten in dem großen, ein wenig niedrigen Wohnzimmer, durch die offenen Türen fegte eine scharfe Zugluft herein, polternd wurden im Flur die Koffer abgeladen, und gereizte Stimmen riefen einander zu. Paul stand regungslos da und verzog sein Gesicht, als wollte er weinen. Erst als es um ihn stiller wurde, als die Türen geschlossen waren und Käti die Hängelampe angezündet hatte, begann er langsam mit von der Fahrt ein wenig steifen Beinen im Zimmer umherzugehen, er besah sich nachdenklich die Möbel, strich mit der Hand über sie hin. »So geht es immer«, dachte er, »fährt man am Ende des Sommers fort, dann sind die Möbel gute alte Kameraden geworden, von denen zu scheiden es einem weh tut, und kommt man das nächste Jahr wieder, dann stehen sie wieder steif und tot da, als habe man sie nie gekannt.« Er ging zu dem Tisch und öffnete das Schubfach: wirklich, da lag ein kleiner Papiersoldat, der vorigen Sommer wohl hier vergessen worden war. Er trug rote Hosen und einen blauen Rock und hatte ein ganz rosa Gesicht. »Der Arme«, dachte Paul, »den ganzen Winter hat er hier in Kälte und Dunkelheit ganz allein gelegen.« Ein großes Erbarmen mit dem kleinen Soldaten ergriff ihn, er nahm ihn steckte ihn hinter seine Weste, dort sollte er warm werden.

Als Paul sich umwandte, sah er seine Mutter auf dem Sofa sitzen, sie hüllte sich in einen Schal und drückte sich fröstelnd in die Sofaecke. Ihr Gesicht war bleich, und sie schaute sinnend vor sich hin. »Komm, mein Junge«, sagte sie und zog Paul zu sich heran. Sie hüllte ihn in ihren Schal: »Du frierst?« meinte sie; »du denkst wohl, hier ist es unbehaglich und vielleicht etwas traurig, weil es hier kalt ist, und weil alle so unruhig hin und her laufen, weil der Regen wieder an die Fensterscheiben klopft, die Berge so schwarz zu den Fenstern hereinschauen, und unten im dunklen Dorf die fremden Hunde bellen. Aber es braucht nicht unbehaglich und traurig zu sein, wenn wir nicht wollen, wir können sagen: wir frösteln ein wenig, aber wir freuen uns auf die Wärme, die das Ofenfeuer gleich geben wird; der Regen singt gemütlich vor den Fenstern, die Berge stehen um uns her wie eine schützende Mauer, Tante Dina geht ab und zu und raschelt mit Papier, und unten im Dorf sitzen gute Hunde, sie bellen ein wenig, sie wollen miteinander sprechen, denn sie sind untereinander gut bekannt – nein, wenn wir nicht wollen, ist es nicht unbehaglich und traurig.«

Paul schaute lächelnd zu seiner Mutter auf. Wirklich, ihre Worte machten, daß alles gleich besser wurde. Die feuchten Scheite im Ofen begannen zu prasseln, Käti schloß die Fensterläden und deckte den Tisch für das Abendessen, und von der Küche nebenan klang die bekannte Stimme der alten Marie herüber, sie erzählte der Köchin etwas, nun lachten sie sogar miteinander.

Jetzt trat auch der Vater in das Zimmer. Er schien gar nicht mehr ärgerlich zu sein, er streckte sich in einem Sessel aus, rieb sich die Hände und sagte: »Hier sieht es ja wieder menschlich aus. Ich habe den Rotwein auspacken lassen, an dem wollen wir uns erwärmen. Ich spüre einen tüchtigen Hunger – aha, ich höre schon, wie nebenan in der Küche die Koteletts in der Pfanne miteinander zanken.« Dabei lächelte er und schaute Paul an, das war ermutigend. Dann erzählte er Neuigkeiten aus dem Dorf, die er vom Hausknecht erfahren hatte: Major Welker war hier mit Familie, ein neues Wirtshaus wurde gebaut, ein Mann im Steinbruch war verunglückt. Tante Dina hielt in ihren Gängen durch die Zimmer inne, hörte gespannt zu und sagte: »Ach Gott, was nicht alles geschieht!«

Endlich kam das Essen, Paul aß mit Appetit. »Seltsam«, dachte er, »das Essen schmeckt hier anders als in der Stadt. In den Koteletts ist etwas von der scharfen Luft der Berge, von dem Duft der Wiesen drin.« Das halbe Glas Rotwein, das er bekam, erwärmte ihn, er gab nicht acht darauf, was die Erwachsenen sprachen, es tat ihm jedoch wohl, daß ihre Stimmen friedlich und beruhigt klangen.

Als das Abendessen beendet war, setzten Paul und seine Mutter sich wieder in ihre Sofaecke, der Direktor zündete eine Zigarre an, und Tante Dina nahm ihr Strickzeug zur Hand. Sie sprachen von dem Wetter in früheren Sommern, von früheren Sommergästen und endlich von den Preisen der Lebensmittel. Es war nicht zu leugnen, daß die Preise mit jedem Jahre in die Höhe gingen. »Das ist nicht zu ändern«, meinte der Direktor, »doch habe ich diesen Umstand, wie immer, auch dieses Jahr in meinem Voranschlag für den Sommeraufenthalt berücksichtigt. Daher hoffe ich, daß es dieses Jahr stimmen wird.« Dabei sah er seine Frau durch die Brillengläser scharf an.

Diese jedoch antwortete leichthin: »Ach, es wird gewiß nicht stimmen.«

»Warum wird es nicht stimmen?« fragte der Direktor mit einer unterstrichenen Ruhe, die zeigte, daß er eine Gereiztheit unterdrückte. »Weil es nie stimmt«, antwortete seine Frau. »Wenn es bisher nicht gestimmt hat«, versetzte der Direktor, und er sprach die Worte langsam und scharf aus, »dann lag das offenbar nicht am Voranschlage.«

»Nein, nein«, meinte Frau von der Ost, »es lag natürlich an mir.«

»Also«, fuhr der Direktor fort, »und ich wünsche, daß sich das ändert. Wenn man Jahre hindurch an denselben Ort zurückkehrt, so lehrt die Erfahrung doch, wieviel man an diesem Ort nötig hat, um zu leben. Oder setze ich vielleicht zu wenig an?«

»Ach nein«, erwiderte Frau von der Ost, »es ist gewiß genug. Aber wenn ich alles anschreiben muß, dann stimmt es eben nicht. Ich könnte vielleicht mit weniger auskommen, wenn ich nicht anschreiben müßte. So aber würde es auch nicht stimmen, wenn ich eine Million hätte.«

»Irene«, rief der Direktor und schlug mit den Fingerspitzen hart auf den Tisch, »du solltest dich schämen, etwas so Widersinniges zu sagen!«

Seine Frau jedoch lachte. Paul schaute zu seiner Mutter auf. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen blank und feucht, und das Lachen gab ihrem Gesicht einen gequälten Ausdruck. »So bin ich nun einmal«, sagte sie. »Es ist schade, daß, als wir uns verlobten, ich nicht bei dir ein Examen im Rechnen abgelegt habe.«

»Irene«, rief wieder der Direktor, »ich bitte dich, über ernste Dinge auch ernst zu sprechen. Dein Widerwille gegen Zahlen, also gegen Ordnung und Klarheit, ist mir unbegreiflich, denn Zahlen sind Ordnung und Klarheit. Sie sind unser geistiges Gewissen, unsere geistige Reinlichkeit. Wenn ich meine Verhältnisse zahlenmäßig überblicken kann, dann habe ich einen Boden unter den Füßen.«

»Und ich finde«, meinte Frau von der Ost, »Zahlen sind wie zu enge Schuhe, sie verderben uns das Leben. Mir kommt es vor, als ob jede Zahl, die ich in das Anschreibebuch hineinschreibe, mir ein gutes Stück Geld wegfrißt.«

Der Direktor erhob sich und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Unglaublich«, seufzte er. »Aber das ist es, nur nicht klar sehen! Lieber im Dunkel tappen aus Furcht, einer unangenehmen Wahrheit zu begegnen! Über alles wegschlüpfen, wegtänzeln, wegträllern, alles vertuschen – so wird aber auch aller Ernst, alle Wahrheit aus dem Leben weggetänzelt und weggeträllert!«

Der Direktor hatte sehr laut gesprochen. Tante Dina beugte ihren Kopf tief auf das Strickzeug nieder, Paul saß da, die Hände kalt vor Erregung. »Du wußtest ja, wie ich bin«, begann Irene von der Ost wieder, und ihre Stimme zitterte. »Du wußtest ja, daß ich keine Rechenmaschine bin.«

»Jetzt noch Tränen, natürlich! Das ist dann der letzte Beweis ...« Doch plötzlich hielt er inne, sah Paul scharf an und sagte: »Warum bist du nicht im Bette? Was sitzt du hier? Längst solltest du im Bett sein.«

Erschrocken erhob sich Paul, ging von einem zum andern, um eine gute Nacht zu wünschen; als seine Mutter ihn küßte, spürte er, daß ihr Gesicht feucht von Tränen war. Dann schlich er in sein Zimmer, seine Beine zitterten, sein Herz klopfte stark, und er hatte das Gefühl, daß etwas Furchtbares sich ereignete.

Während er sich langsam entkleidete, dachte er immer wieder: »Was wird er ihr tun? Sie weint. Wie soll ich sie schützen? Fliehen müssen wir, sie und ich!« Aber es wurde ihm unerträglich, in dem ihm fremd gewordenen Zimmer allein zu sein mit seinem Kummer. Er öffnete die Tür und rief Marie, sie sollte ein wenig bei ihm sitzen. Marie kam und saß mit ihrem Strickstrumpf bei der Lampe. Es freute die Alte stets, wenn Paul in die Gewohnheiten seiner früheren Jugend verfiel. Er aber kroch ein wenig beruhigt in sein Bett, er war sehr müde, dennoch dachte er immer wieder: »Fliehen müssen wir, fliehen vor ihm –«, bis der Gedanke zum Traum wurde, bis er die lange, gelbe Landstraße sah, seine Mutter und er liefen auf ihr hin, sie liefen und liefen, bis sie in den Nebeln des Traumes verschwanden. Paul schlief jetzt ruhig und traumlos. Auf seiner Brust aber lag der kleine Papiersoldat und wärmte sich.