Inhalt

  1. Cover
  2. Über die Autorin
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Widmung
  6. Zitat
  7. Karten
  8. Teil I – Mauern aus Raum und Zeit
  9. Kapitel 1
  10. Kapitel 2
  11. Kapitel 3
  12. Kapitel 4
  13. Kapitel 5
  14. Kapitel 6
  15. Kapitel 7
  16. Kapitel 8
  17. Kapitel 9
  18. Kapitel 10
  19. Teil II – Der Schatten des Ehrenbreitsteins
  20. Kapitel 11
  21. Kapitel 12
  22. Kapitel 13
  23. Kapitel 14
  24. Kapitel 15
  25. Kapitel 16
  26. Kapitel 17
  27. Kapitel 18
  28. Kapitel 19
  29. Kapitel 20
  30. Kapitel 21
  31. Kapitel 22
  32. Kapitel 23
  33. Kapitel 24
  34. Kapitel 25
  35. Kapitel 26
  36. Kapitel 27
  37. Teil III – Der Stein der Ehre
  38. Kapitel 28
  39. Kapitel 29
  40. Kapitel 30
  41. Kapitel 31
  42. Kapitel 32
  43. Teil IV – Verlorene Verräter
  44. Kapitel 33
  45. Kapitel 34
  46. Kapitel 35
  47. Kapitel 36
  48. Kapitel 37
  49. Kapitel 38
  50. Kapitel 39
  51. Kapitel 40
  52. Kapitel 41
  53. Kapitel 42
  54. Kapitel 43
  55. Kapitel 44
  56. Teil V – Der Duft der Freiheit
  57. Kapitel 45
  58. Kapitel 46
  59. Kapitel 47
  60. Kapitel 48
  61. Kapitel 49
  62. Kapitel 50
  63. Epilog
  64. Nachwort
  65. Glossar
  66. Die Figuren der Handlung
  67. Historische Persönlichkeiten
  68. Dank
  69. Auf den Spuren von Franziska und Rudolph – Reise- und Stöbertipps

Über die Autorin

Maria W. Peter entdeckte bereits zu Schulzeiten ihr Interesse an Literatur und Geschichte. Sie hat Amerikanistik, Anglistik und Romanistik sowie Klassische Archäologie und Alte Geschichte studiert. Nach einem Fulbright-Stipendium an der School of Journalism in Columbia/Missouri hat sie ihren ersten historischen Roman geschrieben. Heute ist sie als freie Autorin tätig und pendelt zwischen dem Rheinland und dem Saarland.

Besuchen Sie die Autorin auch auf ihrer Homepage:
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oder auf Facebook:
www.facebook.com/mariawpeter

Maria W. Peter

DIE
FESTUNG
AM RHEIN

Historischer Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

 

Für meinen Vater

 

Wer sich als Kundschafter von dem Feinde brauchen lässt,
oder demselben Operationspläne, Festungsrisse,
oder andre dergleichen Nachrichten und Urkunden mitteilt,
durch welche derselbe instand gesetzt wird,
dem Staate zu schaden,
wird mit dem Galgen bestraft.(…).
Ein (…) Landesverräter soll zum Richtplatze geschleift,
mit dem Rade von unten herauf getötet,
und der Körper auf das Rad geflochten werden.

Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten

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TEIL I – MAUERN AUS RAUM UND ZEIT

Denkst du des Schlosses noch auf stiller Höh?
Das Horn lockt nächtlich dort, als ob’s dich riefe,
Am Abgrund grast das Reh,
Es rauscht der Wald verwirrend aus der Tiefe –
O stille, wecke nicht! Es war als schliefe
Da drunten ein unnennbar Weh.

Aus: »Die Heimat«, Joseph von Eichendorff

 

Zwischen Waterloo und Belle-Alliance, 18. Juni 1815

Nacht senkte sich über das Schlachtfeld, das sich wie ein Friedhof um ihn herum erstreckte. Ein nicht enden wollender Leichenhügel, aus dem sich das Wimmern und Stöhnen derer erhob, die dort inmitten der Toten lagen, zwischen Leben und Sterben, dem Grauen der Hölle.

Der Donner der Kämpfe dröhnte noch immer in seinen Ohren und vermischte sich mit den Schreien der Verletzten und Sterbenden, dem Rauschen seines Blutes, dem Rhythmus der Hufe unter ihm. Vorsichtig zog er das Pferd am Zügel, ließ es in einen langsamen Schritt fallen, als erlaube es der Rest des ihm verbliebenen Anstandes nicht, derart achtlos an den Gefallenen und Verwundeten vorbeizureiten. So weit wie möglich hielt er sich im Schatten, obgleich ihm auch das keinen wirklichen Schutz davor bieten würde, womöglich noch von einer verirrten Kugel getroffen zu werden.

Oder von einem gezielt abgefeuerten Geschoss.

Einer Betäubung gleich legte sich Gefühllosigkeit über ihn, während sich in seinem Kopf die Bilder des Tages mit dem Anblick vermengten, der sich ihm jetzt bot. Schon hatten Plünderer sich aufgemacht, im Dunkel der Nacht das Gelände zu durchstreifen, die Toten ebenso zu berauben, wie diejenigen, die zwar verwundet waren, aber noch atmeten.

Noch …

Wenn der nächste Morgen über diesen Landstrich Brabants heraufziehen würde, wären die wenigsten von ihnen noch am Leben. Dafür würden nicht nur die unbehandelten schweren Wunden sorgen, sondern auch umherstreunende Soldaten, die mit dem Bajonett vielen ihrer Gegner den Todesstoß versetzten – aus unversöhnlichem Hass oder vielleicht auch aus Barmherzigkeit.

Er schluckte hart, schüttelte mit einer energischen Geste das Entsetzen ab, das ihn bei dieser Vorstellung überfiel.

Es war vorbei! Der Krieg, der Europa seit über zwanzig Jahren in seinen Klauen gehalten hatte, war vorüber. Hier auf diesen schlammigen Feldern hatte er sein Ende gefunden. Der Kaiser der Franzosen war geschlagen, vom nächsten Tag an wäre die Welt eine andere, Europa hätte ein neues Gesicht – zumindest glaubte man das im Lager der Briten, wo im Freudentaumel der Sieg gefeiert wurde, während rings umher Menschen aller Nationen unter Stöhnen, Schreien und Fluchen ihren Verletzungen erlagen.

Mit festem Schenkeldruck trieb er sein Pferd zu einer schnelleren Gangart an. Er wusste es besser: Nichts war vorbei. Schon einmal schien Napoleon Bonaparte endgültig geschlagen. Und doch war es ihm gelungen, sich wie ein Phönix aus der Asche wieder zu erheben.

Das Pferd fiel in einen leichten Galopp, dann preschte es davon, weiter, Richtung Süden, Richtung Grenze. Noch bestand eine Möglichkeit, dass die überlebenden Soldaten des französischen Kaisers sich ein weiteres Mal sammeln, ihre Kräfte bündeln und noch einmal gegen die nunmehr vereinigten Heere der Briten und Preußen marschieren würden. Grimmiger als zuvor, wie ein verwundetes Raubtier, das man in die Enge getrieben hatte.

Dieser Gedanke ließ sein Herz schneller schlagen, das Blut in seinen Adern pulsieren. Die nächtliche Landschaft flog an ihm vorbei, während die Hufe des Pferdes die weiche Erde aufwirbelten.

Es war die Nacht der letzten Entscheidung.

Die Gelegenheit für ihn, den Auftrag zu erfüllen, den man ihm anvertraut hatte. Er würde nicht versagen.

Die Müdigkeit war wie weggeblasen, als er sich dichter über den Hals des Pferdes beugte, wie ein Pfeil mit ihm durch die Nacht schoss, die Schrecken des Schlachtfeldes weit hinter sich ließ.

Ein Knall zerriss die Stille, Schmerz jagte durch seinen Körper und explodierte in seinem Kopf. Er konnte nicht mehr atmen, die Zügel entglitten seinen Händen.

Und er stürzte in tiefe Dunkelheit.

KAPITEL 1

Coblenz, Juni 1822

Blutrot stand die Sonne am westlichen Horizont, der sich bis tief hinein in die Eifel erstreckte. Ein milder Wind wehte von Mosel und Rhein her. Beinahe mutwillig zerrte er an ihrem Rock, den Bändern ihrer Schute und kühlte zugleich ihr Gesicht, das vor Erregung erhitzt war.

Ein Grüppchen Soldaten kreuzte ihren Weg. Die Männer bedachten sie mit anzüglichen oder herablassenden Blicken. Franziska ignorierte beides und eilte weiter.

Ich muss dich umgehend sehen. Heute Abend noch. Es ist wichtig.

Mehr hatte er ihr nicht mitgeteilt auf dem kleinen, fleckigen Zettel, den ein schmutziger Straßenjunge ihr überbracht hatte. Ein unbehagliches Gefühl überkam sie. Was konnte nur vorgefallen sein, das so wichtig war, dass er sich davor scheute, es zu Papier zu bringen?

Ihre Schritte beschleunigten sich, als sie das Generalkommando des VIII. Armeecorps passierte und die eng bebaute Castorgasse hinter sich ließ. Der Schein der Abendsonne lag über der Stadt und tauchte die zweitürmige, dem Heiligen Castor geweihte Kirche und das Deutschherrenhaus in warmes rötliches Licht. Der verblasste Glanz einer Epoche, in welcher die Trierer Kurfürsten gleichzeitig als geistliche und weltliche Herrscher hier in Coblenz residiert hatten. Eine Zeit, die vom Mittelalter bis hin zu jenem Tag reichte, als die französischen Truppen die Grenzen überquerten, um auch den deutschen Fürstentümern die Ideen ihrer Revolution zu bringen – und den Krieg.

Der Anblick des Rheins, der majestätisch vor ihren Augen vorbeizog, ließ Franziska kurz innehalten. Geblendet von dem Licht, das von den Wellen reflektiert wurde, blinzelte sie. Dann lief sie atemlos ein Stück am Fluss entlang, bis sie die von Schiffskörpern getragene Pontonbrücke erreichte, welche die Stadt Coblenz mit dem gegenüberliegenden Rheinufer und dem gewaltig aufragenden Felsplateau des Ehrenbreitsteins verband.

Schweigend passierte sie die dunkel uniformierten Wachposten und blickte zur anderen Seite hinüber. Ihre Augen streiften dabei die barocke Fassade der Münzkaserne, die zur kurfürstlichen Zeit als Verwaltungsbau gedient hatte und nun vom preußischen Militär genutzt wurde. Wie eine mahnende Erinnerung an eine frühere Zeit erstreckte sie sich mitsamt der prächtigen Stallungen entlang des rechten Ufers, unterhalb des Ehrenbreitsteins, wo gerade auf den Ruinen der ehemals kurfürstlichen Feste eine neue, eine preußische Zitadelle errichtet wurde.

Etwas seltsam Bedrohliches schien in der Luft zu liegen, schwer und dicht wie die Schwüle vor einem Gewitter. Alle Muskeln ihres Körpers spannten sich an, etwas in ihrem Inneren schrie Gefahr!, und trotz der angenehmen Abkühlung, die der Abend brachte, spürte Franziska, wie feiner Schweiß ihre Wirbelsäule hinabrann und vom Stoff ihres abgetragenen Kleides aufgesogen wurde.

Vereinzelt kamen Soldaten über die Brücke, einige langsam und schwerfällig, andere ausgelassen und mit flottem Schritt, als wären sie bereits von der bloßen Vorstellung, nun bald in das nächste Wirtshaus einkehren zu können, berauscht. Manch einer von ihnen ließ seinen Blick eine Weile auf Franziska ruhen, als wolle er abschätzen, ob sie zu den Frauen gehörte, die sich gegen Geld an die hier einquartierten Militärs verkauften, um den Dienern seiner Majestät manch schöne Stunde zu bereiten. Einer der Männer sprach sie an. Ein zweiter versuchte sogar, ihren Unterarm zu greifen, doch ihr abweisendes Gesicht, ihre starre, unnachgiebige Haltung ließ ihn schnell in seinem Eifer erlahmen.

Gerade, als Franziska schon fürchtete, umsonst gekommen zu sein, sah sie ihn. Hinter zwei Kameraden kam er über die Schiffsbrücke. Das satte Berliner Blau seines Uniformrocks über der weißen Hose brannte in Franziskas Augen. Sein Gesicht war verschmutzt, seine Haare, die unter der Mütze hervorlugten, waren staubbedeckt und zerzaust. An seinem schleppenden Gang erkannte sie, wie erschöpft er war.

Als er das Ende der Brücke erreicht hatte, passierte er den Mautposten und trat ans Ufer. Dort blieb er einen Moment stehen und sah sich suchend um. Dann entdeckte er sie. Ihre Blicke trafen sich, und ein Lächeln erhellte sein Gesicht. Aufrichtig, aber ein wenig traurig.

Eine tiefe Wärme durchflutete Franziska, gefolgt von einem Gefühl der Besorgnis. Mit klopfendem Herzen eilte sie auf ihren Bruder zu, stand ihm gegenüber. Ihre Hand glitt in seine, dann beugte er sich vor, hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Ein kurzer Moment der Vertrautheit, trotz der preußischen Uniform, die wie ein Fremdkörper an ihm wirkte.

Noch immer.

Schließlich schob sie ihn eine Armeslänge von sich, um ihn zu mustern. Er hatte die gleichen schwarzen Locken wie sie, die gleichen feinen Gesichtszüge mit hohen Wangenknochen. Es war unverkennbar, dass sie Geschwister waren. Nur waren Christians Augen so dunkel wie die ihres Vaters, der aus dem südlichen Frankreich stammte, sie selbst dagegen hatte die hellen Augen ihrer Mutter geerbt.

»Fanchon.« Der Tonfall, mit dem er ihren französischen Kosenamen aussprach, klang erleichtert, fast wie ein Aufatmen. »Schön, dass du kommen konntest.«

»Du kannst dich immer auf mich verlassen.«

»Daran würde ich nie zweifeln.«

Franziskas Zunge strich über ihre trockenen Lippen, bevor sie die Frage stellte, die sie bereits den ganzen Tag umgetrieben hatte. »Was ist geschehen. Weshalb …?«

»Sch … nicht hier.« Mit einer knappen Bewegung des Kopfes schnitt Christian ihr das Wort ab.

»Hast du Hunger?« Die Anspannung ihres Bruders bereitete Franziska mehr Sorgen, als sie ihm zeigen wollte. »Möchtest du irgendwo einkehren?«

Heftig schüttelte er den Kopf. »Nein, ich habe den ganzen Tag auf der Baustelle verbracht, ich brauche jetzt saubere Luft und … den freien Himmel.«

»Sollen wir lieber hierbleiben, am Rhein?«

Ein kurzer, gehetzter Blick über die Schulter, als fürchtete er, verfolgt zu werden. Dann nickte Christian. »Ja. Lass uns ein Stück spazieren gehen.«

Rasch hatte er sie am Arm gefasst und sich flussaufwärts gewandt. Ihre Unruhe steigerte sich bei jedem Schritt, den sie am Rhein entlanggingen. Sie wollte Christian festhalten, ihn fragen, was los sei, weshalb er so dringlich nach ihr geschickt hatte, aber sie schwieg. So gut kannte sie ihn, dass sie wusste, er würde erst reden, wenn er dazu bereit war. So war er immer schon gewesen, ihr kleiner Bruder. Still, nachdenklich, und nie ein unüberlegtes Wort zum falschen Zeitpunkt. Ganz anders als sie selbst, bei der die Zunge bisweilen schneller war als die Vernunft.

Endlich hatten sie eine ruhige Stelle erreicht und blieben unweit der Baustelle vor dem ehemals kurfürstlichen Schloss stehen, wo gerade ein Teil der neuen Stadtbefestigung errichtet wurde. Das Ufer davor war jedoch noch unverbaut, ein paar Fischer hatten dort ihre Netze zum Trocknen ausgespannt. Gleichmäßig und glitzernd zog der Rhein wie ein breites, endloses Band an ihren Augen vorbei. Lastschiffe, Kähne und kleine Fischerbote schaukelten, für die Nacht in Ufernähe vertäut, auf dem Wasser. Einen Moment musste Franziska die Lider schließen, so sehr blendeten sie die kleinen goldroten Flammen, die auf den Wellen züngelten und das Licht der Abendsonne widerspiegelten.

Stumm hatte Christian sich ins Gras gesetzt, zog sie zu sich herunter. Nun starrte er regungslos auf die Wasseroberfläche, als sähe er darin etwas, das nur er wahrnehmen konnte oder als suche er nach den richtigen Worten, um von dem zu sprechen, was ihn bewegte.

Franziska konnte nicht verhindern, dass ihr Herz heftig zu klopfen begann. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf seinen Unterarm. »Christian, was ist?«

Ruckartig wandte er sich ab.

»Ist etwas vorgefallen? Gab es … gab es wieder Ärger? Hat man dich kujoniert wegen deiner … wegen unserer Herkunft?«

Er schwieg weiterhin.

»Wurdest du schlecht behandelt?« Franziskas Mund wurde trocken, wenn sie daran dachte, was ihr Bruder durchzustehen hatte, seit ihr Onkel dafür gesorgt hatte, dass er auch tatsächlich als Wehrpflichtiger eingezogen wurde. Nicht nur die alltägliche Härte, Willkür und Disziplin, sondern auch den Spott und die Verhöhnung, weil er der Sohn eines französischen Offiziers war. Dazu noch eines gefallenen Offiziers, eines Mannes, der sieben Jahre zuvor in der entscheidenden Schlacht von Belle-Alliance sein Leben für den Kaiser von Frankreich geopfert hatte. »Hat Feldwebel Bäske dich wieder …«

Heftig fuhr er herum. »Was weißt du von unserer Mutter?«

Franziska blinzelte überrascht. »Von unserer Mutter, wieso?«

»Hattest du in der letzten Zeit irgendeinen Kontakt zu ihr?« Seine Stimme klang gepresst.

»Natürlich.« Verwirrt schüttelte Franziska den Kopf. »Das heißt, ich hab ihr geschrieben. Du weißt doch, dass ich, wenn immer möglich, einen Brief nach Cöln schicke. Aber warum …« Als sie flussabwärts schaute, sah sie, dass drei Uniformierte in ihre Richtung kamen. Unwillkürlich verkrampfte sie sich. Was sie mit ihrem Bruder zu besprechen hatte, ging nur ihn und sie etwas an. Sie brauchten keine Zuhörer.

»Also, warum fragst du nach Maman?« Sie hatte die Stimme gesenkt.

Christians Blick flackerte. »Unser Vater … nun …« Er schluckte. »Was weißt du über seinen Tod?«

»Seinen Tod?« Franziska flüsterte. »Das, was Maman uns damals erzählt hat. Und … Was ist?« Sie spürte, wie ihre Hände feucht wurden.

Ihr Bruder wandte den Blick ab, sah zum gegenüberliegenden Rheinufer und schwieg. Die Soldaten waren näher gekommen, ihre Schritte knirschten leise auf dem Untergrund von Gras und Kies.

»Christian, qu’est-ce qu’il y a?« Sanft strich Franziska ihm über die Wange.

Endlich sah er sie wieder an, und ein gequälter Ausdruck stand in seinem Gesicht. »Der Krieg, damals, diese Schlacht …« Tief atmete er ein, als wappne er sich. »Womöglich gibt es Dinge, die …«

»Da ist der Verräter!« Wie ein Pistolenschuss krachte der Satz über das abendliche Rheinufer, zerriss die angespannte Stimmung und ließ Franziska auffahren.

Die drei Uniformierten, die sie zuvor nur am Rande wahrgenommen hatte, eilten auf sie zu. Noch ehe sie verstand, was geschah, hatte der Erste sie erreicht und legte Christian die Hand auf die Schulter.

»Pionier Berger, Sie sind verhaftet wegen Diebstahls und Geheimnisverrats.«

Einen Moment lang schien Christian wie vom Donner gerührt und keiner Bewegung fähig. Doch dann kam wieder Leben in ihn. Er stieß den Soldaten mit einem Ruck zur Seite und rannte los.

Die anderen beiden schnitten ihm den Weg ab, ergriffen ihn und warfen ihn zu Boden. Sie rissen ihm die Arme auf den Rücken und begannen, ihn mit einem festen Strick zu fesseln.

Das alles war so schnell gegangen, dass Franziska vor Schreck wie gelähmt war, unfähig, etwas zu sagen oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Dann aber packte sie den Mann, der ihr am nächsten stand, am Arm. »Was tun Sie da? Lassen Sie ihn los!«

Ruckartig drehte sich dieser zu ihr um und stieß sie dabei mit einer solchen Wucht von sich, dass sie beinahe gestürzt wäre. »Wagen Sie es nicht, Fräulein!«, knurrte er. Der Blick, den er ihr zuwarf, war bedrohlich. »Und was Ihren Liebsten da angeht, der kann sich auf eine schöne blanke Kugel gefasst machen. Am besten, Sie verabschieden sich schon mal von ihm.«

Fassungslos starrte Franziska ihn an. »Was hat das alles zu bedeuten? Was wollen Sie von ihm?« Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie die beiden anderen Christian auf die Füße zerrten.

»Ihr Liebesdiener hier hat einige brisante Informationen aus dem Bureau Capitain von Rülows geklaut und gegen klingende Münze an die Franzmänner verscherbelt …«

Franziska hörte, wie ihr Bruder bei diesen Worten scharf die Luft einsog, und ihr war, als würde der Boden unter ihren Füßen weggezogen.

»So ein Verhalten sieht man nicht gerne bei uns, Fräulein. Ihr werter Herzensfreund wird sich dafür also verantworten müssen. Einen schönen Tag noch.«

Mit diesen Worten gab er den beiden anderen einen Wink, Christian abzuführen. Eisige Panik schlug über Franziska zusammen. »So etwas hat er niemals getan!« Ungläubig und zitternd vor Wut, stolperte sie an dem Soldaten vorbei und versperrte ihm den Weg. »Mein Bruder ist kein Dieb!« Und etwas leiser fügte sie hinzu: »Und er ist auch kein Verräter.«

Ein kaltes Lächeln traf sie. »So, so, der Herr Bruder also. Na, wen kümmert’s? Und das andere wird der Auditor herausfinden, und der wartet nicht gerne. Also, los, aus dem Weg!«

Einen Augenblick blieb Franziska wie festgewachsen stehen. Ihr Atem ging heftig, ihr Herz schlug zum Zerspringen. Doch sie war nicht bereit, Christian diesen drei Kerlen zu überlassen. Schon gar nicht mit einer solch himmelschreiend falschen Anklage!

Gerade wollte sie ihre Röcke raffen, um zu den Männern aufzuschließen, als Christian sich umwandte. Fast unmerklich schüttelte er den Kopf, seine Augen fixierten sie. Lautlos formulierten seine Lippen das Wort non.

Geh nach Hause!, bedeutete er ihr stumm. Schnell, du kannst nichts ausrichten.

Wie von einem Schlag getroffen, fuhr Franziska zurück. Was in aller Welt ging hier vor? Noch ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, rissen die Soldaten ihren Bruder herum und zerrten ihn in Richtung Stadt.

Überrumpelt und völlig unschlüssig, was sie nun unternehmen sollte, sah sie ihnen nach, bis die Männer mit Christian hinter der halb errichteten Stadtmauer verschwunden waren.

*

Schweigend stand Premierlieutenant Rudolph Harten an der Schlucht. Das Gewicht auf das rechte Bein verlagert, den anderen Fuß auf einem Felsbrocken abgestützt, glitt sein Blick in die Tiefe – bis hinunter zu dem Fluss, der unbeirrbar und majestätisch weit unter ihm einherströmte – ein bleifarbenes Band, gesprenkelt von hellen Blitzen der Abendsonne. Dann schaute er hinüber zu der Stelle, wo von Südwesten her die Mosel in einem Bogen in den Rhein mündete. Auf dem fast rechtwinkeligen Dreieck zwischen den beiden Flüssen erhoben sich neben anderen alten Häusern, Klöstern und Resten der früheren, halb abgetragenen Stadtbefestigung auch mehrere zweitürmige Kirchen sowie das ehemalige Deutschherrenhaus, die erste Niederlassung des Deutschen Ordens im Rheinland, das neuerdings als Proviantmagazin genutzt wurde.

All diese Gebäude, sie waren verblichene Symbole einer seit dem Mittelalter bestehenden Verbindung kirchlicher und staatlicher Macht – verkörpert durch einen Fürstbischof, der über Jahrhunderte das Land zwischen den Kurfürstentümern Cöln und Mainz, zwischen dem Herzogtum Luxemburg und der Kurpfalz regiert hatte, im Namen seines Kaisers, schlimmer noch, im Namen eines römischen Papstes. Eine Allianz zwischen Katholizismus und einer von den Bewohnern hier über Jahrhunderte hinweg mit der Muttermilch eingesogenen Tradition. Allein der Gedanke daran verursachte Rudolph Magengrimmen.

Das Licht der untergehenden Sonne wurde flammend von den alten Mauern und Bauwerken der Stadt reflektiert, während der restliche Himmel zu einem matten Grau erblasste.

Ein seltsames Land, dieses Rheinland, versponnen, voller Widersprüche, dabei urtümlich und kraftvoll. Trotz aller Vorbehalte von beiden Seiten würde Seine Majestät König Friedrich Wilhelm III. von Preußen nicht mehr darauf verzichten wollen, es als Teil seines Reiches zu besitzen. Verfügte es doch über den strategischen Vorteil, direkt an die Grenzen seines erbittertsten Gegners zu stoßen: Frankreich. Und wenn das Königreich Preußen seine hart erkämpfte Vormachtstellung in Europa nicht nur behalten, sondern weiter ausbauen wollte, tat es gut daran, diese Grenzen nicht aus den Augen zu verlieren.

Weder seine Grenzen noch die Bewohner dieses fast zwanzig Jahre lang zu Frankreich gehörenden und erst vor wenigen Jahren preußisch gewordenen Gebietes.

Die Rheinländer, im Herzen wein- und bierselige Katholiken, die einerseits nicht bereit waren, irgendeine Macht der Erde über die ihres Bischofs zu stellen, und in deren Köpfen andererseits noch immer revolutionäres Gedankengut herumspukte. Gefährliche Ideale wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, mit denen die französischen Truppen halb Europa zu überschwemmen versucht hatten. Dabei hatte es ihr Feldherr Napoleon Bonaparte mit den republikanischen Tugenden nicht immer so genau genommen und sich sogar selbst zum Kaiser gekrönt, zum Empereur. Es war nur rechtens, dass er gescheitert war. Wahre Macht konnte lediglich von einem legitimen Herrscher ausgehen, einem, der von Gottes Gnaden dazu auserwählt war. Früher oder später würden auch diese Sturköpfe am Rhein das endlich einsehen müssen. Und wenn nicht freiwillig, dann unter Anwendung von Gewalt. Schon hatte man damit angefangen, junge Männer aus den neuen Provinzen hier in den Dienst des preußischen Königs einzuberufen. Das waren zwar nur erste Schritte, dennoch war es der richtige Weg, diese und die nächste Generation dauerhaft an Seine Majestät zu binden, und zugleich an die Tugenden von Disziplin und Ordnung zu gewöhnen. Die Zukunft.

Lautlos ließ Rudolph Luft aus seinen Lungen entweichen. Hinter ihm erhob sich das Symbol dieser neuen Zeit. Die preußische Feste Ehrenbreitstein. Stein für Stein wuchs sie täglich weiter heran, zementierte den neuen Herrschaftsanspruch am Rhein, die neue Macht, die das vor ihnen liegende Jahrhundert zu beherrschen gedachte.

»Herr Leutnant!«, drang eine atemlose Stimme an sein Ohr. »Herr Leutnant!«

Sogleich war Rudolph wieder im Hier und Jetzt. Noch einmal glitt sein Blick über die Rheinebene und die glutrote Sonne, die unterdessen fast hinter dem Horizont versunken war. Dann straffte er sich und wandte sich dem Ankömmling zu, der sich ihm in schnellen Schritten näherte. Trotz der stechenden Schmerzen in seinem Bein – eine beständige Erinnerung an den letzten Krieg gegen Frankreich – stieg Rudolph behände über den felsigen, mit Gestrüpp überzogenen Hang. Kaum merklich hinkend ging er dem jungen Soldaten entgegen, der wenige Schritte vor ihm zum Stehen kam und pflichtschuldig salutierte.

»Erstatte Meldung, Herr Leutnant!« Das Gesicht des Burschen war gerötet, sein Atem ging stoßweise, als wäre er gelaufen. »Wir haben den Spion!«

Rudolphs Puls beschleunigte sich.

»Gerade wurde er gefasst und im Militärarresthaus festgesetzt. Erwarte Ihre Befehle, Herr Leutnant.«

Ein, zwei Atemzüge lang erwiderte Rudolph nichts. Er blickte über die Schulter des aufgeregten jungen Soldaten hin zu der im Bau befindlichen Feste, die ihm mehr bedeutete, als er auszudrücken vermochte – und er spürte die Gefahr, die über dieser schwebte. Dann wandte er sich ruckartig um. »Bring mich zu dem Gefangenen. Sofort!«

»Jawohl, Herr Leutnant.«

Und während er dem Soldaten den Weg hinab ins Tal folgte, fragte er sich, was er dort erfahren würde.

KAPITEL 2

»Et es einfach unfassbar! Völlig …« Hubert Kannegießer schnaubte wie ein Stier vor dem Angriff und suchte nach den richtigen Worten, um seiner Empörung Luft zu machen. »En Skandal!«

Mit zusammengepressten Lippen starrte Franziska auf ihre Fußspitzen, während ihr Onkel einem wild gewordenen Feldwebel gleich vor ihr auf und ab marschierte. Dabei polterte er so laut, dass selbst die faule Küchenkatze, die sonst gerne zu seinen Füßen herumstrich, bereits zu Beginn seiner Tirade fluchtartig die Kammer verlassen hatte.

»Aber hann ich et net immer gesagt? Schon damals, als ich euch zwei zu mir ins Haus gelassen hann. Franzosenbrut! Dat konnt ja nur Unglück bringen! Die Frucht dieser Unmoral in meinem ehrbaren …«, wieder fehlten ihm offenbar die Worte, »in meinem ehrbaren Hause aufzuziehen. Wat fier en Schand!«

Gerne hätte Franziska ihrem Onkel eine scharfe Antwort entgegengeschleudert. Unmoral! Schande … Wie sie es hasste, wenn er so über sie redete, über ihre Familie, ja schlimmer noch, über seine eigene Schwester, ihre Mutter. Skandal. Was verstand er denn schon davon? Ihre Mutter hatte ihren Vater aufrichtig geliebt. Ehrlich und hingebungsvoll bis zu seinem Tod. Und er hatte sie auch geliebt, ebenso ihre beiden gemeinsamen Kinder. Was war daran verwerflich, dass ihr Vater ein französischer Offizier gewesen war, den es mit den Revolutionstruppen an den Rhein verschlagen hatte?

»En Schlang hann ich an meiner Brust genährt, hierste? En Schlang! Und wat es der Dank für meine Gutmütigkeit?« Der Zorn ließ das Gesicht des Maurermeisters noch dunkler anlaufen. »Dein Bruder hat nix Eiligeres zu tun, wie mich schlecht zu machen. Mich und mein ganzes anständiges Gewerbe.«

Franziska wusste, dass es sinnlos war, ihm zu widersprechen. Es hätte ihn nur noch rasender gemacht, und er hätte sie womöglich aus dem Haus geworfen. Ihr Onkel gehörte zu der Sorte Menschen, die Argumenten der Vernunft nur selten zugänglich waren, besonders dann nicht, wenn er gerade einen seiner gefürchteten Wutausbrüche hatte.

Stumm stand Franziska vor ihm, die Fäuste in hilfloser Wut geballt. Sie wartete darauf, dass sich die Wogen glätteten und sie endlich Gelegenheit hätte, das zu tun, weshalb sie ihn unmittelbar nach Christians Verhaftung aufgesucht hatte: Sie wollte ihn um seine Hilfe bitten. Darum, dass er seine Beziehungen zum preußischen Ingenieurcorps nutzen möge, um sich für ihren Bruder, seinen Neffen, zu verwenden. Immerhin lebten sie seit knapp sechs Jahren unter seinem Dach. Seit dem Ende des Krieges, seit jenem Tag, da … Ein harter Griff an ihren Schultern ließ sie schmerzhaft zusammenzucken.

»Weißte, wat dat bedeutet?« Ihr Onkel schüttelte sie so heftig, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. »Wenn die Preußen dahinterkommen, dat et ausgerechnet mein Neffe es, der wegen Landesverrats füsiliert werden soll, mein eigener verfluchter Bastardneffe …« Hubert Kannegießer keuchte so heftig, dass er einen Moment lang kein Wort herausbrachte. »Dann war dat mein letzter Tag, an dem ich für die da oben einen Stein auf den anderen setzen durfte.«

Fassungslos starrte Franziska ihn an. »Das ist es also, worum du dich sorgst«, stieß sie gepresst hervor. »Deine Karriere, dein … dein … Profit beim Bau dieser vermaledeiten Festung. Während der Sohn deiner Schwester in irgendeinem dreckigen Loch einsitzt und darauf wartet, vor ein Erschießungskommando gestellt zu werden.«

Der Finger, den ihr Onkel ihr entgegenstreckte, berührte fast ihre Nase. »Diese ›vermaledeite Festung‹, wie du se nennst, sichert uns unseren Unterhalt, dat Dach überm Kopp und dat täglich Brot auf dem Tisch, an den du dich jeden Abend setzt. Vergiss dat net!«

Franziska biss sich auf die Zunge, um nichts Unüberlegtes zu sagen. Zugleich war sie überzeugt, nie wieder auch nur ein Stück Brot von den Tellern ihres Onkels nehmen zu können. Judaslohn! Sie schluckte, während sie krampfhaft überlegte, wie sie Hubert Kannegießer doch noch überzeugen könnte, einmal, ein einziges Mal, das Wohl der Familie über seine eigene Gewinnsucht zu stellen.

»Deshalb solltest du«, begann sie vorsichtig, »umso mehr Interesse daran haben, dich für Christians Freilassung einzusetzen, damit er seine Unschuld beweisen kann.«

Ein unwirsches Knurren war die Antwort.

»Denn je schneller dein Neffe aus der Haft entlassen wird, je schneller sein Name von jeglichem Verdacht gereinigt wird, desto besser für deine Beziehungen zur Kommandantur und dem Ingenieurcorps.«

»Dafür kann der Nixnutz gefälligst allein sorgen! Er hat den Karren selber in den Dreck gefahren, also soll er auch schauen, wie er ihn wieder rauszieht.« Noch immer aufgebracht stapfte Hubert Kannegießer zum Küchentisch, griff den bereitstehenden Krug, der bis zum Rand mit Bier gefüllt war, und goss es so heftig in einen klobigen Becher, dass es überschäumte und ihm sprudelnd über die Hand lief. Ohne darauf zu achten, setzte er ihn an und nahm einen kräftigen Schluck. Mit dem Unterarm wischte er sich über den Mund, ehe er fortfuhr. »Seit dein Bruder in diesem Haus lebt, hat er nix wie Ärger gemacht. Faulheit, Aufsässigkeit, um net zu sagen schiere Dummheit! Und jetzt, wo ihm die Armee die Möglichkeit geboten hat, trotz seiner, sagen wir, anrüchigen Herkunft, wat Sinnvolles für König und Vaterland zu tun und in den preußischen Militärdienst einzutreten, hat er nichts Eilijeres zu tun, als sich und seine ehrbaren Angehörigen, die so viel für ihn getan hann, in Verruf zu bringen.«

Vaterland! Nur mit Mühe konnte Franziska ein bitteres Lachen unterdrücken. Welches Vaterland sollte das denn sein? Preußen, für das die neuen Provinzen am Rhein, die ihm auf dem Wiener Kongress 1815 zugesprochen worden waren, ein sehr zweifelhaftes Geschenk bedeuteten? Ein Geschenk, von dem man in Berlin nicht wusste, ob man sich darüber freuen oder es lieber hätte ablehnen sollen. Preußen, dessen Armee noch wenige Jahre zuvor der des damals französischen Rheinlandes feindlich gegenübergestanden hatte. Und einer dieser preußischen Soldaten – die Erinnerung daran schmerzte Franziska noch immer – hatte dem Leben ihres Vaters mit seiner Muskete oder seinem Bajonett ein blutiges Ende bereitet.

Stöhnend ließ sich Hubert Kannegießer auf einen der Holzstühle sinken, die unter seinem massigen Körper knarrten. »Ich jedenfalls werd keinen Finger für ihn rühren. Am Ende heißt et noch, ich dät mit dem Kerl unter einer Deck stecken, und er hät die Informationen, die er da verscherbelt hat, von mir. Vergiss et! Dein unfähiger Bruder muss selber sehn, wie er aus der Sache wieder rauskommt.«

»Onkel Hubert!«

»Das ist mein letztes Wort!«

»Aber Onkel …«

»Nichts da!« Schneller, als man es ihm bei seiner Körperfülle zugetraut hätte, war er wieder aufgesprungen und hatte sich vor ihr aufgebaut. »Und nun verschwinde mir aus den Augen, bevor mich meine Gutmütigkeit reut und ich dich aus dem Haus werfe. Dann kannste sehen, wer dich durchfüttert oder …« Seine Zähne knirschten, als er die letzten Worte hervorstieß, »… wie deine Hure von Mutter nach nächtlichen Freiern Ausschau halten.«

Nur mit Mühe konnte Franziska sich beherrschen, nichts zu tun, was sie später bereuen würde. Tränen schossen ihr in die Augen, und ihr Körper bebte vor unterdrücktem Zorn ob dieser Verleumdung. Ihre Mutter war keine Hure. Außer ihrem Vater hatte es nie einen Mann für sie gegeben. Beide waren rechtmäßig verheiratet gewesen und hatten als angesehene Bürger in Cöln gelebt, auch wenn Hubert Kannegießer diese Verbindung seiner Schwester zu einem ehemaligen französischen Revolutionsoffizier nie anerkannt hatte.

Franziska wandte sich um und kam wortlos der Aufforderung ihres Onkels nach. An diesem Abend würde sie bei ihm nichts ausrichten können. Mit letzter Kraft schaffte sie es die knarrende Stiege hinauf zu ihrer Kammer. Der Gedanke an die vor ihr liegende Nacht ließ sie erschauern.

*

Mit der schwülen Nachtluft drang die Dunkelheit durch das halb geöffnete Fenster herein. Nur einige Kerzen beleuchteten die winzige Stube, in der nichts stand außer einem Tisch, zwei Stühlen und einem weiteren Schemel in einer Ecke.

Das Gesicht des Gefangenen lag im Schatten. Dennoch konnte Rudolph erkennen, wie jung dieser war. Er mochte gerade das Mindestalter für den Eintritt in die Armee erreicht haben. Schwarzes Haar fiel ihm wirr in die Stirn. Ein Bluterguss schimmerte unter seinem linken geschwollenen Auge, und die Oberlippe war aufgeplatzt. Entweder hatte er sich seiner Festnahme widersetzt, oder jemand hatte ihm bereits einige unangenehme Fragen gestellt, auf die er die Antwort verweigert hatte.

Als Rudolph eintrat, hob der Junge langsam den Kopf und sah ihn direkt an. Angst lag in seinen Augen. Die namenlose, stumme Angst vor dem Unausweichlichen, vor dem es kein Entrinnen gab. Dem völligen Ausgeliefertsein, womöglich gar dem Tod.

Das Aufflammen von Wiedererkennen ließ Rudolph einen Moment innehalten. Einige Herzschläge lang stiegen Erinnerungen in ihm auf. An einen anderen Tag, einen vergangenen Krieg … an eine Schlacht, die nicht verloren werden durfte. Ganz gleich um welchen Preis. Und während er die Gesichtszüge des in Ketten gelegten Soldaten beobachtete, an dessen Hals die Pulsader deutlich pochte, glaubte er fast wieder, die eigene Furcht zu riechen, die er selbst an jenem Tag empfunden hatte, den Rauch der Kanonen und Musketen, den Dunst von Schweiß, Blut und Todesangst.

Ein Wachposten trat ein und beleuchtete den Raum mit einer zusätzlichen Kerze. Jetzt konnte Rudolph das Gesicht des Gefangenen besser erkennen. Hohe Wangenknochen, ernste, ansprechende Züge mit dunklen, von vollen Wimpern umschatteten Augen. Das Gefühl des Wiedererkennens wuchs, die Gewissheit, sich an dieses Gesicht erinnern zu müssen.

Wortlos trat Rudolph einen Schritt auf ihn zu. Die Hände seines Gegenübers verkrampften sich, er schluckte mit zusammengepressten Kiefern. Und plötzlich wusste Rudolph, woher er ihn kannte. Der Inhaftierte war einer der Pioniere, die zu Schanzarbeiten auf dem Ehrenbreitstein abkommandiert waren. Und … wenn ihn die Erinnerung nicht trog, auch einer von denen, die sich, zudem freiwillig, gegen eine Aufstockung ihres Soldes zu Zusatzdiensten gemeldet hatten.

Also doch! Ein Verrat aus den eigenen Reihen. Von einem seiner Untergebenen. Rudolph musste versuchen, den Schuldigen so schnell wie möglich zu überführen, seine Komplizen auszumachen, um noch größeren Schaden von der Festungsanlage abzuwehren.

Und von sich selbst.

»Ich kenne dich.« Langsam trat Rudolph einen Schritt näher. »Du hast die letzten Wochen unter meinem Kommando gearbeitet.«

Ein kurzes, zögerndes Nicken war die Antwort.

»Ein Gesicht, das mir einmal untergekommen ist, vergesse ich nicht.« Bei jedem seiner Worte beobachtete Rudolph die Miene des Gefangenen. »Das bedeutet, du warst also Tag für Tag am Bau beschäftigt und konntest die Gespräche der Ingenieure und der angeworbenen Hilfskräfte mit anhören.«

Keine Reaktion, nur ein trotziges Zusammenpressen der Lippen, ein kurzes Abwenden des Blicks.

»War es nicht so?« Rudolph war nicht gewillt, ein Schweigen zu akzeptieren. Er brauchte das Geständnis, ein schnelles Geständnis. Und dazu die Namen möglicher Komplizen und Kontaktleute. Er stützte sich mit den Handflächen auf dem Tisch ab und beugte sich vor. »Dann sag mir, wie du es angestellt hast.«

Irritiert schaute der junge Soldat ihn an. »Was angestellt?«

»Hör auf, mir etwas vorzumachen! Du weißt sehr gut, was ich meine.«

»Was soll ich getan haben?« Seine Stimme war schrill vor Angst.

Das war gut. Angst war in solchen Fällen stets ein willkommener Verbündeter und mochte dem verstockten Jungen die Zunge lockern. Rudolph lehnte sich noch ein Stück weiter vor. »Nun, die Unterlagen, die aus dem Bureau Capitain von Rülows verschwunden sind. Die hast du doch genommen und zusammen mit den anderen Informationen, die dir zu Ohren gekommen sind, nach Frankreich verkauft.« Trotz des Halbdunkels sah Rudolph, dass der Gefangene blass wurde. »Sicher hat man dich reichlich dafür entlohnt. Der neue französische König hat sich vermutlich nicht lumpen lassen, um an derart detaillierte Informationen über die Befestigungsanlagen seines einstmals erbittertsten Gegners zu gelangen.«

Die Antwort des jungen Mannes kam gepresst. »Vielleicht ist Ihnen entgangen, Herr Leutnant, dass Frankreich inzwischen Teil der Heiligen Allianz ist, zu der ebenfalls Preußen und Österreich zählen.«

Ein kaltes Lächeln umspielte Rudolphs Mundwinkel, während er sich langsam auf dem freien Stuhl niederließ und die Beine ausstreckte. »Einer Verbindung, die mehr der Bekämpfung revolutionärer Umtriebe in den eigenen Ländern dient als einer militärischen Verbrüderung untereinander. Was bedeutet, dass eine Aggression aus dem neuen französischen Königreich nicht auszuschließen ist. Und in einem solchen Fall könnten detaillierte Kenntnisse über Beschaffenheit und Funktionsweise der größten Festungsanlage des Gegners über Sieg und Niederlage entscheiden. Oder siehst du das anders?«

Der Gefangene schwieg.

»Und um auf meine ursprüngliche Frage zurückzukommen: Wie hast du es geschafft, all diese Informationen unbemerkt zu entwenden und ungestört über die Grenze zu schaffen?«

Keine Antwort.

Rudolph zog die Beine an, stützte die Ellbogen auf den Tisch und betrachtete den jungen Soldaten wortlos, bis dieser sich unter seinem Blick zu winden begann. »Noch einmal: Welche Helfer hattest du, und wie konntest du in den Besitz all dieser geheimen Pläne und Unterlagen gelangen?«

Der Junge öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, klappte ihn dann aber wieder zu.

»Ich versichere dir, Bursche, Verräter sehen bei uns schneller in eine Gewehrmündung, als sie Amen sagen können. Wenn du dich zudem aber noch weigerst, offenzulegen, was du weißt, kann der Aufenthalt bis dahin recht unangenehm werden. Also sag mir besser, wie …«

»Ich habe das nicht getan!« Der Gefangene fuhr so heftig auf, dass er einen der Kerzenhalter vom Tisch stieß und der Wachposten nach seiner Waffe griff. »Ich schwöre bei Gott und allen Heiligen, dass ich nichts dergleichen getan habe … ich …« Seine Stimme brach.

Langsam stand Rudolph auf und machte zwei Schritte auf ihn zu. »Ich fürchte, Gott und seine …«, er räusperte sich, »seine Heiligen werden dir nicht helfen, solange du lügst. Diebstahl und Verrat sind Gräuel in den Augen des Herrn.«

Verzweiflung und Trotz standen im Gesicht des Soldaten. »Ich bin wirklich unschuldig.« Seine Stimme klang erstickt.

»Nun denn.« Scheinbar konzentriert betrachtete Rudolph seine Nägel, bis er wieder den Blick zu dem jungen Mann erhob, der noch immer blass und bebend vor ihm stand. »Die Revolutionen der vergangenen Jahrzehnte mögen halb Europa ein wenig in Unordnung gebracht haben. Wenn es jedoch eine Sache gibt, an die ich unerschütterlich glaube, dann ist es der preußische Sinn für Ordnung und Sorgfalt. Und eben deswegen kann ich mir nicht vorstellen, dass ein Mann ohne Grund verhaftet worden sein sollte …«

Flammende Röte zeigte sich im Gesicht des Soldaten, seine Nasenflügel zitterten, und seine gefesselten Hände ballten sich zu Fäusten. »Doch!«

Rudolph zog die Augenbrauen hoch. »Du willst mir also sagen, Bursche, dass du in dieser Sache aus reiner Willkür arretiert wurdest, ohne auch nur den kleinsten Beweis für deine Schuld?«

Mit zusammengepressten Lippen nickte der andere. »Genauso ist es.«

Rudolphs Stiefel knirschten leise, als er den Gefangenen schweigend umrundete und schließlich einen halben Schritt hinter ihm zum Stehen kam.

»Dann sag mir doch einmal, was die Ursache dafür sein könnte, dass ausgerechnet du hier wegen Spionage und Geheimnisverrats einsitzt. Wo du ja so vehement behauptest, unschuldig zu sein, und dafür sogar die Heiligen bemühst.«

Der Kopf des Jungen fuhr herum, und seine Antwort kam so unerwartet, dass Rudolph erst nicht begriff. »Ganz einfach, Herr Leutnant, weil ich Franzose bin.«

KAPITEL 3

Der Knoten in Rudolphs Magen hatte sich nicht gelöst, als er am nächsten Tag die Festungsbaustelle auf dem Ehrenbreitstein betrat. Überall herrschte Geschäftigkeit. Steinmetze hämmerten, und Zimmerleute sägten, Maurer, Bauschreiner und Schlosser verrichteten ihre Arbeit. Halb fertige Fassaden waren von hölzernen Baugerüsten eingefasst, die Winden der Seilzüge transportierten unter ohrenbetäubendem Quietschen Materialien, Mörtel, Gestein und Wasser. Das Treiben glich dem in einem Bienenstock, und inmitten der Handwerker und Arbeiter stach immer wieder das dominante Blau preußischer Uniformen hervor. Offiziere des Ingenieurcorps, die riesige Pläne zwischen den ausgestreckten Händen hielten, Fernrohre im Anschlag hatten oder mit Vermessungsgeräten hantierten. Aber auch einfache Soldaten waren zu sehen, Pioniere, die mit Schanzarbeiten beschäftigt waren und nun in der Mittagssonne schwitzten, damit zumindest ein Teil der Kasernenbauten im nächsten Jahr bezugsbereit sein würde.

Pünktlich. Preußisch.

Bereits jetzt standen die ersten Gebäudeteile, die später als Unterkünfte für die Soldaten dienen sollten, fertig da und mussten nur noch vollständig austrocknen. Und was das für Gebäude waren! Rudolph konnte nicht verhindern, dass er bei dem Gedanken daran erneut Stolz empfand. Stolz, weil er am Bau dieser unvergleichbar modernen und effektiven Feste beteiligt war. Dem Symbol des Aufbruchs, einer neuen Ära.

In diesen Mauern sollten die Soldaten seiner Majestät des Königs – alle Soldaten, gleich welchen Ranges und welcher Herkunft – menschenwürdige, ja sogar komfortable Wohnverhältnisse vorfinden. Die Ideen der Militärreform aus den Zeiten der Befreiungskriege hatten auch hier ihre Wurzeln geschlagen. Und da nun seit einigen Jahren in Preußen die allgemeine Wehrpflicht herrschte, jeder männliche Untertan des Landes zum Dienst in der Armee bestellt werden konnte, galt es, so für diese zu sorgen, wie es notwendig war, um ihren Kampfgeist und ihre Vaterlandstreue zu erhalten.

Ein Ziel, dem Rudolph, der selbst in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen war und sich an die entsetzlichen Behausungen im Krieg erinnerte, aus ganzem Herzen zustimmte. Wurden hier doch auch die Ideale seines Gönners und Förderers Neidhardt von Gneisenau verwirklicht.

Zur Aufrechterhaltung der Schlagkraft und Verteidigungsfähigkeit der Feste war ein eigenes, ausgeklügeltes Versorgungs- und Wasserleitungssystem eingerichtet worden. Eine komplex ausgearbeitete Anordnung von Rohren lenkte sauberes Frischwasser in alle Gebäudetrakte und verlief – was besonders fortschrittlich war – innerhalb des Mauerwerks unter Mörtel und Putz, um ein Einfrieren der Wasserleitungen während der kalten Wintermonate zu verhindern.

Und dann gab es etwas, das Rudolph mit besonderer Begeisterung erfüllte: Eine Dampfmaschine, eine der ersten ihrer Art in den gesamten Rheinprovinzen, würde das Wasser zu den verschiedenen Zisternen der Zitadelle pumpen. Zum ersten Mal wäre die Armee des Königs damit weitgehend unabhängig von den Launen der Natur, gebändigt durch den Erfindungsreichtum und die Genialität des menschlichen Geistes.

Obgleich der Anblick der stetig wachsenden Feste und das Bewusstsein ihrer Bedeutung das Gefühl grimmiger Zufriedenheit in Rudolph auslösten, konnte er sich an diesem Tag aufgrund der jüngsten Vorfälle eines gewissen Unbehagens nicht erwehren. Man hatte ihm, die Spionage und die entwendeten Pläne betreffend, nicht die ganze Wahrheit gesagt, und sein Zorn über diese Erkenntnis war so groß, dass es ihm schwerfiel, klar zu denken. Zwar hatte man ihn von offizieller Stelle angefordert, ihm in dieser Angelegenheit gewisse Verantwortung übertragen und ihn zur Befragung des Gefangenen hinzugezogen. Aber niemand hatte es für notwendig erachtet, ihn über alle Hintergründe aufzuklären.

Dieser Soldat, Christian Berger, der wegen Verrats und Spionage einsaß, hätte durchaus Gründe gehabt, sein Wissen über die Grenze nach Frankreich zu schaffen. War es doch sein Vaterland. Allerdings war der junge Gefangene, nach allem, was Rudolph verstanden hatte, nur zum Teil Franzose und entstammte der Verbindung eines Revolutionsoffiziers mit einer Rheinländerin. Dies erklärte, weshalb er überhaupt Dienst in der preußischen Armee hatte nehmen könnte.

In jedem Fall hatten diese Vorkommnisse ausgereicht, die Alarmglocken in Rudolph schrillen zu lassen. Wenn man in Betracht zog, dass zahlreiche Arbeiter, darunter auch Auswärtige, hier täglich ein- und ausgingen, ihren Teil zum Bau dieses gewaltigen Bollwerks beitrugen … Wie konnte man sicher sein, dass diese tatsächlich alle das vereinbarte Stillschweigen wahrten? Ein Glas Wein zu viel in geselliger Runde, ein allzu neugieriges Eheweib. Da konnte es schnell geschehen, dass der Eid der Verschwiegenheit, der dem im entfernten Berlin weilenden König geleistet werden musste, in Vergessenheit geriet. Insbesondere wenn jemand, der ein Interesse an Plänen und Details des Festungsbaus zeigte, mit barer Münze lockte.

Allerdings unterlagen die militärischen Dokumente strikter Geheimhaltung. Keiner der angeworbenen Arbeiter, die unter verschiedenen Meistern und Betrieben ihren Dienst verrichteten, durfte sie zu Gesicht bekommen. Stattdessen gab es für jeden Bauabschnitt eine von den militärischen Details weitgehend bereinigte Version, die zudem nur einen winzigen Ausschnitt der Anlage zeigte. Jeden Morgen war ein Offizier aufs Neue damit beauftragt, diese Skizzen dem Meister und dem Polier des jeweiligen Bautrupps persönlich auszuhändigen. Die Arbeiter hingegen durften noch nicht einmal dieses bauliche Detail zu Gesicht bekommen und mussten blind mauern, lediglich nach den Anweisungen ihres Meisters. Abends wurden diese Pläne wieder eingesammelt und sicher verwahrt.

Auf der anderen Seite … Rudolph schwindelte bei dem Gedanken, wie paradox mit der Sicherheit auf dem Ehrenbreitstein umgegangen wurde. Die modernste Feste ganz Europas, ausgeklügelt von den intelligentesten Ingenieuren und Strategen, die das Königreich zu bieten hatte, basierend auf den neuesten Erkenntnissen des Festungsbaus und der Verteidigungsanlagen – eine militärische Meisterleistung, um die Freund und Feind Preußen gleichermaßen beneidete … Einerseits wurden alle baulichen Details auf Peinlichste geheim gehalten, und andererseits wurde diese militärische Baustelle selbst unfassbar offenherzig vorgeführt. Galt der Ehrenbreitstein doch sozusagen als ein riesiges Lehrstück, zu dem Handwerker, Bauleute und Ingenieure von überall her entsandt wurden, um zu lernen, zu experimentieren und den eigenen Horizont zu erweitern.

Und nun … Rudolph konnte nicht verhindern, dass seine Zähne bei diesem Gedanken hörbar knirschten, lud man sogar noch Schaulustige ein, Reisende, denen man zeigen wollte, wie sich aus den Ruinen der Vergangenheit, hoch über dem Tal des Rheins und der Mosel, das aus Stein errichtete Monument einer neuen Zeit erhob. Mehr als einmal hatte er sowohl dem Festungskommandanten, Generalmajor von Hofmann, als auch den führenden Kräften des Ingenieurcorps dringend geraten, sorgsamer mit der Auswahl von Besuchern der geheimen Wehranlagen umzugehen.

Nutzlos! Offensichtlich war man in Berlin zu stolz darauf, die modernste Verteidigungsanlage aller zivilisierten Staaten zu besitzen, um darauf verzichten zu wollen, vor aller Welt damit zu prahlen. Wenn das nur nicht nach hinten losging! Mehr denn je spürte Rudolph seine Anspannung, als sein Blick über seine Festungsbaustelle glitt …

Und dann entdeckte er sie.

Eine junge Frau – Rudolph schätzte sie auf Anfang zwanzig – balancierte auf einer der erst halb errichteten Mauern. Eine aus blauem Stoff gefertigte Schute saß etwas windschief auf schwarzem Haar, das dünne, hell geblümte Kleid, das sie trug, war vom Staub der Baustelle gelblich verfärbt und entsprach zudem nicht der neuesten Mode.

»Wie zur Hölle …« Ruckartig fuhr er auf dem Absatz herum. Wer in aller Welt hatte dieses Frauenzimmer hier hereingelassen? Sie war nicht in Begleitung eines Soldaten. Also handelte es sich nicht um eine der Besucherinnen, die sich hin und wieder gerne die Anlage zeigen ließen. Was also hatte sie auf militärischem Terrain verloren?