Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Prolog
  7. TEIL I: Das Eis aus dem Feuer
    1. Kapitel 1
    2. Kapitel 2
    3. Kapitel 3
    4. Kapitel 4
    5. Kapitel 5
    6. Kapitel 6
    7. Kapitel 7
    8. Kapitel 8
  8. TEIL II: Die Königin der Wüste
    1. Kapitel 9
    2. Kapitel 10
    3. Kapitel 11
    4. Kapitel 12
    5. Kapitel 13
    6. Kapitel 14
    7. Kapitel 15
    8. Kapitel 16
    9. Kapitel 17
    10. Kapitel 18
    11. Kapitel 19
    12. Kapitel 20
    13. Kapitel 21
    14. Kapitel 22
    15. Kapitel 23
    16. Kapitel 24
  9. TEIL III: Der Kopf des Drachen
    1. Kapitel 25
    2. Kapitel 26
    3. Kapitel 27
    4. Kapitel 28
    5. Kapitel 29
    6. Kapitel 30
    7. Kapitel 31
    8. Kapitel 32
    9. Kapitel 33
    10. Kapitel 34
    11. Kapitel 35
    12. Kapitel 36
    13. Kapitel 37
    14. Kapitel 38
  10. Epilog
  11. Nachwort
  12. Dank
  13. Die Figuren der Handlung
  14. Glossar

Über das Buch

Der Wikinger Alrik und seine Mannschaft gehen einem rasanten Geschäft nach: Sie schaffen Schiffsladungen voll Eis vom Ätna an die Adria. Das Einzige, was noch schneller ist als die Eispiraten, ist ihr Ruf – und der erreicht den Dogen von Venedig. Von ihm erhalten sie den Auftrag, die Gebeine des heiligen Markus aus Alexandria herauszuschmuggeln. In den Katakomben der Stadt stoßen die Eispiraten tatsächlich auf eine geheimnisvolle Mumie – und sehen sich plötzlich von Schatzjägern, Sektierern und Sarazenen verfolgt …

Über den Autor

Dirk Husemann, Jahrgang 1965, gräbt als Wissenschaftsjournalist und Archäologe Geschichten aus. Er studierte Ur- und Frühgeschichte, Klassische Archäologie und Ethnologie in Münster und schreibt Reportagen und Sachbücher, zum Beispiel über die älteste Stadt der Welt in Syrien, die letzten Geheimnisse von Stonehenge oder Fleischdoping bei den antiken Olympischen Spielen. Sein Debütroman »Ein Elefant für Karl den Großen« wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

Dirk Husemann

DIE EISPIRATEN

Historischer Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Prolog

Snôrheim, März 794 n. Chr.

Zwischen den Hütten Snôrheims stapfte Alrik durch den blutigen Schnee. Die Nacht des Baugenfestes war angebrochen. Alle neun Jahre verlangten die Götter neun Köpfe von jedem männlichen Lebewesen. An den Giebeln hingen die abgeschlagenen Häupter von Böcken, Ebern und Bullen – den Tieren der Bauern. Die Krieger und Jäger des Dorfes hatten sich gefährlichere Beute erwählt. In der laublosen Ulme vor Alriks Haus baumelten neun Bärenköpfe im kalten Wind. Sein Nachbar und Schwager Sithric Seidenbart hatte neun Wölfe zur Strecke gebracht. Vieh oder Bestie – allen Geopferten war gleich, dass ihr Blut auf die Schwellen tropfen musste, um von den Menschen, die durch die Türen ein und aus gingen, durch das Dorf getragen zu werden. Ein rotes Band lag zwischen den Häusern. Odin, der Windmäher, konnte zufrieden sein.

»Wird Surtur mich diesmal endlich zum Mitglied der Mannschaft ernennen?«, fragte Sithric, der neben Alrik ging. Ihr gemeinsames Ziel lag am anderen Ende des Dorfes: die große Halle Surturs des Schwarzen, ihres Anführers und Kriegsherrn.

Alrik blickte zu Sithric hinüber. Sein Schwager war ein kleiner, schmächtiger Mann, dem der Hunger der Wintermonate zusetzte. Seinen Beinamen »Seidenbart« verdankte er den wenigen dünnen Haaren an seinem Kinn. Auf seinen Wangen jedoch wollte kein Bart sprießen. Zwar war Sithric ein guter Jäger. Niemals aber würde er ein Schwert heben, geschweige denn eines schwingen können. Alrik bezweifelte sogar, dass Sithric eine Fahrt mit der Visundur hinaus auf die offene See überstehen würde, ohne sich Verletzungen zuzufügen. Aber Sithric war vom selben Blut wie Catla, und wie konnte Alrik seine Frau lieben, ohne ihren Bruder zu achten?

»Vielleicht«, antwortete Alrik. »Aber du weißt ja, dass Surtur ein Liebhaber von Knaben ist. Vielleicht nimmt der Jarl dich nicht auf seine Schiffe, sondern in seine Halle auf, wo du ihm zu Diensten sein musst.«

Sithric lachte, doch Alrik konnte das Erschrecken in seiner Stimme hören. Sithric!, dachte er, wie willst du jemals ein Dorf der Franken überfallen, wenn du dich schon vor deinem Jarl fürchtest?

»Es ist wahr, oder nicht?«, fragte Sithric. Atemwolken schwebten von seinen Lippen auf. »Dass Surtur sich die Knaben unter den Kriegsgefangenen bringen lässt, sie schändet und dann tötet?«

»Schau, die Halle des Jarls ist bereits festlich erleuchtet«, sagte Alrik ausweichend und deutete auf den gewaltigen Bau. Um die Wände aus massiven Balken herum waren Holzpfosten in den Schnee getrieben. Darauf steckten brennende Fackeln und tauchten das Gebäude in ein Licht, das die Farbe von überreifem Fallobst hatte.

Sithric gab nicht nach. »Antworte, Alrik! Surtur ist ein Knabenschänder, stimmt’s? Deshalb hat unser Jarl auch noch keine Nachkommen gezeugt. Weil er …«

»Sei still, du Narr!«, zischte Alrik. »Wenn dich jemand hört, wirst du ebenso enden wie die da!« Er deutete auf das Tor der Halle. Davor stak ein Pfahl in der Erde, an dem Surtur im Sommer Bären anbinden ließ, um seine besten Krieger gegen sie kämpfen zu lassen. Alriks Rücken trug mehr Narben von Bärenkrallen, als sein schwarzer Bart Haare hatte.

Diesmal waren Menschen an den Pfahl gebunden: neun junge Sklaven, Lustknaben des Jarls, derer er müde geworden war. Noch waren sie lebendig und versuchten der Kälte zu trotzen, indem sie sich eng aneinanderdrängten. Bald aber würde der Frost sie bezwingen, und bevor das Fest vorüber war, würden sie regungslos in ihren Fesseln hängen und den Tod durch die Kälte herbeisehnen. Doch zuvor musste Surtur ihre Köpfe nehmen, um auch den Boden vor seiner Halle mit Blut zu tränken, so wie es die Götter zum Baugenfest verlangten: Neun Köpfe von jedem Lebewesen – dazu zählten auch die Häupter von Menschen.

Als sie an den jungen Männern vorbeikamen, wollte Sithric innehalten, doch Alrik stieß ihn vorwärts, auf die weit geöffneten Flügel der Hallentür zu.

Im Innern loderte ein mannshohes Feuer. Die Funken flogen – Loki, der Feuergott, gab seinen Kindern Schläge. Bis auf den letzten Platz waren die Bankreihen an den Wänden gefüllt. Alrik erkannte die Besatzungen der Schiffe – jene der Visundur, der Sturmriesin, der Goldmähne und der Klippenbrecher. Auch fremde Gesichter sahen Alrik erwartungsvoll entgegen. Männer aus anderen Dörfern, von anderen Schiffen, welche der Jarl eingeladen hatte, um seinen Ruhm zu mehren. Es war üblich, dass das Oberhaupt des mächtigsten Dorfes den Nachbarn Geschenke machte, damit sie sich ihm verpflichtet fühlten. Wein und Fleisch genügten, um Frieden zwischen den Dörfern zu garantieren, Armreifen aus Bronze und Silber, um einen Schwertarm und das Blut seines Trägers zu kaufen. Aber das waren nur Almosen gegen das, was der Jarl Alrik vor zwei Tagen geschenkt hatte: einen gezahnten Helm, ein goldenes Banner, eine Brünne sowie acht Pferde mit verziertem Zaumzeug und kunstreich gefertigten Sätteln. An diesem Abend würde Surtur offenbaren, was er im Gegenzug für diese Freigebigkeit verlangte. Und Alrik würde Gehorsam schwören vor zweihundert Paar Ohren.

Die Halle gehörte den Männern. Ebenso wie alle Opfer in dieser Nacht männlich waren, war auch alles andere frei von Weiblichkeit: Die Gesänge erklangen im Bass der Krieger, die Luft war fett von Schweiß und Fürzen, und die Tänzer führten sich auf wie Ziegenböcke. Sogar das Holz der Halle wäre männlich gewesen, wenn Bäume ein Geschlecht hätten.

»Alrik ist hier«, brüllte jemand, der ein großes Stück Braten im Mund hatte.

Der Lärm legte sich. Alrik seufzte. Er hatte gehofft, sich zunächst mit Met betäuben zu können, bevor Surtur ihn als seinen Vasallen einschwor. Doch Surtur lebte so, wie er seine Axt führte: schnell und geradenwegs auf sein Ziel aus.

Dunkelhaarig und finster thronte der Jarl auf seiner Bank am Kopfende des Raums. Seine Haut war trocken, und über seinen Augenbrauen leuchtete sie rot. Vor ihm stand der einzige Tisch in der Halle. Darauf lag ein umgestürzter Kelch aus Silber, dessen Inhalt sich über die Tischplatte ergossen hatte. Met tropfte über den Rand und bildete eine Pfütze. Zwei junge Männer flankierten Surtur. Sie schmiegten sich an die Pelze, die der Jarl übergeworfen hatte. Einer von ihnen küsste ihm das Hammelfett vom Mund.

Der Fürst erhob sich und stemmte die Fäuste auf die Tischplatte. »Alrik! Wo bist du so lange gewesen?« Es gehörte zu Surturs Eigenarten, seine Männer stets in Verlegenheit bringen zu wollen.

Alrik gab Sithric einen Wink. Sein Schwager zog sich aus der Mitte der Halle zurück und mischte sich unter die Gäste. Dann stellte sich Alrik zwischen zwei der tragenden Pfosten. Sie waren zu viereckigen Balken gezimmert und vom Boden bis zum Dach mit Schnitzereien verziert, Bildern der Sigurdsage, einer Geschichte, die Surtur so gut gefiel, dass er versuchte, sich selbst als Sigurds Nachkommen darzustellen. Alrik stützte sich mit einer Hand an einem der Balken ab. Unter seinen Fingern spürte er jene Szene, in der Sigurd von seinem Schiff aus versuchte, die Midgardschlange zu angeln. Das Untier zog so kräftig an der Angelschnur, dass Sigurds Fuß durch den Rumpf des Bootes brach.

»Ich habe dafür gesorgt, dass mein Jarl in Sicherheit ist, wenn er ein Fest feiert«, antwortete Alrik ruhig, »und die Schiffswachen neu eingeteilt, die betrunkenen Posten vor dem Dorf gegen nüchterne ausgetauscht und die Fackeln bei den Ställen gelöscht, damit der besinnungslose Pferdeknecht nicht in einem Inferno aus brennendem Stroh aufwachen muss, sondern noch lebt, um deine Strafe zu empfangen. Verzeih, dass ich mich verspätet habe!« Von seinem Handgelenk, das an dem Pfosten ruhte, zog er den Ärmel seines Gewandes zurück und entblößte drei Armreifen aus Gold und Silber. Schlangen gleich wanden sie sich um Alriks Fleisch und versuchten, das Spiel seiner Muskeln zu bändigen. Doch unter der Haut pulsierte das Leben, und es war nicht klar, wer das Ringen gewinnen würde: Muskeln oder Metall – Sinnbild für den Kampf zwischen dem Herrscher und dem Beherrschten.

Surtur warf nur einen flüchtigen Blick auf die Armreifen. Er selbst hatte sie Alrik vor einem Jahr geschenkt, nachdem sie gemeinsam von Lindisfarne zurückgekommen waren. Damals war Alrik zum obersten Kendtmann der Flotte Surturs ernannt worden. Heute sollte er noch einen Schritt weiter kommen.

»Alrik!«, brüllte Surtur, und von seinen Lippen sprühten Met und Speichel. Die Gespräche und Gesänge verstummten. »Ich habe gesehen, wie du ein Schiff fährst, das keine Segel und keine Männer mehr hat. Ich habe gehört, wie du unter den Schilden sangst, die vor dem Tor einer belagerten Stadt erhoben wurden. Ich habe gezählt, wie viele Feinde du in einer einzigen Schlacht getötet hast. Du bist der beste meiner Männer!«

Alrik senkte das Haupt.

»Aber bist du auch der treueste?«, fuhr Surtur fort. »Wenn ich dich mit Macht ausstatte, dienst du mir dann weiter, oder zerfleischen wir uns wie zwei Leitwölfe eines einzigen Rudels?«

Alrik hütete sich, Surtur gegenüber seine Loyalität zu beteuern. Augenblicklich hätte Surtur die Ausrede erkannt.

»Du schweigst. Also teilst du meine Bedenken.« Der Jarl schritt zu einer Wand und pflückte eine Axt aus einer Halterung. Zweimal zerteilte er prüfend die Luft mit kräftigen Schlägen. »Aber soll ich deshalb einen Kendtmann entbehren, wie du einer bist? Meine Feinde würden mich ebenso verspotten wie meine Untertanen! Deshalb schicke ich dich von hier fort. Du kennst das Reich Horviks?«

Und ob Alrik das kannte! Er selbst hatte es im Namen Surturs erobert. Zwei Jahre lang hatte er es überfallen, geplündert, verbrannt, bis Horvik dem letzten Angriff nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Als Surtur in Horviks Halle hineinstolziert war, hatten Alriks Stiefel den alten Fürsten auf dem Boden festgenagelt. Alles, was Surtur noch hatte erledigen müssen, war, Horvik den dünnen Mund der Axt küssen zu lassen.

»Ja, du kennst es!«, übersetzte Surtur die Gedanken seines obersten Kendtmanns. »Ich gebe es dir. Aber du musst es nach meinen Vorstellungen verwalten. Als mein Vasall. Willst du das für mich tun, Alrik der Dulder?«

Wie gern hätte Alrik den Kopf geschüttelt und Surtur zu verstehen gegeben, dass sein Zuhause Snôrheim war, dass seine Freunde, seine Familie hier lebten und er lieber den verachtenswerten Strohtod im Bett sterben wollte, als seine Heimat zu verlassen. Doch diese Möglichkeit gab es nicht.

»Bei den zehntausend Toten der Brawallaschlacht! Ich werde dein Vasall sein«, sagte er und legte Eis in seine Stimme. Seine Worte klangen draufgängerisch, doch er zitterte. Denn er wusste, was folgen würde.

Die Gäste johlten verhalten und schrammten mit den Bänken über die Podeste. Surtur näherte sich Alrik. Spielerisch drehte seine Rechte den Schaft der Axt.

»Dann zahlst du auch den Preis dafür?«, fragte er.

Alrik blickte in die Augen des schwarzen Jarls. Sie waren noch nicht trübe von Alkohol und gestillter Fresslust. Der Schlag mochte Surtur gelingen.

Kaum hatte Alrik genickt, hieb der Jarl die Axt in den Pfosten und durchtrennte die Hand des Kendtmanns. Er spürte keinen Schmerz, die Axt war scharf, der Schlag gut geführt. Dennoch gaben Alriks Knie nach, und er fand sich auf dem Boden wieder, zu Surturs Füßen. Ein Blick auf seine Hand verriet ihm, dass er zwei Finger verloren hatte. Surtur hatte seine Anhänger schon übler zugerichtet.

Gelächter erklang von den Bänken. Jemand stellte einen Eimer mit Schnee neben Alrik, und er steckte die Hand hinein. Die Kälte kämpfte gegen das Feuer, das sich in der Wunde auszubreiten begann. Der Inhalt des Eimers färbte sich rot.

Mit der gesunden Hand wischte sich Alrik den Rotz von der Nase. Der zweite Versuch, wieder aufzustehen, gelang. Doch Surtur war noch nicht zufrieden.

»Wie ich schon sagte: Du bist ein guter Kämpfer, ein noch besserer Kendtmann und ein kluger Stratege, Alrik. Es ist gleichgültig, ob du zehn Finger hast oder nur einen. Ich misstraue dir trotzdem.«

Was wollte Surtur denn noch? Alrik warf Sithric einen Blick zu. Über die Züge seines Schwagers schlängelten sich Sorgenfalten.

»Wenn du mein Vasall sein willst – und das willst du, wie du zugegeben hast –, brauche ich Sicherheiten. Etwas, das mir garantiert, dass du dich nicht plötzlich mit meinen Feinden verbündest, dass du meine Befehle achtest und mir Tribut zollst. Deshalb werde ich deine Söhne behalten. Ingvar und Bjor – so heißen sie doch. In meiner Halle werden sie leben und zu Kriegern erzogen werden. Und du wirst in der Ferne meinen Ruhm mehren und meinen Namen in die Häuser meiner Feinde tragen.«

Alriks Herz zog sich zusammen wie Leder in der Kälte. Surtur!, dachte er, Loki der Gerissene ist ein Dummkopf gegen dich. Langsam zog er die Finger aus dem Schnee und ließ den Eimer zu Boden fallen. Hättest du mir das gesagt, bevor du mich verstümmelt hast, hätte ich dich auf der Stelle getötet. Jetzt aber muss ich dir zustimmen. Jedenfalls glaubst du das.

Alrik sah zu Boden. Seine Gedanken schäumten. Niemals würde er Ingvar und Bjor einem Knabenschänder ausliefern!

»Kendtmann«, sagte Surtur. »Sag mir, dass du mir deine Kinder geben wirst.«

Schweigen senkte sich über die Halle wie der Schnee, wie die Zeit.

Alrik spürte das Blut aus seiner Hand rinnen. Er zog einen der Armreifen enger, um seine Adern zu schließen. Wie hätte er mit dieser Hand ein Schwert schwingen sollen? Noch dazu gegen einen wie Surtur?

»Nein«, sagte Alrik. »Meine Söhne bekommst du nicht.«

»Ich habe es gewusst«, rief Surtur zum Dach der Halle hinauf. »Kaum dass ich dich vom Halseisen befreie, gehst du mir an die Kehle.« Er warf Alrik die Axt vor die Füße. In der Klinge spiegelte sich der Schein des Feuers, und es schien, als würde die Waffe von innen heraus brennen. »Also zieht einer von uns heute Nacht in Walhall ein. Heb die Axt auf, oder ich erschlage dich wie ein Schwein.«

Alrik dachte an Leichenschlinger, sein bestes Schwert. Es lehnte neben seinem Bett, denn es wäre ein Frevel gewesen, in der Halle des Jarls Waffen zu tragen. Aber selbst mit dem vertrauten Heft in der Hand wäre es ihm wohl kaum gelungen, Surtur zu bezwingen. Trotzdem bückte er sich nach der Axt, nahm sie mit der Linken auf. Diese Hand war es gewohnt, ein Schild zu halten und einen Feind damit zu schlagen. Aber die filigrane Arbeit einer Waffenhand hatte sie nie geübt.

Da stürzte sich jemand auf Surtur. Der Jarl schrie auf. In dem Knäuel, dass beide Männer auf dem Boden bildeten, leuchtete der gelbe Umhang Sithric Seidenbarts.

»Lauf, Alrik!«, rief Sithric. Eine Hand mit einem Dolch kam zwischen den Armen der Ringenden hervor. Auf den Podesten fielen polternd Bänke um, als die Gäste aufsprangen, um ihrem Anführer beizustehen.

Alrik schob den Gedanken beiseite, Sithric helfen zu wollen. Sein Schwager war bereits so gut wie tot. Aber Catla und die Jungen konnte er retten. Bevor Sithric überwältigt werden konnte, stürzte Alrik aus der Halle. Die verstümmelte Hand unter die Achsel geklemmt, rannte er an dem Opferpfahl vorbei. Einen Moment lang glaubte er, seine Familie daran angepflockt zu sehen. Doch die kalte Nachtluft klarte seinen Geist auf.

Das Dorf schwieg. Hinter einigen Fensterklappen schienen noch Lichter, der Geruch von brennendem Tran zog unter den Türen hindurch. Niemand begegnete dem einsamen Läufer auf dem Weg zu seinem Haus. Als Alrik die blutige Spur des Baugenfestes im Schnee bis zu seiner Tür verfolgt hatte, stellte er erleichtert fest, dass dahinter alles ruhig war. Surtur hatte keinen seiner Krieger vorausgeschickt.

Mit der gesunden Hand stieß Alrik die Tür auf. Catla saß auf dem Rand des Bettes und schob die Scheite im Feuer zurecht. Die Jungen waren, eingesunken im Stroh ihrer Holzkisten, eingeschlafen. Alrik sog den Anblick in sich auf. Er wusste, dass es lange dauern würde, bevor seine Familie wieder ein Dach über dem Kopf haben würde.

»Was ist geschehen?« Catla sprang auf und tastete nach seiner Hand, die er noch immer unter der Schulter verborgen hielt. Das rote Haar seiner Frau strich über seinen Arm.

»Die Kinder!«, stieß Alrik hervor. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Kehle wie zugeschnürt war. »Wir müssen sofort verschwinden.«

Catla stellte keine Fragen. Schon hatte sie Ingvar aus der Kiste gehoben. Der Junge war klein und leicht. Mutter und Kind standen bereits in der Tür. Alrik warf seinem Schwert an der Wand einen sehnsuchtsvollen Blick zu. Doch er hatte nur eine Hand zur Verfügung und musste Bjor tragen, den massigen Jungen, den Catla schon als Säugling kaum hatte aufheben können.

Im nächsten Augenblick huschte die Familie in Richtung der Schiffe davon.

TEIL I

DAS EIS AUS
DEM FEUER

Januar 828 n. Chr.

Kapitel 1

Rivo Alto, das Palatium des Dogen

Über der Lagune hing der Frosthauch des Januars. Die Hände des Dogen zitterten nicht nur vor Kälte, als er sich an den schweren Wollvorhang klammerte. Durch einen Spalt lugte er hinaus auf den Hof, auf das Meer der Gesichter. Von draußen strömte faulige Luft herein. »Was geschieht, wenn sie mich nicht wollen?« Er blickte hilfesuchend zurück in die Halle und wischte sich die glänzende Stirn.

»Nichts wird geschehen, Giustiniano«, sagte ein breit gebauter Mann mit einem Bart, so dünn wie ein Strich mit dem Federkiel. Ein Ausdruck von Argwohn verdarb seine Gesichtszüge. »Tretet endlich hinaus! Zeigt Euch dem Volk, damit es die Wahl bestätigen kann! Bei Euren Vorgängern war es ebenso.« Die übrigen sechs Tribunen in der großen Halle umringten die beiden Männer und nickten zu diesen Worten.

Aber der hochgewachsene Doge rührte sich nicht. Nur die Falten des Vorhangs bewegten sich, vom Zittern seiner bleichen Hände in Bewegung gesetzt. Der schwere Lederbesatz des Stoffes rutschte über den Mosaikboden. Draußen nahm das Raunen der Menge zu.

»Ihr lügt, Bonus«, sagte der Doge und schluckte schwer. »Meine Vorgänger sind allesamt tot. Sie wurden geblendet, hingerichtet oder ermordet. Weil das Volk sie nicht mochte. War es nicht so?«

Der Angesprochene schnaubte. »Wenn es die Wahrheit einfacher für Euch macht, vor Eure Untertanen zu treten: Ja, so war es. Aber für Euch, Giustiniano, wird es anders sein.«

Matelda hielt es nicht länger im hinteren Teil der Halle aus. Darauf bedacht, den nach Duftwasser riechenden Bonus nicht zu berühren, drängte sie sich an den versammelten Tribunen vorbei, hin zu ihrem Vater. Mit Mühe unterdrückte sie den Wunsch, ihm mit einer Umarmung Trost zu spenden. Doch das hätte sein Ansehen bei den Edelingen endgültig vernichtet – und ebenso sein Selbstvertrauen.

»Deine Vorgänger waren Schwächlinge«, sagte Matelda. »Einzig darauf bedacht, sich selbst zu bereichern. Aber du bist Giustiniano Partecipazio. Du wirst Rivo Alto zum Zentrum der Lagunenstädte machen und den Streit zwischen Franken und Byzantinern um unser Land beenden. Du wirst ihre Ansprüche tilgen, und dann werden wir frei sein, und unsere Schiffe werden Reichtümer aus fernen Ländern in die Lagune bringen. Geh hinaus und sage das deinen Untertanen. Sie werden dich lieben. So wie ich.«

Die Statur ihres Vaters straffte sich. »Du würdest einen besseren Dogen abgeben als ich, Matelda. Einen viel besseren.« Er seufzte. »Also gut. Ich will es versuchen.« Mit einem Ruck riss er den Vorhang beiseite und trat auf den schmalen Balkon hinaus.

Die Menge verstummte. Blicke aus vielen Hundert Augenpaaren trafen den Dogen, musterten den zipfeligen Corno auf seinem Kopf, die in gelbe Seide gehüllte schlanke Gestalt und die blaue Schärpe mit den Blumenornamenten um seine linke Schulter. Seinerseits schaute der Doge hinab auf die Menschen, die seine Untertanen sein sollten und zugleich seine Henker werden konnten.

»Die Hände!«, flüsterte Matelda hinter dem Vorhang. Giustiniano zeigte seine offenen Handflächen in der uralten Geste vollendeter Demut. »Sprich zu ihnen«, fuhr sie fort. »Erinnere dich an das, was ich dir soeben gesagt habe.« Doch bevor sie die Worte wiederholen konnte, fühlte sie sich am Arm gepackt und fortgezogen. Es war Bonus von Malamocco, der sich erdreistete, sie zu berühren. Als er sie losließ, schrie sie auf und trat nach ihm.

»Still, Mädchen!«, raunzte Bonus sie an. Auf seinem schwarzen Umhang blitzten silberne Stickereien – die Farben der Familie Malamocco. »Was glaubst du wohl, geschieht mit deinem Vater, wenn der Pöbel erfährt, dass ihm seine Tochter die Regierungsgeschäfte einflüstert?«

»Wenn Ihr wüsstet, was ich glaube, Tribun, würde es Euch den Schlaf kosten.« Vergebens suchte Matelda nach einem Weg um Bonus herum. Da begann ihr Vater auf dem Balkon zu sprechen.

»Menschen von Rivo Alto«, rief er, und seine Stimme bebte.

Matelda schloss die Augen und formte die Worte, die nun zu folgen hatten: Diese Stadt wird zum Zentrum der Laguneninseln werden. Byzantiner, Franken und Langobarden werden nicht länger eure Herren sein.

Auf dem Balkon jedoch blieb es still. Was trieb ihr Vater da? Gewiss, er war schon immer ein furchtsamer Mann gewesen. Aber er hatte doch gewusst, dass dieser Moment auf ihn wartete: der Augenblick, sich dem Volk zu zeigen. Viele Male schon hatte diese traditionelle Konfrontation über Leben und Tod entschieden. Verharrte das Volk in Schweigen, so lehnte es den Dogen ab. Jubelte es hingegen, galt das neue Oberhaupt als akzeptiert. Triumph oder Untergang lag auf den Zungen von Salzsiedern und Fischern, von Küfern und Steinmetzen, Goldschmieden und Stellmachern. Als vom Balkon her die Stimme Giustinianos endlich erklang, ließen seine Worte Matelda zu Eis erstarren.

»Was kann ich für euch tun, meine Untertanen?«, fragte der Doge die Menschen im Hof. »Was immer es ist, ich werde dafür sorgen, dass ihr es erhalten werdet. Denn ich bin euer neuer Doge, und ihr sollt mich lieben.«

In der Halle erstarben die Gespräche. Bonus von Malamocco schaute Matelda aus aufgerissenen Augen an. Zwei der Tribunen eilten auf die Balkontür zu, verhielten jedoch den Schritt, denn zum Eingreifen war es zu spät. Vom Hof stieg ein Raunen empor. Dann löste Giustinianos Angebot der Menge die Zunge. »Erlass uns die Steuern!«, schrie jemand. »Hol Tomaso aus dem Kerker!«, ein anderer. Ein weiterer forderte einen Posten als Salzmeister. Mehrere verlangten nach äthiopischen Sklavinnen und dem Kopf des byzantinischen Kaisers. Der Einfall eines besonders Vorwitzigen, die Kanäle sollten einmal im Monat mit Wein gefüllt werden, brach höhnischem Gelächter Bahn.

Giustiniano blickte sich Hilfe suchend nach seiner Tochter um. Schon immer hatte ihr Vater sie an einen Vogel erinnert, doch stets war er ihr wie ein Raubvogel erschienen, ein König der Lüfte. Jetzt jedoch war er zu einem flügellahmen Sperling geschrumpft. Matelda ballte die Fäuste. »Lasst mich vorbei, bevor sie meinen Vater in der Lagune ersäufen«, zischte sie Bonus zu. Doch der Tribun schien sie nicht länger wahrzunehmen. Wie versteinert starrte er zum Balkon hinüber, dorthin, wo das Unglück der venetischen Politik seinen Lauf nahm.

Diesmal verbarg sich Matelda nicht hinter dem Vorhang. Sie trat neben ihren Vater auf den Balkon hinaus. Von der Menge drangen Pfiffe herauf. Lauthals äußerte eine von Alkohol schwere Stimme die Vermutung, der neue Doge wolle dem Volk seine Tochter schenken.

»Was tust du hier?«, fragte Giustiniano. »Bist du von den Geistern aller Heiligen verlassen?«

Da hellte sich Mateldas Miene auf. Mit der Eleganz der Lagunengeborenen winkte sie der Menge und warf ihr eine Kusshand zu. Weit beugte sie sich über die Brüstung und rief den Menschen ihrer Heimatstadt etwas zu.

»Einen Heiligen herbeischaffen? Ihr seid ja von Sinnen. Da hätten wir uns besser auf die nubischen Sklavinnen und die Kanäle voller Wein einlassen sollen.« Bonus quälte seine Stimme auf die Höhe eines Vogelschreis. Er war rot angelaufen, und eine Ader pulsierte auf seiner Stirn. Von Entsetzen getrieben war die Versammlung in den Ratssaal gerauscht, wo die Flaggen der Lagunenstädte die Wände schmückten und die Faltstühle aus Nussbaum und Fohlenleder darauf warteten, den Gesäßen der Edelinge zu schmeicheln. Doch die Erregung vertrieb die Tribunen immer wieder von ihren Plätzen und ließ sie umherwandern. Einzig der Doge verharrte auf seinem Sitz und stützte den Kopf in eine Hand. Matelda hatte sich hinter ihm aufgestellt. Sanft ruhten ihre Hände auf den Schultern ihres Vaters.

»Ihr irrt, Bonus«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Was ich den Venetern versprach, war keineswegs irgendein Heiliger, sondern ein ganz besonderer.«

»Der heilige Markus«, stöhnte Tribun Falieri, Oberhaupt einer der drei mächtigsten Familien der Lagunenstädte. »Warum musste es ausgerechnet der heilige Markus sein?«

»Weil er meinem Vater das Leben retten wird«, sagte Matelda. Als der Doge ihre Hand berührte, verstummte sie. Giustiniano erhob sich.

»Es ist so, wie ich es euch allen schon gesagt habe: Ich bin der Aufgabe des Dogats nicht gewachsen«, sagte er. »Dafür braucht es Männer, wie die Römer es waren. Ich aber bin nur ein Veneter. Es wird das Beste sein, wenn ich ins Exil gehe. Dann bleibe ich wenigstens am Leben. Jedenfalls für kurze Zeit.«

Einige der Tribunen sahen zu Boden. Bonus blickte aus dem Fenster. Falieri sagte: »Das ist unmöglich. Jeder hier im Raum weiß das.«

»Euer Vater war Doge, nun sollt Ihr Doge sein«, warf Marcello von der Dynastie Oro ein. »Nur durch Euer Dogat, das zweite in Folge, wird der Titel des Dogen endlich erblich.«

Giustiniano winkte ab. »Ja, ja. Und der nächste Doge ist dann einer Eurer Söhne. Derjenige, der meine Tochter und damit den Titel heiratet – und ihn in seiner eigenen Familie weitervererbt.«

Schweigen lastete auf dem Saal. Vom Hof her waren noch immer die Rufe der Menge zu hören.

Noch einmal ergriff Bonus das Wort. »Es muss einen anderen Weg geben. Einen anderen Heiligen, den wir herbeischaffen können.«

Falieri schüttelte den Kopf. »Nein, Bonus. Ihr habt doch gehört, wie das Volk geschrien hat. Wie begeistert es war von der Ankündigung, unsere Inseln zur letzten Ruhestätte des heiligen Markus zu erheben. Wollt Ihr etwa zu den Leuten hinaustreten und sagen, dass sie zwar einen Heiligen bekommen werden, aber wir erst sehen müssen, auf welchen Märtyrer es derzeit einen Preisabschlag gibt?«

»Es wird der heilige Markus oder niemand!«, schaltete sich nun auch Severo ein, der Älteste der Gradenigo-Familie. Er zog einen mit Juwelen besetzten Dolch aus dem Gürtel und legte ihn in der Mitte des Saals auf den Boden. Das Metall klingelte. »Wer anderer Meinung ist, der gebe Giustiniano einen schnellen Tod. Eine andere Möglichkeit bleibt uns nicht.«

*

Bonus stieß die Tür mit so viel Wucht auf, dass die Flügel gegen die Wand krachten. Im Raum dahinter saß sein Zwillingsbruder an einem Tisch, einen schwarzen Federkiel in der Hand. Es roch nach feuchter Tinte. Immer wieder war Bonus davon fasziniert, wie ähnlich Rustico ihm war. Die Gewissheit, gleich zwei Plätze in der Welt einzunehmen, beruhigte ihn – jedenfalls geringfügig.

»Wie ist es gegangen?«, fragte Rustico. »Nicht so gut wie erhofft, scheint mir.« Er löschte die Tinte mit Sand ab, ließ den Federkiel in ein Loch in der Tischplatte fallen und lehnte sich zurück.

Bonus eroberte den Raum mit weiten Schritten, vorbei an den Wandteppichen voller bunter Chimären mit gezackten Zungen. Normalerweise bewunderte er die Pracht, mit der sich sein Bruder zu umgeben pflegte. Heute jedoch warf er keinen Blick darauf.

»Partecipazio ist als Doge anerkannt. Die Menge hat ihm zugejubelt.«

»Gut«, sagte Rustico und schürzte die Lippen. »Aber das erklärt deine Empörung nicht.«

Bonus schüttelte den Kopf, als er sich das Geschehen noch einmal vor Augen führte. »Um ein Haar wäre alles schiefgegangen. Dieser Doge ist der unpassendste Kerl für diese Aufgabe, den wir uns hätten aussuchen können. Aber wir brauchen ihn nun einmal.« Er stemmte beide Arme auf den Tisch und beugte sich zu seinem Bruder hinab. »Seine Tochter hat ihn gerettet.«

Ein Lächeln kräuselte die dehnbaren Lippen Rusticos. »Jene Tochter, die du zu heiraten gedenkst? Hat sie den Teufel beschworen, dass sie dich derart in Aufruhr versetzt?«

»Den Teufel? Wenn es nur der wäre! Die Gebeine des heiligen Markus hat sie dem Volk versprochen.« Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Rusticos Tintenfass fiel um, und eine schwarze Pfütze ergoss sich über das Schriftstück. Rustico verfolgte die Vernichtung seiner Arbeit mit einem Stirnrunzeln.

»Der heilige Markus, sagst du? Das ist klug. Sie ist ein heller Kopf. Du wirst wenig Freude an ihr haben, mein Guter.«

Bonus ließ sich auf eine Holzbank fallen. Das Möbel protestierte knirschend. Der Veneter antwortete mit einem Fluch, in dem die besten Teile des Papstes eine Rolle spielten.

»Ich verstehe deine Erregung nicht«, sagte Rustico und tupfte mit einem Tuch in dem kleinen Tintenmeer herum. »Partecipazio ist Doge. So wollten wir es doch. Jetzt wirst du die hübsche Matelda dazu bringen, dich zu heiraten. Oder …«, er blickte von seiner Beschäftigung auf, »oder hat sie dir schon einen Korb gegeben?«

Bonus verbiss sich eine Antwort. Was ging es seinen Bruder an, wie seine Bemühungen um Matelda vorangingen? Sollte er doch selbst versuchen, sie zu umgarnen. Stattdessen sagte er: »Du verstehst nichts, Bruder. Überhaupt nichts.« Es kam selten vor, dass er Rustico als Bruder titulierte. Dass er es jetzt tat, sollte dem anderen zeigen, dass die Zeit des Scherzens vorüber war.

Tatsächlich schien Rustico die Zeichen deuten zu können. Er erhob sich, zwängte sich zwischen Stuhl und Tisch hindurch und ließ sich neben Bonus auf der Bank nieder. Das Brett bog sich bis an die Grenze der Bedenklichkeit. »Dann erkläre mir alles. Bruder!«, sagte Rustico.

»Es ist unmöglich. Wie sollen wir diese Gebeine beschaffen? Der heilige Markus! Als wenn es nicht schon genug Versuche gegeben hätte, seiner habhaft zu werden!«

»Bitte! Der Reihe nach.«

»Zunächst einmal«, Bonus klappte mit der linken Hand einen Finger der rechten aus, »liegen die Reliquien des Markus in Alexandria, in Ägypten. Das Land aber ist nicht länger im Besitz von Byzanz, wie du weißt, sondern von den Sarazenen besetzt.«

Rustico nickte.

»Zweitens«. Ein weiterer Finger wuchs aus Bonus’ rechter Faust. »Gehört das, was von der christlichen Gemeinde in Alexandria noch übrig ist, zur orthodoxen Kirche. Die Kopten werden uns wohl kaum ihren wichtigsten Heiligen einfach mir nichts, dir nichts überlassen.«

»Damit habe ich auch nicht gerechnet. Man müsste ihn stehlen.«

»Oh, nichts leichter als das!« Bonus ließ nun Finger auf Finger folgen. »Unbemerkt in den Hafen Alexandrias segeln. In die Kirche spazieren und den Leichnam mitnehmen. Zurück aufs Schiff und die Verfolger abhängen, auf einer dickbauchigen Dromone. Schau! Jetzt habe ich schon keine Finger mehr.«

»Und demnächst wohl auch keinen Kopf.«

»Was soll das heißen?« Aber Bonus wusste es bereits.

»Dass du selbst diese Aufgabe erledigen wirst.« Rustico legte eine joviale Hand in den Nacken seines Bruders.

»Ich? Aber ich bin Tribun in Rivo Alto. So etwas ist eine Aufgabe für … für …«

»Den Mann, der Doge sein wird. Denk nach! Giustiniano muss dem Volk den heiligen Markus bringen. Sonst setzen sie ihn wieder ab. Auf ihre eigenwillige, aber zugegebenermaßen wirksame Art.«

Bonus lächelte verkrampft.

Rustico fuhr fort: »Jeder der Tribunen will sich oder seinen Sohn mit Matelda vermählen. Aber wen wird sie erhören müssen? Denjenigen, der ihren Vater, das Dogat und damit den gesamten Plan rettet. Dich!«

»Pah!« Bonus musste sich zusammennehmen, um nicht vor Trotz auf den Teppich zu spucken. »Du hast sie wohl noch nicht näher kennengelernt, diese Schlange. Zugegeben«, er wiegte den Kopf, »sie ist eine Schönheit. Aber was habe ich davon, wenn mir die Araber die Eier abschneiden und mich auf einen Pfahl spießen?«

Die Hand seines Bruders griff fester zu. »Niemals würde ich von dir verlangen, dass du selbst in die Höhle des arabischen Löwen gehen sollst. Finde jemanden, der diese Aufgabe für dich erledigt. Sind die Reliquien erst einmal hier, werden alle dich lieben. Oder lieben müssen.«

*

Die Flocken sanken wie Daunen durch die Dämmerung. Auf dem gefrorenen Wasser des großen Kanals lag bereits Schnee, von Fußspuren gesprenkelt. In der Mitte hatten Salzmeister eine Fahrrinne entstehen lassen, durch die die letzten Fischer des Tages behäbig ihre Boote nach Hause stakten. Alles in dieser Stadt ist langsam, dachte Bonus, selbst die Schiffe. Eingehüllt in Zobelfell stand er unter dem Torbogen eines Lagerhauses und vermied es, in die Lichtinsel unter der kleinen Laterne zu treten. Niemand sollte beobachten, wie er seine Fäden spann.

»Es tut mir leid, Signore.« Hafenmeister Pietro studierte ein mit Kreide bekritzeltes Stück Holz mit mehr Kerben darin als Furchen in seinem Gesicht – die Schiffsliste von Rivo Alto. »Die schnellsten Schiffe, die ich in den letzten Monaten verzeichnet habe, waren die, deren Besatzung es eilig hatte, an Land zu kommen.« Die ausgemergelte Gestalt duckte sich, als erwarte sie Schläge.

Keine schlechte Idee, sagte sich Bonus. Vielleicht wärmt es mich etwas auf, wenn ich diesen Hanswurst mit den Fäusten bearbeitete. Er räusperte sich. »Dann denk dir etwas aus. Ich bin ein wichtiger Mann in dieser Stadt.« Und der nächste Doge, fügte er in Gedanken hinzu. »Wenn du mir hilfst, wirst du vielleicht Schiffsmeister meiner Familie.«

Die Augen des Hafenmeisters wuchsen. »Ich kenne Euch doch. Ihr seid Bonus von Malamocco.«

Unwillkürlich wich Bonus zurück in den Schatten. Wenn ihn der Hafenmeister erkannt hatte, mochte er anderen von dieser Begegnung erzählen. Und Gerüchte, das wusste jedes Kind der Lagune, machten in Rivo Alto schneller die Runde als das Wasser in den Kanälen.

»Gern will ich helfen, Signore«, fuhr der Hafenmeister jetzt fort. »Aber wie?«

Bonus seufzte. »Indem du zum Beispiel ein schnelles Schiff aus dem Trockendock holst, die Mannschaft aus dem Winterschlaf weckst und ihnen in ihre warmen Hintern trittst.«

Der Hafenmeister starrte ihn an. In seinem Blick gähnte Leere. Der Kerl schien ebenso festgefroren zu sein wie sein Verstand. Bonus fischte zwei Münzen aus seiner Börse und warf sie auf den Boden. Bevor sie aufgehört hatten, sich klingelnd zu drehen, stellte er einen Fuß darauf. Sein Gegenüber nagelte Bonus’ Stiefel mit Blicken fest und krächzte: »Vielleicht in Ravenna.«

Jetzt war die Reihe an Bonus, den anderen anzustarren. Auf den Gedanken, in der verhassten Stadt im Süden nach Hilfe zu suchen, war er noch gar nicht gekommen. »Ravenna, sagst du? Was soll dort anders sein als hier bei uns?«

»Ich habe etwas gehört von einem fremden Schiff. Es bringt Eis dorthin.«

»Eis?«, echote Bonus. »Hier ist alles voller Eis. Weißt du, was es bedeutet, wenn man Eulen nach Athen trägt?«

»Braucht Ihr dafür das schnelle Schiff?«, fragte der Hafenmeister und rieb sich die rot gefrorenen Ohren.

Bonus ignorierte die Frage. »Was gibt es in Ravenna?«

»Die hohen Herren dort. Die sind ganz verrückt nach einer neuen Köstlichkeit aus Arabien.«

Bonus hatte davon gehört. »Du meinst Saccharum? Es heißt, sie stellen Süßspeisen damit her. Aus Sarazenenscheiße. Pfui Teufel!«

»Ihr habt recht, Tribun Bonus. Aber in den Schenken erzählen sich die Leute, für dieses süße Zeug sei Eis in großen Mengen notwendig. Eis, das man essen kann. Nicht diese gefrorene Jauche.« Er deutete auf die Kanäle.

»Was hat das mit einem schnellen Schiff zu tun?«

Die Blicke des Hafenmeisters lösten sich nur mühsam von dem Reichtum verheißenden Fuß des Tribunen. »Angeblich bringen sie es von Sizilien herauf. Vom Ätna.«

Da verstand Bonus. Ein Schiff, das Eis über eine solche Strecke bis nach Ravenna transportierte, bevor die Ladung schmolz, musste fliegen können. »Weißt du, wann dieses Schiff wieder in Ravenna anlegt?«

Über dem Hafenmeister quietschte die Laterne im Wind. »Nein. Niemand weiß das. Es erscheint plötzlich. Wie der Nebel. Und ebenso schnell ist es wieder verschwunden. Es hat den Kopf eines Drachen, und statt Segel hat es Flügel.«

Bonus verzichtete auf weitere Ammenmärchen. Rasch nahm er den Fuß von den Münzen und brachte den Hafenmeister damit zum Schweigen. »Und das sollte auch so bleiben«, murmelte Bonus. Als sich der Mann begierig nach seiner Belohnung bückte, zückte Bonus einen Dolch und stach ihm die Klinge in den Nacken.

Bald darauf trieb ein Leichnam im Dunkel der offenen Fahrrinne des Kanals. Ein Holzbrett tanzte hinter ihm her. Zwischen den Häusern der nächtlichen Lagunenstadt hallte das Stakkato sich rasch entfernender Schritte.