ÜBER DAS BUCH

 

Eine Frau zwischen zwei Kulturen, eine Liebe gegen alle Widerstände Vietnam, 1950. Die junge Nicole stand von jeher im Schatten ihrer schönen Schwester Sylvie. Als Tochter eines französischen Seidenhändlers und einer Vietnamesin soll sie nun in Hanoi ein Stoffgeschäft übernehmen. Bald kommt Nicole mit Einheimischen in Berührung, die sich gegen die französische Fremdherrschaft auflehnen. Dabei entdeckt sie voller Schrecken, dass ihr Vater in dunkle Machenschaften verwickelt ist. Als sie sich in den charismatischen Mark verliebt, gerät ihre Welt abermals ins Wanken. Denn Mark scheint auch für ihre Schwester Gefühle zu hegen. Auf der Suche nach ihrem Platz in einer Welt, in der nichts ist, wie es scheint, fasst Nicole einen kühnen Plan ... Farbgewaltige Exotik des Vietnam der 1950er Jahre – Mit »Die Tochter des Seidenhändlers« ist Dinah Jefferies eine mitreißende Geschichte um die Selbstfindung einer Frau, die Rivalität unter Schwestern und eine unmöglich scheinende Liebe gelungen.

ÜBER DIE AUTORIN

 

Dinah Jefferies wurde 1948 im malaiischen Malakka geboren. Acht Jahre später übersiedelte die Familie nach England. Dinah Jefferies studierte Theaterwissenschaft und Englische Literatur und arbeitete als Lehrerin, Fernsehmoderatorin und Künstlerin. Heute lebt sie mit ihrem Ehemann in Gloucestershire. Die Frau des Teehändlers ist ihr zweiter Roman.

Dinah Jefferies

Die Tochter des Seidenhändlers

Roman

Übersetzung aus dem Englischen von Angela Koonen

BASTEI ENTERTAINMENT

PROLOG

 

Einmal untergetaucht, fällt sie wie in Zeitlupe. Ihre langen Haare treiben wirbelnd auseinander. Bezaubert von dem goldenen Licht, das durch die Wasseroberfläche strömt, schlägt sie mit den Beinen und stößt sich aufwärts, den Luftblasen ihres Atems folgend. Die flache Sonne zersplittert, glitzernde Tröpfchen spritzen weit über das Wasser. Sie wirft den Kopf in den Nacken, schnappt nach Luft, sieht das Gesicht ihrer Schwester. Sekunden vergehen. Sie ist geblendet. Als die Welt durchschimmert, hebt sie die Hand zum Winken, öffnet den Mund, um zu rufen. Aber das Wasser verschluckt sie wieder. Der Fluss tost, während sie Wasser tritt; er hallt von dumpfen Schlägen wider. Sie müsste um Hilfe rufen, bringt jedoch keinen Laut hervor. Sie versucht zu schwimmen, aber ihre Kraft wird von etwas aufgezehrt. Über ihr verblasst das schillernde Licht. Sie sinkt. Weiter unten wird es dunkler und kälter, sie will sich herumdrehen, eine Wasserleiter hinaufsteigen, doch der Fluss ist zu mächtig, und sie rutscht mit den Füßen durch die Sprossen. Bilder von zu Hause fluten ihre Fantasie, die Beine werden ihr schwer, und als der Fluss ihren Widerstand bricht, kommt es ihr vor, als schwebte sie in der Tiefe. Aber sie schwebt nicht, sie ertrinkt.

I

Seidenfäden

Mai bis Anfang Juli 1952

1

Hanoi

Nicole schnupperte. Die Luft war geschwängert vom Duft wilder Gardenien, der glänzend grünen Blätter und weißen Blüten des Staudenteppichs im halbschattigen Teil des Gartens. Sie schaute von ihrem Schlafzimmerfenster nach unten und entdeckte ihren Vater, der sich vergewisserte, ob draußen alles nach seinem Wunsch war. Er war noch immer ein gut aussehender Mann. Durch seine sauber geschnittenen dunklen Haare, in die erst wenig Silbergrau gestreut war, wirkte er besonders distinguiert, und obwohl es Nicole ärgerte, dass er die Party zu ihrem achtzehnten Geburtstag nutzte, um mit seinem Garten anzugeben, musste sie doch zugeben, dass er ihn wunderschön gestaltet hatte. An den französischen Fenstern ihrer gelblich braunen Villa brannte Weihrauch, und in den Gartenteichen spiegelten sich die bunten Lampionketten, die zwischen zwei enormen Frangipanibäumen gespannt waren.

Nicole schaute noch ein letztes Mal in den Spiegel und überlegte. Sollte sie sich eine Fuchsienblüte in die langen schwarzen Haare stecken? Die würde gut zu ihrem Kleid mit dem chinesischen Kragen passen, das sie sich eigens für diesen Anlass hatte schneidern lassen. Es schmiegte sich an ihren schlanken Oberkörper wie eine zweite Haut, und wenn sie ging, schwang der knapp bodenlange Rock hin und her. Im Radio sang Edith Piaf ihre Hymne à l’amour. Nicole schaute wieder aus dem Fenster, und während sie sich gegen die Blüte entschied, sah sie jetzt Sylvie, ihre Schwester, neben ihrem Vater gehen, und wie so oft steckten beide die Köpfe zusammen.

Einen Moment lang fühlte Nicole sich ausgeschlossen und hatte an ihrem Neid zu schlucken. Inzwischen sollte sie eigentlich daran gewöhnt sein. Ihre Schwester sah schon am frühen Morgen schön aus, bevor sie sich gekämmt und die Zähne geputzt hatte. Dafür sorgten ihre gewellten kastanienbraunen Haare, die klassischen Wangenknochen und die makellose französische Nase. Die große, gertenschlanke Sylvie hatte das französische Aussehen ihres Vaters geerbt, Nicole dagegen ähnelte ihrer verstorbenen vietnamesischen Mutter und war sich ihres hellbraunen Teints ständig bewusst. Sie straffte die Schultern, schüttelte den Gedanken ab und verließ das Zimmer. Das war ihr Tag, und den würde sie sich keinesfalls verderben lassen.

Als sie durch den großen, hohen Raum schlenderte, der zum Garten führte, sorgten dort zwei glänzende Messingventilatoren bereits für kühle Luft. Wie das ganze Haus war auch dieses Zimmer in eleganter Weise mit erlesenen antiken Möbeln ausgestattet. Von der offenen Tür aus sah sie zwei alte Schulfreundinnen, Helena und Francine, in einer Gartenecke stehen und verlegen an ihren Haaren zupfen. Sie ging zu ihnen und ließ sich auf die Wangen küssen und umarmen. Während sie über Freunde und die absolvierten Prüfungen plauderten, füllte sich der Garten. Bis Nicole sich schließlich entschuldigte, waren auch die französischen Gäste schon eingetroffen und standen nun rauchend und trinkend beisammen. Einige wohlhabende Vietnamesinnen promenierten in ihren Seidenkleidern. Ihr fiel ein großer, breitschultriger Mann in einem hellen Leinenanzug auf, der sich ihrer Schwester näherte, und etwas an ihm veranlasste sie, ein paar Augenblicke länger hinzusehen. Dann strich sie sich über die Haare, nahm die Schultern zurück und ging zu ihnen.

Sylvie berührte den Mann am Arm und lächelte ihn an. »Darf ich dir meine Schwester Nicole vorstellen?«

Er gab ihr die Hand. »Mark Jenson. Ich habe schon viel von dir gehört.«

Sie schaute ihm ins Gesicht, aber das intensive Blau seiner Augen erschreckte sie, und sie musste wegsehen.

»Mark kommt aus New York. Wir haben uns kennengelernt, als ich dort war«, erzählte Sylvie. »Er reist durch die ganze Welt.«

»Heute ist dein Geburtstag, nicht wahr?« Er lächelte Nicole an.

Sie stockte und suchte nach Worten. Zum Glück sagte Sylvie: »Da ist jemand, mit dem ich sprechen muss.« Sie winkte einer pummeligen Frau am anderen Ende des Gartens zu, dann berührte sie Mark an der Hand. »Ich bin nur kurz weg. Nicole wird sich um dich kümmern.«

Mark lächelte höflich. Nicole trat von einem Fuß auf den anderen. Mit einem Mal fand sie die Luft zu dünn zum Atmen. Dann blickte sie ihn richtig an und versuchte, nicht zu viel zu blinzeln. Bei seiner dunkel gebräunten Haut leuchteten seine saphirblauen Augen umso mehr.

»So«, sagte sie schließlich, weil ihr nichts Besseres einfiel.

Er schwieg und betrachtete sie.

Plötzlich verlegen, fasste sie sich ans Kinn. War etwas mit ihrem Gesicht?

»Ich habe nicht erwartet, dass du so hübsch bist«, bemerkte er.

»Oh.« Jetzt war sie verwirrt. »Das bin ich sicher nicht.« Was hatte er denn stattdessen erwartet? Und wieso hatte er überhaupt Erwartungen gehabt?

»Sylvie hat von dir gesprochen, als wir in den Staaten waren.«

Langsam entwirrten sich ihre Gedanken. Natürlich hatte Sylvie über sie gesprochen. Es war nur natürlich, von seiner Familie zu erzählen, besonders wenn man weit von zu Hause weg war.

Sie lächelte. »Dann weißt du ja, dass ich das schwarze Schaf der Familie bin.«

Er warf eine Locke zurück, die ihm immer wieder über das rechte Auge fiel. »Dazu fallen mir ein Feuer und eine Markise ein.«

Bei seinem sanft neckenden Ton schlug Nicole sich die Hand vor den Mund. »Ach Gott, nein! Sie hat dir doch nicht davon erzählt, oder?«

Er lachte.

»Ich war erst dreizehn, und es ist aus Versehen passiert. Aber das ist unfair. Du kennst bereits Geschichten über mich, und ich weiß gar nichts über dich.«

Sie verspürte den Impuls, ihn zu berühren, und als hätte er es auch wahrgenommen, streckte er die Hand aus, doch im nächsten Moment begriff sie, dass er nur den Weg weisen wollte. »Gehen wir uns ein Glas Champagner holen? Und wie wär’s, wenn du mich ein bisschen herumführst? Dann erzähle ich dir alles, was du wissen willst.«

Währenddessen verlor sich ihre Anspannung ihm gegenüber, und sie wünschte sich, sie hätte sich für höhere Absätze entschieden, denn mit ihren eins siebenundsechzig kam sie sich neben ihm winzig vor.

Ein weiß gekleideter Kellner näherte sich mit einem Tablett. Mark nahm zwei Gläser herunter und reichte beide Nicole. »Hast du etwas dagegen, wenn ich rauche?«

Sie schüttelte den Kopf. »Du klingst gar nicht wie jemand aus New York.«

Er holte ein Päckchen Chesterfields hervor, zündete sich eine Zigarette an und nahm sein Glas entgegen. Ihre Finger berührten sich, und Nicole fuhr ein Kribbeln den nackten Arm herauf.

»Ich bin auch nicht von dort. Mein Vater hat einen kleinen Milchbauernhof in Maine. Da bin ich aufgewachsen.«

»Was hat dich weggeführt?«

Er blieb stehen. »Die Abenteuerlust, nehme ich an. Nach dem Tod meiner Mutter gab mein Vater sich die größte Mühe, aber es war nicht mehr wie vorher.«

Sein Ton hatte sich verändert, und sie erkannte die unterdrückte Traurigkeit darin. »Meine Mutter lebt auch nicht mehr.«

Er nickte. »Sylvie hat mir davon erzählt.«

Kurz schwiegen sie wieder.

Er seufzte und lächelte versonnen wie bei einer schönen Erinnerung. »Ich habe alles getan, was man auf dem Land so macht, Fischen, Jagen und dergleichen, aber meine Leidenschaft waren Motorräder. Aschenbahnrennen. Je gefährlicher die Rennstrecke, desto größer meine Begeisterung.«

»Hast du dich dabei nicht verletzt?«

Er lachte. »Hin und wieder. Aber es war nie etwas Ernstes. Der eine oder andere Knöchelbruch und ein paar angeknackste Rippen.«

Sie stand nah bei ihm und nahm seinen warmen, würzigen Hautgeruch wahr. Er hatte etwas an sich, das sie glücklich machte, aber sie drehte sich ein wenig weg und schaute zum Sternenhimmel auf. Die Zikaden zirpten, und in den Bäumen zwitscherten die Nachtvögel. Mark war einen Schritt von ihr weggetreten, und sie sah, dass seine Körpergröße ihm diesen lockeren Gang verlieh, den Amerikaner in Filmen hatten, einen nonchalanten Gang, der Ungezwungenheit und Selbstvertrauen ausdrückte.

»Es heißt, der Mai sei der letzte Frühlingsmonat in Hanoi, aber es ist schon so warm wie im Sommer. Möchtest du vielleicht lieber ins Haus gehen?«, fragte sie.

»An einem solchen Abend?«

Sie fühlte sich beschwingt und lachte. Seine kurzen hellbraunen Haare neigten zu Locken und glänzten jetzt golden. Jemand hatte die Fackeln angezündet, und der Flammenschein flackerte über sein Gesicht und Haar.

»Wo bist du abgestiegen?«

»Im Métropole am Boulevard Henri Rivière.«

In dem Moment kam Sylvie zurück und zog Mark mit sich. Sobald Nicole allein dastand, fühlte sie seine Abwesenheit, und trotz der vielen Gäste kam ihr der Garten leer vor. Ihr fiel eine Redewendung ein, die ihre Köchin Lisa häufig gebrauchte: Co cong mai sat co ngay nen kim – Schleift man ein Stück Eisen lange genug, wird eine Nadel daraus. Lisa war zwar Französin, sprach aber genügend Vietnamesisch, um beim Einkaufen auf dem Markt zurechtzukommen, und war stolz darauf, ein paar vietnamesische Sprichwörter zu kennen. Vielleicht ist es an der Zeit, bei mir auch für mehr Schliff zu sorgen, dachte Nicole, als die Band zu spielen anfing. Und mal eine Nacht durchzutanzen.

2

 

Am nächsten Morgen begab sich Nicole in das Labyrinth der Räume im Tiefparterre. Am Ende der schmalen Treppe ging sie einen langen Korridor entlang und stieß die Tür zur Küche auf. Ihr Blick fiel auf die schmalen weißen Kacheln der Wände und die schimmernden Kupfertöpfe, die von einer Stange unter der Decke hingen. Die neuen grünen Rollos ließen die Küche kühler wirken, und die vier großen Mauerbögen, die den Raum teilten, gaben noch Farbgeruch ab.

Lisa hatte es sich in ihrem Lehnstuhl schon bequem gemacht, unmittelbar neben der Tür des Wintergartens, wo sie über ihr kostbares Gemüsebeet wachen konnte. Seit Nicoles Geburt war Lisa die eine Konstante gewesen. Sie sah aus, wie man sich eine Köchin wünschte: mollig. Obwohl erst in den Vierzigern, waren ihre schwer zu bändigenden, zum Dutt frisierten Haare schon grau und ihre Hände rot vom vielen Geschirrspülen. Sie hatte beide Füße auf einen Hocker hochgelegt und kramte in der Schürzentasche nach der ersten Zigarette des Tages, eine Frau, der nur Kaninchen, Eidechsen und Vögel Sorge bereiteten und der es wichtig war, dass im Juli die Longanfrüchte unbeschadet geerntet und zum Einkochen vorbereitet wurden.

»Kannst du dir den Kaffee selbst nehmen?«

Nicole nickte, goss sich eine große Tasse voll ein und setzte sich in den Lehnstuhl gegenüber. »Den brauche ich jetzt.«

»Verkatert?«

»Scheint so.«

»Ich habe dich gestern Abend mit einem interessanten Mann gesehen.«

»Welchen meinst du?« Nicole versuchte, ihr Lächeln zu überspielen, aber vor Lisa konnte man gar nichts verbergen.

»Du magst ihn wohl?«

Nicole lachte. »Es war fantastisch. Wahrscheinlich klingt es ein wenig kindisch, aber mir war, als hätte ich den einen Menschen getroffen, der mein ganzes Leben verändern kann.«

Lisa schmunzelte. »Er sieht sehr gut aus. Ich freue mich für dich, chérie. Hast du getanzt?«

»Nicht mit ihm. Er ist nicht lange geblieben.«

Nicole vermochte nicht angemessen in Worte zu kleiden, inwiefern sie sich verändert fühlte; es war, als verschwänden ihre alten Unzulänglichkeitsgefühle nun. Die kurze Begegnung mit Mark war ihr unter die Haut gegangen, und sie dachte immer wieder, dies sei der Beginn eines ganz anderen Lebens.

»Was macht er?«

»Ich habe nicht gefragt.« Sie grinste Lisa an und stand auf. »Er ist Amerikaner.«

»Ein Freund von Sylvie?«

Aus dem Zimmer der Haushälterin, das ebenfalls an dem Korridor lag, kamen Geräusche, und Nicole verzog das Gesicht. »Bettine ist da?«

Lisa nickte. Sie arbeiteten schon seit Jahren zusammen und hätten kaum verschiedener sein können. Bettine war dünn wie eine Bohnenstange und hatte ein steifes Benehmen. Lisas gemütliches Schlafzimmer und kleines Wohnzimmer, beide neben der Küche gelegen, waren eine stete Quelle des Streits zwischen den beiden, denn die Haushälterin wohnte auswärts. Die Spülküche und die Waschküche waren das Reich des Hausmädchens Pauline, und es gab einen Raum für die Speisenzubereitung, in dem das stundenweise beschäftigte Küchenmädchen arbeitete, das nur gerufen wurde, wenn Lisa zusätzliche Hilfe brauchte.

Nicole öffnete die Tür des Wintergartens, und beim satten Geruch von feuchter Erde lauschte sie dem Quietschen der Rikscha, die hinter dem Haus vorfuhr. Sie band sich den Morgenrock neu zu, schaute nach einigen frühen gelben Persimonen, die im Gras lagen – wo nach Sylvies Behauptung die Leichen begraben waren –, und entdeckte Yvette, die Bäckerstochter, die soeben aus der Rikscha stieg. Die Bänder an ihren dunklen Zöpfen flogen im Wind.

Der Duft frischer Brioches wehte heran.

Nicole winkte dem Kind, und sowie es in der Küche stand, zog sie zwei Stühle unter dem gescheuerten Kieferntisch hervor. Lisa hatte schon Teller für Nicoles Schokoladenbrötchen und Yvettes weiche Weißbrotscheibe hingestellt, die mit Butter und Honig bestrichen war.

Yvette lieferte trotz ihrer zehn Jahre jeden Samstag die Konditorwaren aus: Vanillecremetörtchen, frisches Brot, das mit Marmelade und Einmachobst gegessen wurde, Brioches, Croissants und Schokoladenbrötchen. Ihre vietnamesische Mutter war während des Krieges von Japanern getötet worden, doch Yves war ein hingebungsvoller Vater, der versuchte, ihr die Mutter zu ersetzen, und Nicole mochte die Kleine sehr.

Nicole schlug die Beine unter und hielt ein Auge auf Yvettes jungen Hund. Trophy schnüffelte bereits überall herum und sprang plötzlich auf einen Stuhl.

»Böser Hund!« Yvette schüttelte die Faust, aber zu spät. Der Hund hatte sich schon ein Croissant geschnappt und zog sich damit unter den Tisch zurück, um es zu verschlingen.

Nicole lachte. »Aber er ist anbetungswürdig.«

»Ich wünschte, ich wäre schon alt genug und hätte zu deiner Party kommen können. Hast du getanzt?«

»Erst später. Aber der Abend war so schön, keiner wollte hineingehen.«

Lisa schaute zur Uhr. Yvette durfte eigentlich nicht bei ihnen frühstücken, aber es war eine Gewohnheit, die sie alle drei jedes Mal wieder genossen. »Du fährst jetzt besser wieder«, sagte Lisa und blickte bedeutsam nach oben.

Nicole wollte schon widersprechen, doch Yvette sprang vom Stuhl auf, und Trophy lief bellend hinter ihr her.

»Sei still, sonst weckst du noch das ganze Haus auf!« Yvette nahm das Hündchen hoch, das ihr sogleich übers Gesicht leckte, und flitzte durch den Wintergarten nach draußen, sodass der kräftige Geruch von Lisas schilfartigen Ingwerpflanzen hereinzog.

Sobald Yvette fort war, gab Nicole der Köchin einen Kuss auf die Wange.

»Kaum zu glauben, dass du schon achtzehn bist, mein liebstes Mädchen«, sagte Lisa schniefend. »Wie schnell die Zeit vergangen ist …«

»Werd jetzt nur nicht sentimental«, erwiderte Nicole grinsend. »Ich habe Wichtiges zu erledigen.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel mein neues Leben zu planen.«

»Kommt darin auch der Amerikaner vor, auf den du ein Auge geworfen hast?«

»Ich weiß nicht, wann ich ihn wiedersehen werde.« Nicole stutzte. Ihr war gar nicht bekannt, wie lange Mark in Hanoi bleiben würde. Sie hoffte aber, das »Paris des Orients«, wie die Franzosen die wasserreiche Stadt nannten, würde ihn verzaubern und festhalten.

Beim Abendessen waren sie nur zu dritt. Vom kleineren der beiden Speiseräume in der Villa der Duvals blickte man auf einen schilfgedeckten Pavillon, wo übergroße Korbsessel und ein Glastisch neben einem Seerosenteich standen. In einer Ecke schirmte ein hübsch geschnitzter Paravent einen kleinen Schreibtisch und ein Sofa ab, wo Sylvie gern schrieb. Da Nicole die kurze Zeit vor dem Abendessen mit einem Buch vertrödelt hatte, anstatt sich frisch zu machen, kämmte sie sich die Haare rasch mit den Fingern. Dabei schaute sie zum Deckengemälde auf: ein blauer Himmel mit flauschigen weißen Wolken und Putten, die um den Ventilator flogen. Sie hatte es nie leiden können.

Im Nachbargarten hörte man die Pfauen schreien.

»Diese verfluchten Viecher mit ihrem elenden Gekreische«, schimpfte ihr Vater.

»Aber sie sind schön, findest du nicht?«, wandte Nicole ein.

»Warum muss sie sie unbedingt im Garten halten? Sie machen mich verrückt.«

»Vater hat recht«, meinte Sylvie. »Sie sind eine echte Plage.«

Danach aßen sie schweigend. Trotz des Ventilators war es zu heiß. Die schweren Seidenvorhänge, die mit goldenen Quastenkordeln beiseitegehalten wurden, waren nicht zugezogen, und die leichten Musselingardinen bewegten sich beim geringsten Luftzug. Die nächsten Pfauenschreie senkten die Laune ihres Vaters noch mehr.

Sie beendeten gerade das Dessert, als er seine Töchter anschaute und dann sagte: »Ich bin froh, euch beide hier zu haben.«

Die Schwestern wechselten einen Blick. In letzter Zeit war im Haus eine gewisse Unruhe zu spüren gewesen: Angespannte Soldaten in weißer Uniform überbrachten ständig Nachrichten, das Telefon klingelte sich heiß, und Papa wirkte zunehmend belastet. Nicole war aufgefallen, wie viele Amerikaner plötzlich ins Haus kamen, und sie vermutete, dass sie zur Central Intelligence Agency gehörten. Als sie Sylvie darauf ansprach, bekam sie jedoch nur allgemeine Floskeln zur Antwort. Offenbar wusste auch sie nicht, was dahintersteckte.

Ihr Vater neigte sich ein wenig nach vorn. »Da du nun achtzehn Jahre alt bist, Nicole, möchte ich dich über meine Pläne aufklären. Eigentlich wollte ich erst darüber sprechen, wenn ihr beide einundzwanzig seid, aber da ich im Begriff bin, eine Stellung bei der Regierung anzunehmen, habe ich es mir anders überlegt.«

»Und das heißt?«, fragte Sylvie.

»Das heißt, ich werde nicht hier sein und mich daher nicht um das Geschäft kümmern können.«

»Was für eine Stellung ist das, Papa?«, wollte Nicole wissen.

»Über die genaue Art meiner Aufgaben darf ich nicht sprechen, doch wegen meiner vietnamesischen Kontakte ist man der Ansicht, ich sei der richtige Mann dafür. Es ist eine große Ehre, dass man mich ausgewählt hat, zum Wohle Frankreichs zu arbeiten.«

»Aber doch wohl hier in Hanoi?«

»Hauptsächlich.« Er hielt kurz inne. »Es kommt sicherlich überraschend, aber ich glaube, es ist im besten Interesse der Firma, wenn nur eine von euch die Führung innehat. Da Sylvie die ältere von euch beiden ist, habe ich entschieden, ihr die Geschäftsleitung zu übertragen, mit sofortiger Wirkung.«

Nicole blickte ihre Schwester an, doch die schlug die Augen nieder und fummelte an ihrer Serviette herum. »Ich verstehe nicht. Warum können wir das nicht gemeinsam tun? Ich dachte immer, eines Tages würden wir beide die Firma leiten.«

Er schüttelte den Kopf. »Sylvie hat deutlich mehr Erfahrung, besonders mit dem amerikanischen Markt. Also ist es nur richtig, wenn sie die Verantwortung übertragen bekommt. Hättest du auf dem Lyzeum deine Lektionen gelernt und wärst so fleißig gewesen wie deine Schwester, hättest du viel mehr Möglichkeiten gehabt. Das wirst du doch einsehen.«

Nicole runzelte die Stirn. »Sylvie wird also Paul Bert unter sich haben?«

Er nickte.

Nicole schluckte hastig und dachte an das imposante Maison Duval mit dem wunderbaren Kuppeldach, der glänzenden Teakholztreppe und den eleganten Balkonen der oberen Etagen. Das Haus befand sich in der Rue Paul Bert, scherzhaft auch Champs-Élysées genannt, und Nicole mochte es sehr. »Was noch?«, fragte sie.

Er blickte über ihren Kopf hinweg und hob zählend die Finger. »Das Import- und Exportgeschäft und das Warenhaus im französischen Viertel.«

Ein Großteil der Seide, die sie lieferten, kam von Hue, wo ihre Exportgeschäfte abgewickelt wurden und wohin sie ihre Hoffnungen gerichtet hatte. »Aber ich hatte gehofft, dass ich eines Tages den Einkauf leiten würde. Ich dachte, deshalb hättest du mich zu den Seidendörfern mitgenommen, als Sylvie in Amerika war.«

Er zog eine Zigarre aus der Tasche und klopfte sie auf den Tisch. »Sieh mal, es tut mir leid, wenn ich dich enttäusche, chérie, aber so ist es nun mal. Du hast immer noch die Möglichkeit, deine Ausbildung abzuschließen, oder du kannst mein Angebot annehmen und den alten Seidenladen übernehmen. Wenn nicht, werde ich einen netten vietnamesischen Ehemann für dich finden.«

Das war ein Scherz, aber Nicole kamen vor lauter Enttäuschung die Tränen. »Ich dachte, wir hätten den alten Laden aufgegeben.«

Wieder kreischten nebenan die Pfauen. Ihr Vater schnaubte und ballte auf dem Tisch die Hände zu Fäusten. Nicole sah, wie er die Nüstern blähte, und nahm seinen Geruch nach Lederfett, Cognac und Zigarrenrauch wahr.

»Diese verfluchten Vögel«, brummte er.

Nicole war am Boden zerstört. Mit Europa war es das Gleiche gewesen. Sylvie hatte die Reise gemacht und sie nicht. Natürlich war das kurz nach Sylvies achtzehntem Geburtstag gewesen, als ihr das Missgeschick passiert war und sie die Markise in Brand gesteckt hatte.

Ihr Vater stand auf. »Ihr beide bleibt sitzen. Lisa wird gleich den Kaffee bringen. Ich werde meinen im Arbeitszimmer nehmen.«

Nicole gelang es, die heißen Tränen, die hinter ihren Lidern brannten, zurückzuhalten.

»Was die Firma angeht: Sylvie ist nun mal fünf Jahre älter als du. Und sie ist außerordentlich zuverlässig.« An der Tür angelangt, drehte er sich noch einmal um. »Was erwartest du denn von mir, wenn du vor den Prüfungen hinwirfst und tagelang verschwindest? Sämtliche Polizeikräfte haben nach dir gesucht. Dabei bist du mit deiner idiotischen Freundin einfach in einen Bus nach Saigon gestiegen. Ist dir denn nicht in den Sinn gekommen, dass wir uns Sorgen machen? Da hätte alles Mögliche passieren können.«

Sie ließ den Kopf hängen. Würden sie ihr das ewig vorhalten? »Ich weiß. Es tut mir wirklich leid. Ich habe nicht nachgedacht.«

»Nun, dann musst du das eben jetzt tun, und ich kann nur hoffen, du hast aus deinen Fehlern gelernt.«

»Das habe ich, Papa, wirklich.«

»Beweise es und führe den Laden zum Erfolg! Dann werden wir sehen, was du vielleicht noch übernehmen kannst.«

3

 

Am nächsten Tag herrschten an die dreiunddreißig Grad. Als Nicole eine Eidechse an der Mauer hochhuschen sah, die sich hinter den Zweigen eines Farns versteckte, wusste sie, es würde draußen entsetzlich feucht sein. Durch den kühlen Fliesenboden, die riesigen Farntöpfe und die hohe Decke, wo das Licht durch eine Glaskuppel fiel, fühlte man sich in der Halle wie in einem schattigen Garten. Sie nahm ihre Schlüssel aus der Perlmuttschale, zog den Rock ihres eng sitzenden Kleides herunter und schlüpfte in die passenden hochhackigen Schuhe. Mit dem dringenden Bedürfnis, das Haus zu verlassen und über die Mitteilung ihres Vaters nachzudenken, hatte sie beschlossen, einen Gang in die Stadtmitte zu unternehmen.

Draußen drehte sie sich noch einmal um und sah Lisa die dunkelgrünen Fensterläden zur Seite stoßen. Das dreistöckige Haus sah prächtig aus, der ockerfarbene Putz war frisch gestrichen, und der breite Dachüberstand spendete der ausladenden Veranda Schatten. Ein gänzlich französisch gestalteter Außenbereich ließ nichts von dem indochinesischen Stil vermuten, der sich drinnen durch die blattvergoldeten Lacktafeln hervortat, die im Parterre zu beiden Seiten der Türen angebracht waren.

Nicole hatte den Weg zur Innenstadt eingeschlagen, und nachdem sie einige Male abgebogen war, nahm sie mit halbem Ohr aufgeregte Stimmen wahr. Sie hielt inne, und als sie laute Ausrufe und dann einen schrillen Schrei hörte, ging sie zwei Schritte zurück zu einer Gasse, die im spitzen Winkel von der Hauptstraße abzweigte. Sie spähte hinein, entdeckte aber niemanden. Spielende Kinder, dachte sie und setzte ihren Weg fort. Die Schreie wurden lauter und klangen alarmierend. Kurzerhand bog sie in die Gasse ein, wo mehrere Häuser mit eingeschlagenen Fensterscheiben auf zerstörten Asphalt blickten. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem nachfolgenden Kampf mit den Vietminh warteten noch immer einige Straßen auf Reparatur. Sie zog die Schuhe aus und sprang, soweit es ihr in dem engen Kleid möglich war, über den Schutt an der Biegung, wo Bäume den weiteren Teil der Gasse vor ihrem Blick verbargen.

Nun konnte sie ein halbes Dutzend übererregter französischer Jungen sehen. Beim Näherkommen begriff sie entsetzt, dass sie ein kleines Mädchen zu der Mauer hinter einem Baum trieben. Im Halbkreis der Jungen gab es für das Mädchen kein Entkommen. Es war jünger als seine Peiniger, die Nicole auf dreizehn schätzte. Sie lief näher heran.

»Métisse, métisse!«, skandierte einer der Jungen.

Die anderen fielen höhnisch ein und verzogen dabei verächtlich den Mund.

»Dreckige métisse

»Verschwinde dahin, wo du hergekommen bist.«

Das Mädchen wurde grob herumgedreht, und Nicole erschrak, denn sie erkannte das tränennasse Gesicht – Yvette! Ohne zu überlegen, lief sie die Gasse hinunter. Die Jungen sahen sie kommen und wichen zurück, bis auf die zwei größten, die nicht nachgeben wollten. Eine von Yvettes blauen Schleifen löste sich, und ein Junge packte sie beim Zopf.

»Lass sie los!«, befahl Nicole in autoritärem Ton und tat, als wäre sie Herr der Lage. Im Hintergrund hörte sie den Lärm der Stadt, hupende Autos, quietschende Rikschas, Stimmenlärm, aber noch lauter dröhnte ihr das eigene Herzklopfen in den Ohren.

»Die ist ja selber eine métisse. Hört nicht auf sie«, sagte der größte Junge.

Nicole roch Alkohol und schaute über den Boden, wo zwischen totem Laub und Zementbrocken Weinflaschen und Zigarettenstummel lagen.

»Aber ihr Vater …«, wandte einer der kleineren Jungen ein.

Nicole rannte auf den Wortführer zu, packte ihn beim Kragen und schlug ihn mit ihren Schuhen. »Mein Vater wird dich anzeigen!«

Aufgeblasen wie er war, schlug er zurück, doch einer der Absätze traf ihn im Gesicht. Er hielt inne und griff sich an die Stirn, und wie jeder feige Rüpel fing er an zu winseln, als er das eigene Blut an den Fingern sah.

Nicole kniff die Augen zusammen. »Fasst sie nie wieder an!«

Der Junge machte eine obszöne Geste, zog sich aber zurück.

»Rennt nur weg, ihr Feiglinge! Sich an einem kleinen Mädchen zu vergreifen! Wirklich mutig!«

Ein Junge, einer der stilleren, der sich im Hintergrund gehalten und den sie bisher nicht bemerkt hatte, machte kehrt und kam zurück. Er war dünn und gut gekleidet, und jetzt, da sie ihn genauer ansah, kam er ihr bekannt vor. Dann sah sie in seiner Hand das Messer blitzen.

»Lauf, Yvette«, schrie sie und deutete hinter sich. »Da entlang. Lauf nach Hause, so schnell du kannst.«

Yvette zögerte.

»Los!«

Als das Mädchen rannte, stellte Nicole sich breitbeinig hin und wappnete sich.

Der Junge kicherte und machte einen jähen Sprung auf sie zu, wobei er das Messer durch die Luft zog. Nicole wich aus, bekam ihn jedoch am Arm zu fassen, den sie ihm mit roher Gewalt auf den Rücken drehte.

»Au! Sie tun mir weh!«, schrie er.

»Lass das Messer fallen!«

Er wand sich hin und her und konnte sich losreißen. Dabei ritzte er sie mit der Klinge an der Wange und stieß sie zu Boden. Bestürzt fasste Nicole sich ins Gesicht. Nur vage nahm sie einen Mann wahr, der an ihr vorbeirannte. Als sie aufblickte, hatte er den Jungen schon bei der Kehle gepackt. Ihre Bestürzung wuchs, als sie den Mann erkannte: Mark Jenson.

»Lass das Messer fallen, du kleiner Mistkerl«, rief er, während der Junge schrecklich röchelte und vor Angst die Augen aufriss.

Nicole sah voller Schrecken zu. Kurz schien es, als könnte der Amerikaner den Jungen erwürgen. Gerade wollte sie protestieren, um Schlimmeres zu verhindern, da ließ Mark den Jungen los und stieß ihn weg. Der taumelte rückwärts, fiel aber nicht.

Während die beiden einander anstarrten, fühlte sie plötzlich die Luft an ihrer Haut. Sie kam ihr kühler vor, etwa wie wenn die Sonne hinter Wolken verschwand, der Himmel über ihr war jedoch wolkenlos blau. Der Junge schwang noch immer sein Messer vor sich, und Nicole, der der Schweiß auf die Stirn trat, war sicher, er würde den Amerikaner jeden Augenblick angreifen. Er zögerte noch, und dann besann er sich wohl eines Besseren, denn er trat einen Schritt zurück und ließ das Messer fallen.

Mark machte einen Schritt auf ihn zu und hob die Faust. »Jetzt mach, dass du wegkommst!«

Der Junge rannte davon.

Ein paar Augenblicke lang war alles viel zu still gewesen, doch jetzt nahm sie den Lärm von der Hauptstraße wieder wahr.

Mark drehte sich zu ihr um. »Warte.« Er griff um ihre Taille. Als er sie hochhob, fühlte sie die Wärme seiner Hand durch ihren dünnen Kleiderstoff.

»Ich hätte es auch allein geschafft«, sagte sie, doch sie sahen beide, wie sie zitterte.

Sie wagte kaum, ihre Gefühle zu beleuchten, nachdem sie als métisse bezeichnet worden war, und rang ein plötzliches Schamgefühl nieder. Das war der abwertende Name für Kinder gemischter Abstammung. Bevor die Vietminh die Macht übernommen hatten, wenn auch nur kurz, war es nicht so gewesen. Aber was die Franzosen betraf, hatte inzwischen jeder, der nur halb französisch war und vietnamesisch aussah, mit argwöhnischen Blicken und Geflüster zu rechnen. Sylvie passierte das nie, da sie im Wesentlichen ihrem französischen Vater ähnelte, aber Nicole war nicht zum ersten Mal höhnischen Beleidigungen ausgesetzt gewesen, und das brachte augenblicklich ihre eigene tief empfundene Unsicherheit zutage.

Der Wind frischte auf. Mark wischte ihr mit den Fingern das Blut von der Wange und schmierte es dann in ein Taschentuch.

»Danke.« So viel zu meinem neuen Schliff, dachte sie und versuchte, sich den Chignon neu zu knoten, der schon vorher nicht richtig gesessen hatte. Sie strich sich das Kleid glatt, und dabei fiel ihr ein, wer der Junge gewesen war: Daniel Giraud. Sein Vater war der Polizeichef und mit ihrem Vater befreundet. Das würde nicht gut ankommen.

»Komm«, sagte Mark. »Ich denke, wir brauchen beide etwas zu trinken.«

Er half ihr über die Krater im Asphalt und lief mit ihr zurück zum Boulevard Henri Rivière, wo sie im Schatten der Tamarindenbäume gingen. Als sie sich dem Hotel näherten, verlangsamte er den Schritt. »Wie geht es dir?«

»Bin noch ein wenig erschrocken.«

Sie blieb stehen und schaute ihn aufmerksam an. Er trug ein helles, kariertes Hemd und eine Leinenhose und war so glatt rasiert, wie man es von einem Amerikaner erwartete. Zwanglos gekleidet sah er ebenso gut aus wie im Abendanzug. Vielleicht sogar besser, dachte sie. Kurz blickte sie über die Straße zum französischen Hochkommissariat und hoffte, ihr Vater sei nicht gerade dort. Dann gingen sie beide durch die Glastür des Hotels Métropole.

Mark strich sich die Haare aus der Stirn und deutete einladend auf die Teetische. »Tee oder etwas Stärkeres?«

Sie lächelte ihn an und deutete zu den französischen Fenstern an der Rückseite des Foyers.

Mark schaute zu dem breiten Säulengang, der den Hotelgarten umgab.

»Tee, dort draußen im Schatten«, schlug sie vor. Auf der Veranda würden sie der Band zuhören können, die altmodische Tanzmusik zum Besten gab und hin und wieder Nat King Cole einstreute.

Draußen angelangt, zog er ihr einen Stuhl heran, und sie roch etwas Süßherbes wie Anis und Zitrone und fühlte seinen warmen Atem im Nacken.

Am Nachbartisch saßen drei französische Offiziere. Einer von ihnen lachte, hob seine Zigarre und schwenkte sie zu Nicole hin. Sie schnupperte. Der Rauch zog kräuselnd auf sie zu, und sie lächelte den Mann an.

»Wie läuft es in Hanoi? Gefällt es dir hier?«, fragte sie Mark.

»Eine gute Adresse für Seide.«

»Hast du damit zu tun?«

»Allerdings. Deswegen bin ich hier.«

»Wir haben wirklich wundervolle Seide, aber ich würde auch zu gern mal nach China und Indien fahren. Warst du schon dort?«

Während sie ihren Tee tranken, musterte sie ihn verstohlen unter ihrem dichten Pony. Sein Gesicht war nicht ganz ebenmäßig. Von vorn betrachtet sah er gut aus, doch im Profil war sein Kinn ein bisschen zu kantig. Er hatte eine gerade Nase und feine Fältchen in den Augenwinkeln, wenn er lächelte. Er schien alles ganz genau zu beobachten, während er über die Veranda schaute. Das kannte sie. Erpicht darauf, ebenso französisch zu wirken wie ihre Schwester, hatte sie gelernt, auf die kleinen verräterischen Anzeichen zu achten, wie schnelles Wegsehen und eine gewisse Distanziertheit. Allerdings hatte sie es nie richtig hinbekommen. Vor allem musste man, um so richtig französisch zu erscheinen, ein gewisses Anspruchsdenken ausstrahlen.

Als er den Blick auf ihr Gesicht richtete, bemerkte sie die dunklen Schatten unter seinen Augen, durch die er älter aussah. Er war der erste Mann, zu dem Nicole sich hingezogen fühlte.

»Wie steht’s mit dir?«, fragte er.

»Nun, früher haben wir in Hue am Fluss gelebt und sind nur zu Weihnachten nach Hanoi gekommen, aber jetzt wohnen wir schon fünf Jahre hier. Du hast Glück. Die Welt sehen und Seide kaufen, das war schon immer mein Traum.« Sie schüttelte den Kopf und lachte über sich. »Jedenfalls möchte ich nicht mein ganzes Leben in Hanoi verbringen.«

In dem Moment kam ein Mann mit einer unangezündeten Zigarette zwischen den Lippen an den Tisch. Er redete sie in einer fremden Sprache an, die sich wie Russisch anhörte. Mark verstand ihn offenbar. Er zog sein Feuerzeug, klappte den Deckel auf und hielt dem Mann die Flamme hin, bevor er etwas erwiderte. Es folgte ein Wortwechsel, bei dem Mark der Souveräne war. Während er gelassen blieb, schien der andere aufgebracht, zumindest redete er lauter; schließlich jedoch zuckte er mit den Schultern und ging weg. Es sah ganz so aus, als hätte Mark den Streit gewonnen.

»Nanu, du sprichst Russisch?«, bemerkte Nicole, sowie der Mann außer Hörweite war. »Was hat er gesagt?«

»Nichts von Bedeutung.« Mark zögerte. »Meine Mutter war Russin. Weißrussin. Ihr Vater war Universitätsprofessor, und als er und seine Frau während der Revolution getötet wurden, floh meine Mutter vor den Bolschewiken nach Amerika.«

»Und dein Vater ist Amerikaner?«

»Ja. Sie hat bald geheiratet, nachdem sie eingewandert war, und mich haben sie auch gleich bekommen.«

Sein Tonfall hielt sie davon ab, noch weiter nach seiner Familie zu fragen. »Wie lange hast du vor hierzubleiben?« Sie spielte mit einer Haarsträhne.

»So lange wie nötig.«

Der Kellner kam mit einem Silbertablett und brachte eine weiße Kanne mit Jasmintee und passende Teetassen. Nicole kniff die Augen zusammen und schaute auf Marks Hände, als er dem Kellner dankte. Es waren keine eleganten Bürohände, sondern große Hände, die an körperliche Arbeit gewöhnt waren.

Es wurde still zwischen ihnen, und sobald sie ihren Tee getrunken hatten, seufzte er und schaute auf die Uhr, dann sah er sie an, und seine Augenwinkel kräuselten sich. »Ich habe es wirklich genossen, dich wiederzusehen, Nicole Duval. Du bist wie ein frischer Wind, der plötzlich hereinweht.«

Sie lehnte sich an und konnte ihm nicht in die Augen sehen. Die schienen bis in ihr Innerstes zu blicken, und sie wollte nichts von sich preisgeben. Würde denn ein Mann wie er sich überhaupt für sie interessieren? Als sie dann doch aufschaute, richtete er seine Krawatte und strich sich über die Haare.

»Du gehst schon?«

Er nickte. »So leid es mir tut, aber ich habe eine geschäftliche Verabredung und bin schon spät dran. Es war großartig, dich wiederzusehen. Wenn du dir nicht sicher bist, ob du dich schon so ganz von dem Schreck erholt hast, rufe ich dir ein Taxi.«

Sie lachte. »Weißt du, die Jungen hatte ich schon ganz vergessen.«

»Wenn du möchtest, könnten wir uns wieder treffen und zusammen Kaffee trinken.«

»Das wäre schön.«

»In drei Tagen dann? Sagen wir, um halb zehn zu einem Morgenkaffee? Treffen wir uns am Springbrunnen vor dem Hotel.«

4

 

Nicole schaute über das belebte Farbenspiel eines Marktes im vietnamesischen Viertel. Wie leicht verlor man sich in den alten Straßen, dem Netz von Gassen, die nach Ingwer und Holzkohle rochen. Nicole sah Händlerinnen mit schriller Stimme ihre Waren anpreisen, die Socken, Schals und Baumwollspulen auf mit Stroh und Planen bedeckten Handwagen, während die Männer im Schneidersitz auf niedrigen Schemeln saßen und auf dem Pflaster miteinander würfelten. Von den Markisen kleiner Geschäfte hingen Bambuskäfige, in denen Kanarienvögel sangen, und in der Luft flimmerte der sonnenbeschienene Staub.

Trotz alldem war ihr ein bisschen schwer ums Herz. Nachdem die Japaner am Ende des Krieges abgezogen waren und Ho Chi Minh Vietnam für unabhängig erklärt hatte, war für kurze Zeit eine vietnamesische Regierung an der Macht gewesen. Aber die Franzosen hatten sie bekämpft und, unterstützt von den Briten und Amerikanern, ihr koloniales Indochina zurückgewonnen. Die ganze Zeit über war der Seidenladen geschlossen gewesen, auch jetzt noch, aber sie hatte sich vorgenommen, ihn sich wenigstens einmal anzusehen. Nicole wusste, im Alter von achtzehn Jahren bereits einen eigenen Laden führen zu dürfen war keine Selbstverständlichkeit. Sie jedoch hatte auf mehr gehofft, nachdem man sie stets hatte glauben lassen, ihr stünden noch ganz andere Möglichkeiten offen. Nun war sie enttäuscht und gekränkt, weil ihre Schwester bevorzugt wurde.

Die Geschichte der Franzosen in Indochina, die im neunzehnten Jahrhundert ihre Kolonien errichtet hatten, war Nicole ihr Leben lang eingetrichtert worden. Sie hatten das Land mit ihrer mission civilisatrice, ihrer Zivilisierungsmission, gefördert, hatten Straßen, Schulen und Krankenhäuser gebaut. Aber weil Nicole nach ihrer Mutter kam, sah sie zu vietnamesisch aus, um ganz zu den Franzosen zu gehören, und zu französisch, um ganz zu den Vietnamesen zu gehören. Vor dem Krieg war das nicht wichtig gewesen, jetzt jedoch, da so viel Misstrauen herrschte, spielte es eine Rolle. Sie prüfte die Blicke der jungen vietnamesischen Mädchen, deren spitze Hüte wippten beim Verkauf frittierter Zwiebeln und Brühe, und erkannte sich selbst in ihren ausdruckslosen, aber hübschen Gesichtern. Hinter sich hörte sie schrilles Quieken und sah ein Ferkel aus seinem Behelfskäfig ausbrechen. Es flitzte über die Straße an einer Reihe Hühnerkäfige entlang und zwischen den Beinen von Händlern und Käufern hindurch. Die Hühner flatterten und gackerten, und eine Frau rannte kreischend hinter dem Ferkel her. Nicole beobachtete das kleine Drama schmunzelnd. Vielleicht war es doch gar nicht so übel, hier zu leben. Ständig passierte etwas, es wurde nie langweilig.

Wenn man tiefer in das alte Viertel gelangte, stießen die welligen Dächer der schmalen Häuser aneinander wie betrunkene Dominosteine. Nicole mochte die sechsunddreißig alten Straßen, von denen jede auf eine andere Handelsware spezialisiert war – Hang Non auf Hüte, Hang Dong auf Kupfergeschirr, Hang Gai auf Seidenstoffe, denn dort lebten die Seidenfärber, und die Franzosen nannten sie daher die »Rue de la Soie«.

An einem Stand kaufte Nicole ein klebriges Kokosteilchen, aß es bedächtig und ging weiter, bis sie beim Laden angelangt war, dem ältesten ihrer drei Geschäfte in Hanoi. Sie setzte sich auf die Stufe vor der Tür. Es war Mittag, und trotz der hohen Luftfeuchtigkeit herrschte ringsherum die ansteckende Ausgelassenheit eines sonnigen Tages. Man lachte, aus einem Radio plärrte Musik, und alles war in Bewegung, Fußgänger, Radfahrer und dazwischen Tiere. Und der Duft von Lotusblumen zog durch die Luft. Nicoles Stimmung hob sich.

Ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, kam aus dem Laden nebenan, wo es gemeinsam mit der Mutter Seidengarn verkaufte. Die Kleine war zart und hübsch, und ihr Haar war am Hinterkopf zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr den Rücken hinunterhing. »Hallo«, grüßte sie. »Ist das dein Laden?«

Nicole stand auf und verneigte sich leicht. »Er gehört jetzt mir, ja.«

»Wird er bald wieder aufmachen? Es ist nicht gut, ihn so lange leer stehen zu lassen.«

Nicole schaute zu den verschossenen Stoffballen im Schaufenster des oberen Stockwerks, das ohne Sonnenrollo ein Auge auf die Außenwelt hielt. »Da hast du vielleicht recht.«

»Ich heiße O-Lan«, sagte das Mädchen. »Möchtest du eine Tasse Kaffee?«

Nicole zögerte, aber ihre Nachbarin strahlte sie an, während sie auf ihre Antwort wartete. »Ja, gern, danke. Kann ich mich mal eben drinnen umschauen und dann herüberkommen?«

Nicole betrachtete die Seidenvögel im Schaufenster, die sich langsam drehten, und stellte sich den Laden mit neu bestückten Regalen und neuen Gardinen am oberen Fenster vor. Das junge Mädchen war freundlich zu ihr, und der Laden wirkte gar nicht so schäbig wie erwartet. Zu ihrer eigenen Überraschung war sie bester Laune.

Nachdem sie aufgeschlossen hatte, stieg ihr der stickige Geruch eines über lange Zeit nicht gelüfteten Raums in die Nase. Mit angehaltenem Atem eilte Nicole durch den schlauchartigen Flur zur Hintertür und riss sie weit auf. Im Innenhof zupfte sie an einigen gelben Blüten der Kletterpflanze, von der die Hofmauern überwachsen waren und die einen Teil der oberen Fenster verdunkelte. In dem nicht überdachten Hof lebten offenbar ein Dutzend Katzen. Sie lagen schlafend auf den Steinplatten und sonnten sich. Katzen vertilgen Ungeziefer, dachte Nicole. Der Tonofen und die zerbrochenen Töpfe auf einer Bank verrieten, dass in dem Hof gekocht worden war, und es gab auch einen Brunnen. Nicole schaute rasch in das einfache Bad auf der linken Seite, betrat dann die Küche, die eine eigene Tür zum Hof hatte, und besichtigte die derzeit dunklen Räume des Personals. Als sie an der Rückseite der Vorratskammer eine Tür entdeckte, zog sie den Riegel beiseite und öffnete sie. Die Tür führte auf eine schmale Gasse. Nicole schaute zurück zum Vorderhaus und sah, dass O-Lan in Töpfen auf ihrem Balkon orange und rote hoa cúc, Chrysanthemen, zog. Sie nahm sich vor, Pflanzen zu kaufen.