image

Cathy Williams

Geheimnis einer Tropennacht

IMPRESSUM

JULIA erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG,
20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Brieffach 8500, 20350 Hamburg
Telefon: 040/347-25852
Fax: 040/347-25991

© 2007 by Cathy Williams
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA
Band 1849 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Trixi de Vries

Fotos: RJB Photo Library

Veröffentlicht im ePub Format im 12/2010 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86295-132-1

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

1. KAPITEL

Nick Papaeliou hatte noch nie einen so seltsamen Abend erlebt.

In der Öffentlichkeit ausgetragene Auseinandersetzungen waren ihm ein Gräuel. Er wollte stets alles unter Kontrolle haben, sogar seine Gefühle. Und was war vor kaum einer Stunde passiert? Seine Freundin, besser gesagt Exfreundin, hatte sich betrunken und in aller Öffentlichkeit Streit mit ihm gesucht. So ein Verhalten war natürlich unverzeihlich und der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Susannas Wunsch nach einer ‚festen Beziehung‘ war ihm schon lange auf die Nerven gegangen. Jetzt hatte ihr Verhalten ihm den perfekten Grund geliefert, Schluss zu machen. Er hätte die Beziehung längst beendet, wenn er nicht mitten in schwierigen Verhandlungen gesteckt hätte.

Und dann diese Party heute Abend, bei der es sich nicht um eine langweilige Veranstaltung mit Models handelte, sondern um die Einladung eines Modeschöpfers, der nach Höherem strebte. Der Wein floss in Strömen und löste so manche Zunge. Auch Susannas. Vor vierzig Leuten hatte das Model ihm eine Szene gemacht – hatte getobt, geschluchzt, gebettelt.

Natürlich hatte er die Party umgehend verlassen. Am Laptop in seinem Penthouse würde er die hässliche Szene schnell vergessen. So hatte er es geplant, doch es war ganz anders gekommen.

Unauffällig musterte er die blonde junge Frau an seiner Seite im Taxi. Sie hatte auf der Party gekellnert und hatte das Haus gleichzeitig mit ihm verlassen. Obwohl er sich zu dieser Schönheit überhaupt nicht hingezogen fühlte, hatte er sie auf einen Kaffee in einem Café in der Nähe eingeladen und sich ihre Geschichte angehört. Wie so viele andere Frauen ihres Alters träumte sie von einer Karriere als Schauspielerin. Aufgeregt und voller Optimismus erzählte sie von ihren Plänen.

Ihre unbeschwerte Jugendlichkeit hatte ihn gerührt. Gleichzeitig hatte er ihr behutsam zu verstehen gegeben, dass er nicht an einer Beziehung interessiert war.

Aber wie lange wollte er sein Junggesellenleben eigentlich noch führen? Als Nick Mitte zwanzig war, war sein Vater gestorben, seine Mutter war ihm vor acht Jahren gefolgt. Fehlte ihm der Druck der Eltern, zu heiraten und die obligatorischen zwei Komma zwei Kinder in die Welt zu setzen? Oder lag es an der steilen Karriere, die ihm Reichtum und Macht eingebracht hatte? Für eine Frau war in seinem Leben auf Dauer einfach kein Platz.

Und jetzt hatte er die liebenswerte Lily kennengelernt, die freiberuflich als Model arbeitete und auch sonst fast jeden Job annahm, um sich bis zu dem ersehnten Durchbruch als Schauspielerin über Wasser zu halten. Diese junge Frau löste fast Vatergefühle in ihm aus.

Deshalb saß er jetzt neben ihr im Taxi. Sie hatte ihn auf einen Absacker zu sich eingeladen. Seine Ausflüchte, er müsse nach Hause, um zu arbeiten, hatte sie nicht gelten lassen.

„Niemand arbeitet mitten im Winter um Mitternacht an einem Samstag.“ Lily war schockiert.

Er fand ihre erfrischende Naivität amüsant. Außerdem rührte es ihn, wie sie versuchte, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Auch sie war ja Zeugin der unschönen Szene mit Susanna gewesen. Außerdem schien sie großen Respekt vor ihm zu haben. Ihre großen blauen Augen verrieten sie. Nick war es gewöhnt, seine Mitmenschen zu beeindrucken.

Nach langer Fahrt durch ein Gewirr von Straßen mit unbeleuchteten Reihenhäusern hielt das Taxi schließlich am Zielort. Lily bestand darauf, den Fahrpreis zu entrichten, obwohl sie doch wissen musste, dass es sich bei ihrem Begleiter um einen Milliardär handelte.

„Wir leben sehr bescheiden“, sagte sie entschuldigend, als sie in der Handtasche nach dem Haustürschlüssel suchte.

Nick machte eine höfliche Bemerkung, musste jedoch zugeben, dass ‚bescheiden‘ noch untertrieben war. Die ganze Gegend machte einen heruntergekommenen Eindruck, und dieses Haus bildete keine Ausnahme.

Solchen Verhältnissen war er durch harte Arbeit längst entwachsen. Seine Eltern waren griechische Einwanderer und mit dem zufrieden gewesen, was sie sich erschaffen hatten. Schon als Kind hatte Nick sich in den Kopf gesetzt, es zu etwas zu bringen. Nach Abschluss des Studiums mit Auszeichnung hatte er einen so kometenhaften Aufstieg in der Finanzwelt hingelegt, dass seine Kollegen aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen waren. Schritt für Schritt hatte er sein eigenes Finanzimperium aufgebaut. Er war der Boss, auf ihn hörte man im Big Business.

Wer so wohlhabend und einflussreich war, verfügte natürlich auch über das dazugehörende Drum und Dran. Nick nannte ein Anwesen im sonnigen Süden und einen Landsitz sein Eigen. Leider fand er nur selten Zeit, sich dort aufzuhalten. Meistens hielt er sich in seinem Penthouse in einem der Nobelviertel Londons auf. Selbstverständlich ließ er sich in seiner Luxuslimousine chauffieren und nahm den Hubschrauber, wenn er es besonders eilig hatte.

Jetzt fand er sich also im Flur eines renovierungsbedürftigen Hauses wieder. Zwar hatte sich jemand die Mühe gemacht, die Wände in einem freundlichen Gelbton zu streichen, doch der abgetretene Teppich machte den positiven Eindruck gleich wieder zunichte.

Während Lily sich erleichtert ihrer Stiefel entledigte, machte Nick die Haustür zu und nahm dabei nicht die sich nähernden Schritte wahr. Erst als er Lilys erschrockenen Aufschrei hörte, wurde ihm bewusst, dass sich noch jemand im Haus befand.

„Rosie! Wieso bist du noch auf?“ „Wer ist das?“, fragte eine ungewöhnlich rauchige Frauenstimme.

Nick drehte sich um und sah in Augen von einem unglaublichen Blau, die ihn wütend anfunkelten. Sie gehörten einer Frau, die all ihre Reize unter einem voluminösen Bademantel, unter dem noch ein schrecklich kitschiger Schlafanzug hervorlugte, versteckte.

„Also wirklich, Rose! Wie oft soll ich dir denn noch sagen, dass du nicht auf mich zu warten brauchst. Ich bin doch kein kleines Kind mehr.“

Die Frau, die Nick auf Ende zwanzig schätzte, machte ein ungläubiges Gesicht.

„Das wage ich zu bezweifeln, Lily. Du kannst doch nicht um ein Uhr nachts mit einem wildfremden Mann hier aufkreuzen! Wieso ist es eigentlich so spät geworden? Du wolltest heute doch früher nach Hause kommen.“

„Das hatte ich auch vor, aber dann … Das ist übrigens Nick, Rose. Nick Papaeliou. Du hast sicher schon von ihm gehört.“

„Nein, habe ich nicht“, antwortete Rose kurz angebunden. „Du weißt ganz genau, dass ich keine Ahnung von den Models habe, mit denen du herumhängst.“

„Model?“ Nick traute seinen Ohren nicht. Und wieso wurde er so unglaublich verächtlich gemustert? „Sie halten mich für ein Model?“

„Was denn sonst?“

„Bitte entschuldigen Sie sie, Nick. Sie meint es nicht so. Rose ist sehr um mich besorgt. Ständig hat sie Angst, ein großer böser Wolf könnte über mich herfallen. Eigentlich finde ich das ja sogar ganz cool. Wozu sind große Schwestern sonst da?“

„Rose ist Ihre Schwester?“ Nick betrachtete die kleine wohlgeformte Frau etwas genauer. Noch immer blickte sie ihn abweisend an. Ihre Wangen hatten sich leicht gerötet.

„Sie brauchen mich gar nicht so erstaunt anzusehen“, sagte Rose kühl.

„Eigentlich sind wir Stiefschwestern“, erklärte Lily lächelnd. „Ist das nicht unglaublich? Man hört immer wieder, dass Stiefgeschwister sich nicht verstehen, aber Rose und ich gehen durch dick und dünn.“ Zärtlich lächelte sie ihr zu. Sie überragte ihre Stiefschwester um mindestens 15 Zentimeter. „Ich habe Nick auf einen Absacker eingeladen, Rosie. Kümmerst du dich bitte darum? Ich muss mal kurz nach oben.“

Wie üblich nahm Lily zwei Stufen auf einmal. Das hatte sie schon als Kind getan. Die süße, immer fröhliche Lily, die in jedem Menschen nur das Gute sah. Auch in diesem Mann, der ihr immer noch verblüfft nachsah. Wahrscheinlich fragte er sich, wie diese langbeinige Blondine mit dem bis zur Taille reichenden Haar eine Stiefschwester haben konnte, die das genaue Gegenteil von ihr war.

Rose betrachtete ihn nun eingehend. Der Mann sah unverschämt gut aus, hatte ein markantes, sinnliches Gesicht, schwarzes Haar und unglaublich lange Wimpern. Es kostete sie erhebliche Willensstärke, den Blick nicht zu senken. Wahrscheinlich handelte es sich bei diesem Nick um einen drittklassigen Schauspieler, der ihr eine Rolle vorspielte.

„Bleiben Sie immer auf, bis Ihre Schwester nach Hause kommt, Rose?“ Sie überhörte die Frage, bedachte ihn nur mit einem geringschätzigen Blick, wandte sich um und ging in die Küche.

„Es ist mir egal, ob Sie mich für unhöflich halten, Mr. Papaeliou. Lily wird immer wieder von nichtsnutzigen, gut aussehenden Männern enttäuscht. Das möchte ich in Zukunft verhindern.“

Offensichtlich hatte sie sich gerade selbst ein heißes Getränk gemacht, denn das Wasser im Kessel war noch heiß. Statt einem Glas Portwein oder Likör schenkte sie ihm einen Becher Kaffee ein, den sie ihm abweisend reichte. Dann baute sie sich mit verschränkten Armen vor Nick auf.

„Meine Schwester hat ihr Leben ganz gut im Griff, wenn man davon absieht, dass sie zu vertrauensvoll ist. Jedenfalls kann sie darauf verzichten, sich mit einem drittklassigen Schauspieler einzulassen.“

Zum ersten Mal in seinem Leben war Nick sprachlos. „Drittklassiger Schauspieler?“, fragte er schließlich ungläubig.

„Was sonst? Ihr Machogehabe können Sie sich für Ihre Actionfilme aufheben. Mich beeindrucken Sie damit nicht. Leider fliegt Lily auf gut aussehende Typen. Aber bisher hat sie noch jeder enttäuscht.“

Fassungslos hatte Nick sich ihre Kommentare angehört. Am liebsten hätte er diese Rose sofort über seine Person aufgeklärt, doch er hatte keine Lust, morgens um ein Uhr mit einer Frau zu streiten, die ihn angriffslustig wie ein Rottweiler anfunkelte. Also rang er sich lediglich ein Lächeln ab und sagte kühl: „Dann sind Sie also ihr Wachhund. Sehr nobel von Ihnen. Weiß Lily das? Oder verbellen Sie ihre Verehrer nur, wenn Ihre Schwester Ihnen mal kurz den Rücken zuwendet?“ Er stellte den vollen Becher Kaffee auf den Küchentisch. „Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber weder bin ich ein strohdummes Model, das mit dem nächstbesten attraktiven Mädchen ins Bett geht noch ein drittklassiger Schauspieler.“

„Nein? Ist doch egal, ob Model, Schauspieler, Regisseur – es spielt keine Rolle. Lily hat gerade eine unglückliche Beziehung hinter sich, und ich möchte verhindern, dass sie gleich wieder Schiffbruch erleidet. Sie haben also keine Chance, tut mir leid.“

Nick, der es gewöhnt war, dass ihm die gesamte Damenwelt zu Füßen lag, hatte den Eindruck, im falschen Film zu sein. Erst die Szene mit Susanna, über die bestimmt irgendein Klatschblatt berichten würde und nun diese Auseinandersetzung mit einer wildfremden Frau, die kein Blatt vor den Mund nahm.

Bevor er auf Roses Anschuldigungen reagieren konnte, kam Lily in die Küche gestürmt und entschuldigte sich für ihre lange Abwesenheit. Sie hatte das dringende Bedürfnis nach einer Dusche verspürt, um den Gestank nach Zigarettenrauch loszuwerden. Alle Partygäste hatten geraucht. Ob es sich tatsächlich um Tabak gehandelt hatte, entzog sich ihrer Kenntnis.

Selbst zu dieser nachtschlafenden Zeit und nach einem anstrengenden Arbeitstag wirkte Lily unglaublich frisch und lebendig und sehr, sehr jung. Wie konnte ihre Schwester nur ansatzweise glauben, dass er, Nick Papaeliou, der jede Frau haben konnte, sich zu Lily hingezogen fühlen könnte?

„Habt ihr euch schon ein wenig angefreundet?“, fragte Lily fröhlich. Nick fing Roses abweisenden Blick auf. Lily trank ein Glas Wasser und wandte sich um, sodass sie Rose und Nick im Blick hatte.

„Klar“, behauptete Nick gewandt und lächelte Rose bedeutungsvoll zu. „Wir verstehen uns blendend.“

„Das ist ja wunderbar!“ Lily strahlte. „Du musst wissen, Rose, dass der arme Nick sich vorhin von seiner Freundin getrennt hat. Da mochte ich ihn nicht seinen trüben Gedanken überlassen und habe mich seiner angenommen.“

Das bedeutungsvolle Lächeln verschwand, als Rose wissend die Augenbrauen hochzog und nickte.

„Ich habe gar keinen trüben Gedanken nachgehangen, Lily.“ Nick war sich Roses wissendem Blick nur zu bewusst. „Das Ende unserer Beziehung hatte sich schon lange angekündigt. Spätestens morgen hätte ich mit Susanna Schluss gemacht.“ Es sah ihm überhaupt nicht ähnlich, sich mit Menschen, die er gerade erst kennengelernt hatte, über sein Privatleben zu unterhalten.

„Wieso besuchen Sie eine Party mit einer Frau, der sie den Laufpass geben wollen?“, fragte Rose mit Unschuldsmiene. „Die arme Frau hat sicher gedacht, Sie machen sich etwas aus ihr.“

Nick biss sich auf die Lippe. „Wenn Sie Susanna kennen würden, kämen Sie nicht auf die Idee, sie als ‚arme Frau‘ zu bezeichnen.“

„Trotzdem …“ Rose schwieg vielsagend.

Einen Moment lang vergaß Nick Lily. „Trotzdem was?“

„Trotzdem muss es schrecklich sein, wenn jemand in aller Öffentlichkeit mit einem Schluss macht. Die Zeitungen sind ja voll von Berichten über Stars und Sternchen, die öffentlich ihre schmutzige Wäsche waschen. Aber noch schlimmer ist es, wenn man es in Anwesenheit von Freunden tut. Die arme Susanna muss ziemlich verzweifelt gewesen sein.“

Das Gespräch verwirrte Lily zunehmend.

Nick hatte alles um sich herum vergessen. Selbst Lily nahm er nicht wahr, obwohl sie ihm direkt gegenüberstand. „So, jetzt muss ich aber gehen“, sagte er schließlich.

„Ach, wie schade. Dann werde ich Ihnen wohl ein Taxi rufen müssen. Es kann allerdings dauern, bis eins hier ist. Wie Sie sicher bemerkt haben werden, wohnen wir ziemlich außerhalb.“ Rose wandte sich ihrer Schwester zu. „Du siehst erschöpft aus, Lily. Warum gehst du nicht ins Bett? Ich werde Nick Gesellschaft leisten, bis das Taxi kommt.“

„Sei nicht albern, Rose.“ Lily gähnte herzhaft. „Ich kann Nick doch nicht auf einen Drink einladen und mich dann verziehen.“

„Ich hatte schon etwas zu trinken. Ihre Schwester hat mir einen Becher Kaffee gemacht.“

„Aha. Rose hält nicht viel von Alkohol, Nick.“ Lily lächelte entschuldigend.

„Ich glaube kaum, dass Mr. Papaeliou sich für meine Trinkgewohnheiten interessiert, Lily.“

„Ich heiße Nick.“

Diese Bemerkung wurde geflissentlich überhört. „Du schläfst ja schon im Stehen ein, Schwesterherz. Abmarsch ins Bett. Ich begleite Mr. Pa… Nick hinaus.“

„Aber …“

„Ich kann ja ausschlafen, aber du willst doch morgen früh gleich ins Fitnessstudio.“

„Also gut.“

Energisch schob Rose ihre Schwester zur Treppe. „Schlaf gut, Lily.“

Sowie Lily nach oben verschwunden war, zog Nick sein Jackett gerade, lehnte sich an die Wand und sah Rose an.

Die wurde sich plötzlich ihrer unangemessenen Bekleidung bewusst. Die gedämpfte Beleuchtung im Flur, die Tatsache, dass Lily wahrscheinlich in diesem Moment ins Bett kroch, die Art und Weise, wie Nick sie betrachtete … Nervös zog Rose den Bademantel fester um sich, damit auch ja keins der tänzelnden Rentiere, mit denen ihr Pyjama gemustert war, hervorblitzte. Sie hatte sich über das Weihnachtsgeschenk ihrer humorvollen Freundin gefreut. Doch jetzt wollte sie Autorität ausstrahlen und musste vermeiden, dass Nick einen Blick auf die trunken wirkenden Tiere erhaschte.

„Da Sie Lily jetzt ja ins Bett verfrachtet haben, wollen Sie Ihre Anschuldigungen wohl fortsetzen, oder?“ Nick kam ihr bedrohlich näher.

Rose musterte ihn beunruhigt. „Ich habe sie nicht ins Bett verfrachtet“, entgegnete sie.

„Den Eindruck machte es aber. So, dann rufen Sie mir jetzt bitte ein Taxi, damit wir es hinter uns bringen.“ Nick folgte ihr in die Küche und sah zu, wie sie sich an den Küchentisch setzte und in ihrem Handy nach der Telefonnummer der Taxizentrale suchte, die sie nun anrief. Dabei behielt sie ihn im Auge. Sie dachte gar nicht daran, sich von ihm einschüchtern zu lassen – von einem Mann, der die Frauen wechselte wie seine Hemden und sie ohne Schuldgefühle in aller Öffentlichkeit an die Luft setzte. Die arme Susanna!

Bis zur Ankunft des Taxis galt es fünfzehn Minuten zu überbrücken. Rose wollte gerade fortfahren, Nick die Meinung zu sagen, als der auf sie zukam und sich zu ihr hinunterbeugte. Sie spürte die volle Kraft seiner Persönlichkeit.

„Bevor Sie das tun, würde ich auch gern etwas sagen.“ Nick lächelte.

Was bildet der sich eigentlich ein?, überlegte sie und zwang sich zur Ruhe. Aus dieser Nähe betrachtet, waren seine Augen tiefgrün. Sie glitzerten eiskalt wie grüne Diamanten.

„Ich finde, Sie sollten sich mehr auf ihr eigenes Leben konzentrieren und Ihre Schwester ihr eigenes Leben führen lassen. Es ist doch unnatürlich, dass Sie wie eine Glucke auf ihre Heimkehr warten.“ Er wusste selbst nicht, was ihn dazu bewog, sich in die Angelegenheiten dieser Frau zu mischen. Es konnte ihm doch egal sein, wie sie ihr Leben gestaltete. Jeder musste selbst wissen, was er tat und was er ließ.

Rose saß wie vom Donner gerührt reglos auf dem Küchenstuhl. Insgeheim wusste sie, dass Nick recht hatte. Aber es war ihr nun einmal zur Gewohnheit geworden, sich um Lily zu kümmern. Die konnte sie nicht so einfach abschütteln. Ihre Eltern – ihre gemeinsame Mutter und Lilys Vater – waren gestorben, als die Schwestern noch klein waren. Rose und Lily waren bei ihrer Tante und deren Mann aufgewachsen, die sich selbst als Reisende auf der Suche nach dem Sinn des Lebens bezeichneten. Das bedeutete, dass sie ständig umherzogen, ohne sich um die Bedürfnisse der kleinen Mädchen zu scheren.

Rose, die fast sieben Jahre älter war als ihre Stiefschwester, hatte seit ihrem zehnten Lebensjahr für Lily gesorgt. Inzwischen war aus der Kleinen eine zweiundzwanzigjährige erwachsene Frau geworden. War sie wirklich noch darauf angewiesen, dass ihre vernünftige Schwester jeden Abend auf sie wartete?

„Es ist mir völlig egal, was Sie denken.“

„Was würde Ihre Schwester davon halten, wenn sie wüsste, dass Sie mir praktisch den Umgang mit ihr verbieten?“

„Sie würde mir dankbar sein.“

„Oder sie würde es als Einmischung in ihr Leben betrachten.“

„Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind, dass Sie sich einbilden, so mit mir reden zu können?“, fragte Rose erbost.

„Jedenfalls kein Model oder Schauspieler und auch kein lüsterner Regisseur.“ Nick richtete sich auf, zog sich einen Küchenstuhl heran und setzte sich direkt vor Rose.

„Es ist mir völlig gleichgültig, welchen Beruf Sie ausüben, Mr. Papaeliou.“

„Ich bin in der Finanzwirtschaft tätig. Und ich habe es wirklich nicht nötig, Frauen für – nicht vorhandene – halbseidene Projekte anzulocken.“

„Das ändert nichts an der Tatsache, dass Sie Ihrer Freundin vor allen Leuten den Laufpass gegeben und sich innerhalb von Minuten das nächste Opfer gesucht haben.“

Nick war außer sich vor Wut. Noch nie war er Ziel eines so unfairen Verbalangriffs geworden. Noch dazu von einer Person, die ihn überhaupt nicht kannte! Normalerweise behandelten seine Mitmenschen ihn mit Samthandschuhen. Die einzige Ausnahme bildeten seine Exfreundinnen, die schon mal hysterisch oder ausfallend reagierten, wenn er sie verließ. Doch damit konnte er umgehen. Da er keiner Frau etwas versprochen hatte, war er sich keiner Schuld bewusst und hatte ein reines Gewissen. Worte wie Liebe und dauerhafte Beziehung nahm er gar nicht erst in den Mund. Roses Unterstellungen machten ihn sprachlos, doch statt sich zu verteidigen stand er auf und verließ die Küche.

Rose folgte ihm wortlos. Es war alles gesagt. Nick zog sich seinen Mantel über und ging zur Haustür.

Bei dieser Beleuchtung wirkte der Mann unglaublich sexy. Rose zog den Bademantel noch enger um sich, als ein Schauer der Erregung über ihren Rücken lief. Dieser Mann könnte jede Frau haben, dachte sie. Ein einziger Blick genügte, um Frauenherzen dahinschmelzen zu lassen. Gut, dass sie gerade noch rechtzeitig erkannt hatte, was für ein Herzensbrecher er war. Was hätte die arme Lily sonst wieder durchgemacht!

„Danke für den Kaffee“, sagte er kühl. „Und für die Gardinenpredigt. Ich möchte Ihnen einen Tipp geben: Machen Sie etwas aus Ihrem Leben, gehen Sie am Wochenende aus, dann hören Sie auch auf, sich unnötige Sorgen um Ihre Schwester zu machen. Ich warte draußen auf das Taxi.“

Als er die Tür öffnete, fuhr der Wagen auch schon vor.

Nick war wütend und verletzt und bekam von der Heimfahrt wenig mit. In seinem Penthouse blinkte der Anrufbeantworter. Als Nick Susannas weinerliche Stimme hörte, löschte er die Nachricht ohne sie bis zum Ende angehört zu haben.

Die Gedanken an die verflixte Rose, diesen kleinen Racheengel, ließen sich leider nicht löschen – im Gegenteil: sie verfolgten ihn bis zum Morgen.

Dem Racheengel ging es nicht besser. Nachdem Rose wütend die Haustür zugeknallt hatte und ins Bett gegangen war, kreisten ihre Gedanken um Nick. ‚Machen Sie etwas aus Ihrem Leben‘, hatte er gesagt und damit genau ins Schwarze getroffen. Sie war jetzt neunundzwanzig Jahre alt, und was tat sie? Sie trug noch immer Pyjamas mit albernen Mustern und kümmerte sich um ihre Schwester, obwohl Lily inzwischen wirklich alt genug war, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Wann hatte sie zuletzt eine Party besucht? Ihr Onkel und ihre Tante, die darauf bestanden hatten, mit Tony und Flora angeredet zu werden, hatten alles getan, damit sie und die Mädchen ein wildes Leben ohne jegliche Verantwortung führen konnten. Das Leben war wunderbar und aufregend. Man sollte ihm mit Neugier und Begeisterung begegnen.

Rose wusste nicht, wie oft sie sich das hatte anhören müssen. Tony und Flora hatten auch behauptet, dass Bildung eine gute Sache war, aber in Maßen. Der beste Lehrmeister sei sowieso das Leben selbst. Diese Einstellung war Rose von Anfang an gegen den Strich gegangen. Das Nomadenleben war nichts für sie. Und gegen Hülsenfrüchte und Soja hatte sie eine starke Abneigung entwickelt. Aus Protest aß sie Hamburger und Pommes frites und steckte ihre Nase in Bücher, bis Tony und Flora sie schließlich nicht mehr drängten, sich zu amüsieren. Standhaft hatte sie sich geweigert, Zigeunerröcke und Patchworkjacken aus Secondhandläden zu tragen. Und sie hatte dafür gesorgt, dass auch Lily mit beiden Beinen auf dem Boden stand, trotz des Hippielebens, das ihre Verwandten führten.

Eigentlich hatte sie für Parties nie Zeit gehabt. Als Tony und Flora sich schließlich in ihrem Wohnmobil nach Cornwall aufmachten und die Schwestern ihrem Schicksal überließen, hatte Rose angefangen zu studieren und hart gearbeitet, um sich etwas aufzubauen. Ein gesichertes Einkommen war ihr sehr wichtig. Nicht zuletzt, um Lily ein Heim bieten zu können.

Lily führte ein recht unstetes Leben. Immer wieder wechselte sie die Jobs, bewarb sich hier mal für eine kleine Rolle, dort für einen Werbespot, ging jedoch meistens leer aus. Sie brauchte eine feste Größe in ihrem Leben, und das war Rose. Auf Rose war Verlass. Rose tröstete sie, wenn sie mal wieder an den Falschen geraten war.

Rose war klug genug, am nächsten Morgen kein Wort über die Vorfälle der vergangenen Nacht zu verlieren.

Doch eines Abends, als sie gemeinsam beim Essen saßen, sprach sie das Thema an. „Hast du eigentlich noch mal was von diesem Typen gehört? Wie hieß er doch gleich? Der dich neulich nach der Party nach Hause begleitet hat.“

Lily wickelte Spaghetti auf ihre Gabel und lächelte. „Du meinst Nick. Nick Papaeliou. Du willst mir doch nicht weismachen, dass du seinen Namen vergessen hast, Rosie? Ja, ich bin zweimal mit ihm ausgegangen.“

Rose verschluckte sich und trank schnell einen Schluck Wasser. „Zweimal? Das hast du bisher mit keinem Wort erwähnt.“

„Ich wollte es dir ja erzählen, Rosie, aber …“

„Aber was?“ Der schuldbewusste Blick ihrer Schwester war ihr nicht entgangen. Lily konnte ihr nicht einmal in die Augen sehen.

„Ich hatte Angst, du könntest mich ausschimpfen. Nick hatte den Eindruck, dass du ihn nicht leiden kannst.“

„Tatsächlich? Wie kommt er denn darauf? Der Mann muss verrückt sein.“

„Das ist er ganz sicher nicht. Er hat alles, was man sich nur wünschen kann. Er hat erzählt, du hättest ihn für einen drittklassigen Schauspieler gehalten.“ Lily lachte amüsiert. „Ich hätte gern sein Gesicht gesehen, als du ihm das an den Kopf geworfen hast. Er war entrüstet, als er mir das erzählt hat.“

„Kann sein, dass ich so etwas zu ihm gesagt habe“, antwortete Rose. „Ich will dir ja nicht den Spaß verderben, Lily, aber einen besonders verlässlichen Eindruck hat der Mann nicht auf mich gemacht.“

„Was meinst du mit verlässlich?“

„Jemand, der für einen da ist, wenn es einem schlecht geht. Er sieht ja ganz beeindruckend aus, aber das weiß er auch. Auf solche Typen ist selten Verlass.“

„Und ich suche mir ja immer die falschen Männer aus“, sagte Lily reumütig.

Rose nickte nachdrücklich.

„Aber Nick ist anders, Rosie. Es ist mir egal, ob er gut aussieht oder reich ist. Ich finde ihn einfach nur nett.“

Nett? Sprach Lily von dem gleichen Mann wie sie?

Aber warum sollte er eigentlich nicht nett sein zu Lily? Sie war bildhübsch und sexy. Wohingegen er Rose sein wahres – ausgesprochen arrogantes – Gesicht gezeigt hatte.

„Wenn du ihn besser kennen würdest, wärst du meiner Meinung. Ganz bestimmt. Ach ja, was ich noch sagen wollte …“

„Was denn?“

„Nick hat uns beide für nächsten Samstag zu einer Party eingeladen. Er ist wirklich cool. Jedenfalls besteht er darauf, dass du mitkommst. Ist er nicht süß? Wir müssen uns natürlich etwas Schickes zum Anziehen kaufen. Es ist eine kleine Party in einem sehr exklusiven Klub, der Nick gehört. Es sind nur Prominente eingeladen. Und wir natürlich. Ist das nicht aufregend?“

„Das finde ich gar nicht.“ Rose geriet in Panikstimmung. „Ich weiß nicht, also, ich bin nicht sicher, ob …“ Allein der Gedanke, in einen kleinen, sehr feinen Klub zu gehen, der Nick Papaeliou gehörte, versetzte sie in Angst und Schrecken.

„Du musst ihm eine zweite Chance geben, Rose!“ Und dann zog Lily ihren höchsten Trumpf hervor. „Wenn ich dir wirklich so wichtig bin, wie du immer behauptest, dann kommst du mit.“

2. KAPITEL

Nick nahm sich einen Drink und warf nervös einen Blick auf seine Armbanduhr. Auf der Party, die er extra für Lily arrangiert hatte – obwohl sie das niemals erfahren würde – herrschte eine ausgelassene Stimmung. Er hatte alle wichtigen Leute der Theaterwelt eingeladen, dazu einige Sponsoren, die sich für Kunst interessierten und als besonderen Anreiz diverse Supermodels.

Obwohl die Einladung sehr kurzfristig war, hatte niemand abgesagt. Wenn Nick Papaeliou eine seiner seltenen Parties gab, wollte keiner fehlen.

Leider ließ die Hauptperson noch auf sich warten. Auch ihre Schwester war noch nicht aufgetaucht.

Immer wieder blickte Nick erwartungsvoll zur Tür. Er ahnte, warum die beiden zu spät kamen. Entweder hatte Rose beschlossen, der Party fernzubleiben, oder sie setzte alles daran, möglichst spät aufzutauchen. Es wäre wesentlich einfacher gewesen, nur Lily einzuladen, doch Roses Abweisung hatte ihn so sehr herausgefordert, dass er unbedingt beweisen wollte, wie wenig es ihm darum ging, mit Frauen wegen ihrer Schönheit anzubandeln.

Jetzt ging die Tür auf und er erblickte Lily. Sie trug ein dezentes hellblaues Seidenkleid mit rundem Ausschnitt. Suchend sah sie sich nach Nick um, während er neugierig an ihr vorbeiblickte. War Rose mitgekommen oder nicht?

Er stellte sein Glas ab und ging Lily entgegen. Als er näher kam, entdeckte er Rose, die sich halb hinter der Tür versteckte.

„Da bist du ja.“ Herzlich lächelte er Lily zu und begrüßte dann Rose. „Schön, dass Sie es auch einrichten konnten. Ich hatte schon befürchtet, Sie hätten für sich beschlossen, dass diese Gesellschaft für Sie nicht interessant genug sein könnte.“

Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Vier Tage lang hatte Rose alles versucht, sich vor dieser Party zu drücken. Es war ihr gar nicht recht gewesen, dass Lily auch in ihrem Namen zugesagt hatte. Zunächst hatte sie behauptet, nichts zum Anziehen zu haben. Dann war ihr die Entschuldigung eingefallen, Lily nicht im Weg stehen zu wollen. Auch damit war sie auf taube Ohren gestoßen. Schließlich war sie mit der Wahrheit herausgerückt: Parties, die von Menschen besucht wurden, die gesehen werden wollten und die ständig nach noch interessanteren Gesprächspartnern Ausschau hielten, waren einfach nichts für sie.

Außerdem wollte sie Nick auf keinen Fall wiedersehen. Es ging ihr gegen den Strich, dass er sich mit ihrer Schwester traf und sich arrogant über Roses nachdrücklichen Wunsch, Lily in Ruhe zu lassen, hinweggesetzt hatte.

Ihre ablehnende Haltung verstärkte sich mit jeder Minute.

Er sah fantastisch aus. Im blütenweißen Hemd und schwarzer Hose wirkte er alles andere als konventionell, sondern unergründlich und unglaublich sexy. Vielleicht lag es an den aufgekrempelten Ärmeln oder an seinem sonnengebräunten Teint.

Rose war froh, die Wand hinter sich zu spüren, die ihr in diesem Moment Halt bot. „Das ist sie auch nicht“, antwortete sie kurz angebunden.

„Worauf wartet ihr?“, fragte Nick. „Kommt näher und lernt all diese hübschen Menschen kennen.“ Diese Bemerkung konnte er sich einfach nicht verkneifen. Natürlich wusste er, dass Rose nun erst recht nervös wurde.

Lilys Reaktion war völlig entgegengesetzt. Strahlend hakte sie sich bei ihm ein und wartete gespannt darauf, dass er sie zu den anderen Partygästen führte. Rose ignorierte den Arm, den er ihr bot.

Sie fühlte sich sowieso schon unwohl genug in ihrem Outfit, da wollte sie sich nicht auch noch ins Rampenlicht setzen lassen. Die Leute würden sich bestimmt fragen, was diese kleine pummelige Person in dem schwarzen Kleid hier verloren hatte. Lily dagegen machte eine gute Figur neben Nick.

Rose folgte den beiden mit einigen Schritten Abstand und war froh, dass ihre Schwester Nick mit ihrem überschäumenden Temperament ablenkte.

„Was möchtet ihr trinken?“

„Ich hätte gern ein Glas Champagner“, antwortete Lily und ließ interessiert den Blick über die vielen Leute schweifen.

„Und Sie?“

Rose fing seinen amüsierten Blick auf. „Im Moment bin ich wunschlos glücklich“, behauptete sie.

„Das stimmt nicht. Ich hole Ihnen ein Glas Wein. Dann entspannen Sie sich vielleicht etwas.“

„Ich bin völlig entspannt.“

Er begegnete ihrer kleinen Schwindelei mit einem vergnügten Lächeln. „Dann sind Sie eine großartige Schauspielerin. Man könnte glatt glauben, Sie wären lieber am anderen Ende der Welt, als auf meiner Party.“

Die ganze Sache begann ihm langsam Spaß zu machen. Selbstlosigkeit zählte eigentlich nicht zu seinen ausgeprägten Tugenden, obwohl er natürlich großzügig für wohltätige Zwecke spendete. Doch das erledigte seine Finanzabteilung für ihn. In Lilys Fall setzte er sich zum ersten Mal uneigennützig ein. Außer ihrem Dank erhielt er keine Gegenleistung für seine gute Tat. Viel Wert legte er nicht auf Dankbarkeit, sie war ihm eher unangenehm. Allerdings … wenn er es recht bedachte, wäre es ein ziemlich erhebendes Gefühl, wenn Rose ihm dankbar wäre.

Er vergewisserte sich, dass sie noch da stand, wo er sie zurückgelassen hatte. Lily schien jedoch unruhig zu werden. Als er schließlich mit den Getränken zurückkehrte, war Rose allein.

„Lily ist verschwunden“, sagte sie, als er vor ihr stand.

„Das sehe ich.“

„Sie hat Leute entdeckt, mit denen sie neulich Theater gespielt hat.“

„Wie unhöflich von ihr, Sie nicht vorzustellen.“

„Das wollte ich nicht.“ Rose sah ihn herausfordernd an. „Es ist wichtig, dass sie versucht, sich ein Netzwerk aufzubauen. Als Schauspielerin muss man sich ins Gespräch bringen. Man darf sich nicht hinter den Kulissen verstecken.“ Sie nahm ihm das Weinglas ab.

Den Champagner stellte Nick auf einen der vielen Bistrotische, die im Raum verteilt waren. Auch einige hohe Barhocker waren aufgestellt worden, die meisten waren aber unbesetzt. Wahrscheinlich war es eher hinderlich, sich auf einen Barhocker zu setzen, wenn man mit vielen Menschen reden wollte.

„Wie recht Sie haben“, sagte Nick zustimmend.

„Bitte lassen Sie sich durch mich nicht aufhalten.“

„Ich muss mir kein Netzwerk mehr aufbauen.“ Lässig zuckte er die Schultern. Die Gäste sind hier, um sich zu amüsieren und um Gelegenheit zu haben, Kontakte zu knüpfen. Die Theaterleute unterhalten sich mit Geschäftsleuten, die ihre Projekte finanzieren, und die Geschäftsleute machen sich an die Models heran, während die Models die Nähe der Prominenten suchen.“

„Und Sie sind nur ein Beobachter.“

Nick fing ihren kühlen, abschätzigen Blick auf. „Was ist dagegen zu sagen?“

„Sie sind der Forscher, der den Rest der Welt durchs Mikroskop betrachtet. Offenbar macht es Ihnen Spaß, die interessanten kleinen Käfer zu beobachten.“

„Ich frage mich gerade, ob ich Sie überhaupt auf die Gäste hier loslassen kann. Womöglich verschrecken Sie die Leute mit Ihrem losen Mundwerk.“

„Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Ich habe lediglich eine Vermutung geäußert.“

„Wenn man im Leben Erfolg haben will, muss man sich in andere Menschen hineinversetzen können.“ Er betrachtete sie genau und stellte fest, dass ihre Persönlichkeit ihn faszinierte. Es war spannend, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und mal etwas Neues auszuprobieren. Zuerst hatte Lily ihn mit ihrer unbekümmerten Art für sich eingenommen, und nun wollte er mehr über ihre Schwester erfahren.

Geld zu scheffeln war so berechenbar. Zwar reizte es ihn, Geschäfte erfolgreich abzuschließen, doch die Euphorie verflog schnell wieder. Und Frauen konnten ihn auch nicht mehr überraschen. Bis jetzt. Er beschloss, Rose einige Minuten Gesellschaft zu leisten, damit sie sich nicht unter die anderen Partygäste mischen musste. Anders ausgedrückt: Er tat ihr einen Gefallen.

„Was Sie nicht sagen.“ Sie musterte ihn höflich, aber desinteressiert.

„Nehmen wir Sie als Beispiel, Rose.“ Jetzt widmete sie ihm ihre volle Aufmerksamkeit. Ihre Abwehrhaltung war deutlich spürbar. „Sie hassen es, auf dieser Party zu sein und ärgern sich, dass Lily Sie hergeschleppt hat. Die süße Lily, die aber ziemlich stur sein kann.“

„Was soll das? Ich habe doch schon zugegeben, dass ich mir nichts aus solchen Gesellschaften mache.“

„Sie halten sich für etwas Besseres. Gleichzeitig fühlen Sie sich völlig fehl am Platz. Stimmt’s?“ Es war ihm noch nie passiert, dass eine Frau sich in seiner Gesellschaft langweilte.

„Nein. Das stimmt nicht.“ Sie hätte nie dieses unförmige schwarze Kleid anziehen sollen. Hochgewachsene, schlanke Frauen konnten sich leisten, so etwas zu tragen, weil man ahnen konnte, dass sich darunter eine schlanke Figur verbarg. Natürlich fühlte sie sich unwohl und fehl am Platz, aber musste er ihr das unbedingt unter die Nase reiben?

„Wieso haben Sie mich überhaupt eingeladen, wenn Sie genau wussten, dass es mir hier nicht gefallen würde? Wenn Sie wirklich so ein guter Menschenkenner sind, wie Sie behaupten, dann musste Ihnen doch klar sein, dass ich nicht zu diesen Leuten hier passe.“

„Es ist aber gut, sich seinen Ängsten zu stellen.“

„Ach, Sie tun mir also einen Gefallen …?“

„So ist es. Aber besonders dankbar sind Sie mir nicht dafür.“

Rose trank ihr Glas aus und verzog das Gesicht – alles andere als ladylike! Dann tauschte sie das leere Glas gegen das volle Champagnerglas und nahm einen Schluck. Die Kohlensäure stieg ihr sofort in die Nase. Schnell trank sie noch einen Schluck, und schon war das Glas leer. Am liebsten hätte sie gleich nach dem nächsten gegriffen. Es missfiel ihr, dass Nick sich offensichtlich über sie lustig machte.

„So, ich muss mich jetzt mal um die anderen Gäste kümmern.“

„Nur zu, lassen Sie sich durch mich nicht aufhalten.“

„Das tun Sie aber“, behauptete Nick. Der Alkohol hatte ihren Wangen einen rosigen Schimmer verliehen. „Ich bin der Gastgeber, und es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass hier keine Mauerblümchen herumstehen und sich sinnlos betrinken.“

Wie konnte er so etwas sagen! Rose war empört. Sie war Lilys Anstandsdame und Nick eine Last. Wahrscheinlich würde er sie gleich einem anderen Gast anvertrauen oder sie zu ihrer Schwester geleiten, weil er befürchtete, sie könnte sich sonst danebenbenehmen. Eine Unverschämtheit, sie so zu demütigen!

„Ich denke gar nicht daran, mich sinnlos zu betrinken“, antwortete sie erbost. „Keine Sorge, ich werde Sie schon nicht vor Ihren erlauchten Gästen bloßstellen.“

„Mich bloßstellen?“

„Genau.“

„Was hat es mit mir zu tun, wenn Sie aus der Rolle fallen?“ Irritiert führte er sie zu einem Barhocker. Die Frau war schwierig und taktlos, und er hätte sich gar nicht mit ihr abgeben sollen. Doch irgendwie hatte er das Bedürfnis, sie unter seine Fittiche zu nehmen. Schließlich war sie Lilys Schwester. Und Lily wäre es sicher sehr unangenehm, wenn Rose sich danebenbenahm. Also musste er den Gentleman spielen und sich um sie kümmern, statt sich mit den anderen Gästen zu unterhalten. Das war halb so schlimm, denn alle schienen sich auch ohne sein Zutun prächtig zu amüsieren.

Unauffällig hatte er Lily beobachtet. Sie machte ihre Sache sehr gut, trank wenig und unterhielt sich angeregt mit den verschiedensten Gesprächspartnern. Wirklich ein kluges Kind.

„Sie wollten sich doch unter die anderen Partygäste mischen“, sagte Rose und nippte an dem Orangensaft. Das Glas hatte plötzlich vor ihr auf dem Bistrotisch gestanden. „Ich bin nicht besonders nett, oder?“, fragte sie dann unvermittelt.

Nick hatte sich neben sie auf einen Barhocker gesetzt und stimmte ihr durch heftiges Nicken zu.

„Sie aber auch nicht.“

Lächelnd zog er die Augenbrauen hoch. „Das ist die schlechteste Entschuldigung, die ich je gehört habe.“

„Es sollte keine Entschuldigung sein.“

„Aha, dann war das also nur so eine Art Selbsterkenntnis.“

Rose hatte genug und beschloss, das Thema zu wechseln. Seine Blicke machten sie befangen, und das war zum Verrücktwerden. „Das ist ein wirklich netter Klub hier.“

„Wollen Sie jetzt höfliche Konversation machen, Rose?“

„Wie um alles in der Welt, sind Sie zu so viel Geld gekommen?“

„Das ist wieder die alte Rose. Ohne Taktgefühl sagen Sie Ihre Meinung frei heraus.“

„Sie wollten doch keine Höflichkeitsfloskeln von mir hören.“ Rose hatte wenig Erfahrung im Flirten, aber sie spürte, dass es zwischen ihr und Nick knisterte. Das war aufregend und beängstigend zugleich. Und seine Augen waren einfach faszinierend. Ihr Herz begann, aufgeregt zu pochen, als sie seinen Blick auf sich spürte. Alle ihre Sinne schienen plötzlich in Alarmbereitschaft zu sein. „Ich warte noch auf Ihre Antwort“, sagte sie schließlich.

„Ich habe mir das alles selbst erarbeitet“, antwortete er und bat einen auf sein Zeichen herbeieilenden Kellner um ein Glas Whisky mit Soda.

„Und wie?“

„Das ist eine schrecklich langweilige Geschichte.“

„Typisch, wenn jemand Sie genauer unter die Lupe nehmen möchte, schalten Sie auf stur.“

Da seine Biografie sowieso im Internet zu finden war, konnte er Rose auch selbst etwas über seinen Aufstieg erzählen. „Also gut, wenn Sie es unbedingt hören wollen: Es ist die Geschichte eines Einwanderers aus Griechenland, der sich hier in eine englische Schönheit verliebt hat.“ Seine Eltern hatten ihn unterstützt und gefördert, wo sie nur konnten. „Meine Eltern haben Tag und Nacht gearbeitet, um meine Ausbildung zu finanzieren.“

„Das ist wundervoll.“

„Finden Sie?“

„Natürlich.“ Es musste wunderbar sein, Eltern zu haben, die einem eine gute Ausbildung ermöglichten. „Wo leben Ihre Eltern jetzt?“ „Nirgends. Sie sind schon lange tot.“ Er wandte den Blick ab. Es schmerzte ihn, darüber zu reden, obwohl es schon so lange her war. Außerdem hatte er das Gefühl, bereits zu viel von sich preisgegeben zu haben.

„Das tut mir sehr leid.“

„So, jetzt muss ich mich aber wirklich unters Volk mischen“, behauptete er, stand auf und blickte sie an. „Wenn Sie mögen, stelle ich Ihnen einige Gäste vor. Sie können aber auch gern hier sitzen bleiben. Ganz, wie es Ihnen beliebt.“

Der kurze Waffenstillstand zwischen ihnen war also bereits beendet. Rose war insgeheim erleichtert darüber, denn Nick war ihr gerade ein wenig sympathischer geworden, und das missfiel ihr sehr.

„Gehen Sie ruhig. Ich möchte Ihre kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Außerdem muss ich sowieso mal sehen, wo Lily steckt.“

Im Klub herrschte eine ausgelassene Stimmung. Die Partygäste waren nach einigen Gläsern Champagner viel lockerer geworden und beachteten Rose kaum. Fast hatte sie das Gefühl, unsichtbar zu sein.

Sie fand Lily umringt von einigen Männern. Sie selbst sagte nicht viel, schien ihnen aber aufmerksam zuzuhören. Sehr gut. Es war gut, dass sie Kontakte zu Menschen knüpfte, die ihre Karriere vielleicht fördern konnten. Rose wünschte ihr viel Glück dazu.

Unauffällig mischte sich Rose unter die Leute, die Lily umgaben, trank noch ein, zwei Gläser Wein und fand es gar nicht mehr so schlimm, sich mit den anderen Partygästen zu unterhalten.

Nick schien sich irgendwo im Hintergrund zu halten. Jedenfalls konnte sie ihn nirgends entdecken.

Gegen Mitternacht beschloss Rose, dass es langsam Zeit wurde, sich zu verabschieden. Allerdings stand sie mit dieser Meinung ganz offensichtlich alleine da. Der Champagner floss weiterhin in Strömen, Lily unterhielt sich angeregt mit zwei Männern, aber Rose hatte genug.

Sie hatte Unterhaltungen über andere Leute beigewohnt, hatte sich langweilige Gespräche über Drehbücher angehört, die von Regisseuren abgelehnt worden waren, die keine Ahnung hatten, und hatte mitbekommen, wie sich jemand darüber beschwerte, dass Lottoeinnahmen für sinnlose Projekte verschwendet wurden, statt in Kunst investiert zu werden.

Die Appetithappen, die von ausgesprochen aufmerksamen Kellnern gereicht wurden, waren köstlich, doch irgendwann war es auch mal genug. Und sie hatte keine Ahnung, wie viele Gläser Wein oder Champagner sie dankend abgelehnt hatte. Wahrscheinlich hätte man einen Weinkeller damit füllen können.

Nachdem sie eine Viertelstunde lang vergeblich versucht hatte, Lilys Aufmerksamkeit zu erregen, gab Rose es auf und verließ den Raum. Sie verspürte das dringende Bedürfnis nach frischer Luft.

Sie befand sich auf einem Korridor, der offenbar rund um den Klubbereich führte. Den vielen Türen auf der anderen Seite nach zu schließen, befanden sich dort Büroräume. Allerdings vermutete Rose das nur, denn alle Türen waren geschlossen. Der helle Marmorboden war sehr beeindruckend. An den Wänden hingen abstrakte Gemälde, die im spärlichen Licht wenig anziehend wirkten.

Rose beschloss, Lily noch eine halbstündige Frist einzuräumen. Aber dann würde sie darauf bestehen, den Klub zu verlassen. Gerade wollte sie sich wieder unter die Menge mischen, als sie unter einer der Türen Licht durchschimmern sah.

Kurz entschlossen ging sie auf die Tür zu und stieß sie auf. Die letzte Person, die sie hier erwartet hätte, war Nick.

Er saß am PC. Offensichtlich handelte es sich um sein Büro.

„Entschuldigung“, sagte Rose verlegen und wollte sich wieder zurückziehen. Doch Nick hatte sie bereits entdeckt, rollte mit dem Schreibtischsessel zurück und sah sie nur an. Rose suchte nach einer ausführlicheren Entschuldigung, brachte jedoch kein Wort hervor.

Nick lehnte sich zurück und legte die Beine auf den Schreibtisch. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“, fragte er amüsiert.

Rose räusperte sich. „Nein, ich wollte nur …“

„… der heiteren Stimmung entfliehen? Kommen Sie rein und machen Sie die Tür hinter sich zu. Keine Sorge, ich beiße nicht. Jedenfalls nicht unaufgefordert.“

Die sonst so ruhige, tüchtige, beherrschte Rose fühlte sich plötzlich wie benebelt. Natürlich hätte sie seine Einladung ablehnen und Lily suchen sollen, zumal sie sich wie eine Fliege im Spinnennetz vorkam.

Doch sie betrat das Büro und schloss die Tür hinter sich. Allerdings fühlte sie sich plötzlich ganz schwach. Sie blieb an der Tür stehen, statt sich in den Sessel zu setzen, auf den Nick zeigte.

„Setzen Sie sich.“

„Ich … ich wollte eigentlich gerade gehen.“ Wenigstens gehorchte ihre Stimme ihr noch. „Im Klub wurde es mir zu stickig. Ich brauchte frische Luft, und dann sah ich Licht unter der Tür durchschimmern. Was tun Sie hier eigentlich?“ Sie hatte sich wieder gefangen und schaffte es sogar zum Sessel.

„Wonach sieht es denn aus?“

„Finden Sie es nicht unhöflich, wenn der Gastgeber die Party verlässt, um zu arbeiten?“

„Meine Gäste kommen sehr gut eine halbe Stunde ohne mich zurecht.“ Nick betrachtete sie mit undurchdringlichem Blick. Das Kleid wirkte irgendwie seltsam an ihr. Wahrscheinlich trug sie normalerweise keine Kleider und hatte dieses nur unter Protest gekauft. Es stand ihr nicht. Die anderen weiblichen Partygäste hatten sich an diesem Abend die allergrößte Mühe mit ihrem Äußeren gegeben, um positiv aufzufallen. Nur Rose hatte sich in dieses unauffällige Kleid gezwängt, das all ihre Reize verbarg, damit sie ja niemand beachtete.

Lebhaft versuchte sich Nick die Figur vorzustellen, die sich unter dem schwarzen Gewand verbarg. Es überraschte ihn sehr, womit seine Gedanken sich beschäftigten. „Außerdem hatte ich keine Wahl. Ein Anrufer aus Australien hat mich gebeten, ihm per E-Mail umgehend einige Daten zu übermitteln.“

„Arbeiten Sie Tag und Nacht?“

„Nicht ganz.“ Hastig wandte er den Blick ab. Die Brüste, die sich unter dem Kleid abzeichneten, regten seine Fantasie an. „Lily scheint sich gut zu unterhalten.“

„Ja, das stimmt.“

„Aber Sie langweilen sich offensichtlich hier.“

„Ganz und gar nicht“, widersprach sie höflich.

„Jedes Mal, wenn ich Sie angesehen habe, wirkten Sie gelangweilt.“

„Haben Sie mich etwa beobachtet?“

Ihr vorwurfsvoller Tonfall missfiel ihm. „Als Gastgeber muss ich mich doch davon überzeugen, dass meine Gäste sich wohlfühlen.“