Das Buch
Das Anwesen der Armstrongs: Als Lord Edward es 1840 für seine Frau Anna errichten lässt, ist es ein Monument der Liebe. Doch Verzweiflung und Misstrauen treiben die beiden in einen Strudel von Vorfällen, deren Ausmaße noch Generationen nach ihnen prägen werden.
Fast hundert Jahre später ergeht es den Nachfahren Lord Pierce und Lady Clara nicht besser. Auch auf ihrer Ehe scheint ein Unglücksfluch zu liegen, und Clara verlässt das Haus als gebrochene Frau.
Als Kate Fallon das Anwesen im 21. Jahrhundert schließlich erwirbt, ahnt sie nicht, was sich in diesen Mauern abgespielt hat. Gemeinsam mit dem letzten Erben Nico begibt sie sich auf eine Reise in die Vergangenheit einer Familie, in der nichts ausgelassen wurde: Betrug, Rache, Besessenheit, Liebe und Verzweiflung – in diesem Haus wurde alles gelebt. Drei Generationen lang. Und auch Kates Bestimmung wird davon nicht unberührt bleiben …
Der Autor
Andrew O’Connor hat Englisch und Geschichte studiert und lange in der Werbung gearbeitet. Er ist Autor mehrerer Romane und lebt in Irland.
Andrew O’Connor
Das Haus
der Lady Armstrong
Roman
Aus dem Englischen
von Marie Rahn
Ullstein
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Neuausgabe bei Refinery
Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Juni 2014
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014
Copyright © A. O’Connor 2012
First published in the English language by Poolbeg Press,
Dublin, Ireland
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: Haus und Himmel: © plainpicture/whatapicture; Zweige: © FinePic®, München
ISBN 978-3-96048-049-5
Alle Rechte vorbehalten.
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Verbreitung, Speicherung oder Übertragung
können zivil- oder strafrechtlich
verfolgt werden.
Für Mary Kate Browne
Prolog
2007
Die Scheidung hätte eigentlich ganz einfach über die Bühne gehen sollen. Schließlich wollten beide Parteien die Ehe beenden. Doch wie immer steckte der Teufel im Detail, daher hatten sie sich im Beisein ihrer Anwälte getroffen, um sich außergerichtlich zu einigen. Nico und Susan Collins saßen einander gegenüber: am Tisch im Konferenzraum der Kanzlei von Susans Anwalt, neben ihrem jeweiligen Rechtsvertreter. Nicos Anwalt, Geoffrey Conway, ein Mann in den Sechzigern, vertrat seine Familie bereits seit dreißig Jahren. Aber als Nico Susans geschniegelten, jungen und überaus selbstbewussten Anwalt betrachtete, hoffte er nur, Geoffrey würde mit seiner Erfahrung die Ausstrahlung seines Gegners wettmachen.
»Zunächst einmal möchte ich die positiven Punkte hervorheben«, begann Geoffrey. »Nico und Susan sind sich einig, dass sie sich scheiden lassen wollen. Außerdem wollen sie beide das gemeinsame Sorgerecht für ihre Tochter Alex.«
»Bleibt also nur noch das Finanzielle«, bemerkte Susan.
»In der Tat«, bestätigte Geoffrey. »Da gibt es das Haus der Familie, auf dem eine beträchtliche Hypothek lastet, und zwei Häuser auf dem Land, Armstrong House und Hunter’s Farm, die seit vielen Generationen im Besitz von Nicos Familie sind und die er von seiner verstorbenen Mutter Jacqueline Armstrong Collins geerbt hat.«
»Meine Klientin schlägt vor«, meldete sich Susans Anwalt Peter zu Wort, »dass Armstrong House verkauft wird. Dies würde Mr und Mrs Collins genug finanzielle Mittel geben, um die Hypothek in Dublin abzuzahlen und Nico ein neues Haus in Dublin zu kaufen.«
»Wie ich bereits sagte«, erwiderte Nico abwehrend, »verkaufe ich das Haus nicht.«
Susan wurde wütend. »Dann müssen wir unser Haus in Dublin verkaufen und Alex und ich müssen irgendwo in einer Schuhschachtel hausen, während du den Rest deines Lebens in einer Mietwohnung leben musst. Sehr schön für Alex, zwischen einer Schuhschachtel und einer Mietwohnung pendeln zu müssen!«
»Wir haben beide gut bezahlte Berufe: Du bist Journalistin und ich Architekt«, entgegnete Nico. »Wir kommen schon klar.«
»Ich will aber nicht nur klarkommen«, sagte Susan. »Wenn wir Armstrong House verkaufen, können wir uns und unserer Tochter ein gutes Leben ermöglichen. Meine Freundin Janet Dolan ist Immobilienmaklerin; sie hat das Haus letzte Woche begutachtet und meint, es wäre sicher über eine Million wert.«
»Janet Dolan!«, sagte Nico entgeistert. »Ich fasse es nicht, dass du ihr das Haus gezeigt hast.«
»Wieso nicht? Sie ist die absolut Beste in ihrer Branche.«
»Tatsache ist doch, Nico, dass Ihre Eltern Ihnen beträchtliche Schulden hinterlassen haben, für die Sie haftbar sind«, schaltete Peter sich ein.
»Jacqueline war eben eine Lebedame«, sagte Susan und grinste Nico spöttisch an.
»Allerdings«, murmelte Geoffrey und lächelte in Erinnerung daran.
Nico warf ihm einen warnenden Blick zu, worauf Geoffrey hustete.
»Nico hält an seiner Entscheidung fest, das Haus nicht zu verkaufen. Es ist seit hundertsiebzig Jahren im Besitz der Familie. Und Jacqueline hat das Haus geliebt.«
»Ja, ja, typisch für sie«, bemerkte Susan. »Sie war immer so absolut. Entweder liebte sie etwas, oder sie hasste es. Sie liebte die französische Küche und hasste die italienische. Liebte Yachten, hasste Tanzen. Liebte Nico – und hasste mich!«
Nico sah sie herausfordernd an. »Wenn wir schon dabei sind: Sprechen wir auch über deine Verwandten?«
Susan lächelte reuig. »Nein, lieber nicht.«
Nico nickte grinsend. »Kluge Entscheidung.«
Geoffrey lehnte sich zurück. »Folgendes: Nico bestreitet weder den Wert von Armstrong House noch den Nutzen für alle, falls es verkauft würde. Er sagt lediglich, dass er es nicht verkaufen will.«
»Wir könnten vor Gericht gehen und einen Verkauf erzwingen«, betonte Peter.
Susan seufzte laut und sah Nico mitfühlend an. »Das würde ich lieber nicht tun … ich will nur, du würdest einsehen, dass es das Richtige wäre, Nico, für Alex, für uns alle.«
Als Geoffrey sah, mit welch offensichtlicher Zuneigung sich die Collins anblickten, fragte er: »Könnte die Ehe vielleicht noch gerettet werden?«
»Nein, keine Chance«, sagte Susan entschieden. »Unsere Ehe hat nicht mehr funktioniert – weil es eine Ménage à trois war!«
»Wirklich?«, fragte Geoffrey, entsetzt über die plötzliche Offenbarung.
»Allerdings: Nico und ich – und seine Arbeit!« Sie schaute Nico anklagend an, worauf beide in Gelächter ausbrachen.
Geoffrey schüttelte resigniert den Kopf. »Dann müssen wir feststellen, dass wir uns nicht einigen können, und das Gericht entscheiden lassen.«
Susan lehnte sich vor und sah Nico an. »Ich weiß, dass du Armstrong House liebst, Nico, aber es hat deine Eltern fast ruiniert.«
»Genau! Wenn ich es jetzt verkaufen würde, direkt nachdem ich es geerbt habe, käme es mir vor wie ein Verrat an meinen Eltern und meiner Familie. Und es wäre auch ein Verrat an Alex. Schließlich ist es auch ihr Erbe … also, warum bitten wir nicht sie, über das Schicksal des Hauses zu entscheiden?«
»Alex ist zehn: Es ist keine gute Idee, ein Kind über Wichtigeres entscheiden zu lassen als über den Belag der Pizza«, wandte Geoffrey ein.
»Ich fürchte, da hat dein Anwalt recht«, warf Susan rasch ein.
»Nur weil du weißt, dass Alex das Haus nicht verkaufen will – sie liebt es nämlich genauso wie ich«, erwiderte Nico.
»Bleiben wir doch realistisch«, sagte Susan. »Was weiß Alex schon über Geld und finanzielle Absicherung – oder darüber, was für ihre Zukunft das Beste ist?«
Gedankenverloren lehnte Nico sich zurück.
»Ich möchte, dass Alex eines Tages das Haus erbt«, verkündete er dann. »Ich möchte, dass es auf sie übergeht, wie es auf mich übergegangen ist – von Generation zu Generation.«
Buch 1
1840 – 1848
1. Kapitel
Schneeflocken trieben wirbelnd zu Boden und blieben auf den georgianischen Fenstern der kleinen Läden auf der Grafton Street in Dublin haften. Am Morgen hatte es schon leicht geschneit, und im Verlauf des Tages hatte sich eine dünne Schneedecke auf den Straßen gebildet.
Am Verkaufstisch eines Hutladens stand Anna mit ihren beiden jüngeren Schwestern Florence und Sophia und ihrer Cousine Georgina, die die Feiertage bei ihnen verbrachte. An diesem Heiligabend waren alle Geschäfte voll, und auch die jungen Frauen machten ihre letzten Einkäufe.
»Es ist fast vier, Anna! Wir müssen nach Hause und uns für die Feier vorbereiten«, mahnte Sophia.
»Das ist der letzte Einkauf für heute, versprochen«, sagte Anna und wechselte einen amüsierten Blick mit Georgina, weil ihre Schwester so aufgebracht war. Die beiden Älteren hatten Florence und Sophia durch fast jeden Laden auf der Grafton Street geschleift.
Der Ladeninhaber band eine Schlaufe an die raffinierte Schleife der Hutschachtel und reichte diese Anna.
»Darf es sonst noch etwas sein, Miss?«, fragte er mit strahlendem Lächeln.
»Nein, ich glaube, wir haben genug«, erwiderte Anna grinsend. Alle vier waren mit Schachteln und Geschenken bepackt.
»Dann noch einen schönen Tag und frohe Weihnachten«, wünschte ihnen der Mann.
»Fröhliche Weihnachten!«, trällerten Anna und Georgina unisono, als sie den jüngeren Mädchen auf die Straße folgten.
»Jetzt müssen wir aber wirklich zurück zur Kutsche. Papa wird wütend sein, wenn wir heute Abend zu spät kommen«, beharrte Sophia.
»Geht schon vor – wir kommen gleich«, versprach Anna.
Sophia bedachte sie mit einem warnenden Blick, als sie sich mit Florence in Bewegung setzte. Georgina und Anna sahen sich verschwörerisch an und kicherten, als sie ihnen folgten.
»Für wen ist der Hut?«, fragte Georgina.
»Ach, nur für eine Freundin.« Die beiden Mädchen waren seit ihrer Kindheit befreundet, obwohl Georgina auf dem Land wohnte. Anna fühlte sich Georgina oft näher als ihren eigenen Schwestern – oder auch ihrem Bruder. Es war, als wären sie beide mit der Fähigkeit geboren, die Gedanken der anderen lesen zu können. Sie kannten all ihre Geheimnisse und verbargen nichts voreinander. Mit einundzwanzig war Anna ein Jahr jünger als Georgina.
»Wann soll die Feier denn anfangen?«, fragte Georgina, als sie an einer Gruppe Carolsingers unter einer Laterne vorbeikamen.
»Papa meinte, die Gäste kämen ab sieben Uhr.«
»Und wann kommt Lord Armstrong?«, fragte Georgina mit einem bedeutsamen Blick.
»Wer sagt, dass er überhaupt kommt?«, fragte Anna, aber sie blickte ziemlich selbstzufrieden.
»Du weißt genau, dass er kommen wird.«
»Vielleicht hält der Schnee ihn davon ab. Schließlich ist es eine sehr lange Fahrt aus dem Westen«, sagte Anna.
»Er wird es schaffen«, versicherte Georgina. »Schließlich hat er etwas sehr Wichtiges vor, oder?«
Anna packte die behandschuhte Hand ihrer Cousine. »Georgina, glaubst du, er fragt Papa heute Abend?«
»Selbstverständlich. Schließlich hat er es dir doch gesagt. Und er hat schon mal mit deinem Vater darüber gesprochen.«
Anna dachte daran, wie ihr Vater in der Woche zuvor mit ihr in den Salon gegangen war und sie gefragt hatte, ob sie sich vorstellen könne, Edward Armstrong zu heiraten. Entzückt über diese Aussicht hatte sie begeistert genickt. Immerhin war es bei ihr Liebe auf den ersten Blick gewesen, als er drei Jahre zuvor zu ihrer Feier an Heiligabend gekommen war. Er sah gut aus mit seinen dunkelbraunen Haaren, der blassen Haut und den haselnussbraunen Augen, doch für sie zählte viel mehr, dass er intelligent, warmherzig und freundlich war. Und es war von ihrer ersten Begegnung an klar gewesen, dass auch er sie anziehend fand. Seitdem hatte er sie immer wieder besucht und war ein enger Freund der Familie geworden. Obwohl er auf seinem Familienbesitz im County Mayo lebte, den er nach dem Tod seiner Eltern geerbt hatte, schien er jede Gelegenheit genutzt zu haben, um nach Dublin zu kommen und Zeit mit Annas Familie zu verbringen. Da Edward ein Einzelkind war, gefiel ihm offenbar der Trubel, der in der großen Familie Stratton herrschte.
»Wo werdet ihr nach eurer Hochzeit wohnen?«, fragte Georgina. »Mit seinem Geld werdet ihr viele Möglichkeiten haben. In einem schicken Stadthaus? Ich hab neulich auf der Leeson Street eines gesehen, das zum Verkauf stand, aber das wäre für dich, mit einem Haus am Merrion Square, ein Abstieg.«
»Edward hat klar gesagt, dass er auf seinem Landsitz leben will. Er hat keinerlei Interesse, dauerhaft in Dublin zu wohnen.«
Das überraschte Georgina. »Und was hältst du davon, deine Familie, deine Freunde und alle zu verlassen, die du kennst?«
»Das ist mir gleich, wenn ich nur mit Edward zusammen sein kann. Er ist sehr fortschrittlich und will kein Lord sein, der nie auf seinem Anwesen ist. Er will sich ausgiebig um sein Land und seine Pächter kümmern. Er will sogar Modelldörfer bauen lassen und die Anbaumethoden verbessern.«
»Aber werden dir die Bälle und die Feste in Dublin nicht fehlen?«
»Auf seinem Anwesen können wir Dutzende selber veranstalten.«
»Zumindest bist du Herrin im eigenen Haus, und keiner bestimmt mehr über dich.«
Damit spielte sie auf ihre eigene Schwägerin Joanna an. Nach dem Tod von Georginas Vater gehörte der Familienbesitz in Westmeath, Tullydere, ihrem Bruder Richard und seiner Frau Joanna, die Georgina verachtete.
»Keine Sorge«, sagte Anna tröstend. »Du heiratest auch bald, und dann kannst du dein eigenes Heim gründen.«
Sofort wurde Georgina munterer, und sie lächelte, als sie an ihren eigenen Verlobten Tom dachte.
»Versprich mir, dass du mich ganz oft besuchen kommst, wenn ich Edward geheiratet habe«, sagte Anna.
»Natürlich. Du wirst ein Leben wie im Märchen haben.«
Als sie an einer Schar Kinder vorbeikamen, die sich die Nase am Schaufenster eines Spielzeugladens platt drückten, sagte Anna: »Schon bald kaufen Edward und ich Spielzeug für unsere Kinder, Georgina. Er will eine große Familie mit sechs Kindern.«
»Dann ist dein ganzes Leben ja schon geplant und fängt heute Abend an.«
»Anna«, rief Sophia vom Ende der Grafton Street, »wir warten! Wir müssen uns noch für heute Abend fertig machen. Wir haben keinen Verlobten, der eine halbe Grafschaft besitzt!«
Als Antwort winkte Anna nur. Jetzt fiel der Schnee heftiger, und sie befürchtete, Edward würde es bis zum Abend nicht schaffen.
Die Kutsche bog in den Merrion Square ein und hielt vor dem Haus der Strattons, eines der vierstöckigen Stadthäuser, die die Grünfläche in der Mitte des Platzes umringten. Als die jungen Frauen eintraten, herrschte im Haus bereits höchste Betriebsamkeit.
Die Mädchen folgten Anna in die erste Etage, wo ihr Vater und ihr Bruder Cecil den riesigen Weihnachtsbaum im Salon bewunderten.
»Papa, Anna hat schrecklich getrödelt«, beschwerte sich Sophia.
»Nicht so schlimm«, erwiderte dieser und legte seinen Arm um Anna. »Deine Schwester wird dich wahrscheinlich nicht mehr lange ärgern.« Er lächelte mit einem wissenden Blick seine hübsche älteste Tochter mit den glänzenden kastanienbraunen Haaren und den strahlenden grünen Augen an.
Vier Stunden später war der Salon voller Gäste im Festtagsstaat, die John Strattons traditionelles Weihnachtsfest genossen. Im Kamin prasselte ein lustiges Feuer, und der ganze Raum war von Kerzen erhellt. Die Männer tranken Bier und Portwein, die Frauen hielten sich an Wein und Sherry. In einem ununterbrochenen Strom brachten Diener Tabletts mit Canapés, Gebäck und Kuchen herein.
Cecil saß, umringt von einer Gruppe Bewunderer, am Klavier und spielte Weihnachtslieder.
Aber Anna konnte das Fest nicht genießen, da Edward noch nicht erschienen war. Sie blickte hinaus in den Schnee und stellte sich vor, dass er irgendwo in einem Gasthof festsaß. Ihr drehte sich der Magen um bei der Vorstellung, dass ihre Verlobung verschoben und ihr Weihnachtsfest verdorben würde. Jedes Mal, wenn die Türglocke ertönte, rannte sie zum Treppenabsatz, um zu sehen, wer da kam – nur um dann wieder enttäuscht zurückzukehren.
Nachdem die Uhr elf geschlagen und sie schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, klingelte es erneut. Sie rannte zur Galerie und spähte in die Eingangshalle. Als die Tür aufging, trat Edward ein, Anzug und Mantel schneebedeckt. Ein Butler half ihm aus seinem Mantel, aber dann führte er ihn nicht hinauf in den Salon, sondern in ein kleineres Empfangszimmer im Erdgeschoss und schloss die Tür hinter ihm. Danach kam der Diener herauf, bahnte sich einen Weg durch die Gästeschar und flüsterte etwas zu ihrem Vater, der nickte und nach unten ging.
Fast eine Stunde wartete Anna voller Unruhe. Endlich ging unten die Tür auf und heraus kamen ihr Vater und Edward – lächelnd. Während sie die Treppe heraufstiegen, eilte Anna zum Fest zurück und tat so, als unterhielte sie sich mit Georgina.
Die beiden Männer betraten den Salon und blickten sich um. Anschließend kam ihr Vater zu ihr und fragte: »Anna, würdest du bitte zu Edward und mir ans Klavier kommen?«
Sie setzte eine überraschte Miene auf und folgte ihrem Vater. Dieser bat Cecil, sein Spiel zu unterbrechen, und allmählich verstummte die Menge und wandte sich zum Klavier, wo John Stratton zwischen seiner Tochter und Edward Armstrong stand.
»Ladies and Gentlemen, ich möchte das Fest kurz unterbrechen, um etwas zu verkünden, was für Sie wahrscheinlich kaum überraschend kommt: die Verlobung meiner ältesten Tochter Anna mit Lord Edward Armstrong.«
Daraufhin jubelte und applaudierte die Menge.
Als die Familie am nächsten Vormittag vom Kirchgang nach Hause kam, empfing sie schon der Duft von Truthahn mit Salbei-Zwiebel-Füllung. Sie eilten zum Weihnachtsbaum und begannen mit der Bescherung.
Während Annas Vater den schönen Spazierstock bewunderte, den Edward ihm geschenkt hatte, nahm Anna die Schachtel mit dem Hut, den sie am Vortag gekauft hatte, und reichte sie Georgina.
»Der war für mich?«, fragte Georgina entzückt und öffnete rasch die Schachtel, um den Hut herauszunehmen.
»Ich hab gesehen, wie du ihn im Laden bewundert hast. Da musste ich ihn einfach kaufen.«
»Danke!« Georgina drückte Annas Hand.
»Und jetzt möchte ich meiner Verlobten ihr Geschenk geben«, verkündete Edward laut, ging zum Weihnachtsbaum, nahm ein großes, rechteckiges Paket und brachte es Anna.
»Was ist das, ein Bild?«, fragte Anna nach einem prüfenden Blick und packte es aufgeregt aus.
Die ganze Familie scharte sich um sie und starrte auf das goldgerahmte Gemälde eines wunderschönen Hauses.
»Gefällt es dir, Anna?«, fragte Edward.
»Sehr!«, antwortete Anna und betrachtete das ausgezeichnete Bild.
»Ein ungewöhnliches Verlobungsgeschenk«, bemerkte Sophia, als Anna ganz versunken auf das schöne Haus starrte. »Ich hätte Schmuck vorgezogen.«
»Gefällt es dir wirklich?«, fragte Edward noch einmal.
»Ja wirklich, ich liebe es!«
»Denn dieses Bild ist nicht dein einziges Geschenk«, fuhr Edward fort. »Es wurde nach den Bauplänen eines Hauses gemalt, das gerade auf meinem Land errichtet wird.«
»Ein Haus?«, fragte Anna verwirrt.
»Ich lasse dieses Haus für dich bauen, Anna«, erklärte Edward und sah sie liebevoll an.
»Das ist um Längen besser als Schmuck«, sagte Georgina mit einem Seitenblick zu Sophia.
Ehrfürchtig betrachtete die ganze Familie das eindrucksvolle Haus auf dem Gemälde.
»Aber was ist dann mit dem jetzigen Familiensitz, dem Anwesen deiner Vorfahren?«, fragte Anna.
»Ach«, antwortete Edward abwinkend, »der alte, zusammengestückelte Kasten! Meine Mutter hat meinen Vater ständig beschworen, das Ding abzureißen und ein Haus zu bauen, das unserem Stand angemessen ist. Da es ohnehin baufällig ist, lasse ich es abreißen und darauf große Stallungen bauen. Das neue Haus wird alle modernen Annehmlichkeiten haben und meiner Braut angemessen sein.« Er sah Anna lächelnd an.
Annas Vater nahm das Bild, betrachtete es und fragte: »Und wann hast du mit dem Bau des Hauses angefangen?«
»Vor zwei Jahren … als ich wusste, dass wir eines Tages heiraten würden. Es wurde hart daran gearbeitet, damit es rechtzeitig zu unserer Hochzeit fertig ist. Mein Cousin Sinclair hat die Arbeiten überwacht.«
John lächelte traurig. »Ich wünschte nur, deine Mutter hätte es noch erleben dürfen, dich als verheiratete Frau in diesem wunderbaren Haus zu sehen, Anna.«
Als sich am Abend die ganze Familie im Wohnzimmer vom vielen Essen und Trinken erholte und Cecil einschmeichelnde Melodien auf dem Klavier klimperte, saßen Anna und Georgina zusammen vor dem Kamin.
»Denk nur, in einem Jahr sind wir beide schon verheiratet und haben ein eigenes Haus«, sagte Anna und starrte auf das Gemälde, das vorübergehend einen Platz auf der Anrichte gefunden hatte.
»Eigentlich hatte ich gehofft, noch vor Weihnachten einen Brief von Tom zu bekommen«, erwiderte Georgina.
»Wahrscheinlich ist er schon unterwegs und hängt irgendwo auf dem Postweg vom Kontinent fest«, tröstete Anna sie.
»Ich hoffe doch, es geht ihm gut«, seufzte Georgina.
»Natürlich. Er wird bald zurück sein, und dann könnt ihr die letzten Einzelheiten eurer Hochzeit im Sommer planen.« Anna wandte sich zu Georgina und nahm ihre Hand. »Ich möchte, dass unsere Kinder sich auch so nahestehen wie wir.«
»Das möchte ich auch«, entgegnete Georgina.
»Dann lass uns einen Pakt schließen: Wir wollen uns weiterhin so oft treffen wie jetzt und nicht zulassen, dass sich irgendwas zwischen unsere Freundschaft oder die unserer Kinder schiebt. Versprochen?«
»Versprochen«, sagte Georgina.
2. Kapitel
Genfer See, Schweiz
29. April 1841
Meine liebe Georgina,
ich hoffe, Du hast meinen letzten Brief bekommen. Da wir so viel herumreisen, kann ich Dir keine Adresse geben, an die Du schreiben könntest. Letzte Woche sind wir von München hierher nach Genf gekommen, und ich fasse es nicht, dass unsere Flitterwochen bald zu Ende sind und wir Donnerstag nach Irland zurückkehren. Die Zeit ist wie im Flug vergangen.
Ich liebe Edward mit jedem Tag mehr. Er verwöhnt mich unglaublich. Wir mussten einiges für die zusätzlichen Koffer mit unseren Einkäufen bezahlen. Wenn wir nach Irland zurückkommen, statten wir meinem Vater einen kurzen Besuch ab, bevor wir unser neues Leben in Mayo beginnen – in unserem neuen Haus. Ich kann es kaum erwarten, es zu sehen.
Besuchst Du uns bitte noch vor Deiner Hochzeit in unserem Haus? Wie sieht es mit den Vorbereitungen aus? Habt Ihr beide Euch auf ein Datum geeinigt? Ich weiß, wie viel Arbeit und Planung für eine Hochzeit nötig sind, aber nicht mal Du brauchst so viel Zeit! Bitte, zögere es nicht länger heraus, denn ich möchte nicht, dass zwischen unseren Kindern ein so großer Altersunterschied herrscht. Du erinnerst Dich doch noch an unseren Pakt? Jetzt ruft Edward, wir wollen zum Abendessen. Doch ich melde mich, sobald ich wieder in Irland bin, und dann sehen wir uns in unserem neuen Haus.
In Liebe
Anna
Am letzten Tag der langen Reise von Dublin zu Edwards Ländereien im County Mayo ruckelte die Kutsche über die Landstraße. Darin saßen Edward und Anna und hielten Händchen.
»Ich kann es kaum erwarten, endlich das Haus zu sehen!«, sagte Anna aufgeregt.
»Beruhige dich doch«, erwiderte Edward, freute sich im Stillen aber über ihre Ungeduld.
Er hatte in den Bau des Hauses seine ganze Liebe zu Anna gesteckt, die letzten drei Jahre damit zugebracht, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen und jedes Detail nach ihrem Geschmack zu gestalten.
Jetzt wurde die Kutsche langsamer und fuhr durch ein mächtiges steinernes Tor mit einem großen Bogen. Während sie durch den wunderschönen Park ruckelten, spähte Anna aus dem Fenster.
»Wie weit ist es denn noch?«, fragte sie, als das Haus immer noch nicht in Sicht kam.
Schließlich gelangten sie zu einem See, und plötzlich sah man das Haus auf der anderen Seite des Sees hoch auf einem Hügel. Davor führte eine Reihe Terrassen und Treppen hinab zum Ufer. Anna stockte der Atem.
Sie umrundeten den See und bogen in die Auffahrt des Hauses ein. Edward öffnete die Tür und bot Anna seine Hand, als sie ausstieg. Dann blieb sie stehen und blickte zum Haus hinauf.
Es war ein dreistöckiges Herrenhaus aus Granit. Das dritte Stockwerk lag direkt unter dem Dach, und die Fenster lugten zwischen den schwarzen Dachziegeln hervor. Eine breite Treppe führte zur zweiflügeligen Eingangstür hinauf, die geöffnet war und die neuen Bewohner willkommen hieß. Die großen Fenster waren gotisch. Während Anna sich langsam in Bewegung setzte und das prächtige Haus in Augenschein nahm, wich Edwards Blick nicht einen Moment vom Gesicht seiner Frau, denn er war zu gespannt auf ihre Reaktion. Als sie sich umwandte und die Umgebung betrachtete, holte sie entzückt Luft. Edward hatte sich große Mühe gegeben, auf den achttausend Hektar seiner Ländereien die perfekte Lage für sein Haus zu finden. Und hier war sie: Vor dem Haus, am Rand der Auffahrt, war eine niedrige, auf Pfeilern ruhende Mauer gebaut worden, in deren Mitte Stufen zu den Terrassen führten, die sie vom See aus gesehen hatte. Links und rechts vom Haus erstreckten sich, sanft abfallend bis zum Ufer, wunderschöne Parkanlagen mit Bäumen und exotischen Sträuchern.
»Es ist genau so, wie ich es mir erträumt habe«, sagte Anna.
Edward legte ihr den Arm um die Schultern und lächelte.
»Und hier ist dein Empfangskomitee«, sagte er und führte Anna am Personal vorbei, das vor dem Haus Aufstellung genommen hatte und jetzt respektvoll lächelnd knickste oder sich verneigte.
Sie gingen die Treppe hinauf. Anna nahm Edwards Hand, als sie durch die breite Eingangstür in eine große Halle traten. Links sah man einen riesigen Kamin und am Ende der Halle eine majestätische Treppe.
Edward führte Anna durch die Räume. Rechts vom Eingang befand sich ein großer Salon, der elegant in Dunkelrot gehalten war und große Sofas und Chaiselongues beinhaltete. Auf einer Seite sah man einen großen Kamin mit geschnitzter Eicheneinfassung, auf der anderen ein Erkerfenster mit einem Schreibtisch davor. Die vorderen Fenster hatten Blick auf den See. Trat man wieder in die Halle hinaus, fand man auf der gegenüberliegenden Seite vom Salon ein zwangloseres Wohnzimmer, das kleiner und eher für die Familie als für Gäste gedacht war. Dahinter war das Esszimmer mit prächtigen Mahagonistühlen und einem Tisch, an dem vierundzwanzig Personen Platz hatten. Die Wände waren in Dunkelblau gehalten und wurden von Schränken und Anrichten gesäumt, in denen man Porzellan und Silberbesteck sah. Anna konnte kaum alle Eindrücke aufnehmen, als sie Edward folgte. Hinter dem Esszimmer befand sich die Bibliothek mit unzähligen Büchern und Folianten. Ein großer Schreibtisch stand an der Wand und weitere kleinere vor den Fenstern. Vor dem Kamin sah man ein weinrotes Chesterfieldsofa und passende Sessel, außerdem waren andere Sitzgelegenheiten im Raum verteilt.
Dann führte Edward sie wieder durch die Halle zu einer zweiflügeligen Tür hinter dem Salon. Als er sie aufstieß, erstreckte sich ein Ballsaal vor ihnen. Er war sehr groß, ganz in Gold gehalten und hatte auf einer Seite mehrere Flügeltüren, die auf eine Terrasse führten. Möbel gab es nur wenige, dafür riesige goldverzierte Spiegel an den Wänden, die den ohnehin schon großen Saal geradezu riesig erscheinen ließen.
Sobald sie wieder in der Halle waren, zeigte Edward auf die Türen hinter der Treppe und erklärte, dort befinde sich der Küchentrakt.
Sie stiegen die geschnitzte Eichentreppe hinauf und folgten einem Korridor, der zu den Schlafzimmern führte. Am Ende des Hauptgangs nahm Edward Annas Hand und führte sie in ihr Schlafzimmer. Der Raum lag nach vorne hinaus und hatte Blick auf den See. Außerdem befanden sich an beiden Seiten Erkerfenster. Eine hellblaue Tapete mit feinen goldenen Streifen zierte die Wand. Vor dem Kamin aus weißem Marmor stand eine Couch. Eine Tür führte in die Ankleidezimmer. An der vierten Wand stand ein Himmelbett.
»Nun?«, fragte Edward.
»Es ist genau so, wie ich es wollte. Alles. Die Bilder, die Vorhänge, die Möbel sind genau nach meinem Geschmack.«
»Ich weiß. Ich war ein aufmerksamer Schüler und habe auf jedes Wort von dir gelauscht, um zu erfahren, was du liebst. Und danach habe ich dieses Haus gebaut.«
Angesichts dieser Hingabe wirkte sie fast erschrocken. »Wie soll ich mich je dafür revanchieren?«
»Das hast du schon. Als du mich geheiratet hast«, sagte er.
3. Kapitel
Nach dem Frühstück saß Anna an ihrem Schreibtisch im Schlafzimmer und schrieb an Georgina.
Edward hatte zum Abendessen Nachbarn und Freunde eingeladen, um sie seiner Frau vorzustellen.
Jetzt kam er herein und lächelte, als er sie sah. »Ich habe gerade mit der Köchin über das Menü gesprochen«, bemerkte er. »Sie hat Rindfleisch vorgeschlagen.«
»Ja, wenn du einverstanden bist?«
Er trat zu ihr und umarmte sie von hinten. »Wenn du dich erst mal eingewöhnt hast, wird es deine Aufgabe sein, den Haushalt und das Personal zu führen.«
»Ich weiß«, lächelte sie. »Das macht mir keine Angst. Ich habe schon den Haushalt meines Vaters geführt. Mehr Sorge macht mir das Dinner heute Abend. Was ist, wenn sie mich nicht mögen?«
»Sie werden dich lieben! Etwas anderes ist gar nicht möglich!«
Er ließ sie los und ging zum Fenster.
»Ich dachte, wir könnten heute einen Spaziergang über das Grundstück machen. Ich wollte dir alles zeigen.«
»Der Tag ist wie gemacht dafür«, erwiderte sie und warf einen Blick auf den blauen Himmel.
»Wem schreibst du denn da?«
»Georgina. Ich mache mir Sorgen um sie. Bislang hat sie auf keinen meiner Briefe geantwortet, und obwohl sie Tom bald heiraten will, haben sie noch keinen konkreten Termin genannt.«
»Sie lassen sich ziemlich Zeit.« Edward runzelte die Stirn. »Wie auch immer, wir treffen uns zu unserem Spaziergang in einer halben Stunde unten.« Er küsste sie auf die Stirn, und Anna widmete sich wieder ihrem Brief.
Anna ging die Treppe hinunter, band die Bänder ihrer Haube zu einer Schleife und sah sich nach Edward um.
»Verzeihung, Mylady«, sagte Barton, der Butler. »Lord Edward wurde wegen dringender geschäftlicher Angelegenheiten in den Ort gerufen. Er lässt sich entschuldigen und sagte, er würde Sie heute Abend sehen.«
»Ach, verstehe«, antwortete Anna enttäuscht. »Nun gut. Danke, Barton.«
Dann blickte sie hinaus in den Sonnenschein und beschloss, das Grundstück auf eigene Faust zu erkunden.
Sie schlenderte durch den Park und anschließend über die schmalen Straßen, die die Ländereien durchzogen. Je weiter sie sich vom Haus entfernte, desto rauer wurde die Landschaft, doch sie war atemberaubend schön. Nun verstand sie, warum Edward seinen Besitz so liebte. Sie war sehr nervös gewesen bei der Vorstellung, Dublin und ihr altes Leben hinter sich zu lassen und nur darauf zu vertrauen, dass ihre Liebe zu Edward alles wieder aufwiegen würde. Aber jetzt wusste sie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Doch auf einmal sah sie auf einem Hügel ein Pferd mit einem gut gekleideten dunkelhaarigen Reiter auftauchen. Als das Pferd dicht an ihr vorbeischoss, schrak sie zusammen.
»Was machen Sie hier?«, schrie der Reiter sie wütend an.
»Ich – ich«, stotterte Anna.
»Sie befinden sich auf Privatgelände. Sie dürfen hier nicht sein.«
»Ich – es tut mir leid. Ich muss mich verlaufen haben. Ich dachte, ich wäre noch auf dem Land der Armstrongs.«
»Das sind Sie auch. Und zwar unbefugt. Jetzt verschwinden Sie, verdammt noch mal, bevor ich Sie verjagen muss.«
Eingeschüchtert blickte Anna den wütenden, feindseligen Mann an.
»Aber ich bin –«, versuchte sie zu erklären.
Aufgebracht lehnte sich der Mann zu ihr. »Verschwinden Sie! Weg von meinem Land!« Dann gab er dem Pferd die Sporen, so dass es sich aufbäumte, und ließ Anna in einer Staubwolke zurück. Zitternd sah sie ihm nach, wie er sich immer weiter entfernte und dann verschwand. Daraufhin machte sie kehrt und floh so schnell sie konnte ins sichere Haus zurück. Noch nie hatte jemand so mit ihr geredet. In den Salons von Dublin regierte die Höflichkeit, und Feindseligkeit war dort fremd. Der Mann mit seiner riesigen Gestalt, dem rabenschwarzen Haar und den dunklen, drohenden Augen war ihr geradezu unheimlich gewesen. Doch vor allem war sie verwirrt. Wenn sie unwissentlich auf ein benachbartes Anwesen geraten wäre, hätte sie seinen Zorn verstanden, aber er hatte behauptet, es wäre das Land der Armstrongs gewesen. Edwards Land. Sie würde darüber später mit ihrem Mann reden und hoffentlich aufgeklärt werden. Schließlich wollte sie nicht schon in ihrer ersten Woche die Nachbarn gegen sich aufbringen.
4. Kapitel
Aus dem sonnigen Tag wurde ein stürmischer Abend. Anna hatte sehnlichst auf Edwards Rückkehr gewartet, und nun war es kurz vor acht, und noch immer gab es keine Spur von ihm, obwohl doch die Gäste bald kommen sollten. Nach der Begegnung mit dem Reiter kam sie sich seltsam allein und angreifbar vor. Als sie nun eine Kutsche hörte, stürzte sie zum Schlafzimmerfenster und sah mit großer Erleichterung, dass es Edward war. Er eilte durch den Regen zum Eingang. Sie warf kurz einen prüfenden Blick in den Spiegel über dem Kamin, und ein paar Minuten später ging die Schlafzimmertür auf und Edward trat ein.
»Verzeih, dass ich so spät bin.« Er wirkte angespannt. »Auf der anderen Seite meiner Ländereien gab es großen Ärger. Eine Zwangsräumung wurde angeordnet, und ich musste dorthin.«
»Eine Zwangsräumung? Wieso denn das?«
»Das Ganze war ein Missverständnis. Ich erzähle dir später davon. Jetzt beeile ich mich lieber, um fertig zu sein, wenn die Gäste kommen.« Er ging ins angrenzende Ankleidezimmer.
Sie folgte ihm und blieb auf der Türschwelle stehen. »Edward, ich wollte dir etwas Merkwürdiges erzählen, das mir heute passiert ist. Ich glaube, ich habe einen unserer Nachbarn gegen mich aufgebracht. Ich bin wohl auf einem Spaziergang auf seinen Besitz geraten.«
Er kam zu ihr und sah sie, während er sich die Haare trocknete, verwirrt an.
»Unmöglich, Schatz. Weißt du, wie groß dieser Besitz ist? So weit hättest du nicht laufen können!«
»Aber ich bin einem Mann begegnet, der sagte –«
Da drang das Klingeln der Türglocke durchs Haus.
Er trat zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Das kannst du mir alles später erzählen. Jetzt kommen die Gäste. Könntest du schon vorgehen und sie unterhalten, während ich mich umziehe? Und entschuldige dich für mich.«
Sie nickte lächelnd. »Ist gut.«
Sie ließ ihn zurück und ging nach unten.
5. Kapitel
»Mylady, Mr und Mrs Foxe sind im Salon«, verkündete Barton, als Anna von der Treppe in die Eingangshalle kam.
»Danke, Barton«, sagte sie nickend, aber sie spürte, wie ihr mulmig wurde. Sie wusste, die Foxes waren Edwards direkte Nachbarn, und befürchtete, Mr Foxe wäre der Reiter, der sie angeschrien hatte. Doch als Barton die Tür des Salons für sie öffnete, sah sie im Salon ein freundlich wirkendes Paar in den Fünfzigern sitzen, das ihr erwartungsvoll entgegenblickte. Sie war erleichtert. Mr Foxe war nicht der Reiter.
»Guten Abend«, sagte sie und erwiderte ihr Lächeln. »Bitte entschuldigen Sie meinen Mann, er wurde geschäftlich aufgehalten und kommt in ein paar Minuten.«
»Sie müssen Anna sein«, sagte Mrs Foxe, stand auf, trat zu ihr und küsste sie auf die Wange. »Eigentlich geht es nicht an, dass ich Sie in Ihrem eigenen Haus willkommen heiße. Aber ich möchte doch sagen, dass Sie hier sehr willkommen sind.«
»Danke«, antwortete Anna.
»Ich kenne Ihren Vater«, ergänzte Mr Foxe lächelnd. »Ich bin ihm schon mehrfach begegnet. Und ich habe ihn bei ein paar politischen Versammlungen sprechen hören.«
»Wirklich?«, fragte Anna und freute sich über den herzlichen Empfang.
»Und ich kannte Ihre Mutter«, sagte Mrs Foxe, führte Anna zum Sofa und nahm mit ihr Platz.
»Ach ja?«, fragte Anna überrascht.
»Ja, als ich noch jünger war, besuchte meine Familie die ihre oft auf ihrem Anwesen in Tullydere.« Mrs Foxe ließ ihre Hand nicht los. »Wir standen uns ziemlich nahe.«
Da klopfte Barton und verkündete: »Lord und Lady Fitzherbert, Ma’am.«
Woraufhin ein weiteres freundlich wirkendes Paar den Salon betrat und Anna begeistert begrüßte.
Als Edward schließlich eintrat, war der Salon voller Menschen und Anna befand sich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Sie erkannte, dass sie sich grundlos Sorgen gemacht hatte, denn die meisten Gäste waren Freunde ihrer eigenen Bekannten und Verwandten. Die wenigen, die keinerlei Verbindung zu ihr hatten, waren langjährige Freunde von Edwards Familie und hießen sie mit offenen Armen willkommen.
»Siehst du, ich hab doch gesagt, dass sie dich lieben werden«, flüsterte Edward ihr zu und drückte ihre Hand.
Als verkündet wurde, es sei aufgetragen, führten Edward und Anna die Gesellschaft ins Esszimmer.
Edward setzte sich an den Kopf des Tisches, während Anna sich zu seiner Rechten niederließ. Während des ersten Ganges betrachtete sie ihre Gäste genauer. Es gefiel ihr, dass alle lebhaft miteinander plauderten. Dann fiel ihr Blick auf eine Frau, der sie nur kurz vorgestellt worden war und die nun am hinteren Ende des Tisches saß. Sie war eine schöne, etwa dreißigjährige Frau mit blonden Haaren und selbstbewusster, aber ruhiger Haltung.
»Wer ist die Frau da?«, fragte Anna flüsternd und nickte in die entsprechende Richtung.
»Das ist Diana Hunter«, erwiderte Edward. »Sie hat Hunter’s Farm von uns gepachtet und züchtet dort Pferde. Wahrscheinlich ist sie die beste Pferdekennerin des gesamten Landkreises. Und sie ist Witwe. Ihr Mann war in der Armee und hat sie gut versorgt zurückgelassen.«
Als hätte Diana gespürt, dass man über sie sprach, wandte sie plötzlich den Kopf und sah Anna direkt an. Anna fühlte sich ertappt und wurde rot. Diana nickte ihr kühl zu, bevor sie sich wieder ihrem Gesprächspartner zuwandte.
Das Dinner nahm seinen Gang, und je mehr Speisen aufgetragen und Wein ausgeschenkt wurde, desto lauter und munterer wurde das Gespräch bei Tisch.
Doch alle verstummten und wandten sich um, als plötzlich die Tür zum Esszimmer aufflog und ein Mann mit triefend nassem Hut und Umhang hereinschritt. Anna erschrak, denn sie erkannte den finsteren Reiter.
»Das verdammte Unwetter hat mich aufgehalten!«, donnerte der Mann, riss sich Hut und Umhang ab und warf sie Barton zu. »Bringen Sie das zum Trocknen raus!«
»Ich dachte schon, du schaffst es nicht«, bemerkte Edward.
»Nichts kann mich davon abhalten, deine Frau kennenzulernen«, entgegnete der Mann grinsend und trat forsch zum Tisch.
Anna blickte rasch zu Edward, der sich erhob.
»Und – wo ist sie?«, fragte der Mann, als er den Tisch erreicht hatte.
»Sinclair, dies ist meine Frau Anna. Anna, mein Cousin Sinclair«, verkündete Edward.
Als Sinclair seinen Blick auf Anna senkte, huschte etwas wie Erkennen über sein Gesicht. Dann grinste er breit.
»Lady Anna«, sagte er und verneigte sich leicht.
»Komm schon. Nicht so förmlich. Sie ist jetzt deine Cousine«, drängte Edward.
Sinclair lächelte leicht und nickte. »In diesem Fall: Cousine Anna.«
Anna erwiderte sein Nicken.
Daraufhin lehnte sich Sinclair zu Edward. »Ich muss später mit dir reden. Es ist ziemlich dringend.«
»Ja, später, Sinclair. Aber solltest du dich jetzt nicht langsam zu uns gesellen?«
Sinclair verneigte sich ein zweites Mal vor Anna und durchquerte dann den Raum, um sich auf den Platz neben Diana Hunter zu setzen, der für ihn freigehalten worden war.
Während die Tischgespräche wieder aufgenommen wurden, versuchte Anna, nicht zu ihrem neuen Verwandten zu starren. Doch sie war so bestürzt darüber, wer der finstere Reiter war, dass ihr Blick immer wieder von Sinclair angezogen wurde. Sie bemerkte, dass er seine Meinung laut kundtat, schnell und schlagfertig auf jeden seiner Gesprächspartner reagierte. Er senkte nur die Stimme, wenn er sich im Zwiegespräch mit Diana Hunter befand. Ganz offensichtlich waren sie sehr vertraut miteinander.
Anna fragte sich, worüber die beiden sprachen, und ertappte Diana mehrfach dabei, wie sie sie kühl musterte.
»Sagen Sie, Edward: Da Sie nun glücklich verheiratet sind und ein eigenes Heim haben, wann werden Sie sich zur Wahl stellen?«, fragte Mrs Foxe.
»Das wird niemals geschehen. Ich habe nicht die Absicht, mich zur Wahl zu stellen. Zu viel vergebliche Liebesmüh.«
»Aber ich finde, Sie wären ein ausgezeichneter Abgeordneter und könnten in der Politik eine große Karriere machen«, beharrte Mrs Foxe.
»Das ist nichts für mich. Sie werden sich nach einem anderen Kandidaten umsehen müssen.« Edward sah sie mit wissendem Blick an. Die Foxes waren bekannt dafür, verschiedene Politiker zu protegieren, und hielten ständig Ausschau nach einem neuen aufgehenden Stern.
»Außerdem müsste er als Parlamentsmitglied ständig nach London«, mischte Anna sich ein. »Und wann würde ich ihn dann sehen?«
»Das wäre allerdings kein guter Start für eine Ehe«, gab Mr Foxe zu. »Aber vielleicht denken Sie noch mal darüber nach, wenn wir wieder ein Parlament in Dublin haben.«
Am anderen Ende des Tischs lachte Sinclair laut auf. »Da können Sie lange warten. Das wird nie mehr passieren.«
Anna konnte ihren Ärger über Sinclair nicht länger unterdrücken, daher räusperte sie sich und sagte: »Mein Vater meint aber, dass es nur noch eine Frage der Zeit wäre. Und dass es Irland am besten mit einem eigenen Parlament ginge.«
»Was versteht Ihr Vater schon davon?«, entgegnete Sinclair abschätzig.
»Mein Vater ist Lord John Stratton und war zwanzig Jahre lang Mitglied des Parlaments«, erwiderte Anna stolz.
Sinclair stutzte kurz, dann hob er grinsend sein Weinglas und trank einen Schluck. »Ich weiß, wer Ihr Vater ist, Anna … ich fragte nur, was er denn von Politik versteht.«
Als Anna aufging, dass er sie gerade beleidigt hatte, starrte sie ihn finster an.
Doch Sinclair ignorierte das und sah sich um. »Ich glaube, ich spreche hier für fast alle, wenn ich behaupte, dass ein Home-Rule-Gesetz unnötig ist. Wir sind keine Kolonie, die eine lokale Volksvertretung braucht. Wir gehören zum Vereinigten Königreich und sollten daher von London aus regiert werden.«
»Ach du meine Güte, ich wollte keine politische Debatte vom Zaun brechen, noch bevor das Dessert serviert ist. Ich meinte lediglich, dass Edward sich gut als Politiker machen würde«, lachte Mrs Foxe.
»Ja, bestenfalls langweilt mich die Politik«, sagte Edward rasch. »Ich würde viel lieber etwas über die Jagd im nächsten Monat hören.«
Daraufhin wandte sich das Gespräch der Jagd zu. Anna sah zu Sinclair, der ihr einen triumphierenden Blick zuzuwerfen schien, ehe er seine Aufmerksamkeit erneut Diana zuwandte.
Nach dem Essen begab sich die Gesellschaft in den Salon, wo Diana Hunter etwas auf dem Cembalo vorspielte.
»Sie spielt ausgezeichnet«, bemerkte Anna zu Mrs Foxe, die neben ihr saß.
»Ja, nicht wahr? Mrs Hunter hat viele Talente. Sie sollten sie mal mit Pferden sehen.«
»Davon habe ich schon gehört … Außerdem ist sie noch sehr schön. Wie lang ist sie schon Witwe?«
»Nun, sie kam nach dem Tod ihres Mannes her, und das war, wenn ich mich recht erinnere, vor etwa vier Jahren. Ursprünglich kommt sie aus Yorkshire, und seitdem hat sie Hunter’s Farm gepachtet.«
»Ich frage mich, warum sie ausgerechnet hier gelandet ist.«
»Sie sagt, es sei ideal für die Pferde, die sie züchtet. Mrs Hunter stammt aus einer angesehenen Familie. Ich glaube, ihr Vater war ein wohlhabender Gutsherr in Yorkshire.«
Während Diana die Gäste am Cembalo verzauberte, sah Anna, wie Sinclair durch den Raum zum Kamin ging, wo Edward stand. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Daraufhin nickte Edward, und die beiden verließen den Salon.
Anna wartete kurz, dann entschuldigte auch sie sich. Sie wollte unbedingt wissen, ob Sinclair irgendwas von ihrer heutigen Begegnung erzählen würde.
Als sie durch die Halle ging, sah sie, dass niemand im Ess- oder Wohnzimmer war, daher steuerte sie die Bibliothek an. Da sie dort Stimmen hörte, schlich sie sich zur Tür, die nur angelehnt war.
»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, fragte Sinclair. »Einfach die Zwangsräumung zu stoppen, die ich angeordnet hatte.«
»Ich wusste nicht, dass sie den Doyles galt. Das hätte ich niemals zugelassen«, erwiderte Edward mit Nachdruck.
»Sie haben seit vier Monaten ihre Pacht nicht bezahlt. Mir blieb nichts anderes übrig.«
»Ihr Vater war der oberste Stallknecht meines Vaters. Sie haben seit Generationen auf diesem Land gelebt und gearbeitet. Ich kann sie nicht einfach rausschmeißen.«
»Was schlägst du dann vor? Sollen sie etwa pachtfrei wohnen?«
»Natürlich nicht. Lass ihnen nur etwas mehr Zeit. Sie werden das Geld schon auftreiben.«
»Aber ihre Schulden werden größer und größer, und damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie niemals bezahlt werden. Und wir statuieren ein Exempel für die anderen Pächter: Die glauben dann, sie müssten auch nicht zahlen. Nicht lange und auf deinen Ländereien herrscht Anarchie.«
»Nein, so weit wird es nicht kommen. Sie müssen nur wieder auf die Füße kommen, mehr nicht.«
»Edward, ohne die Pachterträge haben wir kein Einkommen. Die Pacht ist das, was hier alles am Laufen hält. Was dir deinen Lebensstil erlaubt. Was dir diesen Palast für deine Frau ermöglicht hat. Womit deine Hypotheken bezahlt werden. Hier geht’s ums Geschäft, nicht um Wohltätigkeit, und das solltest du nicht vergessen!«
»Das ist mir alles klar … Hör mal, gewähre ihnen noch einen Monat. Mehr verlange ich nicht. Einen weiteren Monat für die Familie Doyle. Wenn sie dann immer noch nicht die Pacht aufbringen können, müssen sie gehen.«
Edward seufzte laut.
»Also dann, ein Monat und keinen Tag mehr.« Sinclair wandte sich ab und setzte sich in Bewegung.
Als Anna hörte, wie seine Schritte sich näherten, eilte sie die Halle hinunter und versteckte sich unter der Treppe. Sie sah, wie Sinclair zielstrebig in den Salon zurückging. Kurz darauf erschien Edward. Er wirkte verwirrt und niedergeschlagen und kehrte ebenfalls in den Salon zurück.