Inhalt

  1. Cover
  2. Über die Autorin
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Widmung
  6. Erstes Kapitel
  7. Zweites Kapitel
  8. Drittes Kapitel
  9. Viertes Kapitel
  10. Fünftes Kapitel
  11. Sechstes Kapitel
  12. Siebtes Kapitel
  13. Achtes Kapitel
  14. Neuntes Kapitel
  15. Zehntes Kapitel
  16. Elftes Kapitel
  17. Zwölftes Kapitel
  18. Dreizehntes Kapitel
  19. Vierzehntes Kapitel

Über die Autorin

M.C. Beaton ist eines der zahlreichen Pseudonyme der schottischen Autorin Marion Chesney. Nachdem sie lange Zeit als Theaterkritikerin und Journalistin für verschiedene britische Zeitungen tätig war, beschloss sie, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Mit ihren Krimi-Reihen um den schottischen Dorfpolizisten Hamish Macbeth und die englische Detektivin Agatha Raisin feiert sie bis heute große Erfolge in über 17 Ländern. M.C. Beaton lebt abwechselnd in Paris und in den Cotswolds.

M.C. BEATON

Hamish Macbeth

Hamish geht auf die Pirsch

Kriminalroman

Aus dem Englischen von
Sabine Schilasky

BASTEI ENTERTAINMENT

Für Mark Sutherland-Fisher aus Dingwall,
Geoffrey Wilkinson aus Dingwall,
Charlie und Margaret MacNeill aus Lairg,
Iain Mackay und Biddy Macleod aus Torgormack

Erstes Kapitel

Land der braunen Heide und der kargen Bäume,
Land der Berge und der Fluten Säume.

SIR WALTER SCOTT

Henry Withering, seines Zeichens Dramatiker, sackte tiefer in den Beifahrersitz des Kombis, nachdem er abermals einen Blick durch das Seitenfenster auf die abweisende Landschaft geworfen hatte.

»Ist es noch weit, Liebling?«, fragte er im Jammerton.

»Oh ja«, antwortete seine Verlobte, Priscilla Halburton-Smythe, munter. »Aber wir sind sicher da, bevor es dunkel wird.«

Henry überlegte anzumerken, dass sie sich nach all diesen Stunden fraglos dem Land der Mitternachtssonne näherten und es mithin unwahrscheinlich sei, dass sie ihr Ziel überhaupt irgendwann erreichten. Und das hätte er auch getan, wäre er von der hässlichen Gegend nicht zu erschlagen. Noch dazu deprimierte ihn die Veränderung, die hier in Priscilla vorging, also beschloss er, lieber ein wenig zu schlafen. Doch obwohl er entschlossen die Augen zukniff und dem hypnotischen Quietschen der Scheibenwischer lauschte, wollte sich kein Schlummer einstellen. Schottland hatte den Schlaf ermordet.

Nicht dass Henry, eingefleischter Engländer, der er war, noch nie in Schottland gewesen wäre. Er war bloß noch nie so weit nach Norden gereist.

»Es klart auf«, verkündete Priscilla kühl und amüsiert. »Sieh doch. Die Landschaft ist herrlich.«

Widerwillig öffnete Henry die Augen.

Eine wässrige Sonne tauchte die steilen braunen Berghänge zu beiden Seiten in fahles Licht. Und als sich die Wolken zurückzogen, ertappte Henry sich dabei, wie er hinauf zu den Ehrfurcht gebietenden Gipfeln starrte und wieder nach unten zu den nassen Schafen und dem kargen Moor.

Die Sonne gewann an Kraft, und Wind kam auf. Neben der Straße schlängelte sich ein Fluss, der rot und golden glitzerte. Im nächsten Moment war die Aussicht versperrt, weil sie in eine Schlucht fuhren. Ein Wasserfall rauschte auf Henrys Seite an den Felsen herab, und das Dröhnen war unfassbar laut, als sie vorbeifuhren.

Henry blickte aus dem Augenwinkel zu Priscilla. Eine Frau, die so gut fahren konnte, hatte etwas Beängstigendes. Im Morgengrauen waren sie in London losgefahren, und Priscilla hatte sechshundertvierzig Meilen nach Norden vollkommen entspannt zurückgelehnt in ihrem Sitz gesessen, die Hände locker am Lenkrad. Sie trug eine beige Cordhose und eine cremeweiße Seidenbluse. Ihr blondes Haar hatte sie mit einem Hermès-Schal nach hinten gebunden. Sie sah kultiviert und elegant aus, und dennoch bemerkte Henry eine gewisse Beschwingtheit an ihr, als sie sich ihrer schottischen Heimat näherten, eine aufgeregte Vorfreude, die rein gar nichts mit ihm zu tun hatte. In London hatte er sich an eine vornehme und fügsame Priscilla gewöhnt. Waren sie erst verheiratet, entschied er, würde er darauf bestehen, dass nur noch er fuhr. Zugleich fragte er sich erstmals, ob sie in späteren Jahren zu einer dieser schrecklichen Frauen werden würde, die sich in alles einmischten, was in ihrer Grafschaft vor sich ging, und jedes Dorffest eröffneten. Verdrossen schloss er die Augen wieder. Sie dachte im Moment ja nicht mal an ihn, so viel stand fest.

Was für ein Irrtum!

Während der Fahrt war ein beträchtlicher Teil von Priscillas Triumphgefühl, dass sie sich eine Berühmtheit als künftigen Ehemann geangelt hatte, verebbt. Sie hatte ihm gesagt, er solle sich leger kleiden, und dann war er wie üblich herausgeputzt erschienen: gestreiftes Hemd mit weißem Kragen, alte Schulkrawatte, maßgeschneiderter Savile-Row-Anzug und handgearbeitete Schuhe von John Lobb. Ihr war ein wenig mulmig bei dem Gedanken, was sich wohl in seinem Koffer befinden mochte. Hatte er womöglich vor, die schottischen Highlands aufzurütteln, indem er geschniegelt wie das Model eines Stardesigners umherstolzierte?

Als er um ihre Hand angehalten hatte, hatte Priscilla nichts als schwindelerregende Glückseligkeit empfunden. Endlich hatte sie das Richtige getan. Endlich hatte sie jemanden gefunden, der ihren Eltern gefallen würde. Colonel und Mrs. Halburton-Smythe beklagten sich schon seit einem Jahr, weil sie Journalistin geworden war, auch wenn Priscilla wiederholt zu erklären versuchte, dass ihre Arbeit als Assistentin einer Moderedakteurin sie wohl kaum zu einer Journalistin machte. Ihre Eltern waren hin und wieder zu Besuch gekommen, jedes Mal mit irgendeinem »angemessenen« jungen Mann im Schlepptau. Nun wurde Priscilla unangenehm bewusst, dass sie eigentlich nicht viel über Henry wusste.

Er war achtunddreißig Jahre alt, klein mit feinen Zügen, schwarzem Haar und dunkelbraunen, fast schwarzen Augen. Seine Haut war teigig blass, und seine Beine waren ziemlich dünn, doch er besaß sehr viel Charme und schien allgemein beliebt zu sein.

Über die Jahre waren mehrere seiner Stücke in experimentellen Theatern aufgeführt worden; zumeist handelte es sich um böse Satiren gegen Kirche und Staat. Henry erfreute sich großer Beliebtheit bei den Linken. Für sie war er ein wahr gewordener Traum: ein waschechter Eton-Zögling, Spross einer Großgrundbesitzerfamilie, der sich dem Klassenkampf angeschlossen hatte. Dazu trug er ausgeblichene Jeans, schwarze Pullover und schmutzige Turnschuhe.

Und dann hatte sein Stück Duchess Darling in London Premiere. Keiner begriff, was in aller Welt in Henry Withering gefahren war, handelte es sich doch um jene Sorte Salonkomödie, die damit beginnt, dass sich der Butler und das Cockney-Hausmädchen über ihre Herrschaften unterhielten. Es ließ überhaupt kein Klischee aus. Da waren Untreue unter dem Adel, ein trotteliger Gardist, eine umwerfende Debütantin, eine matronenhafte Duchess und ein unbeholfener Duke. Aber die Kostüme waren Haute Couture, und es spielten diverse Stars mit.

Ein kluger Impresario hatte entschieden, dass die der Morde und Vergewaltigungen sowie der Politik überdrüssigen Londoner in der Stimmung für ein wenig Nostalgie sein könnten. Die linken Zeitungen besprachen das Stück unbeirrt löblich, glaubten sie doch, dass Henry eine überaus intelligente Satire geschrieben habe, die sie zwar nicht so ganz verstanden, aber das behielten die Kritiker selbstredend für sich. Die rechte Presse zögerte, das Stück zu verteufeln, da so viele berühmte Namen in der Besetzungsliste standen, die endlich mal wieder aus der Mottenkiste geholt worden waren. Das Publikum liebte das Stück. Es war frivol, albern, banal und wundervoll gespielt. Die Leute strömten in Scharen ins Theater. Schließlich war es, als ginge man zu einer königlichen Hochzeit. Niemand erwartete, dass die Stars klug waren. Sie sollten bloß sehr vornehm und reich aussehen. Henrys Erfolg war besiegelt, als der linke Flügel schließlich dahinterkam, dass ihr Liebling sie verraten hatte, und die Jungen Linken eine Protestaktion vor dem Theater inszenierten, bei der fünf Polizisten krankenhausreif geprügelt wurden und beobachtet wurde, wie ein Mitglied des Königshauses die Stirn runzelte. Am nächsten Morgen stand Henrys Name auf den Titelseiten sämtlicher großer Zeitungen.

Priscillas Arbeit als Assistentin der Moderedakteurin bestand hauptsächlich darin, Modefotos zu arrangieren, in Fotostudios zu hocken, Models in Kleider hinein- und wieder aus ihnen herauszuscheuchen, die gleichermaßen an mittelalterliche Pagen wie an japanische Fabrikarbeiter erinnerten, und sich zu fragen, ob die blau getönte Dame, für die sie arbeitete, ihr jemals die Chance geben würde, etwas zu schreiben. Dann wurde sie losgeschickt, um über die Mode in dem Theaterstück zu berichten.

Sie war hinter die Bühne gegangen und Henry vorgestellt worden, der sie prompt zum Abendessen einlud. Eine Woche später machte er ihr den Antrag. Nun, weitere sieben Tage später, waren sie unterwegs zu Priscillas schottischem Zuhause, eingeladen von ihren überaus verzückten Eltern. Sie wollten eine Hausparty zu Ehren des neuen Verlobten geben. Priscilla war mit ihren dreiundzwanzig Jahren noch unberührt, und Henry hatte sie fünfmal geküsst, worin sich sein Werben bisher erschöpfte. Priscilla wusste, wie er in Shorts aussah, weil er für ein Gesellschaftsmagazin beim Tennis fotografiert worden war. Persönlich hatte sie ihn nie anders als jetzt gekleidet gesehen. Es ist eigenartig, dass ein Mann seiner Herkunft immerfort aussieht, als hätte er sich für den Kirchgang fein gemacht, dachte Priscilla. Sie wusste ja nicht, dass Henrys Stil eine Art Kostüm war, um sein neues Image als Liebling der besseren Gesellschaft zu untermalen.

Neben ihr saß Henry finster gestimmt und lauschte dem Knurren seines Magens. Vor Stunden hatten sie an einer Raststätte gehalten und ein scheußliches Mittagessen zu sich genommen. Nun wollte Henry sein Abendessen. Und er wollte, dass diese Albtraumfahrt endlich vorüber war.

Priscilla hielt an, und er blickte mürrisch auf.

Ein Schäfer trieb seine kleine Herde mitten auf der Straße vor sich her. Der Mann bewegte sich mit unfassbarer Gelassenheit und sah sich nicht mal nach dem Wagen hinter ihm um. Henry stieß ein ungeduldiges Knurren aus, beugte sich hinüber und drückte fest auf die Hupe. Daraufhin stoben die Schafe erschrocken auseinander.

»He, was soll das?!«, fauchte Priscilla und rollte ihr Fenster hinunter. »Es tut mir sehr leid, Mr. Mackay«, rief sie. »Das war ein Versehen.«

Der Schäfer kam zu ihnen und beugte sich zum offenen Wagenfenster. »Ah, Sie sind das, Miss Halburton-Smythe«, sagte er. »Sie sollten aber wirklich wissen, dass man die Schafe nicht erschrecken darf.«

»Entschuldigung«, erwiderte Priscilla. »Wie geht es Mrs. Mackays Bein?«

»Besser, sagt sie. Wir haben einen neuen Arzt, Dr. Brodie. Er hat ihr eine grüne Flasche gegeben, und meine Frau sagt, die ist mächtig gut.«

»Sitzen wir jetzt den ganzen Tag hier?«, murrte Henry.

Der Schäfer warf ihm einen milde verwunderten Blick zu.

»Mein Bekannter ist müde«, erklärte Priscilla. »Ich muss weiter. Richten Sie Mrs. Mackay aus, dass ich sie in den nächsten Tagen besuchen komme.«

»Auf dem Land darf man nicht hetzen«, sagte sie streng zu Henry, als sie weiterfuhren. »Mr. Mackay war sehr verärgert.«

»Wen interessiert, was die Bauern denken?«

»Die Leute sind keine Bauern«, erwiderte Priscilla. »Wirklich, Henry, du überraschst mich.«

»Nun, da du versprochen hast, Mrs. Mackay mit der grünen Flasche und dem schlimmen Bein zu besuchen, nehme ich an, dass wir beinahe am Ziel sind.«

»Nur noch etwa dreißig Meilen.«

Henry stöhnte.

Lord und Lady Helmsdale saßen hinten in ihrem antiken Rolls-Royce und schrien sich gegenseitig an, was die gängige Form der Unterhaltung zwischen ihnen war.

»Wenn dieser Theater-Bursche nicht wäre, hätte ich Marys Einladung nicht angenommen«, sagte Lord Helmsdale. Mit Mary meinte er Mrs. Halburton-Smythe.

Lord Helmsdale war ein kleiner rundlicher Mann, der sein dünnes graues Haar sorgfältig über die Halbglatze gekämmt hatte. Seine Frau war riesig, mindestens einen Meter neunzig, und hatte ein Mondgesicht. Sie trug ein altes Tweed-Kostüm und eine Bluse mit gestärktem Kragen. Auf ihrem Kopf saß ein ausgeblichener blauer Hut mit weißen Punkten. Er hatte auffällige Ähnlichkeit mit jenem Kopfputz, den Ihre Majestät bei ihrem letzten Amerika-Besuch getragen hatte. Ebendiese Tatsache war ein Grund, weshalb sie zu spät losgefahren waren, denn Lord Helmsdale hatte zu fragen gewagt, ob sie schon wieder in den Mülltonnen von Buckingham Palace gewühlt habe. Der darauf folgende Krach hatte es wahrlich in sich gehabt. Andererseits einte nichts verlässlicher als geteilte Verachtung, und die Helmsdales waren wieder einmal eins in ihrem Hass auf einen von Halburton-Smythes Gästen.

Bei dem Objekt ihrer gebündelten Verachtung handelte es sich um Captain Peter Bartlett von den Highland Dragoons.

»Warum in aller Welt hat Mary ihn eingeladen?«, fragte Lord Helmsdale mürrisch.

»Falls du Bartlett meinst, weiß der Himmel«, antwortete seine Frau spitz. »Aber ich kann dir sagen, warum Bartlett dort sein wird. Er will sich das erste Vogelpaar unter den Nagel reißen.« Sie führte ausgiebige Telefonate mit Mrs. Halburton-Smythe, und niemals würde ihr der Gedanke kommen, dass es der Lady vor ihren Anrufen regelrecht grauste.

»Ich hatte nicht gedacht, dass wir auf Moorhuhn-Jagd gehen würden«, bemerkte seine Lordschaft. »Der Moorhuhn-Bestand sinkt rapide, und Halburton-Smythe hat mir gesagt, dass ich mein Gewehr zu Hause lassen soll.«

Die vorherige Moorhuhn-Saison, die in England am zwölften August begann, auch bekannt als »Der herrliche Zwölfte«, und am zehnten Dezember endete, hatte die schlimmsten Befürchtungen schottischer Großgrundbesitzer bestätigt: Die Moorhühner starben rasant aus, und das könnte ein baldiges Ende von Schottlands Hundertfünfzig-Millionen-Pfund-Jahresumsatz allein mit Moorhühnern bedeuten.

»Bei mir schwinden die Vögel auch«, grummelte Lord Helmsdale. »Ich denke, diese Tierschützer vergiften sie, um mir zu schaden.«

»Bei jedem sterben die Vögel«, erwiderte seine Frau. »Die Wildschutzbehörde hat schon einen Spendenaufruf gestartet, um dreihunderttausend Pfund für eine Ursachenforschung zusammenzubekommen. Sie bitten alle Grundbesitzer um Geld. Hast du keinen Brief von denen bekommen?«

»Daran erinnere ich mich nicht«, sagte Lord Helmsdale.

»Scheich Hamdan Al Mektum hat ihnen schon hunderttausend gegeben.«

»Mac-Wer?«

»Er ist ein Minister in den Vereinigten Arabischen Emiraten und hat ein großes Anwesen in Schottland. Und du fragst mich jedes Mal dasselbe, wenn ich seinen Namen erwähne.«

»Tja, wenn sie so viel von ihm kriegen, brauchen sie mein Geld nicht«, sagte ihr Mann gelassen. »Und wir müssen uns auch über Bartlett keine Gedanken machen. Dieser Theaterschreiber Withering ist verdammt pfiffig. Das beste Stück, das ich seit Jahren gesehen habe.«

»Ich freue mich schon darauf, sehr unhöflich zu Bartlett zu sein«, bemerkte seine Frau. »Ja, das wird mir richtig Spaß machen.«

»Der Mann ist ein Halunke, wie er im Buche steht.«

Jessica Villiers und Diana Bryce waren beste Freundinnen, deren Freundschaft dieser komischen Mischung aus einem hübschen und einem sehr unscheinbaren Mädchen entsprang. Insgeheim fand Diana die burschikose, trampelige und pferdegesichtige Jessica furchtbar, und Jessica neidete Diana deren umwerfend gutes Aussehen bis zur Verbitterung.

Beider Eltern besaßen Anwesen drüben in Caithness im Nordosten. Diana und Jessica hatten gleichzeitig ihr Debüt in der Londoner Gesellschaft gehabt. Inzwischen arbeiteten sie in London und hatten gleichzeitig Urlaub genommen – nicht etwa aus lauter Freundschaft, sondern weil der August die angesagte Zeit war, Urlaub in Schottland zu machen.

Die Gerüchteküche in den Highlands funktionierte genauso verlässlich wie überall sonst, und anscheinend hatte Mary Halburton-Smythe kaum die Idee für eine kleine Hausgesellschaft geäußert, um den Dramatiker Henry Withering willkommen zu heißen, als sie auch schon flehentliche Anrufe von allen möglichen Leuten erhielt. Jeder wollte kommen, doch sie hielt die Gästeliste klein. Und Jessica und Diana gehörten zu den wenigen Glücklichen.

Während Jessica ihren zugigen alten Land Rover geschickt über die einspurigen Highland-Straßen lenkte, träumte Diana davon, Priscilla diesen berühmten Dramatiker vor der Nase wegzuschnappen. Jeder wusste, dass Priscilla ungefähr so viel Sexappeal hatte wie ein Fisch. Diana hingegen hatte schimmerndes schwarzes Haar und einen makellosen Teint. Die Tatsache, dass ihr die Männer während der Londoner Ballsaison nicht reihenweise zu Füßen gelegen hatten, setzte ihr nach wie vor zu. Allerdings hatte sie auch noch nicht begriffen, dass Frauen, die sich selbst allzu sehr liebten, selten die Liebe anderer anlockten. Zweimal war sie verlobt gewesen, und jedes Mal war es der Mann gewesen, der die Verlobung löste.

Sie hätte gestaunt, wüsste sie, dass Jessica gleichfalls davon träumte, Priscilla ihren Dramatiker auszuspannen. Denn Jessica war überzeugt, dass die Männer letztlich ein Mädchen vorzogen, das ein »guter Kumpel« war, anstatt ein eingebildetes kleines Fräulein wie Diana. Bei diesem Gedanken warf sie ihrer besten Freundin einen gehässigen Blick zu. Wie auch nicht, hatte es doch vor zwei Jahren diesen schrecklichen Vorfall gegeben, als Diana sich mit Jessicas Freund verlobt hatte? Natürlich hatte die Verlobung nicht gehalten – kein Mann konnte Diana genießen, nachdem er Jessicas Vorzüge gekostet hatte!

»Wer wird sonst da sein?«, fragte Jessica. »Ich meine, abgesehen von dir, mir, Priscilla und ihrem Verlobten.«

»Ach, die üblichen Leute«, antwortete Diana gähnend. »Bis ich Mrs. Halburton-Smythe endlich eine Einladung für uns beide abgeschwatzt hatte, war ich viel zu erschöpft, um genauer nachzufragen. Es gibt keine Jagd, wegen dieses langweiligen Moorhuhn-Problems, also schätze ich, dass eine Menge alte Schachteln dort sein werden.«

Tommel Castle, das Zuhause der Halburton-Smythes, war keine echte Burg. Das Haus war im neunzehnten Jahrhundert von einem Bierbaron erbaut worden, als die Highlands dank Queen Victorias häufiger Aufenthalte dort in Mode kamen. Das Gebäude bot Türmchen, Zinnen und Wehrgänge sowie eine Vielzahl kalter dunkler Zimmer. Die breite Eichentreppe und die Korridore säumten Kopien mittelalterlicher Rüstungen.

Über die Highland-Straßen fuhren die übrigen Gäste der Halburton-Smythes gen Tommel Castle.

Als Erste traf die etwas ältere und immer noch hübsche Mrs. Vera Forbes-Grant mit ihrem Bankiersgatten Freddy ein. Sie besaßen einen Landsitz ganz in der Nähe. Dann kam Miss Prunella Smythe, eine theaterbegeisterte alte Jungfer, die mit Colonel Halburton-Smythe verwandt war – auch wenn der sich oft wünschte, sie wäre es nicht. Der betagte Sir Humphrey Throgmorton indes, der direkt nach Prunella eintraf, war ein alter Freund des Colonels. Er wohnte an der schottischen Grenze und war ein Sammler edlen Porzellans.

Captain Peter Bartlett war bereits zwei Tage früher angereist. Als die ersten Gäste erschienen, lag er vollständig bekleidet auf seinem Bett, bewunderte das silberne Zigarettenetui, das er aus der Bibliothek gestohlen hatte, und fragte sich, wie viel er dafür bekommen könnte.

Jeremy Pomfret war pünktlich zum Mittagessen angekommen und döste vor dem Kaminfeuer in der Bibliothek. Nach der Fahrt von Perth hierher und nach zu viel Essen und zu viel Wein war er müde.

Er war ein kleiner pausbäckiger Mann von fast vierzig Jahren, sah jedoch aus wie fünfundzwanzig. Er hatte weißlich blondes Haar, helle Wimpern und große blaue Augen, die immerfort staunend aus dem Engelsgesicht in die Welt zu blicken schienen. Er war sehr reich, und seine ganze Leidenschaft war, auf alles zu schießen, was erlaubt war.

Ihm war nicht wohl bei der Wette, die er eben mit Captain Peter Bartlett abgeschlossen hatte. Colonel Halburton-Smythe hatte ihnen beim Mittagessen gesagt, dass er in diesem Jahr keine Moorhuhn-Jagd veranstalten würde, weil der Bestand auf mysteriöse Weise stark dezimiert war. Folglich waren auch die üblichen Treiber nicht angeheuert worden, als die Kleinbauern, Landarbeiter und Schulkinder in den Ferien herhielten. Doch jeder, der sein Glück auf eigene Faust versuchen wollte, sei herzlich eingeladen, hatte der Colonel gesagt.

Captain Bartlett hatte sich sofort zu Jeremy gewandt. »Haben Sie Ihre Flinte dabei, Junge?«, fragte er, dabei wusste doch jeder, dass Jeremy Pomfret ohne eine Auswahl an Gewehren nirgends hinfuhr.

»Selbstverständlich«, antwortete er.

»Wie wäre es dann mit einer Wette, wer von uns beiden das erste Vogelpaar erwischt?«

Und so hatten sie gewettet – um fünftausend Pfund.

In dem Moment hatte es völlig vernünftig und sportlich gewirkt, vor allem für einen von gutem Claret vernebelten Verstand. Und fünftausend Pfund waren ein Klacks für Jeremy. Jetzt jedoch, als er vor dem Feuer saß und darüber nachdachte, regten sich Zweifel.

Hatte Peter Bartlett überhaupt fünftausend Pfund zu verwetten? Jeremy war dem Captain schon früher bei diversen gesellschaftlichen Anlässen in den Highlands und in London kurz begegnet. Und jedes Mal hatte er den Eindruck eines Schnorrers gemacht, der notorisch pleite war. Warum war er auf einmal so erpicht darauf, eine Summe zu verwetten, die für ihn fraglos sehr hoch sein musste? Was führte Bartlett im Schilde?

Wie auch immer, die Einzelheiten würden sie morgen Abend besprechen, bei der Party mit Büffet zu Ehren dieses Henry Withering, denn Colonel Halburton-Smythe hatte vorgeschlagen, alle Gäste in die Wette einzuweihen, falls jemand noch Nebenwetten abschließen wollte.

Während Jeremy Pomfret immer noch überlegte, was Bartlett vorhaben könnte, schlief er ein.

Süß und selig verschnarchte er die laute Begrüßung des berühmten Theaterautors Henry Withering.

»Hier biegen wir ab«, sagte Priscilla und drosselte das Tempo. »Wir nehmen diese Nebenstraße. Die Hauptstraße führt vorne am Dorf vorbei und endet vor dem Lochdubh Hotel

Zum ersten Mal an diesem langen, anstrengenden Tag schien Henry Withering zu gefallen, was er sah. »Halt mal kurz an«, bat er. »Das ist bezaubernd.«

Das Dorf Lochdubh lag am Rand des gleichnamigen Loch. Es bestand aus einer Reihe von Cottages aus dem achtzehnten Jahrhundert, die sich an die Küstenlinie schmiegten und deren weiße Mauern in der spätnachmittäglichen Sonne schimmerten. Üppige schottische Rosen in Pink und Weiß rankten über die Gartenzäune. Loch Lochdubh selbst lag ruhig und spiegelglatt da. Die Luft duftete nach Rosen, Salzwasser, Seetang, Teer und Holzrauch. Ein Kleiner Tümmler durchbrach die gläserne Wasseroberfläche, rollte sich träge herum und tauchte wieder unter. Henry atmete genüsslich ein, während er zu den Wellenkreisen blickte, die sich von der Stelle aus, an der der Tümmler eingetaucht war, über das Wasser ausbreiteten. Aus irgendeinem Radio in der Nähe war eine gälische Trauerballade zu hören.

»Hier kommt es einem vor, als wäre London sehr weit weg – in einem anderen Land, einer falschen Welt aus Trubel, Lärm und Politik«, sagte Henry halb zu sich selbst.

Priscilla lächelte ihn an. Jetzt mochte sie ihn wieder. Dann legte sie den Gang ein. »Wir sind bald zu Hause.«

Der Wagen bewegte sich weg vom Dorf eine gerade einspurige Straße hinauf. Als sie den Hügelkamm erreichten, drehte Henry sich um und sah zurück. Ein Dorf am Fuße zweier hoher Berge, deren Hänge lila von Heidekraut waren. Dann wurde Henry bewusst, dass sie wieder angehalten hatten. »Ist schon gut, Liebling«, sagte er. »Ich bin zu ausgehungert, um die malerische Landschaft noch länger zu bewundern.«

»Das ist es nicht. Ich will nur kurz mit Hamish reden.«

Henry sah sie prüfend an. Ihre Wangen hatten sich zartrosa gefärbt, und Henry blickte nach vorn.

Ein großer dünner Polizist kam die Straße entlang auf sie zugeschlendert. Die Mütze hatte er nach hinten geschoben, sodass darunter sein feuerrotes Haar zum Vorschein kam. Er war in Hemdsärmeln, und so wie seine ausgebeulte Uniformhose über den großen hässlichen Stiefeln glänzte, konnte man fast glauben, er hätte sie von der falschen Seite gebügelt. Unter dem Arm trug er eine Flasche Scotch.

Was für ein schlaksiger Trottel, dachte Henry amüsiert.

Doch als der Polizist Priscilla erkannte und zum Wagen kam, brachte ein strahlendes Lächeln sein Gesicht zum Leuchten. Seine Augen waren braun und von dichten schwarzen Wimpern umrahmt.

»Sie sind das, Priscilla!«, sagte der Polizist mit einem weichen, melodischen Akzent.

Henry stellten sich die Nackenhaare auf. Für wen hielt dieser dahergelaufene Dorfpolizist sich, Priscilla mit Vornamen anzureden?

Sie hatte ihr Fenster heruntergekurbelt. »Henry«, sagte sie, »darf ich dir Hamish Macbeth vorstellen, unseren Dorfpolizisten? Hamish, das ist Henry Withering.«

»Ich hatte schon gehört, dass Sie kommen«, sagte Hamish und beugte sich nach unten, um durch das Fenster auf Priscillas Seite zu sehen. »Hier herrscht ziemliche Aufregung, weil ein berühmter Theaterautor kommt.«

Henry lächelte ihm kühl zu. »Sicher sind alle auch aufgeregt zu hören, dass Miss Halburton-Smythe endlich heiraten wird.«

Eben noch war das Gesicht des Polizisten am Autofenster gewesen, im nächsten Augenblick war es verschwunden, da er sich abrupt aufrichtete. Henry sah Priscilla verärgert an, doch die starrte stur geradeaus.

Sie murmelte etwas, öffnete die Fahrertür und zog Hamish zur Seite. Henry saß da und lauschte ihrer Unterhaltung.

»Ich wusste nicht, dass Sie verlobt sind«, hörte er Hamish leise sagen.

»Ich dachte, das hätten Sie gehört«, flüsterte Priscilla. »Gerade Sie. Sie hören doch allen Klatsch als Erster.«

»Ja, sicher ist mir so was zu Ohren gekommen, aber ich konnte es nicht glauben«, sagte Hamish. »Mrs. Halburton-Smythe erzählt ja dauernd, dass Sie diesen oder jenen heiraten werden.«

»Tja, diesmal stimmt es.«

Erbost stieg Henry aus dem Auto. Er hatte das starke Gefühl, dass er irgendetwas sagen musste, um dieses Tête-à-Tête zu beenden, sonst würde sich Priscilla noch bei diesem Dorfpolizisten dafür entschuldigen, sich verlobt zu haben.

»Guten Abend, Officer«, bemerkte er und trat um den Wagen herum auf sie zu.

»Warum tragen Sie diese riesige Flasche Whisky mit sich herum?«, fragte Priscilla.

»Die habe ich beim Tontaubenschießen drüben in Craig gewonnen.« Hamish grinste.

»Was für eine komische Farbe für Scotch«, sagte Priscilla. »Sehr hell, fast weiß.«

»Na ja.« Hamish grinste. »Die Preise wurden vom Laird gestiftet, und seine Frau war allein mit ihnen im Zelt, bevor sie vergeben wurden.«

»Das erklärt es«, kicherte Priscilla. Hamish und sie lächelten einander an, und in diesem Lächeln erkannte Henry eine solche Vertrautheit, dass er sich unangenehm ausgeschlossen fühlte.

»Was erklärt es?«, fragte er streng.

»Die Frau des Lairds trinkt ganz gern«, antwortete Priscilla. »Normalerweise trinkt sie die Hälfte von dem, was in den Preisflaschen ist, und füllt die Flaschen mit Wasser auf.«

Hamish und sie lachten laut.

»Wir halten Sie sicher von Ihren Pflichten ab, Officer«, sagte Henry in einem – wie er inständig hoffte – sehr autoritären Tonfall.

Hamish blickte den Dramatiker nachdenklich an, und seine Augen, die gerade noch amüsiert geblitzt hatten, waren auf einmal ausdruckslos.

»Ja, ich muss die Hühner füttern«, antwortete er, tippte sich an die Mütze und wandte sich ab.

»Warten Sie kurz, Hamish!«, rief Priscilla ihm nach, ohne auf Henrys verärgerten Blick zu achten. »Mutter gibt morgen Abend eine Party zu Henrys Ehren. Kommen Sie doch auch. Es gibt Drinks und ein Büffet. Um sieben Uhr geht es los. Mutter mag keine späten Veranstaltungen.«

»Sehr freundlich von Ihnen«, sagte Hamish.

»Es wird … förmliche Abendgarderobe erwartet«, ergänzte Priscilla.

»So welche habe ich«, antwortete Hamish gelassen.

»Ich meine, Smoking und …«

»Ich finde schon was.«

»Dann bis morgen«, sagte Priscilla strahlend.

Hamish ging weiter die Straße hinunter. Langsam drehte Priscilla sich zu ihrem aufgebrachten Verlobten um.

»Hast du etwa das letzte bisschen Verstand verloren?«, fragte Henry.

»Hamish ist ein alter Freund«, erwiderte Priscilla und stieg zurück in den Wagen.

Henry setzte sich wieder auf den Beifahrersitz und schlug die Beifahrertür übertrieben fest zu.

»War dieser Polizist irgendwann mal mehr als ein alter Freund?«

»Natürlich nicht, du Dummchen«, sagte Priscilla. »Du darfst nicht vergessen, dass ich in Lochdubh jeden kenne.«

»Und kommen alle hiesigen Dorftrampel zu dieser Party?«

»Nein. Mutter ist ein ziemlicher Snob, und Vater ist noch schlimmer, und …« Priscilla verstummte abrupt.

Sie krümmte sich innerlich bei dem Gedanken daran, was ihre Mutter sagen würde, wenn sie erfuhr, dass Hamish Macbeth eingeladen war.

Ausgerechnet Hamish!