Inhalt

  1. Zu diesem Buch
  2. Titel
  3. Widmung
  4. Prolog
  5. 1
  6. 2
  7. 3
  8. 4
  9. 5
  10. 6
  11. 7
  12. 8
  13. 9
  14. 10
  15. 11
  16. 12
  17. 13
  18. 14
  19. 15
  20. 16
  21. 17
  22. 18
  23. 19
  24. 20
  25. 21
  26. 22
  27. 23
  28. 24
  29. 25
  30. 26
  31. Playlist
  32. Die Autorin
  33. Die Romane von Pepper Winters bei LYX
  34. Impressum

Zu diesem Buch

Ihre Hände sind gefesselt, die Augen verbunden. Um sie herum tobt das Chaos, Schüsse fallen. Verzweifelt versucht sie sich daran zu erinnern, wie sie in diese Lage gekommen ist, wo sie ist und vor allem wer sie ist. Doch so sehr sie sich auch bemüht, kann sie sich an nichts erinnern. Sie sollte Angst verspüren, vor ihren Entführern flüchten oder sich zur Wehr setzen. Doch als ihr die Augenbinde abgenommen wird, blickt sie in die stechend grünen Augen eines Mannes und fühlt eine Verbundenheit, die sie sich nicht erklären kann. Denn Arthur »Kill« Killian ist der Anführer der Bikergang Pure Corruption – und ihr Kidnapper! Sie sollte vor ihm fliehen, solange sie noch kann. Und dennoch ist da etwas in seinem Blick, das sie um jeden Preis ergründen muss, um Licht in ihre Dunkelheit zu bringen …

PEPPER WINTERS

Pure Corruption

Verloren in der Dunkelheit

Roman

Ins Deutsche übertragen von
Stefanie Pannen

Für diejenigen,
die von Beginn an bei mir waren.

Ihr wisst, wer ihr seid.

Prolog

Wir trafen uns in einem Albtraum.

In der Zwischenwelt, wo die Zeit keine Macht über Zeit, Raum und Kausalität hatte. Wir trafen uns. Wir sahen einander an. Wir wussten es.

Es gab keine Verzerrung durch die Außenwelt. Kein Richtig oder Falsch. Keine Verwirrung und keinen Kampf zwischen Herz und Verstand.

Nur uns. In unserer stillen Traumwelt.

Dieser Albtraum wurde zu unserem Zuhause. Wir pflanzten Geister, ernteten Fantasien. Ineinander verschlungen in unserer fröhlich verzerrten Realität.

Wir verliebten uns ineinander. Hals über Kopf.

In diesen flüchtigen Sekunden unseres Albtraums lebten wir eine Ewigkeit.

Doch dann erwachten wir.

Und es war vorbei.

1

Ich habe immer geglaubt, dass das Leben diejenigen belohnt, die sich als besonders würdig erweisen. Wie verdammt naiv ich war. Das Leben belohnt nicht – es zerstört. Es zerstört diejenigen, die am würdigsten sind, und nimmt ihnen alles. Es nimmt alles und sieht dabei zu, wie jede noch verbliebene Güte zu Hass verrottet.

Kill

Dunkelheit.

Das war jetzt meine Welt. Im übertragenen und wörtlichen Sinn.

Mein Hinterkopf schmerzte, wo man mich bewusstlos geschlagen hatte. Meine Handgelenke und Schultern schmerzten, weil ich gefesselt auf dem Rücken lag.

Nichts war gebrochen – zumindest fühlte es sich nicht so an –, aber ich war am ganzen Körper grün und blau. Die Benommenheit verschwand allmählich, die Nebel der Bewusstlosigkeit teilten sich, und ich versuchte etwas Licht auf das zu werfen, was geschehen war. Aber es gab kein Licht. Meine verbundenen Augen blinzelten in die endlose Dunkelheit. Die beklemmende Tatsache, dass mir eine so fundamentale Fähigkeit wie das Sehen genommen worden war, drehte mir den Magen um.

Ich bewegte mich nicht, doch innerlich katalogisierte ich meinen Körper, von meinen Zehenspitzen bis zu jeder einzelnen Haarsträhne auf meinem Kopf. Mein Kiefer und meine Zunge schmerzten von dem schmutzigen Lappen, den man mir in den Mund gestopft hatte, und meine Nase ließ einen flachen Luftstrom herein – gerade genug, um mich am Leben zu halten.

Nackte Angst wollte sich in meinem Verstand ausbreiten, aber ich schob sie weg. Ich unterdrückte die Panik, um meine missliche Lage zu beurteilen, anstatt mich im Entsetzen zu verlieren.

Angst ist niemals hilfreich, sondern hält nur auf.

Langsam kamen meine Sinne wieder, so zögerlich, als hätten sie Angst, dass die Person, die sie mir gestohlen hatte, ihre Rückkehr bemerken würde.

Hören: das Quietschen von Bremsen, das Knarren eines anhaltenden Wagens.

Fühlen: Die Haut an meinem rechten Unterarm pulsierte mit einer Mischung aus Wundheit und Aufmerksamkeit. Vielleicht eine Verbrennung?

Riechen: muffiges faulendes Gemüse und der durchdringende Geruch von Angstschweiß – aber es war nicht meiner. Es war ihrer.

Ich war nicht die Einzige, die entführt wurde.

Mein Herz raste, als es ihr Entsetzen wahrnahm. Es beschleunigte meinen Atem und ich verspürte in meinen Beinen den Drang, wegzulaufen. Ich zwang mich, die Außenwelt zu ignorieren, und konzentrierte mich auf mein Inneres. Dort umklammerte ich meine innere Stärke, wo Gelassenheit kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit war.

Ich widerstand dem Drang, mich in einem Meer von Tränen zu verlieren. Verzweiflung war ein Fluch, dem ich mich nicht ergeben würde, denn ich hatte die Absicht, auf das, was als Nächstes passieren mochte, vorbereitet zu sein.

Ich hasste das Schniefen und erstickte Schluchzen. Ihre trostlose Traurigkeit drohte mir das Herz zu zerreißen.

Steh das hier erst selbst durch, dann kannst du dir Sorgen um andere machen.

Ich glaubte nicht, dass es sich hierbei um eine spontane Entführung handelte. Wer mich auch geraubt haben mochte, hatte es geplant. Die Ahnung wurde stärker, während ich nach Spuren von Alkohol oder Zigarettenrauch haschte.

War ich auf einer Party gewesen? In einem Nachtclub?

Nichts.

Ich war weder dumm noch sorglos gewesen. Glaube ich …

Ich fand keine Hinweise darauf, wo ich gewesen war oder was ich getan hatte, als sie mich geholt hatten.

Ich wand mich und versuchte, mich von dem Gestank abzuwenden. Meine auf dem Rücken gefesselten Handgelenke protestierten, als sich das Seil tiefer in mein Fleisch fraß. Meine Rippen und mein Kopf schrien vor Schmerzen auf. Meine Fesseln hatten kein Spiel. Ich beendete den Versuch, mich zu bewegen, und schonte meine Kraft lieber.

Ich versuchte zu schlucken.

Keine Spucke.

Ich versuchte zu sprechen.

Keine Stimme.

Ich versuchte mich zu erinnern, was passiert war.

Ich versuchte mich zu erinnern …

Panik.

Nichts.

Ich kann mich nicht erinnern.

»Steh auf, Schlampe«, sagte ein Mann. Etwas stieß mich in die Rippen. »Ich sag’s nicht noch mal. Los

Ich erstarrte, während mich mein Verstand von der Gegenwart in die Vergangenheit katapultierte.

»Ich werde dich so sehr vermissen«, schluchzte sie und umarmte mich fester.

»Ich bin doch nicht aus der Welt.« Ich versuchte mich zu lösen und sah über meine Schulter auf die Anzeigetafel, wo neben meinem Flug LETZTER AUFRUF stand. Ich hasste es, spät dran zu sein. Wobei auch immer. Ganz zu schweigen von meiner einzigen Chance, zu entkommen und ein für alle Mal die Wahrheit herauszufinden.

»Ruf mich an, sobald du angekommen bist.«

»Versprochen.« Ich schlug ein Kreuz über meinem Herzen –

Die Erinnerung zersprang in tausend Scherben, als mein liegender Körper plötzlich aufgerichtet wurde.

Wer war dieses Mädchen? Warum hatte ich keine Erinnerung daran, dass es geschehen war?

»Ich sagte, steh auf, Schlampe.« Der Mann schnaufte in mein Ohr und eine Wolke seines stinkenden Atems hüllte mich ein. Die Augenbinde stahl mir zwar die Sicht, ließ meine Nase aber unbedeckt.

Leider.

Der Mann schubste mich vorwärts. Der Boden unter meinen Füßen war fest. Die Mischung aus Übelkeit und Verwirrung verblasste und ließ mich kalt zurück.

Meine Beine stolperten in die Richtung, die er mir vorgab. Ich hasste es, in der Dunkelheit herumgestoßen zu werden, nicht zu wissen, woher ich kam oder wohin ich getrieben wurde. Es waren keine beruhigenden Geräusche oder unterdrücktes Lachen zu hören. Dies war kein »Blinde Kuh«-Spiel.

Das hier war echt.

Es ist echt.

Mein Herz raste schneller, und die Angst drang durch meine Abwehr. Aber die schiere Panik wich weiter zurück. Schlüpfrig wie ein Silberfischchen, immer gerade jenseits der Grenzen meines Verstands.

Ich war dankbar dafür. Dankbar, dass ich mir einen Rest von Würde bewahrt hatte – stark blieb, selbst im Angesicht unbekannter Schrecken, die jenseits meiner Augenbinde lauerten.

Das Stöhnen und Wimmern der anderen Frauen schwoll an, während Männer ihnen befahlen, dem Pfad zu folgen, den ich zuvor gegangen war. Ganz gleich, was an seinem Ende lag, Verdammnis oder Erlösung, ich hatte keine andere Wahl, als mich langsam vorwärts zu schieben und meine vergessene Vergangenheit zurückzulassen.

Ich wollte die Teile durch pure Willenskraft wieder zusammensetzen. Ich flehte das Puzzle meiner Vergangenheit an, sich zusammenzufügen, um diese schreckliche Welt zu verstehen, in der ich aufgewacht war.

Aber mein Gedächtnis war mir verschlossen. Eine Festung, die mir alles vorenthielt, was ich wissen wollte.

Als ich nicht länger herumgestoßen wurde, blieb ich stehen.

Ein großer Fehler.

»Weiter.« Ein Schlag gegen meinen Hinterkopf ließ mich vorwärtstaumeln. Ich blieb nicht wieder stehen. Meine nackten Füße berührten … Holz?

Nackte Füße?

Wo sind meine Schuhe?

Das fehlende Wissen drehte mir den Magen um.

Woher bin ich gekommen?

Wie bin ich hier gelandet?

Wie heiße ich?

Es war nicht der Schrecken der unbekannten Zukunft, der mir meine falsche Gelassenheit nahm. Es war die Angst, mein Ich zu verlieren. Sie hatten mir alles gestohlen. Meine Triumphe, meine Niederlagen, meine Leistungen und Fehlschläge.

Wie sollte ich mit dieser neuen Welt umgehen, wenn ich nicht wusste, wo meine Stärken lagen, um zu überleben? Wie konnte ich darauf hoffen, meine Feinde zu besiegen, wenn mein eigener Verstand rebellierte und mich ausschloss?

Wer bin ich?

Mein Selbst ausgelöscht? Undenkbar.

»Schneller, Schlampe.« Etwas Kaltes drückte sich in meinen Rücken und schob mich vorwärts. Die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, schlurfte ich schneller und tat mein Bestes, um die Unebenheiten im Boden auszugleichen.

»Da runter.« Der Mann packte meine gefesselten Handgelenke und gab mir etwas, gegen das ich mich lehnen konnte, während meine Zehen über die kleinen Stufen vor mir navigierten.

»Noch mal.«

Ich gehorchte.

»Noch eine.«

Ich schaffte es die Stufen hinunter, ohne auf mein Gesicht zu fallen.

Mein Gesicht.

Wie sehe ich aus?

Vor mir erklang ein lautes schabendes Geräusch. Ich wich zurück und stieß gegen eine weitere weibliche Gestalt. Die Frau hinter mir schrie auf – der erste Laut von einer der anderen.

»Weiter.« Wieder spürte ich den Druck im Kreuz, und ich gehorchte. Ich bewegte mich Zentimeter für Zentimeter weiter, bis die muffige, nach altem Gemüse riechende Luft abgelöst wurde von … Kupfer, Metall … Blut?

Warum … warum kommt mir das so bekannt vor?

Ich schnappte nach Luft, als mein Verstand in eine weitere Erinnerung stürzte.

»Ich kann das nicht.« Ich eilte zum Papierkorb im Klassenzimmer und übergab mich. Der unverkennbare Geruch von Blut drehte mir den Magen um.

»Denken Sie nicht zu viel darüber nach. Es ist nicht das, was Sie mit dem Tier machen, um es bluten zu lassen. Sondern das, was Sie machen, damit es lebt.« Mein Professor wartete kopfschüttelnd darauf, dass ich mir den Mund abwischte und mit kreidebleichem Gesicht zu der Operation zurückkehrte, an der ich gerade teilnahm.

Mein Herz zerbrach wie ein Stück Glas, während ich über das Mitleid und die Verantwortung nachdachte, die ich für eine so unschuldige Kreatur empfand. Dieser kleine Welpe, der in eine Plastiktüte gesteckt und zum Sterben weggeworfen worden war, nachdem jemand mit einem Luftgewehr auf ihn geschossen hatte. Er würde nur dann überleben, wenn es mir gelang, seine inneren Blutungen einzudämmen und meiner Berufung zu folgen.

Ich atmete den Geruch des Blutes ein, ließ ihn sich in meiner Nase einnisten, meine Kehle hinabfahren und meine Seele durchdringen. Ich trank seine kupferne Essenz. Ich tränkte mich mit dem Geruch tierischer Lebenskraft, bis er mich nicht mehr beeinträchtigte.

Schließlich nahm ich ein Skalpell in die Hand und sagte: »Ich bin bereit.«

»Verdammte Scheiße.« Der Mann, der mich vorantrieb, schlug mir gegen meinen Rücken. Der Schmerz ließ mich stolpern.

»Wire – schick sofort Verstärkung her. Er hat einen verdammten Krieg begonnen!«

Ein Luftzug und Bewegungen von Körpern umfingen mich, als Männer hinter mir vorbeirannten. Die Dunkelheit, in der ich lebte, war plötzlich mit Geräuschen erfüllt.

Kugeln schwirrten umher und bohrten sich scheppernd in Metall. Querschläger hallten mir in den Ohren. Jemand fluchte, andere stöhnten schmerzerfüllt auf.

Jemand packte mich am Arm und zog mich zur Seite. »Runter!« Der Schwung brachte mich aus dem Gleichgewicht. Da meine Hände zusammengebunden waren, hatte ich nichts, um mich festzuhalten, keine Möglichkeit, mich vor einem Sturz zu bewahren.

Ich fiel.

Mir wurde übel, als ich von einer kleinen Plattform taumelte und auf den Boden stürzte.

Feuchtes Gras und Blätter ersetzten den Geruch von Blut, drängten sich durch die übersättigte Schärfe verschütteten Metalls. Ich riss den Mund auf und ächzte vor Schmerz. Grashalme kitzelten meine Lippen, als meine Wange in den Schlamm gedrückt wurde.

Meine Schulter schrie vor Schmerz, aber ich ignorierte die neue Verletzung. Meine Gedanken klammerten sich an die befreite flüchtige Erinnerung an meinen Beruf.

Ich bin Tierärztin.

Das Gefühl des Heimkehrens und der Sicherheit, die mir dieser kleine Informationsschnipsel brachte, war unbezahlbar. Meine Seele lechzte nach weiteren fehlenden Informationen.

Ich war von umhertastender Ungewissheit zum Hunger nach mehr übergegangen.

Sag es mir! Zeigt es mir. Wer bin ich?

Innerlich forschte ich nach weiteren Hinweisen. Aber es war, als würde ich versuchen, einen flüchtigen Traum zu erhaschen, der umso schneller verblasster, je mehr ich ihm nachjagte.

Ich hatte alles über Medizin oder wie man heilte vergessen. Alles was ich wusste war, dass ich an den Geruch von Blut gewöhnt war. Ich hatte keine Angst davor. Mir wurde nicht schlecht, und ich verlor auch nicht das Bewusstsein, wenn ich sah, dass es aus einer offenen Wunde strömte.

Dieses winzige Wissensbruchstück war genug, um meine kribbelnden Nerven zu beruhigen und mich wieder auf die Außenwelt zu konzentrieren.

Schlachtrufe. Männer, die herumbrüllten. Knurrten. Dumpfe Schläge von Fäusten gegen Fleisch und das entsetzliche Widerhallen von Schüssen.

Ich verstand es einfach nicht. War ich durch die Zeit gefallen und in einer anderen Dimension gelandet?

Ein anderer Körper landete auf meinem.

Ich schrie auf, als mir ein Ellbogen in die Rippen stieß.

Die Gestalt rollte sich leise weinend von mir herunter. Eine Frau.

Warum weine ich nicht?

Wieder suchte ich in meinem Inneren nach Angst. Es war nicht natürlich, keine Angst zu haben. Ich war entführt worden und allein inmitten eines Krieges aufgewacht, und doch hyperventilierte ich nicht und geriet auch nicht in Panik.

Meine Ruhe war wie eine Droge, die mich durchflutete und die Krassheit meiner Situation dämpfte. Es wäre zu ertragen, wenn ich mutig war und das Wissen umarmte, dass ich stark war.

Dankbar für den Gedanken, ballte ich die Hände zu Fäusten. Ich mochte nicht wissen, wer ich war, aber das spielte keine Rolle, weil die Person, die ich in diesem Moment war, die wichtigste Rolle spielte.

Ich musste so zweigeteilt bleiben, um durchzustehen, was noch passieren würde. Ich hatte nichts außer meinem Bauchgefühl, stiller Stärke und Rationalität. Alles andere war mir genommen worden.

»Hört auf zu kämpfen, ihr verdammten Idioten!«

Die männliche Stimme, die ich soeben gehört hatte, erinnerte mich an das Grollen eines Erdbebens und ließ den Kampf mit einem Mal verstummen. Wem diese Stimme auch gehören mochte, er besaß Macht.

Immense Macht. Kolossale Macht.

Ein Schauer lief mir über die Haut.

»Was zum Teufel ist hier los? Habt ihr alle euren gottverdammten Verstand verloren?«, rief ein Mann.

Das Geräusch eines kurzen Faustkampfs, dann stieg mir der frische Geruch von aufgeworfener Erde in die Nase.

»Es ist vorbei. Lasst die Waffen fallen und kniet nieder.« Das gleiche Erdbeben wie zuvor dröhnte. Die Wucht seines Befehls zwang mich fester gegen den feuchten Boden.

»Auf keinen Fall, du Arschloch. Du bist nicht mein Prez!«

»Doch, das bin ich. Seit vier Jahren.«

»Bist du nicht. Du bist seine Bitch. Bilde dir bloß nicht ein, dass dir seine Macht gehört.«

Ein weiterer Kampf – gedämpfte Faustschläge und Tritte. Doch es endete schnell mit einem schmerzerfüllten Ächzen.

Wieder ertönte die Erdbebenstimme. »Mach die Augen auf und folge dem verdammten roten Fluss. Der Kerl, den ihr auserwählt habt, um mich zu beseitigen und den Club zu übernehmen, ist tot. Ist euch jemals in den Sinn gekommen, dass Wallstreet mich aus einem bestimmten Grund zum Prez gemacht hat?«

Ein weiteres Ächzen.

»Ich bin der Auserwählte. Ich bin der, der die Familiengeheimnisse kennt, das Vermächtnis übernommen und sich seine Macht erarbeitet hat. Du hast keine Ahnung. Niemand hat eine Ahnung. Also knie nieder und erweise mir verdammt noch mal Respekt.«

Mir lief ein weiterer Schauer über den Rücken.

Es folgte Stille, abgesehen vom Geräusch von Stiefeln auf Matsch und schwerem Atmen. Dann fluchte jemand leise. »Du wirst sterben. So oder so, wir werden keinen Dagger als Prez akzeptieren. Wir sind die gottverdammten Corrupts. Uns einem Verräter zu unterwerfen ist ein verdammter Witz.«

»Ich bin der Verräter? Der Mann, der eurem Anführer gehorcht? Der euch an seiner Stelle führt? Ich soll der Verräter sein, während du versuchst, meine Brüder gegen mich aufzuhetzen?« Ein schwerer Faustschlag traf auf Fleisch. »Nein … nicht ich bin der Verräter. Sondern du.«

Mein Verstand raste und versuchte, das Gehörte mit wilden Schlussfolgerungen zu verarbeiten. War dies der dritte Weltkrieg? War das die Apokalypse des Lebens, an das ich mich nicht mehr erinnern konnte? Doch wie ich die Eindrücke auch zusammensetzte, es ergab keinen Sinn.

Vorahnung lag in der Luft. Ich wusste nicht, wie viele Männer vor mir standen. Ich wusste nicht, wie viele Leichen den Boden bedeckten oder wie es in der Welt, die ich kannte, zu solcher Gewalt kommen konnte. Aber ich wusste, dass die Waffenruhe fragil war und jeden Moment enden konnte.

Jemand stieß eine Drohung aus, die wie eine Schlange durch das Gras kroch. »Ich werde dich töten, du Schwein. Denk an meine Worte. Die wahren Corrupts warten nur darauf, dich auszuschalten.«

Die Schritte von jemand Großem erschütterten den Boden. »Die Corrupts gibt es seit vier verdammten Jahren nicht mehr. Ich habe den Vorsitz übernommen, und wir sind jetzt Pure Corruption. Und du bist nicht pur genug für diesen Club. Du bist erledigt.«

Ich zuckte zusammen, als der schweflige Knall einer Schusswaffe die stehende Luft zerriss.

Ein dumpfer Aufprall, als ein lebloser Körper zu Boden fiel. Der sanfte Windstoß einer entfliehenden Seele.

Mord.

Direkt vor mir war ein Mord geschehen.

Der unbändige Drang, zu pflegen und zu heilen – der Teil von mir, der so unerschütterlich war wie mein Herzschlag –, schrie vor Bedauern.

Der Tod war etwas, das ich Tag für Tag bekämpfte, aber jetzt war ich waffenlos.

Ich bin eine Zeugin.

Und doch war ich keine.

Ich hatte einen Kampf mitbekommen, aber nichts gesehen. Kannte niemanden. Ich würde niemals sagen können, wer wen erschossen hatte, oder wer im Recht und wer im Unrecht war.

Meine Hände zitterten, auch wenn es mir gelang, seltsam ruhig zu bleiben. Stehe ich unter Schock? Und wenn ja, wie sollte ich mich heilen?

Die Frau neben mir krümmte sich, ihre Knie berührten meine Seite. Meine erste Reaktion bestand darin, vor der Berührung zurückzuweichen. Ich wusste nicht, wer Freund, wer Feind war. Aber schnell kam eine zweite Reaktion: der Drang, meine Ruhe zu teilen – sie wissen zu lassen, dass sie nicht allein war, was auch passieren würde. Wir sahen der gleichen Zukunft entgegen – wie düster diese auch sein mochte.

Über uns wurden Stimmen laut, hauptsächlich Geflüster, schnell gesprochene Befehle. Jeder Ton schien verstärkt. Meiner Sicht beraubt zu sein ließ meinen Körper nach anderen Möglichkeiten suchen, um Hinweise zu finden.

»Werdet die Leiche vor Sonnenaufgang los.«

»Wir gehen zurück und stellen sicher, dass wir noch Rückendeckung haben.«

»Macht es bekannt. Es ist vorbei. Der Prez hat gewonnen – heute gibt es keine Anarchie.«

Jede Stimme war anders, aber mein Gehör richtete sich nur auf eine: das Erdbeben, das meine Haut wie Treibsand zittern ließ.

Er hatte nicht mehr gesprochen, seit er jemanden zum Tode verurteilt und den Abzug betätigt hatte. Jede Sekunde, die ich ihn nicht hörte, ließ mein Herz schneller schlagen. Ich hatte keine Angst. Ich wusste, ich hätte Angst haben sollen. Ich sollte vor Angst starr sein. Aber er erweckte etwas in mir – etwas Ursprüngliches. So wie ich wusste, dass ich eine Frau und Tierärztin war, wusste ich, dass seine Stimme etwas bedeutete. Jeder Millimeter meines Körpers spannte sich an und wartete darauf, dass er wieder sprach. Es war falsch, mich nach der Stimme eines Mörders zu sehnen, aber es war das Einzige, was ich wollte.

Brauchte.

Ich muss wissen, wer er ist.

Stiefel schmatzten durch den Matsch, während die Schritte näher kamen.

Die Frau neben mir wimmerte, aber ich reckte mein Kinn dem Geräusch entgegen und wünschte, meine Augen wären unbedeckt.

Ich wollte sehen. Ich wollte das Gemetzel vor mir betrachten. Denn es war ein Gemetzel. Der stechende Geruch des Todes bestätigte das. Es war morbide, solch eine Zerstörung sehen zu wollen, aber ohne meine Sicht schien das alles wie ein schrecklicher Albtraum. Alles war vollkommen unsinnig und seltsam.

Ich brauchte einen Beweis, dass das alles tatsächlich passierte, dass ich nicht verrückt war. Das mein Körper intakt war, selbst wenn mein Verstand versagte.

Ich schnappte nach Luft, als warme Finger meine Wange berührten und mein Gesicht aus dem Matsch hoben. Starke Hände berührten meinen Hinterkopf und machten sich an der Augenbinde zu schaffen.

Die Vorfreude darauf, endlich zu bekommen, was ich wollte, wieder sehen zu können, ließ mich unter seinem Griff stillhalten.

Ich sagte kein Wort und bewegte mich nicht. Ich wartete nur. Und atmete. Und lauschte.

Der Mann atmete schwer und leise, unterbrochen von einem kurzen schmerzerfüllten Keuchen. Seine Finger waren schnell und geschickt, vermochten ihr leichtes Zittern jedoch nicht zu verbergen.

Er ist verletzt.

Plötzlich gab der Druck der Augenbinde nach, und undurchdringliche Finsternis wich einer neuen Art von Dunkelheit.

Der Nachthimmel. Mondschein. Sterne.

Fixpunkte einer Welt, die ich kannte, aber das Industriegelände, auf dem silbrig-schwarz Blut schimmerte und Leichen das Feld übersäten, sagte mir nichts.

Ich lebe.

Ich kann sehen.

Die Freude darüber, die Augenbinde los zu sein, kam und ging so strahlend wie ein Komet.

Doch als sich unsere Blicke trafen, endete mein Leben.

Grün zu grün.

Ich habe grüne Augen.

Tiefer und tiefer fiel ich in seine Fänge.

Mein Leben – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – verloren jegliche Bedeutung, sobald ich in seine Augen blickte.

Die Angst, die mir bis jetzt gefehlt hatte, durchbohrte mein Herz.

Ich zitterte. Ich bebte.

Tief in mir erhob sich jahrhundertealtes Wissen.

Jeder Teil von mir näherte sich ihm zuerst und wich dann entsetzt zurück.

Er.

Ein zum Leben erweckter Albtraum.

Ein Albtraum, den ich leben wollte.

Wenn das Leben ein Wandteppich war, fest gewebt, dann war er die Schere, die mich herausschnitt. Er riss mich heraus, stahl mich und veränderte die Prophezeiung dessen, was ich sein sollte.

Kinnlanges dunkles Haar, zerzaust und feucht, rahmte ein kantiges Kinn, eine gerade Nase und volle Lippen ein. In seinem Bartschatten waren noch Überbleibsel des Kampfes zu sehen, Schmutz und Blut. Aber es waren seine Augen, die einen zitternden Pfeil in mein Herz jagten und seinen smaragdgrünen Zorn verbreiteten.

Er erstarrte, dann beugte er sich zu mir vor. In seinen Zügen flackerte so etwas wie Hoffnung. Er öffnete den Mund und in seinem Blick loderte schmerzhaft tiefe Liebe. »Was …?« Ein Bein gab nach und ließ ihn vor mir knien. Seine Hände zitterten, als er sie auf mein Gesicht legte. Seine Finger gruben sich schmerzhaft in meine Wangenknochen. »Das ist nicht –«

Mein Herz raste. Ja.

»Du kennst mich«, hauchte ich.

In dem Moment, in dem meine Stimme uns beide umfing, schoben sich Sturmwolken über den Sonnenschein seines Gesichts, schwärzten die Hoffnung und ersetzten sie durch puren Hass.

Von einer Sekunde auf die andere sah er mich nicht mehr so an, als wäre ich sein Engel, sondern ein verabscheuungswürdiger Teufel.

Die Veränderung ließ mich erschauern – vor Kälte und Härte. Sein Atem ging schwer, seine Brust hob und senkte sich. Dann öffneten sich seine Lippen, und ein geknurrter Befehl fiel von seinem Mund in meine Ohren. »Steh auf. Du gehörst jetzt mir.«

Als ich mich nicht bewegte, landete seine Hand an meiner Seite. Ich war durch Kleidung von seiner Berührung getrennt, dennoch spürte ich sie überall. Er streichelte meine Seele, mein Herz und liebkoste jede Zelle meines Körpers mit Fingern, die mich verachteten.

Es raubte mir den Atem.

Mit einem rücksichtslosen Stoß rollte er mich herum und schnitt mit einer scharfen Klinge meine Fesseln durch. Dann brachte er mich mit müheloser Kraft auf die Beine, erschreckend und erregend zugleich.

Ich wankte nicht. Ich weinte nicht. Zog nur den ekelhaften Lappen aus meinem Mund und starrte ihn schweigend an.

Starrte hinauf und hinauf in seine leuchtend grünen Augen und verstand etwas, das ich eigentlich nicht verstehen sollte.

Er war es.

Mein Albtraum.