Der Autor:
Prof. Dr. Christian Roesler, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, lehrt Klinische Psychologie an der Katholischen Hochschule Freiburg i. Br. sowie Analytische Psychologie an der Universität Basel. Er ist darüber hinaus Dozent an den C.G. Jung-Instituten Zürich und Stuttgart sowie Lehranalytiker am Aus- und Weiterbildungsinstitut für Psychoanalytische und Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg (DGPT). 14 Jahre als Berater und Leiter einer Paar- und Familienberatungsstelle. Familienmediator. Ausbilder in Emotionsfokussierter Paartherapie. Forschung und Publikation zu Paarbeziehung und Paartherapie, Erziehungs- und Familienberatung, Analytische Psychologie, Träume in der Psychotherapie, Medienpsychologie und Identitätsentwicklung. Praxis für Analytische Psychotherapie und Paartherapie in Freiburg.
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1. Auflage 2018
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ISBN 978-3-17-029775-3
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Allein schon die hohe Scheidungsrate von mittlerweile fast 50%, die auch weiter ansteigt, macht deutlich, dass die Belastung von Paarbeziehungen mit Beziehungsproblemen erheblich ist und ein hoher Bedarf an Paartherapie besteht. Mittlerweile ist auch wissenschaftlich gut abgesichert, dass die Folgen von Trennung/Scheidung nicht nur für die davon betroffenen Kinder, sondern auch für die beteiligten Partner, selbst für diejenigen, die die Trennung initiieren, mit erheblichen Schäden verbunden sind (geschätzte ökonomische Schäden für die Gesamtgesellschaft: 4–28 Milliarden € pro Jahr, stärkere Inanspruchnahme des Gesundheitssystems, drastische Reduktion des gesundheitlichen und psychischen Wohlbefindens, sowohl kurzfristige Belastungen als auch langfristige Schädigungen der Beziehungsfähigkeit bei den betroffenen Kindern, soziale Vererbung des Scheidungsrisikos usw.). Ähnliches gilt auch für anhaltende ungelöste Paarkonflikte, die nicht zur Trennung der Partner führen. Demgegenüber zeigen aktuelle Studien, dass bei jungen Menschen eine verbindliche langdauernde Paarbeziehung für die allermeisten nach wie vor zu den wichtigsten Werten im Leben zählt. Die Sehnsucht nach stabilen und erfüllenden Paarbeziehungen ist auch heute noch ungemindert – die Rhetorik von der »Versingelung« der Gesellschaft oder dem Zerfall tragfähiger Bindungen ist durch die Datenlage nicht gestützt. Dies wird im ersten Teil des Buches in einem umfassenden Überblick über die historische Entwicklung der Konzepte und Modelle von Liebes- bzw. Paarbeziehungen aufgezeigt sowie einer Zusammenfassung des Forschungsstandes in den Sozialwissenschaften, welche Modelle, Leitbilder und Wertvorstellungen in Bezug auf Paarbeziehungen heute verbreitet sind und welche Faktoren sich als förderlich bzw. schädlich für den Verlauf von Paarbeziehungen erwiesen haben. Zugleich wächst aber auch bei vielen Paaren die Erkenntnis, dass es notwendig und hilfreich ist, sich bei Beziehungsproblemen fachliche Hilfe in Form von Paartherapie zu holen oder sich gar in präventiven Angeboten Beziehungskompetenzen anzueignen. Versorgungsstrukturen mit Paartherapie haben sich im Beratungsbereich etabliert, im deutschen Gesundheitswesen aber – etwas zugespitzt formuliert – existiert die Paarbeziehung bislang nicht, auch präventive Angebote sind keineswegs flächendeckend vorhanden. Daher auch fristet die wissenschaftliche Behandlung von Beziehungsstörungen und Paartherapie in Deutschland nach wie vor ein Nischendasein. International aber hat sich die Paartherapie in verschiedenen Feldern methodisch enorm weiterentwickelt.
Das Buch ist als ein integratives Lehrbuch konzipiert, das einen umfassenden, die wesentlichen theoretischen Schulen übergreifenden Überblick über aktuelle Ansätze der theoretischen Erklärung, Prävention und Therapie von Paarproblemen und Beziehungsstörungen geben will. Bisherige Publikationen sind in der Regel schulenspezifisch orientiert; so gibt es Lehrbücher für »Systemische Paartherapie«, »Verhaltenstherapie mit Paaren« usw. Dies spiegelt aber die letztlich etwas rückständige deutschsprachige Therapielandschaft im Bereich Paartherapie wider, während die internationale Entwicklung sich mittlerweile von der Orientierung an einer einzigen Schule weitgehend entfernt hat und in zahlreichen Fachpublikationen schon seit über einem Jahrzehnt verstärkt integrative Ansätze in der Paartherapie gefordert werden. Diese Debatte um integrative Ansätze (»Common Factors«) spiegelt sich in der deutschsprachigen Fachkommunikation kaum wider. Aktuelle Versuche, integrative Modelle oder Konzepte der Paartherapie vorzulegen, finden darüber hinaus häufig nur in additiver Form statt. Damit ist gemeint, dass Methoden und Interventionskonzepte aus unterschiedlichen Ansätzen aneinandergefügt werden, ohne ein verbindendes theoretisches Modell im Hintergrund zu formulieren, das eine Logik der Veränderungsprozesse in Paarbeziehungen berücksichtigen würde. Hier wird auch häufig eine Metaphorik von Reparatur und Werkzeugen für die Paartherapie verwendet, die ich für unangebracht und letztlich irreführend halte. Die Metapher der Reparatur von Paarbeziehungen würde ja implizieren, dass es eine Normalform richtigen Funktionierens von Paarbeziehungen gäbe, dass diese gestört oder beschädigt werden kann, und dass diese vor allem dann letztlich in der Werkstatt Paartherapie nur wieder repariert werden muss. Aus dieser Sichtweise folgt dann, dass man die Werkzeuge (»Tools«) je nach Bedarf oder persönlicher Präferenz aus den unterschiedlichen therapeutischen Schulen miteinander kombinieren kann. Was dabei häufig völlig fehlt, ist ein kohärentes und auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauendes Modell davon, was eine Paarbeziehung zwischen zwei Menschen überhaupt ist, was ihre Bedingungen und die darin entstehenden Probleme sein können sowie was es tatsächlich braucht, um hier therapeutische Veränderung herbeizuführen. Die angesprochene Sichtweise würde einen mechanistischen Blick auf menschliche Beziehungen einnehmen und meiner Ansicht nach deren Komplexität verfehlen. Auch wird dabei übersehen, dass solche additiven Modelle die Gefahr bergen, dass inkonsistente oder gar widersprüchliche Ansätze kombiniert werden, wobei manche Autoren betonen, dass hierdurch nicht nur nicht geholfen, sondern auch Schaden angerichtet werden kann (Snyder et al. 2012). Das hier vorliegende Buch zielt auch darauf ab, genau diese in vielen Ansätzen vorfindbare mangelhafte wissenschaftliche Fundierung zu liefern und zu einem kohärenten Modell davon, was Paarbeziehungen sind, welche Bedingungen sie haben, wie es hier zu Störungen kommen kann, und wie dies dann therapeutisch sinnvoll veränderbar ist, zu integrieren.
International sehr verbreitete und in der empirischen Forschung auch bestens evaluierte Ansätze wie z. B. die Emotionsfokussierte Paartherapie, akzeptanzorientierte Ansätze oder neuere psychoanalytische Paartherapiemodelle sind im deutschen Sprachraum bislang kaum bekannt. Hier wird ein Überblick auch über neueste, wissenschaftlich gut bestätigte Paartherapieansätze gegeben, um diese dann schließlich in ein integratives Modell der therapeutischen Arbeit mit Paaren zu fassen. Paartherapie, so zeigt die aktuelle wissenschaftliche Literatur insbesondere im angelsächsischen Bereich, kann heute nur dann erfolgreich sein, wenn sie Methoden und theoretische Konzepte aus unterschiedlichen Therapieschulen in sinnvoller Weise integriert. Dabei stützen sich aktuelle wirksame Paartherapiemethoden auf neuere Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften, der Interaktionsforschung, der Bindungsforschung und andere, die, wie ich hier versuche zu zeigen, sich zu einem kohärenten Modell davon, was eine Paarbeziehung ist und wie sie sich entwickelt, integriert werden können. Diese neueren Paartherapieformen erweisen sich den im deutschsprachigen Raum etablierten Verfahren in der Wirksamkeitsforschung als eindeutig überlegen. Demgegenüber haben hier sehr verbreitete Therapieansätze wie systemische Paartherapie oder Kommunikationstrainings eine überraschend geringe Wirksamkeit, wobei weniger als die Hälfte der behandelten Paare von der Therapie profitieren, was auch bei vielen Praktikern wenig bekannt ist.
Es lässt sich mit guten Gründen argumentieren, dass Menschen zu langdauernden monogamen Paarbeziehungen angelegt sind, nicht nur um bei dem Heranwachsen der Nachkommen zu kooperieren, sondern weil beim Menschen die Emotionsregulation grundsätzlich dyadisch angelegt ist und daher alle Menschen lebenslang auf die Verfügbarkeit emotionaler Sicherheit in nahen zwischenmenschlichen Beziehungen angewiesen sind. Dies lässt sich mit anthropologischen und biologischen Erkenntnissen (z. B. zur Rolle des Hormons Oxytocin in Paarbeziehungen und bei der Sexualität) ebenso schlüssig erklären wie mit neueren Erkenntnissen aus der affektiven Neurowissenschaft, der Forschung zu Paarinteraktion und der Bindungsforschung. Es wird im Folgenden versucht, diese Erkenntnisse umfassend darzustellen und anhand eines integrativen Ansatzes zu erklären; schließlich wird ein integratives Modell des paartherapeutischen Vorgehens vorgestellt, das auf diesen Erkenntnissen aufbaut.
Zur Forschung: In verschiedenen Publikationen zu Paartherapie werden immer wieder wissenschaftliche Untersuchungen zitiert. Dabei ist zu beachten, dass große Unterschiede in der Qualität empirischer Studien und ihrer Aussagekraft bestehen. In dem hier vorliegenden Band bemühe ich mich, mich auf empirische Studien von hoher Güte zu beziehen, die in der wissenschaftlichen Community entsprechendes Ansehen genießen und häufig zitiert werden. Bei der Darstellung von Ergebnissen und Schlussfolgerungen im Sinne theoretischer Konzepte aus dem Bereich der Neurowissenschaften, der Humangenetik, der Anthropologie, biologischer und medizinischer Bereiche, insoweit sie für den Gegenstand Paarbeziehung und Paartherapie von Relevanz sind, der Psychologie und den Sozialwissenschaften versuche ich, mich auf namhafte Wissenschaftler zu stützen, die in ihrem jeweiligen Bereich hohe Anerkennung genießen und den jeweiligen Mainstream in ihrer Wissenschaft vertreten. Manche Fragestellungen, die hier dargestellt sind, werden in der jeweiligen Wissenschaft kontrovers diskutiert, und ich werde mich bemühen, die unterschiedlichen Positionen entsprechend darzustellen, um den Lesern deutlich zu machen, dass bezüglich dieses Themas noch kein Konsens in der Wissenschaft besteht.
Zu den Begriffen Paarberatung und Paartherapie: Im Folgenden wird mit dem Begriff Paartherapie immer auch der Bereich der Paarberatung mit eingeschlossen, weil ich davon ausgehe, dass die hier behandelten Problematiken sowie die eingesetzten Interventionsformen sich zwischen den beiden Begriffen nicht grundsätzlich unterscheiden. Ein Unterschied besteht höchstens in den institutionellen Kontexten, in denen Paarberatung versus Paartherapie angesiedelt sind. Paarberatung findet im deutschsprachigen Bereich, aber auch in anderen westlichen Ländern, in der Regel in institutionellen Beratungsstellen statt, die per Definition außerhalb des Gesundheitswesens angesiedelt sind und eher zum Bereich der psychosozialen Versorgung gehören, während der Begriff Paartherapie eher von niedergelassenen Paartherapeuten in privater Praxis sowie im Bereich des Gesundheitswesens verwendet wird. Auf diese unterschiedlichen Kontexte wird im Kapitel 7 ausführlicher eingegangen.
Zur Frage der Vergleichbarkeit von heterosexuellen und homosexuellen Paarbeziehungen: Bislang gibt es zu dieser Frage nicht sehr viel Forschung, allerdings nimmt die Publikationstätigkeit zu diesem Feld in den letzten Jahren deutlich zu. Verstreute Hinweise in der Literatur, die auch meiner eigenen Erfahrung in der Praxis der Paartherapie entsprechen, weisen darauf hin, dass grundsätzlich Beziehungsdynamiken in Paarbeziehungen eher allgemeinmenschliche Qualitäten haben und daher keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen gleichgeschlechtlichen und gegengeschlechtlichen Beziehungen bestehen. Darauf weisen auch die Erkenntnisse aus der Bindungsforschung zu erwachsenen Paarbeziehungen hin: »Auch bei gleichgeschlechtlichen Paaren ist Bindungsunsicherheit beim Befragten und/oder Partner assoziiert mit weniger positiven Angaben zu Beziehungsqualität (Zufriedenheit, commitment, Vertrauen, Kommunikation, Problembelastung). Die Ergebnismuster von Lesben und Schwulen waren ähnlich, aber bei schwulen Paaren waren die Zusammenhänge zwischen Bindungssicherheit und positivem ›relationship functioning‹ zum Teil enger« (v. Sydow 2017, S. 89).
Zur Ratgeberliteratur: Da Paarprobleme und die Suche nach entsprechenden Lösungen ein weit verbreitetes Phänomen sind, existiert eine Fülle an Ratgeberliteratur. Nicht alle diese Publikationen sind empfehlenswert, manche davon sind regelrecht destruktiv (siehe dazu ausführlicher Kap. 7.3). Zwar bemühen sich manche populären Veröffentlichungen um die Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Theorien, z. B. Bartens (2013), dabei entstehen jedoch Zusammenstellungen von Forschungsschnipseln, die in der Gesamtdarstellung inkohärent und zum Teil sogar widersprüchlich erscheinen. In jedem Fall fehlt eine kohärente theoretische Einbettung in ein Gesamtmodell, dass die einzelnen Befunde auf dem Hintergrund einer schlüssigen Erklärung von Paarbeziehungen und Paardynamik verstehbar macht. Genau dies versucht die vorliegende Publikation zu leisten.
Es gibt wenige Grundmuster menschlichen Verhaltens, die derart über alle Kulturen und Epochen verbreitet sind wie die Institutionalisierung von Paarbeziehungen. Nicht nur findet man in praktisch allen Kulturen zu allen Zeiten, von einfachsten Jäger-Sammler-Gruppen bis hin zu hochkomplexen Gesellschaften, ein Zusammenleben von Mann und Frau in einer zumeist lebenslang dauernden Verbindung, sondern auch die ritualisierten Formen der Zusammenführung der beiden Partner in Form der Heirat sowie die darum herum gruppierten Regeln gleichen sich über viele Kulturen hinweg in hohem Maße (Levi-Strauss 1976).
Insofern kann man die heterosexuelle Paarbeziehung durchaus als eine anthropologische Grundkonstante, ja geradezu als einen Archetyp bezeichnen: im »Ethnografischen Atlas« des Kulturanthropologen Murdock (1967), einer Untersuchung von 849 menschlichen Gesellschaften und ihren Eheformen, fand sich, dass weit über 90% der untersuchten Ethnien eine lebenslange monogame Form des Zusammenlebens von Mann und Frau praktizierten. Warum das so ist, wird bei der Darstellung der biologischen, evolutionären, anthropologischen und psychologischen Grundlagen deutlicher werden. Ebenso stellt das Auftreten von Konflikten und Leid in diesen Paarbeziehungen eine Grundkonstante menschlichen Zusammenlebens dar, was eines der zentralen Themen der menschlichen Geistesgeschichte darstellt, angefangen von den frühesten Mythen und Märchen der Völker bis hin zur modernen Literatur. Eine Vielzahl der Mythen aller Völker handelt von Liebe, Untreue, Verrat und Versöhnung zwischen Göttern und Göttinnen sowie Helden und Heldinnen, und der kulturübergreifend verbreitetste Typus von Märchen, die sog. Heldenfahrt (Campbell 1999), endet mit der Verbindung zwischen dem Helden und der befreiten Jungfrau bzw. der Heldin und dem Königssohn.
Vor diesem Hintergrund lässt sich Paarbeziehung also folgendermaßen definieren: »Eine Paarbeziehung ist eine enge, persönliche und intime, auf Dauer angelegte, exklusive Beziehung zwischen erwachsenen Personen unterschiedlichen oder gleichen Geschlechts. Typischerweise zeichnet sich eine Paarbeziehung durch Liebe, persönliches Vertrauen und sexuelle Interaktion aus« (Huinink & Konietzka 2007).
In dieser Definition ist auch schon beinhaltet, dass wir zumindest für die gegenwärtige Spätmoderne in die Betrachtung von Paarbeziehungen immer auch homosexuelle Beziehungen mit einbeziehen müssen. Aufgrund meiner eigenen Erfahrung in der Paartherapie gleichgeschlechtlicher Beziehungen glaube ich an dieser Stelle die Behauptung wagen zu können, dass homosexuelle Paarbeziehungen sich in ihrer grundlegenden Dynamik nicht von heterosexuellen Beziehungen unterscheiden. Ich denke, dass dies in der Darstellung der theoretischen Grundlagen, in der ich auf biologische, anthropologische und psychologische Konzepte eingehe, belegt werden kann.
Nicht erst seit der Herausbildung der Psychologie als Wissenschaft in der Moderne haben Menschen versucht, Erklärungen für diese Konflikte in Paarbeziehungen und Wege zu deren Lösung zu finden. Ein frühes Beispiel ist die Theorie Platos, beim »Gastmahl« von Sokrates vorgetragen, dass in einer mythischen Vorzeit die Menschen ursprünglich vollständige Kugelwesen waren und durch einen Akt der Götter in eine jeweils männliche und weibliche Hälfte geteilt wurden, die sich nun ein Leben lang gegenseitig suchen, um wieder vollständig zu werden. Dies, so Plato, erkläre, warum Menschen mit einer solchen Energie und Sehnsucht nach Erfüllung in Liebesbeziehungen streben.
Im gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs sind einige populäre, teilweise auf wissenschaftlichen Konzepten rekurrierende Erklärungsmuster zu finden, die meist dadurch gekennzeichnet sind, dass sie meinen, das Zu-Stande-Kommen von Paarbeziehungen und die Entstehung von Paarproblemen auf ein allgemeines erklärendes Prinzip gründen zu können. Einerseits haben diese Diskurse in der Regel einen substanziellen Kern, der auch in den weiter unten dargestellten theoretischen Konzepten wieder auftauchen wird, andererseits haben sie in ihrer simplifizierten Form teilweise für den Umgang mit Problemen in Paarbeziehungen und dementsprechend für die Paartherapie problematische Implikationen:
Etwas salopp ausgedrückt, könnte man dieses Erklärungsmuster so zusammenfassen, dass Liebe zwischen Mann und Frau gewissermaßen ein Trick der Natur ist, um Fortpflanzung und damit Arterhaltung sicherzustellen. Die Argumentation geht in etwa so, dass Liebesgefühle dem sexuellen Begehren folgen bzw. diesem beigemengt sind, um sozusagen den Rahmen zu schaffen, in dem die Zeugung von Nachkommen stattfinden kann. Dieses Modell wird dann auch häufig zur Erklärung des Verfalls von Liebesbeziehungen über die Zeit hinweg herangezogen, da es aussagt, dass die Paarbeziehung, wenn die Nachkommen in der Welt sind, ihren Zweck erfüllt hat. In simplifizierter Form (»Männer kommen vom Mars, Frauen von der Venus«) will diese Theorie außerdem scheinbar geschlechtstypische Unterschiede im Beziehungsverhalten von Männern und Frauen erklären: Männer neigten zur Promiskuität, da sie von ihrer genetischen Ausstattung her unter Steinzeitbedingungen Jäger waren und deshalb heute Frauen jagen. Zudem sei es ihr Hauptinteresse, ihren Samen möglichst weit zu verbreiten, während Frauen stärker an Beziehung, Treue und Austausch/Gespräch mit dem Partner interessiert seien, weil sie evolutionsgeschichtlich schon immer für die Aufzucht der Kinder zuständig waren und damit auf soziale Beziehungen stärker angewiesen. Es wird deutlich, dass diese Theorie biologische und genetische Gegebenheiten als Erklärung für Beziehungsverhalten und spezifische Unterschiede zwischen Männern und Frauen nutzt. Tatsächlich finden sich in der sog. evolutionären Psychologie derartige Argumentationen, die aber in seriösen evolutionspsychologischen Modellen sehr viel komplexer daherkommen, worauf weiter unten ausführlicher eingegangen wird. Eine problematische Implikation dieses Erklärungsmodells ist, dass die Unterschiede zwischen Mann und Frau sowie die spezifischen Verhaltensweisen in Beziehungen, und eben auch die daraus entstehenden Probleme, weil naturgegeben, letztlich nicht veränderbar seien.
Dieses vor allem in wirtschaftsliberalen Gesellschaften wie den USA sehr weit verbreitete und beliebte Erklärungsmodell konzeptualisiert die Paarbeziehung im Grunde wie einen Handel zwischen zwei Geschäftspartnern. Hier wird als Sinn von Paarbeziehung die jeweilige Nutzenmaximierung für beide Partner gesehen. Beide Seiten vertreten ihre jeweiligen Interessen und es braucht vor allen Dingen Kompetenzen wie Kommunikation, Verhandlungs- und Problemlösungsfähigkeiten sowie Kreativität in der Auffindung von Lösungen bzw. bei der Kompromissfindung, damit Paarbeziehung gelingen kann. Auch dieses Modell stützt sich auf wissenschaftliche Konzepte, hier z. B. die psychologische Austauschtheorie (s. u.) sowie Verhandlungsmodelle im Bereich der Mediation (z. B. das Harvard-Verhandlungsmodell). Auch hier gibt es problematische Implikationen, z. B. dass man den Liebespartner wie einen Geschäftspartner wechseln kann, wenn das Verhältnis von Kosten und Nutzen nicht mehr stimmt. Dieser letzte Aspekt wird von der israelischen Soziologin Eva Illouz (2003) scharf kritisiert: Sie spricht in diesem Falle von »sexuellen Kapitalisten«, die mit immer neuen Partnern sexuelle Beziehungen eingehen, um dadurch die Steigerung ihres eigenen Wertes auf dem Liebesmarkt zu erfahren. Liebesbeziehungen und Liebespartner werden dabei zu nichts weiter als einem weiteren Produkt, das den Gesetzen des Konsums, von Angebot und Nachfrage unterliegt.
Eine problematische Voraussetzung dieses Modells ist darüber hinaus, dass es unterstellt, dass die Partner in Paarbeziehungen vorwiegend rational handeln und sich außerdem ihrer Bedürfnisse und Interessen vollständig bewusst sind und diese diskursiv vertreten können – was eine sehr idealistische Auffassung ist, wie nicht nur die Psychoanalyse aufgezeigt hat.
Dieser Diskurs ist eng verwandt mit dem vorangegangenen bzw. hat sich aus diesen quasi logisch entwickelt. Wenn Paarbeziehung vor allem eine Verhandlungssache ist und es darum geht, sich selbst und die eigenen Interessen angemessen und effektiv zu vertreten, dann ist es entscheidend, über die entsprechenden Kompetenzen und Techniken zu verfügen, damit Paarprobleme wieder aus der Welt geschafft werden können oder sie gar nicht erst auftreten. Es ist in der gegenwärtigen westlichen Kultur eine sehr verbreitete Auffassung, dass es bestimmte Regeln oder Techniken gäbe, mit denen man Paarprobleme effektiv bearbeiten oder gar gänzlich vermeiden kann, ja sogar mit denen Glück in der Paarbeziehung garantiert sei. Diese Auffassung wird durch eine Flut von Ratgeberliteratur befeuert, die entsprechende griffige Titel aufweist wie beispielsweise: »Fünf Regeln für eine glückliche Beziehung« (manchmal sind es auch sieben oder zehn), »Liebe dich selbst und du wirst mit einem Partner glücklich werden« etc. Das entscheidende Argument gegen diese Auffassung ist schlichtweg, dass wenn es so einfach wäre, Paarprobleme zu vermeiden oder zu bearbeiten, es wohl viel mehr glückliche Paare gäbe und nicht die eingangs erwähnte hohe Scheidungsrate in unserer Kultur. Eine höchst problematische Implikation dieses Diskurses ist die, dass Paaren, die in ihrer Beziehung in Schwierigkeiten oder gar Not geraten, vermeintlich einfache Lösungswege vorgegaukelt werden, mit denen sie angesichts der Komplexität von Paarbeziehung und Paarkonflikten nur scheitern können. Dies wiederum wird von nicht wenigen Paaren als persönliche Unzulänglichkeit erlebt, was sich z. B. in den intensiven Schamgefühlen äußert, mit denen sich viele Paare zur Paartherapie anmelden, nachdem sie mit den Strategien aus der Ratgeberliteratur kläglich gescheitert sind.
Insbesondere in den westlichen Gesellschaften lässt sich seit einigen Jahrzehnten eine zunehmende Re-Romantisierung und Idealisierung von Liebesbeziehungen beobachten, die man auch als Gegenbewegung zu der oben beschriebenen zweckrationalen Sichtweise auf Paarbeziehungen verstehen kann. Hier werden gar nicht mehr andere Ursachen oder Begründungen für das menschliche Streben nach einer erfüllenden Liebesbeziehung gesucht, vielmehr wird das Finden des bzw. der »Richtigen« als letztendliche Erfüllung und Sinn des Lebens betrachtet. In der europäischen Geistesgeschichte taucht diese Idee besonders in der Romantik auf, wobei in der entsprechenden zeitgenössischen Literatur bezeichnender Weise diese Liebe in der Regel eine unglückliche Liebe ist, die tragisch, d. h. oft mit dem Tod beider Liebender endet (z. B. Gottfried Keller: »Die Liebe auf dem Lande«; Goethe: »Die Leiden des jungen Wehrter«). Das ist dann auch das Problematische an dieser Konzeptualisierung, dass sie reale Liebesbeziehungen letztlich überfrachtet und damit zum Scheitern verurteilt. Eine Folge dieser Auffassung von Paarbeziehung in den spätmodernen Beziehungsverhältnissen ist hier oft, dass der Beziehungspartner, wenn er sich denn doch nicht als der oder die Richtige erweist, aufgegeben wird und die Suche von neuem beginnt, womit in den westlichen Gesellschaften sicherlich ein erheblicher Anteil an der hohen Scheidungsrate erklärt werden kann.
Alle diese populären Modelle beziehen sich auf tatsächlich bedeutsame Elemente für das Zu-Stande-Kommen von Paarbeziehung, zugleich verabsolutieren sie aber das jeweilige Element über Gebühr. Weiter unten wird auf die jeweiligen Argumentationen ausführlicher und unter Bezugnahme auf wissenschaftliche Erkenntnisse eingegangen. Als ein erstes Fazit kann festgehalten werden, dass es bei Menschen, die heute in Paarbeziehungen leben und an den entsprechenden Schwierigkeiten in diesen Beziehungen leiden, ein hohes Bedürfnis gibt, Erklärungen für ihre eigenen Motivationen und die des Partners in der Beziehung und damit einen Zugang zum Verständnis der eigenen Probleme sowie zu deren Lösung zu finden. Was ebenfalls deutlich wird, ist, dass der Begriff der Liebe – auch wenn er nicht identisch ist mit Paarbeziehung – doch für die Erklärung des Zu-Stande-Kommens von Paarbeziehungen und für deren Verlauf bzw. Problematik eine irgendwie bedeutsame Rolle spielt; daher wird auf den Begriff der Liebe im Folgenden ausführlich eingegangen.
Reflektiert man über den Begriff der Liebe, dann wird dabei schnell klar, dass der deutsche Begriff »Liebe« zwar zunächst jedem unmittelbar verständlich erscheint, dabei aber doch gleichzeitig unscharf und vage bleibt. Ich kann mich an einen interessanten Vortrag erinnern, den ein Psychoanalytiker der Schule von Jaques Lacan hielt, indem er folgendes Szenario entwarf: ein Mann liegt neben seiner Frau im Bett und sagt zu ihr: »Ich liebe dich«. Im Verlaufe des zweistündigen Vortrages führte der Redner aus, dass, was zunächst so klar erscheint, buchstäblich alles bedeuten kann, angefangen von: »Ich bin glücklich, mit dir verbunden zu sein« bis hin zu »Ich werde dich töten«.
Der Paartherapeut Frank Natho (2014) hat kürzlich eine umfassende Untersuchung des Konzepts der Liebe in Paarbeziehungen im Verlauf der Geschichte vorgelegt. »Liebe ist ein komplexes Gefühlserleben, welches von Menschen unterschiedlich erlebt, beschrieben und interpretiert wird. Die Beschreibungen des Erlebens von Liebe und die Werte, die diesem Gefühl für die Beziehung und die eigene Person zugeschrieben werden, sind abhängig von Kultur, Zeitgeist und den jeweiligen wissenschaftlichen Trends« (S. 1), so die zusammenfassende Erkenntnis des Autors. Er zitiert eine berühmt gewordene Unterscheidung verschiedener Liebesstile, die ursprünglich auf Lee (1976) zurückgeht:
1. Eros: Dies meint die vor allem sexuell getönte Anziehung durch den anderen sowie die Betonung auf der körperlich-sexuellen Begegnung in der Liebesbeziehung.
2. Ludus: Dies meint die Betonung des spielerischen Aspekts von Liebe, d. h. des Spiels von Verführung, Annäherung und Distanzierung in einer Beziehung und meint darüber hinaus oft auch den eher spielerisch–unverbindlichen Umgang mit Beziehung überhaupt, d. h. die Betonung von Freiheit in der Paarbeziehung.
3. Storge: Hier ist der freundschaftliche Charakter der Verbindung im Sinne einer länger gewachsenen Vertrautheit, ja auch Kameradschaft gemeint; in Bezug auf die Paarbeziehung könnte man hier vom Charakter der Verbindung zwischen den Partnern als Gefährten sprechen.
4. Agape: Dies meint die altruistische Liebe, die gekennzeichnet ist durch die Sorge um das Wohlergehen des anderen und die von der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse absieht. Dieser griechische Begriff findet sich in der griechischen Urfassung des Neuen Testaments und beschreibt dort den Charakter des Verhältnisses zwischen den Mitgliedern der christlichen Gemeinde.
5. Pragma: Die pragmatische Liebe, die die Betonung legt auf das Zusammenpassen und die wechselseitige Bedürfnisbefriedigung im Sinne einer Passung beider Partner und eines Ausgleichs zwischen ihnen, darüber hinaus die Funktionsfähigkeit der Beziehung.
6. Mania: Die besitzergreifende Liebe, die rauschhaften Charakter hat, in der das Bedürfnis nach Bemächtigung des anderen das alles beherrschende Gefühl ist.
Die Herkunft der Begriffe aus dem Griechischen weist darauf hin, dass in der Antike z. T. schon eine erheblich größere Differenzierung in Hinsicht auf die unterschiedlichen Aspekte von Liebe vorgenommen wurde, als dies in unserer heutigen Kultur der Fall ist. Diese Aspekte können als unterschiedliche Betonungen oder Beziehungsstile verstanden werden, anhand derer sich verschiedene Paarbeziehungen oder auch die Partner in einer Beziehung voneinander unterscheiden; darüber hinaus können sie sich auch jeweils untereinander zu charakteristischen Liebes- bzw. Beziehungsstilen mischen. Es wird hier deutlich, dass in unserer Kultur wenig Differenzierung entwickelt wurde hinsichtlich der unterschiedlichen Aspekte und komplexen Gefühlsmischungen, die die Gefühle zwischen den Partnern in einer Paarbeziehung bestimmen können, so dass im Deutschen unter dem Begriff Liebe verschiedene und z. T. sehr unterschiedliche Konzepte und Vorstellungen gefasst werden. Bierhoff et al. (1993) haben diese Konzeptualisierung unterschiedlicher Liebesstile aufgegriffen, um daraus das »Marburger Einstellungs-Inventar für Liebesstile« zu entwickeln. Ein Ergebnis der Forschung mit diesem Konzept ist, dass offenbar die romantische, freundschaftliche und spielerische Liebe eher veränderbare Einstellungen sind, während die besitzergreifende, pragmatische und altruistische Liebe eine höhere Stabilität in der Persönlichkeit und über den Lebensverlauf hinweg besitzen und sich schwerer, vielleicht sogar gar nicht verändern lassen. Eine Konsequenz für die Betrachtung von Paarproblemen und ihre Behandlung in der Paartherapie hieraus wäre, dass zunächst einmal die Partner sich in ihren persönlichen Beziehungstilen voneinander unterscheiden können und es sinnvoll wäre, die persönliche Orientierung jedes Partners und seine bzw. ihre Bewertung der verschiedenen Aspekte von Liebe und Beziehung zu erfassen.
Mit Blick auf die Anwendung in der Paartherapie hat der Schweizer Paartherapeut Jürg Willi (2006) in Anlehnung an Konzepte von Arnold Retzer und Astrid Riehl-Ehmde ebenfalls versucht, zwischen verschiedenen Aspekten und Formen von Paar- bzw. Liebesbeziehung zu unterscheiden:
»Die Partnerbeziehung entspricht dem heutigen emanzipatorischen Modell: Sie beruht auf Reziprozität von Geben und Nehmen, legt Gewicht auf einen Ausgleich und Gerechtigkeit in Privilegien und Machtverhältnissen. Den individuellen Interessen wird der Vorrang gegenüber einer sozialen Einbindung gegeben. Die Beziehung beruht auf einem Tauschverhältnis und einem rationalen Vertrag. Sie ist in ihrer Vertragsform frei wählbar und kündbar und hat somit Ähnlichkeiten mit einer Geschäftsbeziehung. Die Partnerbeziehung hat Qualitäten von Liebe, die stärker ausgerichtet auf die gemeinsame Alltagsarbeit und Bewältigung der Lebensrealitäten sind, auf den Aufbau der dyadischen und familiären Nische, also den Aufbau einer eigenen Welt und die Gestaltung eines Heims und eventuell einer Familie.
Eine Liebesbeziehung sucht demgegenüber… die irrationale und bedingungslose Hingabe, sie achtet nicht auf vertragliche Regelungen, auf gerechten Ausgleich, sie will keinen Tauschhandel von abgemessenem Geben und Nehmen, sie verzichtet auf Gleichberechtigung und Herrschaftsfreiheit….
Die erotisch-sinnliche Liebe betrifft die erotisch-sexuelle Spannung, die Lust am Spiel der Verführung, das Anlocken und Abstoßen, den Tanz, das leidenschaftliche, zur sexuellen Vereinigung drängende Begehren.
Während die erotisch-sinnliche Liebe auf die sexuelle Vereinigung abzielt, geht es bei der absoluten Liebe weniger um die Befriedigung sexueller Triebwünsche als um die Auflösung und Wiedergeburt des Selbst in der Liebe…«
Zu dieser absoluten Liebe gehören:
»Aufgehobensein als Geborgenheit im Sinne von ›in dieser Liebe fühle ich mich gut aufgehoben‹. Es handelt sich um einen Zustand bedingungslosen Angenommenseins, des Zuhauseseins, der Geborgenheit, des Heimat-Habens im anderen, um ein unbedingtes Miteinander-Vertraut-Sein.
Aufgehobensein alles Trennenden in der Liebe: In dieser absoluten Form geht es um das Sehnen nach persönlicher und körperlicher Auflösung in der Beziehung zum Geliebten. Dieser Zustand höchsten Glücks steht jenseits der Strukturen des Alltagslebens, ereignet sich jenseits zeitlicher Begrenzung, in zeitloser und raumloser Unendlichkeit, als ein Weilen ohne Anfang und Ende in diesem Zustand ist die Vereinzelung des Individuums aufgehoben, die Liebenden bilden das Zentrum des Kosmos, um das sich alles dreht. Ihre Vereinigung ist zunächst ohne Ziel und Zweck, sie trägt ihre Erfüllung in sich. Die Liebenden genügen sich selbst.« (S. 17 ff.).
Dieser letzte Teil des Zitats weist schon auf den absoluten Aspekt hin, den Liebesgefühle bzw. Ansprüche an Liebesbeziehungen annehmen können, worauf im Folgenden ausführlich eingegangen wird.
Verschiedene Autoren, angefangen von der Philosophie bis hin zu den Sozialwissenschaften, haben in den letzten Jahrzehnten angemerkt, dass insbesondere in der Spätmoderne in Liebesbeziehungen offenbar eine bestimmte Unmittelbarkeit, eine Befreiung vom berechnenden und berechenbaren, eine tiefe Erfüllung und bedingungslose Anerkennung der eigenen Person gesucht wird. Schon das Soziologenpaar Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (1990) hat die These vertreten, dass zumindest in den westlichen Gesellschaften die Liebesbeziehung eine solche Bedeutungssteigerung erfahren hat, dass sie heute im Rang einer »irdischen Religion« stehe. In der Liebe suchten die Menschen heute die Sinnstiftung, die in früheren Zeiten einmal die Religion geboten habe, die diese aber nach dem von Nietzsche proklamierten Tod Gottes zu Beginn der Moderne nicht mehr leisten könne. Diese Überhöhung der Bedeutung von Liebesbeziehungen und der darin zu findenden Erfüllung hänge direkt mit den zentralen gesellschaftlichen Antriebsmomenten der Spätmoderne zusammen, der Auflösung tradierter Wertstrukturen, der Pluralisierung der Lebensformen sowie der zunehmenden Individualisierung, in deren Folge die Gesellschaftsmitglieder zunehmend selbst für die Sinnstiftung in ihrem Leben sorgen müssen. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen haben die Individuen in der spätmodernen Gesellschaft um die Erfahrung gebracht, sich selbstverständlich in ganzheitlichen Zusammenhängen aufgehoben zu fühlen und als ganze Person angesprochen und anerkannt zu werden. Beck (1990) bringt dies treffend auf den Punkt: »Gott nicht, Priester nicht, Klasse nicht, Nachbar nicht, dann wenigstens Du« (S. 49).
»Die moderne Liebe reagiert mit dieser Totalität, die dem anderen höchste Relevanz einräumt, auf den Verlust der Einheit und damit auf die funktionale Zerschneidung der Welt, die den Einzelnen mehr oder weniger ortlos macht und ihn gerade deshalb nach Ganzheitlichkeit suchen lässt« (Karle 2014, S. 96).
»Die moderne Gesellschaft produziert durch die Anonymität ihrer Sozialstrukturen, in denen wir uns tagtäglich bewegen, in einem zuvor nicht bekannten Maße das Bedürfnis nach individueller Anerkennung. Wir sehnen uns danach, als wir selbst und nicht in bestimmten sozialen Rollen in der Welt eines anderen selbst vorzukommen. In intimer Partnerschaft suchen wir nach Erfahrungen, die uns sonst verschlossen bleiben.« (Görtz 2014, S. 47 f.)
In der Folge geht es »in der Liebe … um die Komplettberücksichtigung des anderen oder um die Komplettzugänglichkeit des anderen« (Fuchs 1999, S. 24).
Auch der Systemtheoretiker Niklas Luhmann stellt in seiner Monographie über die Liebe fest: »Hier, und vielleicht nur hier, fühlt man sich als der akzeptiert, der man ist – ohne Vorbehalte und ohne Befristung, ohne Rücksicht auf Status und ohne Rücksicht auf Leistungen« (Luhmann 2008, S. 21).
Allen diesen Theoretikern scheinen die wachsenden Ansprüche an Paarbeziehungen in der Spätmoderne eine Folge der zunehmenden Rationalisierung und Kapitalisierung aller Lebensbereiche, wie sie die westlichen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten kennzeichnen, und worauf schon Marx hingewiesen hatte, als er es als eine Folge der Entfesselung des Kapitalismus beschrieb, dass menschliche Beziehungen »Warencharakter« erhalten. So resümiert auch der deutsche Sexualitätsforscher Volkmar Sigusch in seiner Übersicht über die Entwicklung sexueller Beziehungen seit der sog. »sexuellen Revolution« der 1960er- und 1970er-Jahre:
»Schließlich scheint sie [die absolute Liebe] das ersehnte volle persönliche und intime Leben zu ermöglichen, das Verhältnis von Mensch zu Mensch endlich dem Diktat der allgemeinen Berechnung und Käuflichkeit zu entziehen und in eines der Unmittelbarkeit zu verwandeln« (Sigusch 2013, S. 559)
In seiner systemtheoretischen Analyse der Bedeutung von Sexualität und Körperlichkeit in der spätmodernen Beziehungskultur argumentiert Lewandowski (2004), dass die Erfahrung, den eigenen Körper zu erleben und zu spüren, eine nicht hinterfragbare Identitätsvergewisserung darstellt. Eine besonders intensive Art, sich selbst und dann auch noch in Interaktion mit einem anderen körperlich zu erleben, ist die Sexualität, weshalb diese aufgrund der spätmodernen Entwicklungen einen besonderen Stellenwert erhält. Angesichts der Fragmentierung und des Verlusts von Selbstverständlichkeit in den spätmodernen Lebenswelten fühlen sich viele Menschen im sexuellen Leben mit ihrer eigenen Körperlichkeit durch einen sozialen anderen ganz inkludiert. Körperlichkeit wird dadurch zum »Garanten von Wirklichkeit, zu einem Anker im Meer der Relativität und der Relationen. Die Versprechen, die im Körper, in körperlicher Betätigung gesucht werden, heißen: fraglos, Echtheit, Eindeutigkeit« (ebd., S. 235).