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Robert Heymann

Ein Junge liebt ein Mädel: Annemarie Land

 

Saga

1

Der Abend senkte sich auf ein stilles Städtchen nieder, in den winkligen Gassen brannten bereits die Laternen, als Gerhard Brausewetter durch das grosse, alte und wuchtige Tor schritt, das noch aus der Schwedenzeit stammte.

Er zog einen Zettel hervor und suchte die Adresse, die ihm sein ehemaliger Lehrherr aufgeschrieben hatte.

„Gasse zur alten Liebe“, murmelte der etwa Achtzehnjährige mit einem heimlichen Lächeln. „Nomen est omen — — jeder Name hat seinen tieferen Sinn. Ob mir hier eine Liebe aufblühen wird?“

Er zog die breitrandige Mütze tiefer und verwegener in die Stirne, nahm das Ränzel vom Rücken und schritt schnell quer über die „Hauptgasse“, über die soeben eine Strassenbahn fuhr — — ein alter Kasten, der kaum einige Menschen fasste, davor ein struppiges, gemütlich hinzottelndes Pferdchen.

Also hier war die „Alte Liebe“. Gerhard klingelte. Zwei Frauen sassen vor den Fenstern und tauschten ihre Vermutungen aus über den „Zugereisten“.

Die Besitzerin des Hauses war eine alte Dame, die schon die hohe Nachthaube mit den weiten Zipfeln aufgesetzt hatte und wie eine Ritterdame aus längst entschwundener Zeit wirkte.

Ja, Herr Friedrich Sturm hatte das Zimmer bereits für den jungen Herrn gemietet. Sie knickste ein wenig, während sie sprach, sie schaute dem Jungen verzückt in das frische Gesicht, sie war eine liebe, alte Jungfer mit vielen Idealen, die alle in die winzige Wohnung eingesponnen waren.

Gerhard machte es sich in seinem Zimmerchen bequem.

Für heute war es natürlich zu spät, noch in das Pastorhaus zu gehen, das eine Wegstunde von dem Städtchen entfernt lag.

Morgen!

Er stand am offenen Fenster, durch das die Abendluft den Duft des nahen Waldes trug, reckte die Arme hoch und sah mit brennenden Augen in dieses Meer von Grün. Unter ihm standen blutrote Rosen in vollerblühter Pracht. Schwertlilien, sattfarbige Kinder der Iris, schwellten neben der Germanica-Hybride. Das Leben lockte um ihn mit reifen Farben wie das hohe Lied der Verheissung. Er liebte die Natur über alles. Da erwachte seine Sehnsucht und flog weit über die Alltäglichkeit hinaus in ein anderes Leben, das ihm schon so nahe stand, in ein Leben der Wunder, ungezählter Erwartungen, stolzer Träume.

Noch ein letztes Hindernis — dann trat er durch das Tor der Verheissung.

Ein strahlender Morgen folgte dem in Schönheit gestorbenen Tage. Da machte sich Gerhard auf zu dem Pastor Winkelmann.

Als er in das schlicht aber gemütlich eingerichtete Studier- und Wohnzimmer des alten Mannes trat, erblickte er vorerst nichts als einen grossen Schrank mit Büchern und eine Lange Pfeife.

Der Pastor ging seinem Besucher entgegen und empfing ihn mit Wärme und Herzlichkeit.

„Ich habe von Ihrem Schicksal gehört, Herr Brausewetter“, begann er, den Jüngling ohne viel Umschweife auf einen der gepolsterten Sessel nötigend. „Wahrlich, Ihr Geschick hat meine volle Teilnahme gefunden! Wenn Sie sich mir anvertrauen wollen . . .“

„Aber, Herr Pfarrer,“ unterbrach ihn Brausewetter lächelnd, „ich muss Ihnen doch mit grösster Dankbarkeit entgegenkommen, wenn Sie sich solche Mühe mit mir machen wollen!“

Der Pastor musterte ihn wohlwollend, sah eine Weile prüfend in das scharfgeschnittene offene Antlitz des jungen Mannes, lächelte dann vor sich hin und meinte:

„Es gehört ein ungewöhnliches Mass von Energie zu dem Entschluss, den Sie gefasst haben! Und noch mehr: wahre, aufrichtige Liebe zu den Wissenschaften!“

,,Die habe ich“, entgegnete Gerhard einfach. Der Pastor nahm eine Prise aus der alten, mit Elfenbein verzierten Dose und sah nach der grossen Wanduhr.

„Es ist bereits halb neun, ich muss jetzt meine Kinderchen unterrichten. Wenn Sie um elf Uhr wiederkommen wollten, Herr Brausewetter, könnten wir gleich heute mit dem Studium beginnen.“

„Gut, Herr Pastor, ich bin völlig einverstanden.“

„Also — dann auf Wiedersehen. Übrigens . . .“ Winkelmann hielt Gerhard, der schon an der Tür stand, fest. „Haben Sie meine Tochter schon gesehen?“

„Nein, Herr Pastor.“

„Aber da muss ich doch gleich — nein, so eine Vergesslichkeit — Lieselotte!“ rief er in den Gang hinaus.

„Väterchen?“ klang es zurück.

„Komm’ einmal herein, mein Herzchen —“

Man hörte im Nebenzimmer ein paar Tassen klappern, dann einen leichten, graziösen Schritt, und unter dem Türrahmen stand Lieselotte.

„Hier stelle ich dir den neuen Freund unseres Hauses vor — Herrn Studiosus Gerhard Brausewetter“, sagte der Alte lächelnd und deutete auf den Gymnasiasten, der sich leicht verneigte. „Dies hier, Herr Brausewetter, ist Lieselotte, meine Tochter, die seit dem Tode meiner Frau mein Hauswesen führt und mich auf meine alten Tage grenzenlos verwöhnt.“

„Aber, Vater!“ verwies sie ihn lächelnd, den Fremden mit einem flüchtigen Seitenblick streifend. Dann trat sie auf ihn zu, reichte ihm die schmale Hand und sagte Leise:

,,Seien Sie willkommen!“

„Ich danke, gnädiges Fräulein!“

Er wollte einige Worte hinzufügen, aber sie hatte, ihm schon ihre Hand entzogen und war im Nebenzimmer verschwunden.

Mit einem Blick hatte er ihre Schönheit umfasst: schlanke Glieder, rehbraune Augen, die wohl etwas dunkler erschienen, als sie waren, und schweres, blondes Haar. Der pikante helle Teint ihres Gesichts, dem zartes Rot auf beiden Wangen gesunde Frische verlieh, wurde durch das rosa Kleid noch gehoben.

Als er die Tür öffnete, um ins Freie zu gelangen, steckte Lieselotte den Kopf durch den Türspalt.

„Wird Herr Brausewetter mit uns zu Mittag essen?“ fragte sie.

,,Natürlich, mein Herzchen“, sagte der Pastor.

„Also auf Wiedersehen“, lächelte sie schalkhaft und verschwand.

Gerhard ging die Landstrasse entlang. Die Höhen ringsum waren in einen leichten Dunst gehüllt, der feiner als ein Schleier war und Weinberge und Burgruinen in bläulichen Nebel sinken liess. Gerhard ging wie im Traum und dachte unausgesetzt an das liebliche Mädchen.

Wieder tauchte vor seinem geistigen Auge ihre schlanke Gestalt auf, er sah die wunderbaren Haare. Er musste an den schmalen, blendend weissen Hals und die feine, leidenschaftliche Linie um ihre Mundwinkel denken.

Seltsam, sann er. Ist es nicht wie ein Wunder, diese keusche Mädchenblüte in dieser weltverlorenen Einsamkeit?

Er hatte bisher keine Zeit gefunden, sich mit Frauen zu beschäftigen. Als er das Gymnasium verlassen, war er zu jung gewesen, um ähnlichen Gedanken nachzuhängen. Und dann hatte ihn der Ernst des Lebens ganz beansprucht.

Er lächelte mit leisem Spott über sich selbst, als er daran dachte, dass er doch nur ein Gymnasiast war! — —

Um elf Uhr fand er sich wieder bei Pastor Winkelmann ein. Der Alte sass bereits am Tisch.

„Ich denke, wir nehmen gleich Sophokles vor“, begann er, ganz geschäftig, dabei gemütlich über die Brillengläser schielend.

Gerhard vertiefte sich sogleich in den Unterricht. Aber jeden Moment ertappte er sich selbst dabei, wie er die Augen nach der gegenüberliegenden Tür richtete, in der Hoffnung, Lieselotte zu sehen.

Aber er hörte nur ein leises Singen wie Vogelgezwitscher.

Indessen verbreitete sich Pastor Winkelmann über Inhalt und Bedeutung der Dramen, über Sophokles als Tragödiendichter überhaupt, über die Harmonie seiner Charaktere . . .

Pastor Winkelmann hatte nichts von dem Schwung, den die Begeisterung verleiht. Er lehrte in einem schwerfälligen, dogmatischen Ton. Gerhard musste an seinen Ordinarius denken, an Professor Ebers, dem sie alle, die Wissensdurstigen wie die Gleichgültigen in derselben Liebe anhingen. Wie ganz anders konnte der über Sophokles reden!

Nicht jeder, ach, nur wenige besassen die Kunst, die Jugend und ihren Durst nach Schönheit, ihre Auffassungsgabe so zu verstehen wie Erich Ebers, den seine Schüler kurzweg den ,,Vogel“ nannten. Auf breiten Schultern sass sein mächtiger Kopf mit scharf geschnittener Nase, schmalen Lippen und tief in den Höhlen liegenden Augen.

Über der hohen Stirne trug er das Haar wie Federn zurückgelegt, und so erinnerte sein Gesicht tatsächlich an einen Vogel. Wenn aber seine Augen in Begeisterung glänzten, dann war es wiederum, als sähe man in die Augen eines Raubvogels.

Solche Gedanken gingen Gerhard durch den Kopf. Kein Wunder, dass er auf die Fragen seines Lehrers zerstreute Antworten gab und seine Geduld auf eine harte Probe stellte.

„Na, Brausewetter, mir scheint fast, Sie träumen?“ fragte Pastor Winkelmann und sah seinem Schüler erstaunt ins Gesicht.

Der fuhr aus seinem Sinnen auf. Aber die Uhr schlug eben ächzend zwölf und enthob ihn so der Antwort.

Lieselotte steckte den Kopf durch die Tür:

„Darf ich den Tisch decken?“

Pastor Winkelmann blieb in seinem Vortrag stekken, sah sich um und beeilte sich zu sagen:

„Gewiss, Lissy!“

Gerhard blieb am Tisch sitzen und sah Lieselotte zu, wie sie ein Tischtuch, Teller und Bestecke in das Zimmer trug.

Aber sie warf nur einen forschenden Seitenblick nach ihm, während sie geschickt und mit reizenden Bewegungen den Tisch deckte. Sie war jünger als Gerhard Brausewetter, siebzehn vielleicht, war aber hoch aufgeschossen und kräftig und konnte wohl für älter gelten.

Während der Mahlzeit sass sie schweigsam. Der Pastor plauderte über die alten Griechen; Gerhard aber war ein unaufmerksamer Zuhörer. Entweder hielt er den Blick auf seinen Teller gebannt, oder er sah zu Lieselotte hinüber. Sie hielt meist das Gesicht dem Fenster zugewandt, wo sich ihr Blick über die grünen Wiesen hinweg in der Ferne verlor.

Nach Tisch hielt Winkelmann sein gewohntes Schläfchen, Lieselotte verschwand, und der Gymnasiast ging in den Garten.

Seltsam — dachte er. Alle jungen Mädchen sind sonst ausgelassen und lachen viel. Er hatte Lieselotte noch nicht lachen hören. Er sah sie auch in den folgenden Tagen nicht lachen. Sie blieb immer ernst und ruhig, war auch viel sicherer in ihrem Benehmen als Gerhard. Der war plötzlich von einer unklaren Unruhe ergriffen worden. Umsonst nahm er frühmorgens die Bücher vor, stützte den Kopf zwischen die Fäuste und versuchte zu arbeiten.

Es ging nicht, es wollte nicht gelingen! Die Gedanken flatterten nach allen Seiten auseinander, bis er schliesslich die Bücher in eine Ecke warf und das Haus verliess, die Höhen hinaufstieg, der Sehnsucht nach, die immer in ihm lebte, die ihn nicht mehr verliess, seitdem er hierher gekommen war — eine grosse, gewaltige, unfassbare Sehnsucht, deren dunkle Stimme er noch nicht völlig begriff.

2

Es war eine kampfesreiche, schwere Zeit, die hinter dem Gymnasiasten lag. Sein Vater war Arzt in einem kleinen norddeutschen Landstädtchen gewesen, er hatte sich für seinen Beruf geopfert und war schliesslich fast ebenso arm gestorben wie damals, als er seine Praxis begonnen hatte.

Für seine Witwe, eine immer noch jugendlich schöne Frau, blieb kaum das Nötigste zurück. Das war eine düstere Zeit damals, als Gerhard aus dem Gymnasium nach Hause kam und ahnungslos in das Sterbezimmer seines Vaters geführt wurde. Noch drückender aber wurde das Leid um den Toten, als Frau Brausewetter mit ihrem Sohn die gänzlich veränderten Verhältnisse besprach.

Gerhard Brausewetter hatte Arzt werden wollen wie sein Vater — ein paar Jahre noch, und die Pforten des Gymnasiums hätten sich hinter ihm geschlossen. Das rührende und in seinen Ehrbegriffen fast spartanische Vorbild des Vaters hatte eine unauslöschliche Begeisterung für den ärztlichen Beruf in ihm wachgerufen.

Da, in dieser traurigen Stimmung eines nebeligen Novembertages, zerrann dieser Traum in nichts, da trat zum erstenmal die unbarmherzige Wirklichkeit in den Kreis der Vorstellungen dieses Jünglings, der bisher vor jeder Enttäuschung bewahrt geblieben war.

Die rasche Art des Entschlusses hatte er von dem Vater geerbt. Er sah ein, dass er unmöglich noch zwei Jahre hindurch seiner Mutter die Last finanzieller Opfer für ihn aufbürden konnte. Im Gegenteil: wenn nicht die Sorge den Lebenskreis dieser Frau verdüstern sollte, die er nicht nur als Mutter zärtlich liebte, der er fast eine scheue Verehrung entgegenbrachte, so musste etwas geschehen, um eine Katastrophe zu verhindern.

Nächte hindurch hatte damals Gerhard Brausewetter, in Nachdenken versunken, wach auf seinem Lager gelegen, bis er sich endlich den schweren Entschluss abgerungen hatte: das Gymnasium zu verlassen, mit allen Kräften zu versuchen, eine Lebensstellung zu erringen, die, mochte sie vorläufig noch so gering sein, ihn wenigstens selbständig machte; so dass die Mutter das Wenige, was sie besass, für sich allein aufwenden konnte.

Sie hatte zwar anfangs leidenschaftlichen Widerstand geleistet, aber die Verhältnisse wären stärker — bald, nachdem Dr. Brausewetter der Erde gegeben war, verliess sein Sohn das Gymnasium und trat bei einem angesehenen Kaufmann in Darmstadt, wohin Frau Dr. Brausewetter übersiedelte, in die Lehre.

Der Kaufherr Friedrich Sturm erfuhr bald, wie sich in einer kleinen Stadt eben Ungewöhnliches schnell herumspricht, von dem Schicksal seines Lehrlings, dem er besondere Sympathie entgegenbrachte. Einmal in seinem neuen Wirkungskreis, bot Gerhard Brausewetter alles auf, so schnell wie möglich vorwärts zu kommen, und erwarb sich so neben der Achtung auch das besondere Vertrauen seines Chefs, so dass er schon nach Ablauf eines Jahres in der Lage war, seiner Mutter kleine Beträge als Entgelt für Wohnung und Unterhalt zu geben.

Er schien sich mit seinem neuen Schicksal ausgesöhnt zu haben. In Wirklichkeit aber hatte er die Veränderung durchaus nicht überwunden. Er sah voll Bitterkeit der Zeit entgegen, wo seine ehemaligen Kameraden das Gymnasium verlassen und in ein neues, an Ehren und Würden reiches Leben eintreten würden, dessen Pforten ihm nun verschlossen waren. Der nüchterne Kaufmannsstand sagte ihm nicht zu; seine Ideale liessen sich nicht zügeln, und obwohl Friedrich Sturm alles tat, um sein Interesse für Zahlen und Geschäfte zu heben, hing Gerhard Brausewetters Sehnsucht nach wie vor an dem Verlorenen.

Da trat, nachdem er seit einem Jahr das Gymnasium verlassen, eine unerwartete Wendung ein. Ein entfernter Verwandter Frau Dr. Brausewetters war in Amerika ohne Nachkommen gestorben, und da sich Weitere Verwandte nicht nachweisen liessen, so fiel das beträchtliche Vermögen der Witwe des Arztes zu.

Gerhard Brausewetter war immer von neuem heimlich zu seinen Büchern zurückgekehrt; die plötzliche Veränderung rief wieder den flammenden Wunsch in ihm wach, nachzuholen, was er versäumt, zurückzukehren aufs Gymnasium und, wenn auch etwas später als seine früheren Kameraden, das Abitur zu machen.

Friedrich Sturm bedauerte tief, ihn ziehen lassen zu müssen. Er war jedoch gerecht genug, Brausewetters Entschluss zu billigen. Das grosse Geschäft in Darmstadt war nur eine Zweigniederlage des Hamburger Exporthauses, dem Sturms Bruder vorstand. Der Einfluss der Millionärsfamilie reichte weit; der Fürsprache und der Verwendung seines früheren Chefs hatte Gerhard es zu danken, dass er schneller, als er hoffen durfte, wieder im Gymnasium Aufnahme fand, nachdem er sich einige Monate in rastloser Tätigkeit für die Unterprima vorbereitet hatte.

Er zählte nun allerdings nicht mehr zu den Jungen, war ein grosser, schon stattlicher junger Mann von achtzehn Jahren, dem überdies die einjährige Selbständigkeit ein sicheres, unabhängiges Auftreten verliehen hatte.

Er errang sich ein günstiges Abgangszeugnis aus der Unterprima. Nun zeigten sich aber doch die Folgen der Überanstrengung. Er bedurfte dringend der Erholung, um so mehr, als er sich ja auch gleichzeitig von neuem für die Oberprima vorbereiten musste, wenn sein sehnsüchtiger Wunsch, ohne weiteren Zeitverlust das Abitur zu bestehen, in Erfüllung gehen sollte.

Friedrich Sturm, der Kaufherr, war ihm wieder behilflich. Er hatte sich eines alten Freundes aus der Zeit, da er selbst das Gymnasium besucht, erinnert, des Pastors Winkelmann in F., mit dem er stets in Verbindung geblieben war. Mit diesem hatte er wegen Gerhard Brausewetter mehrere Briefe getauscht. Der Pastor erklärte sich mit Vergnügen bereit, die Vorbereitung des jungen Mannes für die Oberprima zu übernehmen, und da die Gegend, in ihrer Stille und Schönheit vollauf Gelegenheit zur Erholung und Zurückgezogenheit bot, so war Gerhard Brausewetter mit seiner Mutter und dem Kaufherrn übereingekommen, die Ferien dort zu verbringen.

So war er dann bei Pastor Winkelmann gelandet!

3

Die Sonne stand hoch, in dem weichen Gras lagen die Strahlen wie geschliffene Diamanten. Die Bäume warfen dichte; schwere Schatten.

Gerhard Brausewetter trat in den Garten des Pfarrhauses, um Kühlung zu suchen. Er erging sich eine Weile unter den alten Nussbäumen, als ein leichter Schritt, das Klappern einer Giesskanne seine Aufmerksamkeit nach den Blumenbeeten lenkte.

Lieselotte stand zwischen den Blumen und begoss sie. Sie trug einen grossen breitrandigen Gartenhut, der bei jeder Bewegung über ihrem Kopfe zitterte. Wie sie so halb über die Rosen geneigt stand, ohne ihn zu bemerken, klopfte sein Herz höher beim Anblick ihrer jugendfrischen, liebreizenden Gestalt.

Er verharrte eine Weile schweigend, in Nachdenken und Betrachtung. Dann trat er näher.

Sie hob den Kopf und sah ihm entgegen. Der Schatten, den der Gartenhut über ihre Züge warf, hinderte ihn, die brennende Röte zu bemerken, die ihre Wangen überflutete.

„Sie sind schon hier, Herr Brausewetter?“ fragte sie lächelnd und fuhr fort, die Blumen zu begiessen. „Ich hatte Sie gar nicht bemerkt.“

„Ich sehe Ihnen schon eine Weile zu, Fräulein Winkelmann“, entgegnete er. Ein warmer Ton von Zärtlichkeit klang durch seine Stimme

Sie beugte sich wieder tiefer über die Giesskanne. „Warum nennen Sie mich Fräulein Winkelmann? Sagen Sie doch einfach Fräulein Lieselotte!“

„Das wagte ich nicht . . .“

„Warum nicht? Man nennt mich hier allgemein so.“

„Das mag sein. Aber für mich hat die Anrede doch besondere Bedeutung. Ihr Name besonderen Klang. Ich danke Ihnen, dass Sie mir gestatten, ihn immer auszusprechen, . . . ich möchte ihn immer hören, an nichts anderes denken . . .“

Sie schwieg eine Weile verwirrt, dann schlug sie die Augen, in denen ein Flimmern war, zu ihm auf:

„Ich glaube, mein Vater erwartet Sie, Herr Brausewetter —“, und indem sie rasch dem Hause zuging, schien sie der Unterhaltung ein Ende bereiten zu wollen.

Er folgte ihr.

„Fräulein Lieselotte — habe ich Sie aus dem Garten verjagt! Ist Ihnen meine Gegenwart lästig?“

Erschrocken blieb sie stehen, die braunen Augen sahen ihn vorwurfsvoll an: „Wie können Sie nur so etwas denken!“

„So betrachten Sie mich also nicht als Eindringling? Fräulein Lieselotte — bitte, sagen Sie mir: ich bin für Sie nicht nur ein Fremder, den das Geschick zufällig in das Pfarrhaus von F. verschlagen hat?“

Sie schüttelte hastig den Kopf, nahm die Giesskanne vom Boden auf und trat ins Haus, ohne ihm zu antworten.

Von nun an traf er sie fast täglich im Garten. Es war stillschweigendes Übereinkommen zwischen ihnen, und bald wurde aus den ersten, scheu geführten Gesprächen eine vertrauliche Unterhaltung. Sie fühlten beide, dass sie sich liebten — Gerhard wagte jedoch nicht, dies zu gestehen, noch weniger Lieselokke, es sich anmerken zu lassen.

An einem Abend blieb Gerhard viel länger als sonst im Pastorhause. Die Dunkelheit war bereits eingebrochen, Lieselotte drehte das Licht an. Der Pastor war in ein so angeregtes Gespräch mit seinem Schüler vertieft, dass er erst, als die Kuckucksuhr zehnmal schlug, erstaunt den Kopf hob und darauf aufmerksam wurde, dass er seinen Gast weit über die festgesetzte Zeit hinaus zurückgehalten hatte.

„Nun müssen Sie aber gleich nach Hause“, sagte er. „Ich mache mir wirklich Vorwürfe; Sie so lange aufgehalten zu haben! Werden Sie denn in der Finsternis den Weg ins Städtchen zurückfinden?“

„Warum denn nicht?“ gab Gerhard Brausewetter lächelnd zurück.

„Es ist kein Stern am Himmel, und die Landstrasse ist nicht beleuchtet. Wenn man nicht bestimmte Anhaltspunkte hat, geht man irre und gerät in die Felder oder in einen Graben.“

Da war nun allerdings guter Rat teuer. Zwar kannte Gerhard den Weg sehr gut, er hätte ihn bestimmt auch gefunden. Aber da Lieselotte ihm in den letzten Tagen ausgewichen war, hielt er sich für berechtigt, eine List anzuwenden.

„Ich fürchte allerdings, Herr Pastor, ich verfehle das Feldkreuz, wo die Landstrasse abbiegt. Ich kenne die Gegend doch zu wenig.“

„Nun, wenn Sie denken, kann Sie ja meine Tochter bis zum Kreuz begleiten . . . Lissy!“ rief er in den Gang hinaus.

„Ja, Väterchen!“

„Begleite Herrn Brausewetter bis zu dem Kreuz, wo der Feldweg beginnt, damit er den Weg ins Städtchen findet.“

Sie antwortete nicht.

„Lissy!“

Keine Antwort.

„Lissy! Kind!“

Alles blieb still.

„Sie ist etwas schüchtern“, meinte der Pastor lächelnd. „Sie müssen sie schon entschuldigen.“

„O,“ antwortete Gerhard gekränkt, „ich werde den Weg wohl allein finden; so schlimm ist das nicht, und schliesslich habe ich doch gute Augen.“

Er sagte das möglichst laut, damit Lieselotte, die sich gewiss im dunklen Nebenzimmer aufhielt, ihn hörte.

„Na, dann gute Nacht, Herr Brausewetter.“

„Gute Nacht, Herr Pastor . . .“

Draussen war alles still. Die Berge standen wie eiserne Recken, still und stumm.

Gerhard ging langsam durchs Dorf und liess den kühlen Nachtwind seine Stirne umfächeln.

Das tat gut.

Ihm war heiss vor Erregung, und quälende Mutlosigkeit befiel ihn.

„Habe ich sie gekränkt?“ dachte er, „oder spielt sie mit mir? Aber das sieht ihr so gar nicht ähnlich . . .“

Als er um die Ecke bog, wo als letztes das weisse Häuschen des Krämers lag und die Felder begannen, löste sich eine helle Gestalt aus der Nacht.

Ohne ein Wort ging sie neben ihm her.

„Fräulein Lieselotte!“ stiess er in freudigster Überraschung hervor. „Sie sind doch gekommen? Sie wollen mich begleiten?“

„Muss ich nicht?“ erwiderte sie mit verschleierter Stimme. „Sie werden ja sonst den Weg verfehlen.“

„Den Weg verfehlen — — ja, das wäre wohl möglich. Man ist so allein hier, weit und breit niemand zu sehen — eine solche Einsamkeit, eine solche Stille — — Fräulein Lieselotte — nur Sie und ich — und Sie sind mir nicht böse, nicht wahr? Sie haben mich in den letzten Tagen nicht gemieden, weil ich Sie irgendwie verletzt habe?“ Und als sie wortlos den Kopf schüttelte: „Fräulein Lieselotte — Lissy — ich habe mich so sehr danach gesehnt, Ihnen zu sagen — —“

„Still, still!“ wehrte sie ab. „Sprechen Sie nicht — — ich — —“

Aber für Gerhard gab es kein Halten mehr. „Ich muss sprechen, Lieselotte! Sie haben eben recht gehabt: ich fürchte, den Weg zu verlieren ohne Sie — bisher bin ich allein gegangen, immer geradeaus, ohne links und rechts zu sehen. Aber nun, seit ich Sie kennengelernt habe, Fräulein Lieselotte, erscheint es mir unmöglich, das Ziel, das ich mir gesteckt, allein zu erreichen, ohne die beseligende Kraft des Glaubens und der Liebe . . . und diese Kraft, Lieselotte, können nur Sie mit verleihen . . .“

Lieselotte erwiderte nichts. Sie schritt die dunkle Strasse schweigend neben ihm hin, die Nacht war lind, die Stille nur von dem eintönigen Zirpen der Grillen unterbrochen.

„Lieselotte!“ bat Gerhard, „wollen Sie mir nichts sagen? Haben Sie keine Antwort für mich?“

„Ich muss zurückgehen — Sie können den Weg jetzt nicht mehr verfehlen!“ stiess sie hastig, bebend vor Erregung hervor. Sie blieb stehen, wollte umkehren — aber Gerhard hielt sie fest.

„Nein, Lissy — ich lasse Sie nicht gehen, bevor ich nicht weiss — ach, Lissy, warum machen Sie es mir so schwer? Sollte ich mich so sehr geirrt haben? Empfinden Sie nichts, gar nichts für mich?“

Sie standen mitten auf der finsteren Strasse. Weit und breit Stille, Einsamkeit. Gerhard trat ganz nahe zu ihr. Scheu, mit gesenkten Kopf stand sie vor ihm, er fühlte den Duft ihres Haares, seine Augen umfassten sehnsüchtig und zärtlich ihre zarte, schmiegsame Gestalt.

Behutsam griff er nach ihrer Hand. Sie war kalt, leblos. Aber ihre Finger schlossen sich fest um die seinen, und plötzlich sah er in der Finsternis ihre Augen brennen, sah ihre roten Lippen leuchten — und da zog er sie an sich, mit einer stürmischen, leidenschaftlichen Bewegung und bedeckte ihr Haar, ihre Augen, ihren Mund mit den scheuen Küssen der ersten Liebe.

Wortlos liess sie es geschehen, wortlos lag sie in seinem Arm. Trunken vor Glück fragte er:

„Lissy — sag’ es mir: liebst du mich? Liebst du mich wirklich?“

Da schlang sie beide Arme um seinen Hals und stammelte, während ihre Augen sich im Übermass des Glücks mit Tränen füllten:

„Ja, Gerhard — ich liebe dich.“

„O, Lissy — liebe, süsse Lissy — weisst du, wie masslos glücklich du mich machst? Ich könnte — ach, was könnte ich nicht alles für dich tun! Die Sterne möchte ich dir vom Himmel herunterholen — mein liebes, schönes Mädel — —“

Ihre Augen strahlten ihn in unverhohlener Zärtlichkeit an. „Ich hab’ dich schon lange lieb, Gerhard — eigentlich, seit ich dich zum ersten Male sah — —“

Eine Bank stand am Wege. Gerhard warf Lieselotte einen bittender Blick zu. „Wollen wir uns ein wenig setzen? Ich habe dir so viel zu erzählen, Liebste — —“

„Ich müsste heim, Gerhard — Vater wird besorgt sein — —“

„Nur ein Weilchen, Lissy — ich bringe dich nachher nach Hause — ich lasse dich jetzt in der Nacht nicht allein gehen!“

„Und du, Gerhard? Du kennst ja den Weg nicht, du findest nicht ins Städtchen zurück!“

Gerhard lachte übermütig. „Glaubst du das noch immer, Lissy? Weisst du nicht, dass ich nur eine List gebrauchte, um allein mit dir zu sein? Ich bin den Weg so oft gegangen, dass es unmöglich ist, ihn zu verfehlen.“

Da musste auch Lissy lachen. Sie setzten sich auf die Bank. Gerhard war wie verwandelt, das Glück versetzte ihn in eine geradezu übermütige Stimmung.

„Ich könnte die ganze Welt umarmen, Lissy —“ er schlang den Arm um sie, und sie schmiegte sich zärtlich an ihn. „Weisst du, als ich in F. ankam, hatte ich schon eine Art Vorgefühl, dass mich hier etwas ganz besonders Schönes erwartet. Sag’ es mir noch einmal, Lissy, sonst kann ich es nicht glauben du hast mich wirklich lieb?“

„Über alle Massen lieb, Gerhard — —“ sagte sie leise.

Und wieder küsste er sie, selig, überglücklich.

Schweigend sassen sie dann nebeneinander, Gerhard hatte den Arm um die Schulter der Geliebten gelegt, ihr Kopf ruhte an seiner Brust.

Da fing Gerhard plötzlich an, leise vor sich hinzusingen, nach einer alten Melodie sang er ein Lied, dessen Worte ihm in den letzten Tagen immer wieder in den Sinn gekommen waren:

Ein Junge liebt’ ein Mädel

Ein Junge liebt’ ein Mädel,

Ein Mädel, ach, so sehr!

So’n Mädel ist im Städtel

Strassauf, strassab nicht mehr!

Es geht mit stolzen Mienen,

Die Beinchen schlank, die Waden rund,

Die Augen blank und rot der Mund.

Das Köpfchen voll Rosinen!

Ein Mädel liebť nen Jungen,

So’n rechten Sausewind.

Wenn der kommt angesprungen,

Hab’ acht, mein blondes Kind!

Er kommt mit stolzen Mienen,

Und wie er geht und wie er steht,

Hat er das Köpfchen ihr verdreht,

Das Köpfchen voll Rosinen!

Ein Junge liebt’ ein Mädel,

Ein Mädel, ach, so sehr!

So’n Liebe, gibt’s im Städtel

Strassauf, strassab nicht mehr!

Sie geh’n mit stolzen Mienen

Stets Arm in Arm und Tritt an Tritt,

Das hält hübsch warm und schadet nit

Den Köpfchen voll Rosinen!