Die Doppelgängerin
Mordgeflüster
Heiße Spur
Mitternachtsmorde
Ein gefährlicher Liebhaber
Ein tödlicher Verehrer
Auch Engel mögen’s heiß
Jaine Bright sitzt wie jeden Freitag mit ihren Freundinnen Marci, Luna und T.J. in einer Bar. Ihr Lieblingsthema: Männer. Der feuchtfröhliche Abend endet damit, dass die vier eine Liste verfassen, die alle Eigenschaften des einen Mister Perfect enthält. Doch schon am nächsten Morgen verbreitet die sich in der gesamten Firma, wo die Freundinnen arbeiten. Und kurz darauf wird aus dem anfänglichen Spaß bitterer Ernst: Luna ist ermordet worden. Irgendjemand scheint diese Liste ganz und gar nicht lustig zu finden. Jaine wendet sich in ihrer Verzweiflung an ihren Nachbarn Sam, einen zwielichtigen aber unheimlich attraktiven Cop, mit dem sie immer wieder aneinandergerät. Gelingt es ihm, den Killer zu finden, bevor Jaine sein nächstes Opfer wird?
Linda Howard gehört zu den erfolgreichsten Liebesromanautorinnen weltweit. Sie hat über 25 Romane geschrieben, die sich inzwischen millionenfach verkauft haben. Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet. Sie wohnt mit ihrem Mann und fünf Kindern in Alabama.
Mister Perfekt
Aus dem Amerikanischen von Christoph Göhler
Deutsche Erstausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2000 by Linda Howington
Titel der amerikanischen Originalausgabe: „Mister Perfect“
Originalverlag: Pocket Books, New York
All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with the original publisher, Pocket Books, a division of Simon & Schuster, Inc., New York.
Für die deutschsprachige Erstausgabe:
Copyright © der deutschen Übersetzung 2001 by Verlagsgruppe Random House GmbH
Verlag: Wilhelm Goldmann Verlag, München
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat/Projektmanagement: Johanna Voetlause
Covergestaltung: Guter Punkt, München
unter Verwendung von Motiven © Jupiterimages/gettyimages / Artem Furman/shutterstock
E-Book-Produktion: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7325-8341-6
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Ein verlagsneues Buch kostet in Deutschland und Österreich jeweils netto ohne UST überall dasselbe.
Damit die kulturelle Vielfalt erhalten und für die Leser bezahlbar bleibt, gibt es die gesetzliche Buchpreisbindung. Ob im Internet, in der Großbuchhandlung, beim lokalen Buchhändler, im Dorf oder in der Großstadt – überall bekommen Sie Ihre verlagsneuen Bücher zum selben Preis.
Denver, 1975
»Das ist doch lächerlich!« Die Handtasche so fest umklammernd, dass die Knöchel weiß hervortraten, feuerte die Frau giftige Blicke auf den Schulleiter hinter seinem Schreibtisch ab. »Er hat gesagt, dass er den Hamster nicht angerührt hat, und mein Kind lügt nicht. Allein die Vorstellung!«
J. Clarence Cosgrove war seit sechs Jahren Schulleiter der Ellington Middle School und hatte davor zwanzig Jahre lang als Lehrer gearbeitet. Er hatte reichlich Erfahrung im Umgang mit aufgebrachten Eltern, doch die große, dürre Dame ihm gegenüber und das wie betäubt neben ihr sitzende Kind zerrten an seinen Nerven. Er drückte sich nur ungern umgangssprachlich aus, aber die beiden waren total daneben. Obwohl er wusste, dass er auf Granit beißen würde, versuchte er sie zu überzeugen. »Es gab Zeugen –«
»Mrs. Whitcomb hat ihn gezwungen, das zu sagen. Corin hätte dem Hamster nie im Leben wehgetan, nicht wahr, mein Schätzchen?«
»Nein, Mutter.« Die Stimme war fast überirdisch süß, doch die Augen des Kindes ruhten kalt und ohne zu blinzeln auf Mr. Cosgrove, fast als wollte es abschätzen, wie weit es mit seinem Leugnen kommen würde.
»Sehen Sie, ich habe es Ihnen ja gesagt!«, triumphierte die Frau.
Mr. Cosgrove unternahm einen neuen Versuch. »Mrs. Whitcomb –«
»– hat Corin vom ersten Schultag an nicht leiden können. Die sollten Sie sich mal vornehmen, nicht mein Kind!« Ihre Lippen waren vor Zorn nur noch ein Strich. »Vor zwei Wochen habe ich mit ihr über die schmutzigen Ideen gesprochen, die sie den Kindern in den Kopf setzt. Dabei habe ich klargestellt, dass ich zwar nicht darüber bestimmen kann, was sie den übrigen Kindern erzählt, dass ich es aber auf gar keinen Fall dulde, wenn sie mit meinem Kind über –« Sie schoss einen Seitenblick auf Corin ab – »S-e-x spricht. Das versucht sie mir jetzt heimzuzahlen.«
»Mrs. Whitcomb ist eine ausgezeichnete Lehrerin. Sie würde bestimmt nicht –«
»Sie hat! Erzählen Sie mir nicht, dass diese Frau so etwas nicht tun würde, wenn sie es bereits getan hat! Ganz unter uns, ich würde ihr zutrauen, dass sie den Hamster selbst umgebracht hat!«
»Der Hamster war ihr persönliches Haustier, und sie hat ihn mit in die Schule gebracht, um den Kindern beizubringen, was –«
»Trotzdem hätte sie das Vieh umbringen können. Meine Güte, es handelt sich im Grunde doch bloß um eine bessere Ratte«, meinte die Frau abfällig. »Selbst wenn Corin den Hamster umgebracht hätte, was er nicht getan hat, würde ich nicht verstehen, was der ganze Aufruhr soll. Mein Kind wird schikaniert – schikaniert –, und das lasse ich nicht zu. Entweder Sie bringen diese Frau zur Räson, oder ich tue das selbst.«
Mr. Cosgrove setzte seine Brille ab und polierte müde die Gläser, nur um sich irgendwie zu beschäftigen, während er darüber nachsann, wie er das von dieser Frau versprühte Gift neutralisieren konnte, und zwar bevor sie den Ruf einer ausgezeichneten Lehrerin ruiniert hatte. Sie zur Vernunft bringen zu wollen, war aussichtslos; bislang hatte sie ihn nicht einen einzigen Satz zu Ende sprechen lassen. Er sah kurz auf Corin; das Kind beobachtete ihn immer noch mit einer Engelsmiene, die kein bisschen zu diesen eiskalten Augen passen wollte.
»Darf ich mal unter vier Augen mit Ihnen sprechen?«, fragte er die Frau.
Sie sah ihn verdutzt an. »Warum? Wenn Sie glauben, Sie könnten mir weismachen, dass mein kleiner süßer Corin –«
»Nur einen Moment«, fiel er ihr ins Wort, ohne sich den winzigen euphorischen Adrenalinstoß anmerken zu lassen, weil diesmal er ihr das Wort abgeschnitten hatte. Ihrer Miene nach zu urteilen gefiel ihr das gar nicht. »Bitte.« Er hängte das Wort nach einer kurzen Pause an, obwohl ihm ganz und gar nicht nach Höflichkeit zumute war.
»Also gut«, gab sie widerwillig nach. »Corin, Schätzchen, du wartest draußen. Du bleibst gleich bei der Tür stehen, wo Mutter dich sehen kann.«
»Ja, Mutter.«
Mr. Cosgrove stand auf und drückte die Tür energisch hinter dem Kind ins Schloss. Diese Wendung der Ereignisse, durch die das Kind aus ihrem Gesichtskreis verbannt wurde, schien sie so zu erschrecken, dass sie sich halb aus ihrem Stuhl erhob.
»Bitte«, wiederholte er, »bleiben Sie sitzen.«
»Aber Corin –«
»– passiert bestimmt nichts.« Noch eine Unterbrechung zu seinen Gunsten. Er ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken, nahm einen Stift und klopfte damit auf die Schreibunterlage, während er nach einer möglichst diplomatischen Eröffnung für sein Anliegen suchte. Es gab ohnehin keine, die diplomatisch genug für diese Frau wäre, begriff er, darum beschloss er, direkt auf den Punkt zu kommen. »Haben Sie jemals daran gedacht, Hilfe für Corin zu suchen? Ein guter Kinderpsychologe –«
»Sind Sie verrückt?« Das Gesicht in einem Zornesausbruch verzerrt, schoss sie zischend aus ihrem Stuhl hoch. »Corin braucht doch keinen Psychologen! Mit ihm ist alles in Ordnung. Diese hinterhältige Schlampe hat hier Probleme, nicht mein Kind! Ich hätte wissen müssen, dass dieses Gespräch reine Zeitverschwendung ist, dass Sie sich vor Ihre Lehrerin stellen würden.«
»Ich will nur das Beste für Corin.« Es kostete ihn Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Der Vorfall mit dem Hamster ist nur der jüngste, keineswegs der erste. Wir haben es mit einer ganzen Palette von verstörten Verhaltensmustern zu tun, die weit über gewöhnliche Lausbubenstreiche hinausgehen –«
»Die anderen Kinder sind nur neidisch auf ihn!«, keifte sie ihn an. »Ich weiß, wie diese kleinen Scheißer auf ihm herumhacken und dass dieses Drecksweib nichts unternimmt, um das zu unterbinden oder ihn zu beschützen. Er erzählt mir alles. Wenn Sie glauben, dass ich ihn weiter auf diese Schule gehen lasse, wo ihm jeder zusetzt –«
»Sie haben recht«, warf er geschmeidig ein. Zahlenmäßig war sie ihm an Unterbrechungen immer noch voraus, doch diese war die alles entscheidende. »Eine andere Schule wäre in der gegebenen Situation wahrscheinlich das Beste für ihn. Corin passt nicht hierher. Ich kann Ihnen ein paar gute Privatschulen empfehlen –«
»Sparen Sie sich die Mühe«, plärrte sie ihn an und stakste zur Tür. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie darauf kommen, dass ich ausgerechnet auf Ihre Empfehlungen hören sollte.« Mit diesem letzten Schuss aus der Hüfte riss sie die Tür auf und packte Corin am Arm. »Komm mit, Schätzchen. Hier brauchst du nie wieder hinzugehen.«
»Ja, Mutter.«
Mr. Cosgrove trat ans Fenster und verfolgte, wie die beiden in einen alten zweitürigen Pontiac stiegen, bei dem links über der vorderen Stoßstange der gelbe Lack von braunen Rostflecken durchsetzt war. Das vordringlichste Problem, nämlich Mrs. Withcomb zu schützen, hatte er gelöst. Doch ihm war wohl bewusst, dass ein viel größeres Problem eben aus seinem Büro marschiert war. Mochte Gott den Lehrern jener Schule helfen, an der Corin nun landen würde. Vielleicht würde irgendwann ja jemand eingreifen können und Corin zu einer Beratung verhelfen, bevor allzu viel Schaden angerichtet war ... wenn es dazu nicht schon zu spät war.
Draußen im Auto fuhr die Frau in steifem, zornigem Schweigen, bis die Schule außer Sichtweite war. Vor einem Stoppschild hielt sie den Wagen an und versetzte ohne jede Vorwarnung Corin eine solche Ohrfeige, dass sein Kopf gegen das Fenster knallte. »Du kleiner Bastard«, fauchte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Wie kannst du es wagen, mich derart bloßzustellen! Dass ich ins Rektorat bestellt werde und mich abkanzeln lassen muss, als wäre ich verblödet! Du weißt, was dich erwartet, wenn wir erst daheim sind, oder? Oder?« Die letzten beiden Worte brüllte sie.
»Ja, Mutter.« Die Miene des Kindes war vollkommen ausdruckslos, doch in seinen Augen glänzte etwas, das beinahe an Vorfreude erinnerte.
Sie packte das Lenkrad mit beiden Händen, als wollte sie es erwürgen. »Du wirst perfekt, und wenn ich es dir einprügeln muss. Hast du gehört? Mein Kind wird perfekt.«
»Ja, Mutter«, versprach Corin.
Warren, Michigan, 2000
Jaine Bright wachte mit finsterster Laune auf.
Ihr Nachbar, die Geißel des gesamten Wohnviertels, war eben um drei Uhr morgens unter ohrenbetäubendem Gedröhn nach Hause gekommen. Falls sein Auto überhaupt so etwas wie einen Auspufftopf besaß, dann hatte der schon längst den Geist aufgegeben. Zu ihrem Leidwesen befand sich ihr Schlafzimmer auf derselben Seite des Hauses wie seine Einfahrt; nicht einmal das über den Kopf gepresste Kissen kam gegen das Dröhnen dieses Achtzylinder-Pontiacs an. Erst knallte er die Autotür zu und schaltete das Verandalicht vor der Küche ein – das von einem heimtückischen Architekten genau so positioniert worden war, dass es ihr ins Gesicht strahlte, wenn sie wie jetzt mit dem Gesicht zum Fenster lag –, dann ließ er beim Hineingehen die Fliegentür dreimal knallen, kam ein paar Minuten später wieder heraus, kehrte gleich darauf wieder ins Haus zurück und verschwendete offenkundig keinen Gedanken mehr an seine Außenbeleuchtung, weil ein paar Minuten später das Licht in der Küche ausging, während dieses verfluchte Verandaflutlicht ungerührt weiterstrahlte.
Wenn sie vor dem Kauf des Hauses geahnt hätte, wen sie hier zum Nachbarn bekommen würde, dann hätte sie nie, nie im Leben den Vertrag unterschrieben. In den zwei Wochen seit ihrem Einzug war es ihm mit Leichtigkeit gelungen, ihr alle Freude über ihr erstes selbst gekauftes Haus auszutreiben.
Ganz offenbar war er ein Säufer. Warum konnte er nicht wenigstens ein fröhlicher Säufer sein?, überlegte sie verdrossen. Nein, er musste ein griesgrämiger, widerlicher Säufer sein, ein so übler Zeitgenosse, dass sie Angst hatte, die Katze rauszulassen, wenn er zu Hause war. BooBoo war kein besonderer Kater – er war nicht mal ihr Kater –, aber ihre Mom liebte ihn, und Jaine wollte nicht, dass ihm etwas zustieß, während sie ihn in Pflege hatte. Sie würde ihrer Mutter nie wieder in die Augen sehen können, wenn ihre Eltern nach ihrer sechswöchigen Traumreise quer durch Europa zurückkehrten und BooBoo verschwunden oder nicht mehr am Leben wäre.
Ihr Nachbar hatte BooBoo ohnehin schon im Visier, seit er die Pfotenabdrücke auf der Windschutzscheibe und der Motorhaube seines Autos bemerkt hatte. So wie er reagiert hatte, könnte man meinen, er würde einen nagelneuen Rolls fahren, keinen zehn Jahre alten Pontiac, der von vorn bis hinten mit Kratzern und Dellen übersät war.
Natürlich war sie an jenem Tag genau zur selben Zeit wie er zur Arbeit aufgebrochen; zumindest hatte sie damals noch angenommen, dass er in die Arbeit gehen wollte. Inzwischen glaubte sie eher, dass er zum Schnapskaufen gefahren war. Falls er überhaupt arbeitete, dann hatte er höchst merkwürdige Arbeitszeiten, denn bislang war es ihr nicht gelungen, irgendein regelmäßiges Muster in seinen Abfahrten und Ankünften zu erkennen.
Jedenfalls hatte sie an dem Tag, an dem er die Pfotenabdrücke entdeckte, besonders nett zu ihm sein wollen; sie hatte ihn sogar angelächelt, was eine echte Leistung gewesen war, wenn man bedachte, wie er sie angefahren hatte, weil ihre Einweihungsparty ihn – um zwei Uhr nachmittags! – aus dem Schlaf gerissen hatte. Doch er hatte ihr lächelndes Friedensangebot überhaupt nicht beachtet, sondern war, quasi sobald sein Hintern den Fahrersitz berührte, wieder aus seinem Auto geschossen. »Wie wär’s, wenn Sie Ihr blödes Katzenvieh von meinem Auto fernhalten würden, Lady?«
Das Lächeln gefror ihr auf dem Gesicht. Jaine verschenkte nur ungern ein Lächeln und schon gar nicht an einen unrasierten, rotäugigen, schlecht gelaunten Vollidioten. Mehrere beißende Bemerkungen kamen ihr in den Sinn, die sie sich aber alle verkniff. Schließlich war sie erst vor Kurzem in dieses Viertel gezogen und hatte sich von der ersten Minute an mit diesem Kerl angelegt. Das Letzte, was sie wollte, war ein offener Krieg. Sie beschloss, einen letzten diplomatischen Versuch zu wagen, obwohl das während der Einweihungsparty offensichtlich nicht funktioniert hatte.
»Tut mir leid«, sagte sie bemüht ruhig. »Ich werde versuchen, besser auf ihn aufzupassen. Ich hüte ihn für meine Eltern, darum wird er nicht mehr lange hier sein.« Nur noch fünf Wochen.
Er knurrte irgendeine unverständliche Antwort, knallte die Autotür wieder zu und zischte mit kraftvoll röhrendem Motor ab. Jaine legte den Kopf auf die Seite und lauschte ihm nach. Die Karosserie des Pontiac sah zwar wie eine Schrottlaube aus, aber der Motor lief weich wie Seide. Unter der Motorhaube musste eine gewaltige Pferdeherde hausen.
Mit Diplomatie kam man diesem Typen definitiv nicht bei.
Nun war er wieder heimgekommen und riss um drei Uhr früh mit seiner Dreckskarre die ganze Nachbarschaft aus dem Schlaf. Was für eine Frechheit, vor allem nachdem er sie so angeblafft hatte, als sie ihn mitten am heiligen Nachmittag geweckt hatte. Am liebsten wäre sie augenblicklich zu seinem Haus rübermarschiert und hätte die Finger auf die Klingel gepresst, bis er mindestens so hellwach war wie alle anderen.
Es gab nur ein kleines Problem dabei. Er machte ihr ein winziges bisschen Angst.
Das behagte ihr gar nicht; Jaine war es nicht gewohnt, vor irgendwem zu kuschen, doch bei diesem Kerl wurde ihr irgendwie mulmig. Sie wusste nicht mal, wie er hieß, denn die beiden Male, die sie aufeinandergestoßen waren, waren keine »Hallo, ich heiße Sowieso«-Begegnungen gewesen. Sie wusste nur, dass er ein ungehobelter Typ war und allem Anschein nach keiner geregelten Arbeit nachging. Bestenfalls war er ein Säufer, und Säufer konnten hinterhältig und destruktiv sein. Schlimmstenfalls war er in irgendwelche kriminellen Sachen verwickelt, womit er zu allem anderen auch noch gefährlich war.
Er war groß und muskulös und hatte das dunkle Haar so kurz geschoren, dass man ihn beinahe für einen Skinhead halten konnte. Immer wenn sie ihm begegnet war, hatte er ausgesehen, als hätte er sich seit zwei oder drei Tagen nicht rasiert. Dies addiert zu den blutunterlaufenen Augen und seiner miesen Laune ergab Säufer. Die Tatsache, dass er groß und muskulös war, verstärkte das mulmige Gefühl zusätzlich. Die Gegend war ihr so sicher vorgekommen, doch mit diesem Typen als Nachbar fühlte sie sich ausgesprochen schutzlos.
Grummelnd kämpfte sie sich aus dem Bett und zog die Jalousie herunter. Im Lauf der Jahre hatte sie gelernt, ihr Schlafzimmer nicht zu verdunkeln, weil ein Wecker sie, im Gegensatz zum Tageslicht, nicht unbedingt weckte. Die Morgendämmerung holte sie sicherer als jedes Gebimmel aus dem Bett. Da sie ihre Uhr schon mehrmals kaputt am Boden liegend wieder gefunden hatte, nahm sie an, dass sie wohl wach genug geworden war, um sie zu zerschmettern, jedoch nicht wach genug, um aufzustehen.
Mittlerweile behalf sie sich mit einer Gardine hinter einer Jalousie; die Gardine hielt alle neugierigen Blicke ab, solange kein Licht im Zimmer brannte, und die Jalousie zog Jaine erst hoch, nachdem sie abends das Licht ausgeknipst hatte. Falls sie heute zu spät zur Arbeit kommen würde, dann hatte sie das nur ihrem Nachbarn zu verdanken, weil er sie gezwungen hatte, sich allein auf den Wecker und nicht auf die Sonne zu verlassen.
Auf dem Rückweg zum Bett stolperte sie über BooBoo. Die Katze machte jaulend einen Satz, und Jaine entging nur knapp einer Herzattacke. »Jesus! BooBoo, hast du mir einen Schrecken eingejagt.« Sie war es nicht gewohnt, ein Tier im Haus zu haben, darum vergaß sie immer wieder, ihre Schritte mit Bedacht zu setzen. Warum in aller Welt ihre Mutter sich in den Kopf gesetzt hatte, dass sie und nicht Shelley oder Dave auf ihre Katze aufpassen sollte, war ihr unerfindlich. Beide hatten Kinder, die mit BooBoo spielen und ihn auf Trab halten konnten. Da die Sommerferien schon angefangen hatten, war außerdem bei beiden Familien fast jeden Tag und fast den ganzen Tag jemand zu Hause.
Aber nei-en. Jaine musste auf BooBoo aufpassen. Und es war vollkommen egal, dass sie allein lebte, fünf Tage die Woche arbeitete und nicht an Haustiere gewöhnt war. Selbst wenn sie ein Haustier gehabt hätte, dann garantiert keines wie BooBoo. Seit seiner Kastration spielte er die beleidigte Fellwurst und lebte seine Frustration am Mobiliar aus. In nur einer Woche hatte er ihr Sofa so weit bearbeitet, dass sie es neu beziehen lassen durfte.
Obendrein konnte BooBoo Jaine nicht leiden. Solange er bei sich zu Hause war, kam er einigermaßen mit ihr aus, dann trabte er manchmal an und ließ sich kraulen, aber bei ihr zu Hause gefiel es ihm ganz und gar nicht. Immer wenn sie versuchte, ihn zu streicheln, machte er einen Buckel und fauchte.
Um das Maß voll zu machen, grollte ihr auch ihre Schwester Shelley, weil Jaine von Mom auserwählt worden war, auf ihren kostbaren BooBoo aufzupassen. Schließlich war Shelley die Älteste und eindeutig zuverlässiger. Es war doch Quatsch, dass Jaine ihr vorgezogen wurde. Jaine stimmte ihr da voll und ganz zu, doch das minderte Shelleys Unmut kein bisschen.
Was das Fass endgültig zum Überlaufen brachte, war die Tatsache, dass auch David, der ein Jahr jünger war als Shelley, sauer auf Jaine war. Nicht wegen BooBoo; David war allergisch gegen Katzen. Nein, ihn erzürnte viel mehr, dass Dad seinen kostbaren Wagen in ihrer Garage untergestellt hatte – was ausgesprochen unpraktisch war, denn das hatte zur Folge, dass sie ihren Wagen nicht mehr in der Garage parken konnte, weil sie nur eine Einzelgarage hatte. Sie wünschte, David hätte das gottverfluchte Auto bekommen. Sie wünschte, Dad hätte es in seiner eigenen Garage untergestellt, doch Dad hatte Bedenken gehabt, es sechs Wochen lang unbeaufsichtigt zu lassen. Das konnte sie verstehen, unverständlich war ihr hingegen, warum ausgerechnet sie ausersehen worden war, auf Katze und Auto aufzupassen. Shelley verstand das mit der Katze nicht, David verstand das mit dem Auto nicht, und Jaine verstand keines von beidem.
So waren nun alle ihre Geschwister sauer auf sie, BooBoo ramponierte systematisch ihr Sofa, sie stand Todesängste aus, dass Dads Auto irgendetwas zustoßen könnte, solange es in ihrer Obhut war, und dieser Saufbold von einem Nachbarn machte ihr das Leben zur Hölle.
Mein Gott, warum hatte sie sich bloß ein Haus gekauft? Wäre sie in ihrer Wohnung geblieben, wäre all das nicht passiert, denn dort hatte sie keine Garage gehabt, und Haustiere waren ebenfalls nicht erlaubt.
Doch sie hatte sich einfach in dieses Viertel mit den alten Häusern aus den Vierzigerjahren und den entsprechend niedrigen Preisen verliebt. Hier gab es eine gut gemischte Anwohnerschaft von jungen Familien mit kleinen Kindern bis zu Rentnern, die jeden Sonntag von ihren Verwandten besucht wurden. Einige von den älteren Herrschaften saßen während der angenehm kühlen Abende tatsächlich auf der Veranda und winkten den Vorbeigehenden zu, während in anderen Vorgärten Kinder spielten, ohne dass sie Angst haben mussten, aus einem vorbeifahrenden Auto beschossen zu werden. Natürlich hätte sie erst alle Nachbarn überprüfen sollen, aber auf den ersten Blick war ihr dies wie eine angenehme, sichere Wohngegend für eine alleinstehende Frau erschienen, und sie war ganz aus dem Häuschen gewesen, für so wenig Geld ein gutes, solides Heim gefunden zu haben.
Weil sie garantiert nicht wieder einschlafen konnte, solange sie an ihren Nachbarn dachte, verschränkte Jaine die Hände hinter dem Kopf, starrte zur dunklen Decke auf und sann darüber nach, was sie mit dem Haus noch alles anstellen wollte. Küche und Bad mussten dringend modernisiert werden, aber beides waren recht kostspielige Maßnahmen, denen sie sich finanziell noch nicht gewachsen fühlte. Ein neuer Anstrich und neue Fensterläden würden die Außenfassade deutlich verschönern, außerdem wollte sie die Wand zwischen Wohn- und Esszimmer einreißen und einen Durchgang brechen, sodass das Esszimmer eher ein Alkoven als ein eigenes Zimmer war, und den Bogen konnte sie mit einer von diesen Steinfarben streichen, dann würde er aussehen wie aus Naturstein ...
Das nervtötende Piepen ihres Weckers riss sie aus dem Schlaf. Wenigstens hatte das verdammte Ding sie diesmal wach bekommen, dachte sie, während sie sich zur Seite wälzte, um das Alarmsignal auszuschalten. Die roten Ziffern, die sie aus dem Halbdunkel anleuchteten, ließen sie erst blinzeln, bevor sie einen zweiten Blick wagte. »Ach du Scheiße!«, stöhnte sie entnervt und sprang aus dem Bett. Sechs Uhr achtundfünfzig; der Wecker piepste bereits seit einer knappen Stunde, und das bedeutete, dass sie zu spät dran war. Viel zu spät.
»Verflucht, verflucht, verflucht«, zischte sie, während sie unter die Dusche und zehn Sekunden später wieder heraushüpfte. Mit der Zahnbürste im Mund stürzte sie in die Küche und öffnete eine Dose für BooBoo, der schon mit Mörderblick neben seiner Futterschale wartete.
Sie spuckte die Zahnpasta ins Spülbecken und ließ das Wasser laufen, um den Schaum wegzuspülen. »Hättest du nicht auf mein Bett springen können wie sonst auch, wenn du hungrig bist? Nein, ausgerechnet heute musst du dezent auf mich warten, und jetzt habe ich keine Zeit zum Frühstücken mehr.«
BooBoo ließ keinen Zweifel daran, dass es ihm vollkommen schnuppe war, ob sie etwas zu essen bekam oder nicht, solange er sich den Bauch vollschlagen konnte.
Sie raste zurück ins Bad, wo sie sich in Windeseile schminkte, die Ohrringe durch die Ohrläppchen und die Uhr übers Handgelenk schob, und schnappte sich danach die Anziehsachen, zu denen sie jedes Mal griff, wenn sie in Eile war, weil sie die wenigsten Umstände machten: eine schwarze Hose und eine weiße Seidenbluse unter einer flotten roten Jacke. Sie rammte die Füße in die Schuhe, griff sich die Handtasche und flitzte aus dem Haus.
Draußen fiel ihr erster Blick auf die kleine grauhaarige Dame von gegenüber, die soeben ihren Mülleimer rausstellte.
Heute kam die Müllabfuhr.
»Kacke, Scheiße, verfluchter Dreck, Mist und so weiter und so fort«, vor sich hin murmelnd, machte Jaine auf dem Absatz kehrt und eilte ins Haus zurück. »Ich versuche ja, weniger zu fluchen«, fuhr sie BooBoo an, während sie den Müllsack aus dem Eimer zerrte und die Schlaufe zuzog, »aber du und Mr. Supergenial machen es mir wirklich schwer.«
BooBoo kehrte ihr demonstrativ das Hinterteil zu.
Sie schoss ein zweites Mal aus dem Haus, dann fiel ihr ein, dass sie die Haustür nicht abgeschlossen hatte, also raste sie noch einmal zurück und schleifte anschließend die große Metallmülltonne an den Straßenrand, wo sie die heutigen Opfergaben oben auf die beiden anderen Tüten stopfte. Ausnahmsweise gab sie sich keine Mühe, leise zu sein; im Gegenteil, sie hoffte sogar, diesen rücksichtslosen Vollidioten von nebenan zu wecken.
Sie rannte zurück zu ihrem Auto, einer kirschroten Dodge Viper, die sie heiß und innig liebte, und ließ zur Sicherheit den Motor ein paar Mal aufheulen, ehe sie den Rückwärtsgang einlegte. Der Wagen machte einen Satz zurück und knallte mit einem ohrenbetäubenden Scheppern in ihre Mülltonne. Dem ersten Scheppern folgte sofort ein zweites, weil ihre Tonne gegen die des Nachbarn rumpelte und sie umwarf, sodass der Deckel über die Straße davonrollte.
Jaine kniff die Augen zu und schlug den Kopf gegen das Lenkrad – allerdings ganz vorsichtig; sie wollte sich keine Gehirnerschütterung zuziehen. Andererseits wäre eine Gehirnerschütterung vielleicht nicht das Schlechteste; dann bräuchte sie sich wenigstens keine Gedanken zu machen, ob sie noch rechtzeitig in die Arbeit kam, was mittlerweile ein Ding der Unmöglichkeit war. Trotzdem fluchte sie nicht; die Ausdrücke, die ihr im Kopf herumzuckten, wollte sie auf gar keinen Fall laut aussprechen.
Sie schob den Automatikhebel auf »Parken« und stieg aus. Jetzt war Selbstbeherrschung angesagt, kein Wutausbruch. Sie stellte ihre verbeulte Tonne wieder auf und stopfte die herausgekullerten Tüten wieder hinein, bevor sie den verbogenen Deckel obendrauf setzte. Danach brachte sie die Tonne ihres Nachbarn wieder in die ihr gebührende lotrechte Position, sammelte seinen Müll auf – den er bei Weitem nicht so ordentlich verpackt hatte wie sie ihren, aber was sollte man von einem Säufer auch anderes erwarten –, um zu guter Letzt die Straße hinunterzurennen, um den Tonnendeckel aufzulesen.
Er lag vor dem nächsten Haus halb schief im Rinnstein. Als sie sich bückte, um ihn aufzuheben, hörte sie hinter sich eine Fliegentür schlagen.
Ein Wunsch zumindest war in Erfüllung gegangen: Der rücksichtslose Vollidiot war wach.
»Was tun Sie da, verdammt noch mal?«, bellte er. Mit seiner Jogginghose, dem zerrissenen, fleckigen T-Shirt und der nachtschwarzen Zornesmiene im unrasierten Gesicht sah er eindeutig furchterregend aus.
Sie drehte sich um, marschierte zu dem ramponierten Mülltonnenpaar zurück und knallte den Deckel auf seine Tonne. »Ich sammle Ihren Müll auf«, zeterte sie ihn an.
Aus seinen Augen sprühten rote Funken. Im Grunde waren sie nur blutunterlaufen, so wie immer, aber der Effekt war derselbe. »Weshalb wollen Sie mir eigentlich partout keinen Schlaf gönnen? Ich habe noch keine verdammte Frau erlebt, die so viel Krach macht wie Sie –«
Diese Dreistigkeit ließ sie vergessen, dass sie eigentlich Angst vor ihm hatte. Jaine baute sich vor ihm auf, dankbar für die fünf Zentimeter hohen Absätze ihrer Schuhe, die sie auf Augenhöhe mit ... seinem Kinn brachten. Jedenfalls beinahe.
Dann war er halt groß. Und wenn schon. Sie war stinkwütend, und stinkwütend konnte es noch jederzeit mit groß aufnehmen.
»Ich mache also Krach?«, schnauzte sie ihn mit zusammengebissenen Zähnen an. Es war nicht leicht, jemanden anzuschnauzen, wenn man die Zähne nicht auseinanderbekam, aber sie gab sich redlich Mühe. »Ich mache Krach?« Sie piekte mit dem Finger in seine Richtung. Berühren wollte sie ihn auf gar keinen Fall, weil sein T-Shirt so zerrissen war und so ... merkwürdige Flecken hatte. »Ich bin schließlich nicht diejenige, die mit diesem Schrotthaufen, den Sie Ihr Auto nennen, um drei Uhr früh die ganze Stadt aus dem Schlaf reißt. Kaufen Sie sich einen neuen Auspuff, Herr im Himmel! Und ich habe auch nicht erst die Autotür und dann dreimal die Fliegentür zugeknallt – weshalb eigentlich? Haben Sie den Schnaps draußen vergessen und mussten ihn noch mal holen gehen? – und anschließend die Verandalampe angelassen, die die ganze Nacht in mein Schlafzimmer geleuchtet und mich vom Schlafen abgehalten hat!«
Er klappte den Mund auf, um ihr Sperrfeuer zu erwidern, doch Jaine war noch nicht fertig. »Außerdem liegt es doch wesentlich näher, dass die Nachbarn um drei Uhr nachts schlafen als um zwei Uhr nachmittags oder –« Sie warf einen Blick auf die Uhr – »um sieben Uhr dreiundzwanzig am Morgen.« O Gott, sie würde definitiv zu spät kommen. »Also verziehen Sie sich, Freundchen! Kriechen Sie heim zu Ihrer Flasche. Kippen Sie sich einfach noch einen hinter die Binde, dann kann Sie bestimmt nichts mehr aufwecken.«
Er klappte den Mund erneut auf. Jaine vergaß alle ihre Vorsätze und piekte ihn tatsächlich. Igitt. Jetzt würde sie ihren Finger auskochen müssen. »Morgen kaufe ich Ihnen eine neue Mülltonne, also halten Sie den Mund. Und wenn Sie der Katze meiner Mutter auch nur ein Haar krümmen, dann zerfetze ich Sie in der Luft, und zwar Zelle für Zelle. Dann verstümmle ich Ihre DNA derart, dass Sie sich nie wieder reproduzieren können, womit ich der Menschheit wahrscheinlich einen großen Dienst erweisen würde.« Ihr sengender Blick harkte ihn ab und erfasste dabei seine dreckigen Lumpen und das unrasierte Kinn. »Haben Sie mich verstanden?«
Er nickte.
Sie atmete tief durch und versuchte, ihr Temperament wieder zu zügeln. »Okay. Also gut. Verdammt noch mal, jetzt habe ich Ihretwegen geflucht; dabei versuche ich, mir das Fluchen abzugewöhnen.«
Er sah sie eigenartig an. »Ja, beim Fluchen müssen Sie verdammt aufpassen.«
Sie strich ihre Haare aus dem Gesicht und versuchte sich zu entsinnen, ob sie sich heute Morgen gekämmt hatte. »Ich bin spät dran«, erklärte sie. »Ich habe nicht geschlafen, nicht gefrühstückt und noch keinen Kaffee getrunken. Ich sollte mich auf den Weg machen, bevor ich Ihnen noch was antue.«
Er nickte. »Gute Idee. Ich würde Sie nur ungern verhaften.«
Sie starrte ihn fassungslos an. »Wie bitte?«
»Ich bin Polizist«, sagte er, kehrte auf dem Absatz um und verschwand wieder in seinem Haus.
Verdattert staunte Jaine ihm nach. Ein Bulle?
»Ach fuck«, sagte sie dann.
Jeden Freitag ging Jaine mit ihren drei Freundinnen, die genau wie sie bei Hammerstead Technology arbeiteten, nach Büroschluss zu Ernie’s, einem Bar-Restaurant, auf ein Glas Wein, ein Abendessen, das sie nicht selbst zuzubereiten brauchten, und eine Runde Weibertratsch. Nachdem sie die ganze Woche in einer von Männern dominierten Umgebung gearbeitet hatten, brauchten sie den Weibertratsch wie die Luft zum Atmen.
Hammerstead war ein Zulieferbetrieb, der die Automobilwerke von General Motors in der Detroiter Gegend mit Computertechnologie ausstattete, und Computer waren im Wesentlichen immer noch eine Männerdomäne. Noch dazu war das Unternehmen ziemlich groß, was zur Folge hatte, dass die Atmosphäre allgemein leicht angespannt war, weil die Computerfreaks, die noch nie etwas von dem Wort »zwischenmenschliche Umgangsformen« gehört hatten, sich nur schwer mit den durchschnittlichen Verwaltungstypen mischten. Hätte Jaine in einer der Forschungs- oder Entwicklungsabteilungen gearbeitet, wäre keinem Menschen aufgefallen, dass sie an diesem Morgen zu spät kam. Blöderweise leitete sie die Gehaltsabrechnung, und ihre direkte Vorgesetzte war die Stechuhr in Person.
Da sie die Verspätung vom Morgen wieder hereinarbeiten musste, kam sie fast eine Viertelstunde zu spät ins Ernie’s, wo die drei anderen, Gott sei Dank, schon einen Tisch erobert hatten. Im Lokal wurde es bereits voller, so wie regelmäßig am Wochenende, und selbst wenn Jaine gute Laune hatte – was heute eindeutig nicht der Fall war –, hatte sie keine Lust, an der Bar auf einen Tisch zu warten.
»Was für ein Tag«, seufzte sie, als sie sich auf den freien vierten Stuhl fallen ließ. Wenn sie schon dabei war, Gott zu danken, konnte sie ihrer Dankesliste gleich noch hinzufügen, dass es Freitag war. Ein schwarzer Freitag zwar, aber zumindest der letzte schwarze Tag – wenigstens bis Montag.
»Wem sagst du das«, murmelte Marci, rammte ihre Zigarette in den Aschenbecher und zündete prompt die nächste an. »Brick raubt mir zurzeit den letzten Nerv. Können Männer eigentlich auch PMS kriegen?«
»Das haben die doch gar nicht nötig«, erwiderte Jaine, in Gedanken bei ihrem Vollidioten von Nachbarn – einem Bullen-Vollidioten. »Die werden schon mit einer Testosteron-Vergiftung geboren.«
»Ach, das ist es also?« Marci verdrehte die Augen. »Und ich dachte schon, wir hätten Vollmond oder so. Soll ich euch was Unglaubliches erzählen? Kellman hat mich heute in den Arsch gekniffen.«
»Kellman?«, wiederholten die anderen drei fassungslos im Chor, sodass sich alle Köpfe nach ihren vereinten Stimmen umdrehten. Sie brachen in Lachen aus, denn von allen möglichen Kandidaten hätten sie auf Kellman zuallerletzt getippt.
Derek Kellman, dreiundzwanzig Jahre alt, war die Fleisch gewordene Definition der Worte Langweiler und Spinner. Er war groß, schlaksig und bewegte sich mit der Grazie eines betrunkenen Storches. Der Adamsapfel stach so prägnant aus seinem dünnen Hals, dass man meinen konnte, er hätte eine Zitrone verschluckt, die sich in seiner Kehle verklemmt hatte. Sein rotes Haar sah nicht so aus, als hätte es schon jemals Bekanntschaft mit einer Bürste gemacht; an manchen Stellen klebte es platt am Schädel, woanders stand es stachelig ab: ein unheilbarer Fall von Federbett-Fassonschnitt. Aber am Computer war er ein absolutes Genie, und eigentlich konnten ihn alle vier irgendwie gut leiden, auf mütterliche oder großschwesterliche Weise. Er war schüchtern, verklemmt und hatte von nichts Ahnung außer von Computern. Im Büro wurde gemunkelt, er hätte mal gehört, dass es zwei Geschlechter gebe, sei aber nicht sicher, ob an dem Gerücht was dran war. Kellman war der Letzte, den man als Hinternkneifer verdächtigen würde.
»Unmöglich«, widersprach Luna.
»Das hast du dir ausgedacht«, unterstellte ihr T.J.
Marci lachte ihr kehliges Raucherlachen und zog innig an ihrer Kippe. »Ich schwöre bei Gott, so war es. Dabei bin ich nur im Korridor an ihm vorbeigegangen. Und ehe ich mich versehe, grabscht er mit beiden Händen nach mir, bleibt stocksteif stehen und hält meinen Hintern umklammert, als wäre es ein Basketball und er wollte anfangen zu dribbeln.«
Die Vorstellung löste neues Gekicher aus. »Und wie hast du reagiert?«, fragte Jaine.
»Ehrlich gesagt gar nicht«, gestand Marci. »Das Problem war, dass dieser blöde Sack Bennett zugeschaut hat.«
Die Übrigen stöhnten auf. Bennett Trotter genoss es, auf all jenen herumzuhacken, die er für seine Untergebenen hielt, und der arme Kellman war sein Lieblingsopfer. »Was sollte ich denn machen?« Marci schüttelte den Kopf. »Ich konnte diesem Arschloch doch keine zusätzliche Munition gegen den armen Burschen verschaffen. Also habe ich Kellman die Wange getätschelt und ihm was Freundliches gesagt, so ähnlich wie: ›Ich wusste gar nicht, dass dich so was interessiert.‹ Woraufhin Kellman röter geworden ist als seine Haare und spontan ins Männerklo abgetaucht ist.«
»Und Bennett?«, fragte Luna.
»Er hat dieses eklige Grinsen aufgesetzt und trompetet, wenn er gewusst hätte, dass ich mich sogar mit Kellman abgeben würde, um meinem Notstand abzuhelfen, hätte er mir schon längst seine Dienste angeboten.«
Das löste eine Augenroll-Lawine aus. »In anderen Worten, er war ein Arschloch wie eh und je«, stellte Jaine angewidert fest.
Ideal und Wirklichkeit waren halt zwei Paar Stiefel, und in Wirklichkeit waren die Menschen eben so, wie sie waren. Manche von ihren Kollegen bei Hammerstead würden immer geifernde Säcke bleiben, daran würde kein Verhaltenstraining der Welt etwas ändern. Doch die meisten Männer in der Firma waren okay, und letzten Endes glich sich sowieso alles aus, weil einige ihrer Kolleginnen wahre Hyänen mit einem ganzen Pelz auf den Zähnen waren. Jaine hatte aufgehört, auf Perfektion zu hoffen, an ihrem Arbeitsplatz oder sonst wo. Luna fand ihre Einstellung zu zynisch, aber Luna war die Jüngste unter ihnen, und ihre rosa Brille war noch nicht zerplatzt – ein bisschen ausgebleicht vielleicht, aber noch nicht zerplatzt.
Oberflächlich betrachtet hatten die vier Freundinnen außer ihrem Arbeitgeber nichts gemeinsam. Marci Dean, Buchhaltungschefin, war einundvierzig und die Älteste des Quartetts. Sie war dreimal verheiratet und geschieden und bevorzugte seit ihrer letzten Stippvisite im Gerichtssaal weniger formelle Arrangements. Die Haare hatte sie platinblond gebleicht, ihrer Haut war inzwischen die Kettenraucherei anzusehen, und ihre Kleider saßen stets ein bisschen zu knapp. Sie hatte einen Hang zum Bier, zu einfachen Arbeitern, derbem Sex und stand zu ihrer Schwäche fürs Bowling. »Ich bin der Traum jeden Mannes«, sagte sie oft lachend. »Ich bin ein Bier-Fan mit einem Champagner-Etat.«
Marcis gegenwärtiger Lebensgefährte war ein Kerl namens Brick, ein grober, muskelbepackter Gorilla, den keine der drei anderen leiden konnte. Insgeheim fand Jaine, dass der Name in diesem Fall wohl Programm war, denn Brick war tatsächlich blöd wie ein Backstein. Er war zehn Jahre jünger als Marci, arbeitete höchstens gelegentlich und schlug meistens die Zeit tot, indem er Marcis Bier wegtrank und in ihren Fernseher glotzte. Laut Marci liebte er jedoch den Sex genau so, wie sie ihn haben wollte, was offenbar Grund genug war, es eine Weile mit ihm auszuhalten.
Luna Scissum, die Jüngste, war vierundzwanzig und das Wunderkind der Vertriebsabteilung. Sie war groß, gertenschlank und mit der Grazie und Würde einer Katze ausgestattet. Ihre makellose Haut hatte die Farbe von hellem Sahnekaramell, ihre Stimme klang sanft und gefühlvoll, und die Männer umschwärmten sie wie Motten das Licht. Alles in allem war sie das genaue Gegenteil von Marci. Marci war derb und offenherzig, Luna zurückhaltend und damenhaft. Nur ein einziges Mal hatte man Luna zornig gesehen – und zwar, als jemand sie »Afro-Amerikanerin« genannt hatte.
»Ich bin Amerikanerin«, hatte sie den Übeltäter zur Rede gestellt. »Ich war in meinem ganzen Leben noch nie in Afrika. Ich bin in Kalifornien geboren, mein Vater war Major bei den Marines, und ich bin bestimmt kein Bindestrich-Geschöpf. Ich mag schwarze Vorfahren haben, aber ich habe auch weiße.« Sie hatte ihren schlanken Arm ausgestreckt und ihn sinnend betrachtet. »Für mich sieht das einfach braun aus. Und braun sind wir schließlich alle mehr oder weniger, darum brauchen Sie gar nicht erst zu versuchen, mich auszusondern.«
Der Mann hatte eine Entschuldigung gestammelt, worauf Luna ihm, ganz Luna, ein gnädiges Lächeln geschenkt und so schnell verziehen hatte, dass er sie schließlich um ein Rendezvous gebeten hatte. Zurzeit ging sie mit einem Running Back aus der Footballmannschaft der Detroit Lions; leider Gottes hatte sie ihr Herz ganz und gar an Shamal King verloren, der dafür bekannt war, dass er bei jedem Auswärtsspiel wilde Partys mit anderen Frauen feierte. Viel zu oft lag ein kummervoller Schatten über Lunas haselnussbraunen Augen, trotzdem weigerte sie sich standhaft, Shamal in den Wind zu schießen.
T.J. Yother arbeitete in der Personalabteilung und war die Konventionellste unter den vieren. Sie war dreißig, also in Jaines Alter, und seit neun Jahren mit ihrem ehemaligen Schulfreund verheiratet. Die beiden lebten mit ihren zwei Katzen, einem Cocker-Spaniel und einem Papagei in einem adretten Häuschen in der Vorstadt. Der einzige Wermutstropfen für T.J. war, dass sie gern Kinder gehabt hätte, im Gegensatz zu Galan, ihrem Ehemann. Insgeheim war Jaine der Auffassung, dass T.J. etwas mehr Unabhängigkeit beweisen sollte. Obwohl Galan bei Chevrolet als Schichtleiter in der Spätschicht arbeitete und sowieso nicht zu Hause war, schaute T.J. ständig auf die Uhr, so als müsste sie zu einer festgelegten Zeit zu Hause sein. Soweit Jaine das mitbekam, war Galan nicht begeistert von ihren Freitagabend-Versammlungen. Dabei beschränkten sich ihre Treffen auf das gemeinsame Essen bei Ernie’s, und es wurde nie später als neun Uhr; es war keineswegs so, als würden sie durch die Bars ziehen und bis zum Morgengrauen durchzechen.
Nun, kein Leben ist perfekt, dachte Jaine. Sie hatte sich in Herzensangelegenheiten schließlich ebenfalls eher schlecht als recht geschlagen. Dreimal war sie verlobt gewesen, aber bis zum Altar hatte sie es nie geschafft. Nach der dritten Trennung hatte sie beschlossen, vorerst die Finger von den Männern zu lassen und sich auf ihre Karriere zu konzentrieren. Seither waren sieben Jahre vergangen und sie konzentrierte sich immer noch. Sie war inzwischen kreditwürdig, konnte ein ansehnliches Bankkonto vorweisen und hatte vor Kurzem ihr erstes eigenes Haus gekauft – in dem sie sich allerdings nicht ganz so wohlfühlte, wie sie geglaubt hatte, aber wie sollte sie das auch mit diesem mies gelaunten, rücksichtslosen Kretin nebenan. Selbst wenn er ein Bulle war, war ihr in seiner Gegenwart nicht ganz wohl. Denn ob Bulle oder nicht, er sah so aus, als würde er einem das Haus anzünden, wenn man ihn auf dem falschen Fuß erwischte. Und seit sie eingezogen war, hatte sie ihn pausenlos nur auf dem falschen Fuß erwischt.
»Ich hatte heute Morgen schon wieder eine Auseinandersetzung mit meinem Nachbarn.« Sie stemmte seufzend die Ellbogen auf den Tisch und ließ das Kinn auf die verschränkten Finger sinken.
»Was hat er jetzt schon wieder angestellt?«, meinte T.J. mitfühlend, denn alle wussten, dass Jaine an ihrer Wohnung festgekettet war und dass unangenehme Nachbarn einem das Leben zur Hölle machen konnten.
»Ich war in Eile und bin rückwärts in meine Mülltonne gerauscht. Wenn man spät dran ist, passiert einem immer was, das nie passieren würde, wenn man sich Zeit lassen würde, richtig? Und heute Morgen ging einfach alles schief. Jedenfalls hat meine Mülltonne seine umgeschmissen, und sein Deckel ist auf die Straße gerollt. Ihr könnt euch den Krach vorstellen. Er ist aus der Haustür gerumpelt wie ein Bär aus seiner Höhle und hat mich angebrüllt, er hätte noch nie eine Frau erlebt, die so viel Krach macht wie ich.«
»Du hättest seine beschissene Mülltonne zusätzlich umtreten sollen«, riet Marci. Sie hielt nichts davon, auch die andere Wange hinzuhalten.
»Dann hätte er mich wegen Ruhestörung verhaftet«, widersprach Jaine wehmütig. »Er ist Polizist.«
»Ist nicht wahr!« Die drei glotzten sie ungläubig an, doch andererseits hatten sie alle ihre Beschreibungen gehört, und rote Augen, Bartstoppeln und schmuddelige Kleidung hörten sich nicht gerade nach einem Polizisten an.
»Wahrscheinlich gibt es unter den Bullen nicht weniger Säufer als überall«, meinte T.J. zaghaft. »Wenn nicht noch mehr.«
Stirnrunzelnd dachte Jaine an die Begegnung vom Morgen zurück. »Wenn ich es mir recht überlege, hat er nicht nach Alkohol gerochen. Er hat zwar ausgesehen, als käme er von einer dreitägigen Zechtour, aber gerochen hat er nicht so. Scheiße, die Vorstellung, dass er ohne Kater so grantig sein kann, gefällt mir noch weniger.«
»Geld her«, forderte Marci.
»Ach, Scheiße!«, entfuhr es Jaine zornig. Sie hatte mit ihren Freundinnen vereinbart, dass sie für jeden Fluch einen Vierteldollar zahlen würde, um sich dadurch einen Anreiz zu geben, mit dem Fluchen aufzuhören.
»Das war Fluch Nummer zwei.« Prustend streckte T.J. die Hand aus.
Grummelnd, aber darauf bedacht, ihren Gedanken keine Worte zu verleihen, kramte Jaine für jede von ihnen fünfzig Cent hervor. In letzter Zeit achtete sie darauf, genug Kleingeld bei sich zu haben.
»Wenigstens ist er nur dein Nachbar«, meinte Luna besänftigend. »Du kannst ihm aus dem Weg gehen.«
»Bis jetzt hatte ich mit dieser Taktik keinen Erfolg«, gab Jaine mit einem finsteren Blick auf die Tischplatte zu bedenken. Dann richtete sie sich auf, fest entschlossen, einen Schlussstrich unter die vergangenen zwei Wochen zu ziehen und ihr Leben und ihre Gedanken nicht länger von diesem Blödmann terrorisieren zu lassen. »Reden wir nicht mehr darüber. Was gibt’s Neues bei euch?«
Luna biss sich auf die Lippe, und eine Kummermiene überzog ihr Gesicht. »Ich habe gestern Shamal angerufen, und eine Frau ist an den Apparat gegangen.«
»Ach verflucht.« Marci beugte sich über den Tisch, um Lunas Hand zu tätscheln, und Jaine beneidete ihre Freundin einen Moment lang um ihre verbalen Freiheiten.
Der Kellner wählte ausgerechnet diesen Augenblick, um ihnen die überflüssigen Speisekarten zu bringen, da alle auswendig wussten, was sie essen wollten. Sie gaben ihre Bestellungen auf, er sammelte die nicht benötigten Speisekarten wieder ein, und sobald er weg war, beugten sich alle vor.
»Und was willst du jetzt tun?«, fragte Jaine. Sie war Expertin im Schlussmachen wie auch im Verlassenwerden. Ihr zweiter Verlobter, diese Superflasche, hatte bis zur Generalprobe der kirchlichen Zeremonie am Abend vor ihrer Hochzeit gewartet, ehe er ihr eröffnet hatte, dass er die Sache mit der Hochzeit nicht durchziehen konnte. Darüber hinwegzukommen, hatte eine ganze Weile gedauert – und sie würde bestimmt nicht für alle Ausdrücke zahlen, die sie sich dachte, aber nicht aussprach. Zählte »Superflasche« eigentlich als Schimpfwort? Gab es irgendwo eine offizielle Liste unflätiger Ausdrücke, wo sie nachschlagen konnte?
Luna zuckte mit den Achseln. Sie war den Tränen nahe, versuchte aber, sich gelassen zu geben. »Wir sind nicht verlobt, wir gehen nicht mal richtig miteinander; ich habe kein Recht, mich zu beschweren.«
»Nein, aber du kannst dich selbst schützen und aufhören, ihn zu treffen«, schlug T.J. mitfühlend vor. »Ist er es denn wert, dass du dich so quälst?«
Marci schnaubte. »Das ist kein Mann.«
»Amen.« Jaine war in Gedanken immer noch bei ihren drei gescheiterten Verlobungen.
Luna zupfte rastlos mit ihren langen, schlanken Fingern an der Serviette. »Aber wenn wir zusammen sind, dann tut er so, als ... als würde ich ihm wirklich was bedeuten. Dann ist er so süß und liebevoll und fürsorglich –«
»Das sind sie alle, bis sie kriegen, was sie wollen.« Marci stampfte ihre dritte Zigarette aus. »Ich spreche da aus persönlicher Erfahrung, musst du wissen. Du kannst deinen Spaß mit ihm haben, aber du darfst nicht erwarten, dass er sich ändert.«
»Ist doch wahr«, bestätigte T.J. grimmig. »Ändern tun sie sich nie. Ab und zu spielen sie dir was vor, aber sobald sie glauben, sie haben dich wieder eingelullt und ruhiggestellt, dann lassen sie sich gehen, und Mr. Hyde zeigt von Neuem seine haarige Fratze.«
Jaine lachte. »Das hätte ich sagen können.«
»Nur dass T.J. dabei nicht geflucht hat«, merkte Marci an.
T.J. hob die Hand, um das Witzeln zu unterbinden. Luna sah noch elender aus als zuvor. »Also muss ich mich entweder damit abfinden, eine unter vielen zu sein, oder ich muss mit ihm Schluss machen?«
»Also ... ja.«
»Aber so sollte es nicht sein! Wenn ihm echt was an mir liegt, wie kann er sich dann für andere Frauen interessieren?«
»Ach, ganz einfach«, erklärte ihr Jaine. »Die einäugige Schlange verschlingt alles, was ihr unterkommt.«
»Süße.« Marci ließ ihre Raucherstimme so sanft wie nur möglich klingen. »Wenn du nach dem perfekten Mann suchst, dann wirst du immer nur Enttäuschungen erleben, denn Mr. Perfekt gibt es nicht. Du musst einfach das Beste für dich raushandeln, aber Probleme wird es immer geben.«
»Ich weiß, dass er nicht perfekt ist, aber –«
»Aber so wünschst du ihn dir«, beendete T.J. den Satz für sie.
Jaine schüttelte den Kopf. »Da kannst du lange warten«, prophezeite sie. »Der perfekte Mann ist pure Science-Fiction. Nicht dass wir etwa perfekt wären«, ergänzte sie, »aber die meisten Frauen versuchen es wenigstens. Männer bemühen sich nicht mal. Darum habe ich sie aufgegeben. Beziehungen sind einfach nichts für mich.« Sie hielt inne und meinte dann versonnen: »Gegen einen Sexsklaven hätte ich allerdings nichts einzuwenden.«
Die anderen drei prusteten los, selbst Luna.
»Damit könnte ich mich auch anfreunden«, stimmte Marci ihr zu. »Was meinst du, wo man die wohl herkriegt?«
»Versuch’s doch mal bei Sexslaves-R-Us«, schlug T.J. vor und löste damit neues Gelächter aus.
»Wahrscheinlich gibt es eine Website«, meinte Luna schnaufend.
»Aber natürlich gibt es die.« Jaines Miene war todernst. »Ich habe sie in meiner Favoritenliste gespeichert: www.sexslaves.com.«
»Du brauchst nur deine Wünsche einzutippen, und schon kannst du Mr. Perfekt mieten – stunden- oder tageweise.« Enthusiastisch schwenkte T.J. ihr Bierglas durch die Luft.
»Einen ganzen Tag? Das glaubst du selber nicht!«, grölte Jaine. »Eine ganze Stunde würde schon an ein Wunder grenzen.«
»Außerdem gibt es keinen Mr. Perfekt, vergesst das nicht«, mahnte Marci.
»Nicht in Wirklichkeit, nein, aber ein Sexsklave müsste schließlich so tun, als wäre er genau so, wie du ihn haben willst, nicht wahr?«
Marci tat keinen Schritt ohne ihre Weichleder-Aktentasche. Sie klappte sie auf, wühlte einen Notizblock nebst Stift hervor und knallte beides auf den Tisch. »Das müsste er unbedingt. Mal schauen, wie sollte Mr. Perfekt denn aussehen?«
»Er müsste jedes zweite Mal den Abwasch machen, ohne dass man ihn darum bitten muss!« T.J. klatschte die flache Hand auf die Tischplatte und zog damit neugierige Blicke auf sich.
Als sie endlich wieder genug Luft bekamen, um einen zusammenhängenden Satz herauszubringen, kritzelte Marci auf ihren Block: »Nummer eins: den Abwasch machen.«
»Hey, nein, den Abwasch machen kann unmöglich Nummer eins sein«, protestierte Jaine. »Erst müssen die wirklich wichtigen Punkte drankommen.«
»Genau«, bestätigte Luna. »Mal ganz im Ernst. Wie müsste der perfekte Mann eigentlich aussehen? Von dieser Seite habe ich die Sache noch nie betrachtet. Vielleicht wäre es ganz hilfreich, wenn ich mal klar vor Augen hätte, was mir an einem Mann gefällt.«
Alle verstummten. »Der perfekte Mann? Ganz im Ernst?« Jaine rümpfte die Nase.
»Ganz im Ernst.«
»Das erfordert einige Überlegung«, verkündete Marci.
»Keineswegs.« T.J. wurde schlagartig ernst. »Für mich wäre das Allerwichtigste, dass er dasselbe vom Leben will wie ich.«
Wie eine Welle in einem See breitete sich nachdenkliches Schweigen rund um den Tisch aus. Die Neugier, die sie mit ihrem Gelächter an den umliegenden Tischen erregt hatten, richtete sich auf andere Dinge.
»Will dasselbe vom Leben«, wiederholte Marci während des Schreibens. »Das kommt also an erster Stelle? Sind alle einverstanden?«
»Wichtig ist das schon«, wandte Jaine ein. »«