Herausgegeben von Stefan von Kempis
Für Christoph, Isabelle und die kleine Viktoria, unsere Freunde in Kriegsfeld
Stefan von Kempis ist Redakteur in der deutschsprachigen Abteilung von Radio Vatikan
Ein CAMINO-Buch aus der
© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2017
Alle Rechte vorbehalten
Die Texte von Papst Franziskus:
© Libreria Editrice Vaticana
Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall
Umschlagabbildung: © KNA. Alle Rechte vorbehalten.
Satz: Finken & Bumiller, Stuttgart
Herstellung: Finidr s.r.o., Český Těšín
Printed in the Czech Republic
ISBN 978-3-96157-009-6
E-Book: ISBN 978-3-96157-997-6
Einleitung des Herausgebers
1. Vom Geist gebändigtes Chaos:
Was sich der Papst unter Einheit vorstellt
2. 500 Jahre nach Luther:
Reformationsgedenken mit dem Papst und dem Lutherischen Weltbund
3. Früher kamen alle Protestanten in die Hölle:
Eine Kindheitserinnerung, drei Reden und ein Gespräch
4. Heikle Frage Interkommunion:
Der Papst in der lutherischen Gemeinde von Rom
5. Die Einheit wird nicht kommen wie ein Wunder am Ende:
Gebetswochen für die Einheit der Christen
6. Eine Wunde heilen:
Franziskus geht auf Freikirchen und Waldenser zu
7. Wir haben den Bruder aus den Augen verloren:
Der Papst und die Anglikaner
8. Die Theologen werden sich nie einigen:
Beziehungen zu den orthodoxen Kirchen
9. Fundstücke
Am 13. März 2013 brach etwas Neues über die von Martin Luther einst so bitter geschmähte Papstkirche herein: Ein argentinischer Erzbischof, den bis dato keiner der Vatikan-Auguren auf dem Schirm gehabt hatte, stand als eben gewählter Petrusnachfolger auf der Loggia von Sankt Peter. Er sei der neue »Bischof von Rom«, so stellte sich Franziskus vor. Und er schlug schon mit seinen ersten, frei formulierten Worten eine Brücke in die Ökumene: »Jetzt beginnen wir diesen Weg – Bischof und Volk –, den Weg der Kirche von Rom, die den Vorsitz in der Liebe führt gegenüber allen Kirchen.« Dieses »Vorsitz in der Liebe« war ein wörtliches Zitat aus einem Brief des hl. Ignatius von Antiochien († 107): Es ist die Formel, mit der das Amt des Papstes in ökumenischer Hinsicht üblicherweise gekennzeichnet wird.
»Vorsitz in der Liebe«: Da will das Papsttum hin, um einen Dienst an der Einheit aller Christen zu leisten, statt ein Stolperstein für die Einheit zu sein. Hätte Martin Luther an diesem Abend vor dem Fernseher gesessen, um die Papstwahl mitzuverfolgen – er hätte seinen Ohren nicht getraut. Von einer »Revolution von oben« spricht der Kirchenhistoriker Josef Gelmi.
Mit der Wahl von Jorge Mario Bergoglio zum Papst ist ein neuer Ton in die Beziehungen des Vatikans zu Christen anderer Konfessionen eingekehrt. Einige Ansätze des Papstes zu einer Reform seines Amtes, der Kurie und der katholischen Kirche insgesamt haben auch in ökumenischer Hinsicht Erwartungen und Hoffnungen geweckt; zu diesen Ansätzen gehören ein bescheideneres Auftreten, eine mehr prophetische als doktrinäre Ausrichtung, Versuche der Dezentralisierung, die Stärkung beratender und synodaler Strukturen, die neue Betonung der Kollegialität unter Bischöfen und der Kirche als »communio« (Gemeinschaft), die Aufwertung von Bischofskonferenzen – und die Einsicht, dass Rom nicht alles entscheiden muss.
»Der Papst scheut sich nicht, sogar von einer Konversion des Papsttums zu sprechen« und damit das Schlagwort einer bekannten ökumenischen Denkschrift von 1991 aufzugreifen1: Wie Johannes Paul II. und Benedikt XVI. bittet er um Vorschläge aus anderen Kirchen und christlichen Gruppen, »wie das Petrusamt, ohne seine Substanz aufzugeben, heute in einer Weise ausgeübt werden sollte, in der es allgemein akzeptiert werden kann«2. All dies sorgt für Aufmerksamkeit bei Christen anderer Konfessionen.
Hinzu kommt, dass der Papst – etwa in seinem programmatischen Apostolischen Schreiben »Evangelii Gaudium« vom Herbst 2013 – entschlossen christozentrisch auftritt, die Bedeutung der Heiligen Schrift betont und der Predigt und dem Verkünden einen hohen Stellenwert einräumt. In diesen Punkten ist er dem Denken Luthers und der Reformatoren sehr nahe. Vatikankenner Jürgen Erbacher urteilt bündig, der Papst wolle eine »evangelische Reform« seiner Kirche, eine »Form der Reformation der katholischen Kirche«3.
Manches bleibt Skizze und Entwurf, aber spürbar hat sich durch Franziskus etwas in Bewegung gesetzt. »Vorwärtsgehen«, »hinausgehen« und »Kirche im Aufbruch« gehören nicht von ungefähr zu den Lieblingsvokabeln dieses Papstes. Die Kirche darf aus seiner Sicht kein in sich geschlossenes, selbstgenügsames System sein – das versucht er nicht nur in seiner eigenen Kirche durchzusetzen, das sorgt auch für aufregende ökumenische Perspektiven. »Denn indem der Papst Ballast abwirft, der sich im Laufe der 2000-jährigen Kirchengeschichte … angehäuft hat, bieten sich neue Chancen des Miteinanders der Konfessionen«4.
Eines der wesentlichen Kennzeichen einer Ökumene à la Bergoglio besteht in der Begegnung. Kardinal Kasper hat in seinem bereits zitierten Buch festgestellt, dass in den ökumenischen Beziehungen über Jahre hinweg eine gewisse »Stagnation und Müdigkeit«5 geherrscht habe: »Ein neuer Anstoß und eine neue Vision waren nötig.« Und die habe Franziskus »auf seine ganz persönliche Art«6 gebracht, durch die Begegnung nämlich.
Natürlich haben sich in den letzten 50 Jahren seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil immer wieder Päpste mit Exponenten anderer Konfessionen getroffen, aber Bergoglio hat das Begegnen zu einer Kunst erhoben: »Kultur der Begegnung« heißt sein Stichwort. »Sich begegnen, gegenseitig das Gesicht sehen«, das sind nach seiner Überzeugung »wesentliche Dimensionen« des Wegs zur Einheit der Christen; »echter Dialog« sei nicht so sehr ein Austausch »von Ideen« als vielmehr »eine Begegnung zwischen Menschen« (Ansprache in Istanbul, 30.11.14). Menschen mit einem Namen, einem Gesicht, einer bestimmten Geschichte … und natürlich auch mit ihren Macken. Menschen, auf die man sich einlassen sollte.
Für die Unterschiede zwischen dem katholischen und anderen christlichen Lehrgebäuden scheint sich Franziskus nicht über Gebühr zu interessieren: Er sieht sich auf einem gemeinsamen Weg mit Christen aller Konfessionen, und auf diesen Weg und die Richtung, in die er führt, kommt es an. Alle, die er auf dem Weg trifft, nimmt der Papst als Reisegefährten ernst. Er hört ihnen zu, versucht von ihnen zu lernen, vermeidet Gesten der Abgrenzung. Das Wort von der »Ökumene der Profile« ist ihm noch nie über die Lippen gekommen.
Den ökumenischen Dialog der Theologen hält der Jesuitenpapst zwar für notwendig, aber nicht für entscheidend – entscheidend ist das gemeinsame Unterwegssein. Schon jetzt können die Christen trotz aller Divergenzen sehr viel gemeinsam tun: beten, verkündigen, für die Armen und Entrechteten eintreten. Jesus wird uns nach Franziskus’ Überzeugung bei seiner Wiederkunft nicht nach unserer Konfession fragen, sondern danach, was wir für die Elenden und Marginalisierten getan haben. »Ich glaube an Gott – nicht an einen katholischen Gott, den gibt es nicht«, sagte er einmal in einem Zeitungsgespräch7.
Im gemeinsamen Unterwegssein wird das Ziel der Ökumene, nämlich die Einheit, gewissermaßen schon erlebt und vorweggenommen: Einheit kommt für den Papst »nicht wie ein Wunder am Ende«, sondern ist jetzt schon auf dem Weg erfahr- und herstellbar. Statt auf eine perfekte, wasserfeste Einheit irgendwann in der Zukunft zu warten, können wir mit der Hilfe des Heiligen Geistes – und der von Franziskus häufig beschworenen Geduld – heute schon die kleine Einheit des Alltags aufbauen: »Das Wunder der Einheit hat schon begonnen.«
Denn Freundschaft wächst täglich, im Verborgenen; Kontakte bewähren sich, und so wächst aus Franziskus’ Sicht auch die Einheit heran und breitet sich aus. Wenn es hart auf hart kommt, im Martyrium nämlich, sind Christen der verschiedensten Konfessionen heute schon geeint, auf paradoxe oder, wenn man will, auf prophetische Weise. Immer wieder weist der Papst darauf hin, dass sich Christenverfolger etwa im Nahen Osten nicht weiter dafür interessieren, ob ihre Opfer Kopten oder Anglikaner sind – es reicht, dass sie Christen sind, um sie umzubringen. Auch das ist für Franziskus Ökumene: die sogenannte »Ökumene des Blutes«.
In diesem Buch geht es vor allem um die Haltung des Papstes zu Martin Luther und den Kirchen, die aus der Reformation vor 500 Jahren erwachsen sind. Ein erstes Kapitel untersucht die Vorstellung von Einheit, die Franziskus hat, und dann werden seine Beziehungen zu lutherischen Christen aus mehreren Blickwinkeln behandelt. Weitere Kapitel nehmen andere Kirchen und christliche Gruppen der Reformation unter die Lupe, während ein Kapitel sich mit den Anstößen des Papstes zur jährlichen Weltgebetswoche für die Einheit der Christen beschäftigt. Natürlich darf auch ein Seitenblick zu den orthodoxen Kirchen nicht fehlen, gerade hier hat sich in ökumenischer Hinsicht in Franziskus’ Pontifikat einiges getan, und diese Gegenprobe lässt schärfer hervortreten, woran es den ökumenischen Beziehungen des Vatikans zu den Kirchen der Reformation noch fehlt.
Noch ein Hinweis zum Editorischen: Innerhalb der Kapitel werden die einzelnen Texte in der Regel in chronologischer Reihenfolge aufgeführt. Texte, von denen es keine offizielle Übersetzung ins Deutsche gibt, wurden eigens für dieses Buch vom Herausgeber ins Deutsche übertragen. Von dem Frage-Antwort-Spiel im Kapitel »Früher kamen alle Protestanten in die Hölle« gibt es bisher noch keine Transkription, nicht einmal auf Italienisch; es wurde direkt vom Radio-Vatikan-Audiomitschnitt der Audienz ins Deutsche übersetzt.
STEFAN VON KEMPIS
1Kardinal Walter Kasper, Papst Franziskus – Revolution der Zärtlichkeit und der Liebe, Stuttgart 2015, S. 67 und S. 79.
2Ebd., S. 69.
3Jürgen Erbacher, Ein radikaler Papst, München 2014, S. 223.
4Ebd.
5Kasper, wie Anm. 1, S. 76.
6Ebd., S. 77.
7La Repubblica, 1.10.13.
Wir müssen als Katholiken untereinander und auch mit den anderen Christen beten: darum beten, dass der Herr uns die Einheit schenken möge, die Einheit untereinander. Wie sollen wir aber zur Einheit gelangen, wenn wir nicht in der Lage sind, sie unter uns Katholiken zu haben? Sie in der Familie zu haben?
GENERALAUDIENZ, 19.6.13
Mit einer Konferenz in Edinburgh startete 1910 die ökumenische Bewegung – eine Konferenz, an der die katholische Kirche nicht teilnahm, schließlich hatte die Vorgängerbehörde der heutigen Glaubenskongregation die Teilnahme an solchen Begegnungen verboten. Im Vatikan teilte man zwar durchaus das Anliegen einer Einheit der Christen, aber man stellte sich darunter in erster Linie die Rückkehr der Abtrünnigen in die wahre, also die katholische Kirche vor, wie päpstliche Enzykliken in den 20-er und 40-er Jahren des 20. Jahrhunderts erkennen ließen.
Wir brauchen darüber heute nicht den Kopf zu schütteln; denn zum einen ist der Vatikan schon Ende der 40-er Jahre von dieser sogenannten Rückkehrökumene abgerückt und hat sich, mehr noch, in den 60-er Jahren auf dem Konzil (und sicher auch durch den Einfluss der Beobachter aus anderen Kirchen) mit dem Dekret »Unitatis redintegratio« ohne Wenn und Aber in die ökumenische Bewegung eingereiht. Zum anderen aber ist es auch heute eine der quälendsten Fragen der Ökumene, welche Einheit genau von den einzelnen Kirchen, Gruppen, Konfessionen angestrebt wird.
Modelle für eine solche Einheit gibt es nämlich mehrere, und sie laufen, wenn man sie zu Ende denkt, nicht unbedingt auf dasselbe hinaus. Da ist zum einen das Modell der »Schwesterkirchen«: So sehen sich Katholiken und Orthodoxe gern. Obwohl theologisch noch einige Differenzen unter ihnen bestehen und die eucharistische Gemeinschaft nur umrissweise besteht, können sie sich doch schon als weitgehend geeint betrachten. Ähnlich liegt der Fall bei dem Modell einer »korporativen Vereinigung«, bei der bisher getrennte Kirchen zu einer Gemeinschaft im Glauben und in der kirchlichen Praxis finden, dabei aber ihre historisch gewachsenen Traditionen und Eigenheiten beibehalten; so stellen sich katholische und anglikanische Kirche ihre mögliche Einheit vor.
Da ist aber auch das Modell der »organischen Union«, wie es eine Zeitlang vom Weltkirchenrat verfochten wurde: Es meint ein Hintersich-Lassen des gewachsenen Eigenguts, um zusammen mit anderen Kirchen oder Konfessionen in etwas Neuem aufzugehen – ein Modell, auf das sich die katholische Kirche nicht einlassen will, vor allem, weil sie den Grundgedanken von Weiheämtern, die in apostolischer Sukzession stehen, als nicht aufgebbar erachtet.
Oder das Modell der »konziliaren Gemeinschaft«, die derzeitige Zielvorstellung des Weltkirchenrats: Hier bestätigen sich verschiedene Kirchen ihre Einheit in Taufe, Eucharistie, Ämtern und Zeugnis und treten in Konzilien zusammen. Auch nicht gerade das, wovon katholische Ökumeniker nachts träumen: Sie wünschen sich eine sichtbare Einheit in allen Sakramenten (nach katholischem Verständnis sind das sieben an der Zahl) – von der apostolischen Sukzession, die im katholischen Kirchenbild ebenfalls konstitutiv ist, gar nicht zu reden.
Viel diskutiert wird schließlich auch das Modell der »Einheit in versöhnter Verschiedenheit«, dessen Bannerträger der Lutherische Weltbund ist und das auch bei orthodoxen Kirchen auf Gegenliebe stößt. Die Crux bei diesem Modell besteht darin, dass es von Kirche zu Kirche unterschiedlich gedeutet wird: Die ökumenische Schlange beißt sich also gewissermaßen in den Schwanz.
Wie steht nun Papst Franziskus dazu, welches Ideal von Einheit schwebt ihm vor? Dazu hat er sich schon vor seiner Wahl zum Bischof von Rom ziemlich eindeutig geäußert. »Die Spannung löst sich auf einer höheren Ebene auf, indem man zum Horizont blickt, nicht in einer Synthese, wohl aber in einer neuen Einheit, einem neuen Pol, der die Wirkungskraft beider bewahrt, sie übernimmt und so weiter voranschreitet«, sagte er mit Blick auf die Ökumene in einem Buch, das seine Gespräche mit dem argentinischen Rabbiner Abraham Skorka wiedergibt: »Das ist keine Vereinnahmung und auch keine hybridenhafte Synthese, es ist eine neue Einheit«8.
Bis hierhin hätte man noch denken können, es gehe Bergoglio um eine Art »organische Union«. Doch dann fuhr er fort: »Ein deutscher lutherischer Theologe, Oscar Cullmann, hat einmal etwas dazu gesagt, wie man es anstellen kann, die verschiedenen christlichen Denominationen zur Einheit zu führen. Ihm zufolge sollen wir nicht danach streben, dass alle von Anfang an dasselbe bekräftigen, und er schlägt vor, in einer versöhnten Verschiedenheit gemeinsam zu gehen«9. Das entscheidende Stichwort hier lautet »versöhnte Verschiedenheit«: Es verweist, erst recht unter Bezugnahme auf den reformierten Theologen und Konzilsbeobachter Cullmann, auf das vom Lutherischen Weltbund vertretene Modell.
»Er löst«, so fuhr der damalige Erzbischof von Buenos Aires in dem Gesprächsbuch mit Blick auf Cullmann fort, »den religiösen Konflikt der vielfältigen christlichen Konfessionen durch den gemeinsamen Weg dadurch, gemeinsam Dinge zu machen, gemeinsam zu beten. Er bittet uns, dass wir uns nicht gegenseitig mit Steinen bewerfen, sondern dass wir miteinander weitergehen. So kann man bei der Lösung eines Konflikts mit den Wirkungskräften aller vorankommen, ohne die verschiedenen Traditionen aufzuheben oder dem Synkretismus anheimzufallen. Jeder Einzelne sucht von seiner Identität aus, in Versöhnung, nach der Einheit der Wahrheit«10.
Hier wird nun – selbst wenn’s um Cullmann geht – auch eine für den heutigen Papst typische, nämlich eine dynamische Sichtweise von Einheit deutlich: Sie wird (wie schon in der Einleitung ausgeführt) im gemeinsamen Unterwegssein vorweggenommen. Einheit nicht als starres Prinzip, das von oben aufoktroyiert wird, sondern als etwas, das in Bewegung ist und das uns in Bewegung setzt. Das vom Konzil entwickelte Bild der Kirche als »communio«, als (Weg-) Gemeinschaft, strahlt hier ins Ökumenische durch.
Es hat »theologisches Aufsehen« erregt, dass sich Franziskus so eindeutig zu Cullmanns Einheitsvorstellung bekennt – zumal sich auch sein Vorgänger, Benedikt XVI., 1986 in seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation positiv auf Cullmann bezogen hatte. Für Kardinal Kasper ist klar, dass Franziskus »damit mehr (meint) als gegenseitige Anerkennung der bestehenden Kirchen … Er geht von dem Grundsatz aus, dass das Ganze dem Teil übergeordnet und damit nicht nur die Summe oder Zusammenfügung der Teile ist«11.
Kasper zielt da auf einen Text aus dem Apostolischen Schreiben »Evangelii Gaudium«, den Sie weiter unten finden: Da schreibt der Papst, das Einheitsmodell, das ihm vorschwebe, sei nicht das einer Kugel, sondern das des Polyeders – so heißt ein dreidimensionales Gebilde, das viele Ecken und Flächen hat. Aus der Sicht des Kardinals löst dieses eigenwillige Bild von Einheit das bisherige »Modell der konzentrischen Kreise« ab: »Es ermöglicht eine Einheit, welche die Eigenheit der verschiedenen Kirchen bewahrt und die Identität des Ganzen doch nicht verbirgt.«12
Einheit also »nicht trotz Diversität, sondern gerade durch Diversität« (Cullmann): Diesen Widerspruch überbrückt für Franziskus der Heilige Geist, der in den verschiedenen christlichen Gruppen unterschiedliche Charismen weckt und trotzdem für die Einheit sorgt. Das führt der Papst besonders in seiner Istanbuler Predigt vom November 2014 aus (siehe am Ende dieses Kapitels).
Der letzte Text dieses Kapitels ist übrigens eine Art Gegenprobe: Da erklärt der Papst, was Einheit aus seiner Sicht nicht ist.
Liebe Brüder und Schwestern, guten Tag!
Heute gehe ich näher ein auf einen … Ausdruck, mit dem das Zweite Vatikanische Konzil das Wesen der Kirche beschreibt: den »Leib«. Das Konzil sagt, dass die Kirche der Leib Christi ist (vgl. »Lumen gentium«, 7).
Ich möchte von einem Text aus der Apostelgeschichte ausgehen, den wir gut kennen: von der Bekehrung des Saulus, der später Paulus heißen wird – einer der größten Verkünder des Evangeliums (vgl. Apg 9,4–5). Saulus ist ein Christenverfolger, aber während er auf der Straße unterwegs ist, die nach Damaskus führt, umstrahlt ihn plötzlich ein Licht, er stürzt zu Boden und hört eine Stimme, die zu ihm sagt: »Saul, Saul, warum verfolgst du mich?« Er fragt: »Wer bist du, Herr?«, und jene Stimme antwortet: »Ich bin Jesus, den du verfolgst« (V. 3–5). Diese Erfahrung des hl. Paulus sagt uns, wie eng die Verbindung zwischen uns Christen und Christus selbst ist. Als Jesus in den Himmel aufgefahren ist, hat er uns nicht als Waisen zurückgelassen, sondern durch die Gabe des Heiligen Geistes ist die Vereinigung mit ihm noch tiefer geworden. Das Zweite Vatikanische Konzil sagt: Indem Jesus »seinen Geist mitteilte, hat er seine Brüder und Schwestern, die er aus allen Völkern zusammenrief, in geheimnisvoller Weise gleichsam zu seinem Leib gemacht« (Dogmatische Konstitution »Lumen gentium«, 7).
Das Bild des Leibes hilft uns, die tiefe Verbindung zwischen der Kirche und Christus zu verstehen, die der hl. Paulus insbesondere im ersten Brief an die Korinther dargelegt hat (vgl. 1 Kor 12). Zunächst verweist uns der Leib auf eine lebendige Wirklichkeit. Die Kirche ist kein karitativer, kultureller oder politischer Verein, sondern ein lebendiger Leib, der in der Geschichte unterwegs ist und wirkt. Und dieser Leib hat ein Haupt: Jesus, der ihn leitet, nährt und aufrichtet. Diesen Punkt möchte ich hervorheben: Wenn man das Haupt vom übrigen Leib trennt, dann kann die ganze Person nicht überleben. So ist es auch in der Kirche: Wir müssen immer enger mit Jesus verbunden bleiben. Aber nicht nur das: Ebenso wie in einem Leib der Lebenssaft fließen muss, damit er leben kann, so müssen wir Jesus in uns wirken lassen, uns von seinem Wort leiten lassen, uns von seiner eucharistischen Gegenwart nähren, beseelen lassen, uns von seiner Liebe Kraft für unsere Nächstenliebe schenken lassen. Und das immer! Immer, immer! Liebe Brüder und Schwestern, wir wollen mit Jesus vereint bleiben, ihm vertrauen, unser Leben nach seinem Evangelium ausrichten; wir wollen uns aus dem täglichen Gebet, dem Hören auf das Wort Gottes, der Teilnahme an den Sakramenten nähren.
Und hier komme ich zu einem zweiten Aspekt der Kirche als Leib Christi. Der hl. Paulus sagt: Wie die Glieder des menschlichen Leibes, obgleich es viele verschiedene sind, einen einzigen Leib bilden, so wurden wir alle in der Taufe durch den einen Geist in einen einzigen Leib aufgenommen (vgl. 1 Kor 12,12–13). In der Kirche gibt es also eine Vielfalt, eine Verschiedenheit der Aufgaben und Funktionen; es gibt keine platte Gleichförmigkeit, sondern den Reichtum der Gaben, die der Heilige Geist austeilt. Es gibt jedoch die Gemeinschaft und die Einheit: Alle stehen in Beziehung zueinander, und alle tragen dazu bei, einen einzigen lebendigen Leib zu bilden, der tief mit Christus verbunden ist. Behalten wir das gut in Erinnerung: Teil der Kirche zu sein bedeutet, mit Christus vereint zu sein und von ihm göttliches Leben zu empfangen, das uns als Christen leben lässt; es bedeutet, vereint zu bleiben mit dem Papst und den Bischöfen, die Werkzeuge der Einheit und der Gemeinschaft sind, und es bedeutet auch zu lernen, persönlichen Ehrgeiz und Spaltungen zu überwinden, einander besser zu verstehen, die Vielfalt und den Reichtum eines jeden in Einklang zu bringen: kurz gesagt, Gott und die Menschen um uns herum – in der Familie, in der Pfarrei, in den Vereinigungen – mehr zu lieben. Leib und Glieder müssen vereint sein, um zu leben! Die Einheit steht über den Konflikten, immer! Wenn Konflikte nicht gut gelöst werden, trennen sie uns voneinander, trennen sie uns von Gott. Der Konflikt kann uns helfen zu wachsen, aber er kann uns auch spalten. Gehen wir nicht auf dem Weg der Spaltungen, der Kämpfe untereinander! Alle vereint, alle vereint mit unseren Unterschieden, aber vereint, immer: Das ist der Weg Jesu. Die Einheit steht über den Konflikten. Die Einheit ist eine Gnade, um die wir den Herrn bitten müssen, auf dass er uns befreie von den Versuchungen der Spaltung, der Kämpfe untereinander, der Egoismen, des Geschwätzes. Wie viel Leid fügt das Geschwätz zu, wie viel Leid! Man darf sich nie über andere den Mund zerreißen, nie! Wie viel Schaden fügen die Spaltungen unter den Christen, die Parteilichkeit, die armseligen Eigeninteressen der Kirche zu!
Die Spaltungen unter uns, aber auch die Spaltungen zwischen den Gemeinschaften: evangelische Christen, orthodoxe Christen, katholische Christen – warum nur sind sie gespalten? Wir müssen versuchen, die Einheit herbeizuführen. Ich erzähle euch etwas: Bevor ich heute aus dem Haus gegangen bin, war ich etwa 40 Minuten, eine halbe Stunde mit einem evangelischen Pastor zusammen, und wir haben zusammen gebetet und die Einheit gesucht. Wir müssen als Katholiken untereinander und auch mit den anderen Christen beten: darum beten, dass der Herr uns die Einheit schenken möge, die Einheit untereinander. Wie sollen wir aber zur Einheit gelangen, wenn wir nicht in der Lage sind, sie unter uns Katholiken zu haben? Sie in der Familie zu haben? Wie viele Familien streiten und trennen sich! Strebt nach der Einheit, nach der Einheit, die die Kirche aufbaut. Die Einheit kommt von Jesus Christus. Er sendet uns den Heiligen Geist, um Einheit zu schaffen.
Liebe Brüder und Schwestern, wir wollen Gott bitten: Hilf uns, Glieder des Leibes der Kirche zu sein, die stets zutiefst mit Christus vereint sind; hilf uns, den Leib der Kirche nicht durch unsere Konflikte, unsere Spaltungen, unsere Egoismen leiden zu lassen; hilf uns, lebendige Glieder zu sein, die miteinander verbunden sind durch eine einzige Kraft: die Kraft der Liebe, die der Heilige Geist in unsere Herzen ausgießt (vgl. Röm 5,5).
GENERALAUDIENZ, 19.6.13
Liebe Brüder und Schwestern, guten Tag!
Im »Credo« sagen wir: »Ich glaube an die eine … Kirche.« Wir bekennen also, dass die Kirche eine einzige ist, und diese Kirche ist in sich selbst Einheit. Wenn wir aber die katholische Kirche in der Welt anschauen, dann entdecken wir, dass sie fast 3000 Diözesen umfasst, die über alle Kontinente verteilt sind: so viele Sprachen, so viele Kulturen! Hier sind Bischöfe aus vielen verschiedenen Kulturen, aus vielen Ländern. Der Bischof von Sri Lanka ist hier, der Bischof von Südafrika, ein Bischof aus Indien, es sind viele hier … Bischöfe aus Lateinamerika. Die Kirche ist über die ganze Welt verteilt! Und dennoch bilden die unzähligen katholischen Gemeinden eine Einheit.
Wie kann das geschehen?
1. Eine zusammenfassende Antwort finden wir im »Kompendium des Katechismus der Katholischen Kirche«, wo es heißt: Die über alle Welt verteilte katholische Kirche »hat nur einen Glauben, nur ein sakramentales Leben, nur eine apostolische Sukzession, eine gemeinsame Hoffnung und ein und dieselbe Liebe« (Nr. 161). Es ist eine schöne, klare Definition, sie gibt uns gute Orientierung.
Einheit im Glauben, in der Hoffnung, in der Liebe, Einheit in den Sakramenten, im Dienst: Es sind gleichsam Pfeiler, die den einen großen Bau der Kirche stützen und zusammenhalten. Wohin wir auch gehen, auch in der kleinsten Pfarrei, im entlegensten Winkel dieser Erde, dort ist die eine Kirche; dort sind wir zu Hause, sind wir in der Familie, sind wir unter Brüdern und Schwestern. Und das ist ein großes Geschenk Gottes! Die Kirche ist für alle nur eine. Es gibt nicht eine Kirche für die Europäer, eine für die Afrikaner, eine für die Amerikaner, eine für die Asiaten, eine für jene, die in Ozeanien leben – nein, sie ist überall dieselbe. Es ist wie in einer Familie: Man kann weit entfernt sein voneinander, in aller Welt verteilt, aber die tiefen Bindungen, die alle Familienmitglieder vereinen, bleiben fest, wie groß die Entfernung auch sein mag.
Ich denke zum Beispiel an die Erfahrung des Weltjugendtages in Rio de Janeiro: In jener unüberschaubaren Menge junger Menschen auf dem Strand der Copacabana hörte man viele Sprachen, sah man sehr unterschiedliche Gesichtszüge, begegnete man unterschiedlichen Kulturen, und dennoch war eine tiefe Einheit vorhanden, bildete man eine einzige Kirche, war man vereint, und das war zu spüren.
Fragen wir uns alle: Spüre ich als Katholik diese Einheit? Lebe ich als Katholik diese Einheit der Kirche? Oder interessiert sie mich nicht, weil ich in meiner kleinen Gruppe oder in mir selbst verschlossen bin? Gehöre ich zu jenen, die die Kirche für die eigene Gruppe, die eigene Nation, die eigenen Freunde »privatisieren«? Es ist traurig, eine Kirche vorzufinden, die »privatisiert« ist durch diesen Egoismus und diesen Mangel an Glauben. Es ist traurig! Wenn ich höre, dass viele Christen in der Welt leiden, ist mir das dann gleichgültig oder ist es, als leide jemand aus der Familie? Wenn ich daran denke oder höre, dass viele Christen verfolgt werden und sogar das Leben für ihren Glauben hingeben, berührt das mein Herz oder kommt es bei mir nicht an? Bin ich offen für jenen Bruder oder für jene Schwester der Familie, der oder die ihr Leben hingibt für Jesus Christus? Beten wir füreinander? Ich stelle euch eine Frage, aber antwortet nicht mit lauter Stimme, sondern nur im Herzen: Wie viele von euch beten für die verfolgten Christen? Wie viele? Jeder möge im Herzen antworten. Bete ich für jenen Bruder, für jene Schwester, die in Schwierigkeiten sind, weil sie ihren Glauben bekennen und verteidigen? Es ist wichtig, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, sich als Kirche zu fühlen, als die eine Familie Gottes!
2. Wir wollen einen weiteren Schritt tun und uns fragen: Gibt es Verletzungen dieser Einheit? Können wir diese Einheit verletzen? Leider sehen wir, dass wir im Laufe der Geschichte, auch jetzt, nicht immer die Einheit leben. Manchmal kommt es zu Unverständnis, Konflikten, Spannungen, Spaltungen, die sie verletzen, und dann hat die Kirche nicht das Antlitz, das wir möchten, offenbart sie nicht die Liebe, die Gottes Wille ist. Wir sind es, die Verletzungen verursachen! Und wenn wir auf die Spaltungen blicken, die es noch heute unter den Christen gibt – Katholiken, Orthodoxe, Protestanten … –, dann merken wir, wie schwer es ist, diese Einheit in ganzer Fülle sichtbar zu machen. Gott schenkt uns die Einheit, aber wir tun uns oft schwer, sie zu leben. Man muss die Gemeinschaft suchen, aufbauen, zur Gemeinschaft erziehen, zur Überwindung von Unverständnis und Spaltungen, angefangen bei der Familie, bei den kirchlichen Wirklichkeiten, auch im ökumenischen Dialog. Unsere Welt braucht Einheit, es ist eine Zeit, in der wir alle Einheit brauchen, Versöhnung, Gemeinschaft brauchen, und die Kirche ist das Haus der Gemeinschaft. Der hl. Paulus sagte zu den Christen in Ephesus: »Ich, der ich um des Herrn willen im Gefängnis bin, ermahne euch, ein Leben zu führen, das des Rufes würdig ist, der an euch erging. Seid demütig, friedfertig und geduldig, ertragt einander in Liebe und bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren durch den Frieden, der euch zusammenhält« (Eph 4,1–3).
Demut, Friedfertigkeit, Geduld, Liebe, um die Einheit zu wahren! Das, das sind die Wege, die wahren Wege der Kirche. Hören wir sie noch einmal. Demut gegen die Eitelkeit, gegen den Hochmut, Demut, Friedfertigkeit, Geduld, Liebe, um die Einheit zu wahren. Und weiter sagte Paulus: ein Leib, der Leib Christi, den wir in der Eucharistie empfangen; ein Geist, der Heilige Geist, der die Kirche beseelt und ständig erneuert; eine Hoffnung, das ewige Leben; ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller (vgl. Eph 4,4–6). Der Reichtum dessen, was uns vereint! Und das ist ein wahrer Reichtum: was uns vereint, nicht, was uns trennt. Das ist der Reichtum der Kirche! Jeder frage sich heute: Lasse ich die Einheit in der Familie, in der Pfarrei, in der Gemeinschaft wachsen, oder bin ich ein Schwätzer, eine Schwätzerin? Verursache ich Spaltung, Schwierigkeiten? Ihr wisst nicht, wie sehr das Geschwätz der Kirche, den Pfarreien, den Gemeinschaften schadet! Es schadet! Das Geschwätz fügt Wunden zu. Bevor ein Christ schwätzt, sollte er sich auf die Zunge beißen! Ja oder nein? Sich auf die Zunge beißen: Das wird uns gut tun, weil die Zunge anschwillt, und er nicht sprechen und nicht schwätzen kann. Habe ich die Demut, mit Geduld, mit Opferbereitschaft die Wunden der Gemeinschaft zu heilen?
3. Abschließend der letzte Schritt zur Vertiefung. Und das ist eine schöne Frage: Wer ist die Triebkraft dieser Einheit der Kirche? Es ist der Heilige Geist, den wir alle in der Taufe und auch im Sakrament der Firmung empfangen haben. Es ist der Heilige Geist. Unsere Einheit ist nicht in erster Linie Frucht unseres Konsenses oder der Demokratie innerhalb der Kirche oder unserer Bemühungen, uns zu einigen, sondern sie kommt von ihm, der Einheit in der Vielfalt schafft, denn der Heilige Geist ist Eintracht, er bewirkt immer Harmonie in der Kirche. Es ist eine harmonische Einheit in einer großen Vielfalt aus Kulturen, Sprachen und Denkweisen. Der Heilige Geist ist die Triebkraft. Deshalb ist das Gebet wichtig. Es ist die Seele unseres Bemühens als Männer und Frauen der Gemeinschaft, der Einheit – das Gebet zum Heiligen Geist, auf dass er kommen und in der Kirche Einheit schaffen möge.
Bitten wir den Herrn: Herr, gib, dass wir immer mehr vereint seien, dass wir nie Werkzeuge der Spaltung sind; gib, dass wir uns bemühen, wie es in einem schönen franziskanischen Gebet heißt, Liebe zu üben, wo man hasst, zu verzeihen, wo man beleidigt, zu verbinden, wo Streit ist. So sei es.
GENERALAUDIENZ, 25.9.13