Virginia Vallejo ist auf dem Höhepunkt ihrer Fernsehkarriere, als sie Pablo Escobar kennenlernt. Der Drogenbaron bemüht sich gerade um einen Sitz im kolumbianischen Parlament, und Virginia unterstützt seine Ambitionen durch TV-Berichte. Zwischen der glamourösen Fernsehmoderatorin und dem verheirateten Schwerverbrecher entwickelt sich eine Liebesaffäre im Mahlstrom aus Dschungel, Koks und High Society. Virginia erlebt fünf Jahre lang die Machenschaften der Kartelle hautnah mit und blickt ins Zentrum des Narco-Terrorismus, bis sie sich für immer von Escobar verabschieden muss …
Virginia Vallejo war in den Achtzigern die bekannteste Fernsehmoderatorin Kolumbiens. Damals begann auch ihre Liebesbeziehung mit Pablo Escobar Gaviria, für die sie in den folgenden Jahren einen hohen Preis zahlte, der ihre Karriere beendete. Im Juli 2006 sagte Vallejo gegen den Politiker Alberto Santofimio aus, den sie beschuldigte, den Mord am Präsidentschaftskandidaten Luis Carlos Galán in Auftrag gegeben zu haben.
VIRGINIA VALLEJO
ICH LIEBTE
PABLO
UND HASSTE
ESCOBAR
Ein Gangster, eine Diva und die
wahre Geschichte einer unmöglichen Liebe
Aus dem Spanischen von
Andreas Simon dos Santos
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2007 by Virginia Vallejo
Titel der spanischen Originalausgabe: »AMANDO A PABLO, ODIANDO A ESCOBAR«
Originalverlag: Random House Mondadori, 2007
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Corinna Santa Cruz, Frankfurt am Main
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung von Motiven
von © getty-images: Eric VANDEVILLE; © Rafael Moure
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-4951-1
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Meinen Toten,
den Helden und Schurken.
Wir sind alle eins,
eine einzige Nation.
Nur ein Atom
das ewig wiederkehrt
seit jeher und auf immer.
Es ist der 18. Juli 2006 um sechs Uhr morgens. Gestern Abend hatte mich der für meinen Schutz verantwortliche Sicherheitschef der Botschaft vor verdächtigen Personen auf der anderen Seite des Parks gegenüber meinem Gebäude gewarnt und mir geraten, mich auf keinen Fall den Fenstern zu nähern oder jemandem die Tür zu öffnen. Heute nun holen mich drei gepanzerte Limousinen der amerikanischen Botschaft vom Apartment meiner Mutter in Bogotá ab, um mich zum Flughafen zu bringen. Dort wartet eine Maschine mit laufenden Motoren auf mich, die mich zu einem Zielort in den Vereinigten Staaten ausfliegen wird. Ein Fahrzeug mit schwerbewaffneten Personenschützern fährt mit hoher Geschwindigkeit voraus, ein weiteres folgt uns. Bereits eine Stunde zuvor hat ein Auto meine mir wichtigsten Besitztümer zum Flughafen gebracht. Das Auto gehört Antonio Galán Sarmiento, Präsident des Stadtrats von Bogotá und Bruder des kolumbianischen Präsidentschaftskandidaten Luis Carlos Galán, der im August 1989 auf Befehl des Chefs des Medellín-Kartells, Pablo Escobar Gaviria, ermordet wurde.
Escobar, mein ehemaliger Liebhaber, wurde am 2. Dezember 1993 erschossen. Beinahe anderthalb Jahre machte man Jagd auf ihn, und um ihn schließlich zur Strecke zu bringen, bedurfte es einer Belohnung von fünfundzwanzig Millionen Dollar und einer halben Armee von Verfolgern: ein eigens dafür ausgebildetes Kommando der kolumbianischen Polizei, achttausend weitere Angehörige der Sicherheitsbehörden des Staates, paramilitärische Gruppen, rivalisierende Drogenkartelle, Dutzende von Agenten der US-Drogenbehörde DEA, des FBI und der CIA sowie Kämpfer zweier Spezialeinheiten der US-Armee, der Navy Seals und der Deltatruppe, Flugzeuge der US-Regierung mit speziellem Radar und Geld von einigen der reichsten Männer Kolumbiens.
Vor zwei Tagen habe ich in der Tageszeitung El Nuevo Herald mit Sitz in Miami schwere Vorwürfe gegen den kolumbianischen Ex-Senator, Ex-Justizminister und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Alberto Santofimio Botero erhoben. Ich habe ihm vorgeworfen, als Mittler zwischen den großen Drogenbossen und den kolumbianischen Präsidenten agiert zu haben und Anstifter zum Mord an Luis Carlos Galán gewesen zu sein. Die Zeitung widmete meiner Geschichte ein Viertel ihrer Titelseite und eine ganze Seite im Inneren.
Álvaro Uribe Vélez, der gerade mit über siebzig Prozent der Stimmen zum kolumbianischen Präsidenten wiedergewählt wurde, wird am 7. August sein Amt antreten. Nachdem ich dem kolumbianischen Generalstaatsanwalt angeboten hatte, im laufenden Prozess gegen Santofimio auszusagen, stellte der zuständige Richter das Verfahren, das eigentlich noch zwei Monate dauern sollte, abrupt ein. Daraufhin trat der kolumbianische Botschafter in Washington (selbst ehemaliger Präsident des Landes) aus Protest von seinem Amt zurück. Uribe musste die Ernennung eines weiteren Ex-Präsidenten zum Botschafter in Frankreich zurückziehen und eine neue Außenministerin benennen, um die für den Posten vorgesehene Kandidatin zur neuen Botschafterin in Washington küren zu können.
Die Regierung der Vereinigten Staaten ist sich nur zu gut der Gefahr bewusst, dass ich, wie der andere der beiden einzigen Zeugen im Fall Santofimio, in den nächsten Tagen ermordet werden könnte, falls sie mir keinen Schutz gewährt. Damit wäre nicht nur die Aufklärung einiger der grauenvollsten Verbrechen der jüngsten kolumbianischen Geschichte sehr erschwert, es würden auch wertvolle Informationen darüber verloren gehen, wie der Drogenhandel die höchsten, vor Strafverfolgung am besten geschützten Ebenen der Macht durchdrungen hat, von den Medien über die Gerichte, die Politik und das Militär bis hin zum Präsidenten.
Beamte der amerikanischen Botschaft stehen vor der Gangway des Flugzeugs, um die Koffer und Kisten an Bord zu bringen, die ich in den wenigen Stunden mit Hilfe einiger Freunde packen konnte. Sie werfen mir neugierige Blicke zu, als würden sie sich fragen, warum eine erschöpft wirkende Frau mittleren Alters ein solches Interesse der Medien und jetzt auch ihrer Regierung auf sich zieht. Mir stellt sich ein zwei Meter großer Mann in Hawaiihemd vor. Er nennt sich David C. und ist Special Agent der US-Drogenbehörde. David hat den Auftrag, mich bis auf amerikanischen Boden zu begleiten und schildert mir den Ablauf: Unsere zweimotorige Maschine wird in sechs Stunden Guantánamo erreichen, die US-amerikanische Militärbasis auf Kuba; nach einem einstündigen Zwischenstopp zum Auftanken werden wir nach zwei weiteren Flugstunden in Miami eintreffen.
Ich habe keine Ruhe, bis ich im Heck des Flugzeugs die beiden Kisten mit den Beweisen der Straftaten sehe, die von den Angeklagten Thomas und Dee Mower in Kolumbien begangen wurden. Sie sind Eigentümer der Firma Neways International in Springville im US-Bundesstaat Utah, einem multinationalen Unternehmen, gegen das ich 1998 eine Klage mit einem geschätzten Streitwert von dreißig Millionen Dollar eingereicht habe. Obwohl ein US-Richter die Mower-Brüder in nur acht Tagen für einen Bruchteil der Straftaten schuldig gesprochen hat, die ich seit acht Jahren vor der kolumbianischen Justiz zu beweisen versuche, stieß ich mit meinem Angebot zur Kooperation, das ich an das US-Justizministerium in Washington und fünf Attachés des US-Finanzamts in der amerikanischen Botschaft in Bogotá richtete, auf heftigen Widerstand. Als die Pressestelle der Botschaft von meinen Anrufen bei den US-Justiz- und Steuerbehörden und dem FBI erfuhr, drohte sie, jegliche Kommunikation mit den amerikanischen Regierungsvertretern zu unterbinden.
Diese Vorgänge haben nichts mit den Mower-Brüdern zu tun, sondern mit Pablo Escobar: In der Botschaft arbeitet ein ehemaliger sehr enger Mitarbeiter von Francisco Santos, dem Vizepräsidenten der Republik, dessen Familie das Verlagshaus El Tiempo gehört. Mitarbeiter des Printmedienkonzerns, der kurz vor dem Verkauf an eine der führenden spanischsprachigen Verlagsgruppen steht, besetzen ein Viertel der Kabinettsposten der Regierung von Álvaro Uribe, wodurch der Konzern sich den Löwenanteil der Werbeaufträge des Staates sichert, dem größten Anzeigenkunden Kolumbiens. Ein anderes Mitglied der Familie, Juan Manuel Santos, wurde gerade zum Verteidigungsminister ernannt mit dem Auftrag, die Flotte der kolumbianischen Luftwaffe zu erneuern. Diese außerordentliche Großzügigkeit des Staates gegenüber einer einzigen Familie aus dem Mediengeschäft sichert der Regierung von Álvaro Uribe nicht nur die bedingungslose Unterstützung der wichtigsten Tageszeitung des Landes, sondern garantiert auch deren absolutes Stillschweigen über die zwielichtige Vergangenheit des Präsidenten selbst. Es ist eine Vergangenheit, die der Regierung der Vereinigten Staaten bereits bekannt ist, und auch ich bin damit bestens vertraut.
Fast neun Stunden nach unserer Abreise treffen wir in Miami ein. Langsam machen mir die Bauchschmerzen Sorgen, die mich seit einem Monat begleiten und sich stündlich verschlimmern. Ich war seit sechs Jahren nicht mehr bei einem Arzt, weil mich Thomas Mower um die gesamten Gelder geprellt hat, die mir als Leiterin seiner Südamerikavertretung zustehen.
Ich wohne in einem unpersönlich eingerichteten, großen Hotelzimmer. Kurz nach meinem Eintreffen macht mir ein Dutzend Beamte der US-Drogenbehörde seine Aufwartung. Sie beäugen mich neugierig, während sie den Inhalt meiner sieben Gucci- und Vuitton-Koffer voller alter Kleider von Valentino, Chanel, Armani und Saint Laurent und die kleine Sammlung von Stichen untersuchen, die seit beinahe dreißig Jahren mein Eigen ist. Ich werde, wie sie mir mitteilen, in den kommenden Tagen eine Reihe ihrer Vorgesetzten treffen sowie den Staatsanwalt Richard Gregorie, um über Gilberto und Miguel Rodríguez Orejuela auszusagen, die Bosse des Cali-Kartells. Der Prozess gegen die Erzfeinde von Pablo Escobar, den derselbe Staatsanwalt führt, der die Verurteilung des panamaischen Diktators General Manuel Antonio Noriega erreichte, soll in wenigen Wochen vor einem Gericht in Florida eröffnet werden. Im Falle eines Schuldspruchs wird der US-amerikanische Staat vom Gericht nicht nur »lebenslänglich« oder eine vergleichbare Strafe fordern, sondern auch das Vermögen der beiden Drogenbosse einziehen können: mehr als zwei Milliarden Dollar, die bereits eingefroren sind. In meinem höflichsten Ton bitte ich die Beamten um eine Aspirin und eine Zahnbürste, doch ich müsse mir beides kaufen, sagen sie. Als ich ihnen erkläre, dass mein ganzes Kapital auf dieser Welt aus zwei 25-Cent-Stücken besteht, besorgen sie mir eine winzige Zahnbürste, wie man sie im Flugzeug geschenkt bekommt.
»Ist anscheinend schon lange her, dass Sie in einem amerikanischen Hotel übernachtet haben …«
»Das ist wohl wahr. In meinen Suiten im Pierre in New York und in den Bungalows des Bel Air in Beverly Hills gab es immer Aspirin und Zahnbürsten. Und Dutzende von Rosen und Champagner Rosé!«, antworte ich mit einem sehnsuchtsvollen Seufzer. »Jetzt bin ich dank zweier Angeklagter in Utah so arm, dass eine schlichte Aspirin für mich ein Luxusartikel ist.«
»Die Hotels hierzulande haben kein Aspirin mehr, es ist ein Arzneimittel und muss vom Arzt verschrieben werden. Und Sie wissen ja sicher, was für Unsummen die hier kosten. Wenn Ihnen der Kopf brummt, versuchen Sie, es auszuhalten und zu schlafen. Sie werden sehen, morgen sind die Schmerzen wie weggeblasen. Vergessen Sie nicht, wir haben Ihnen gerade das Leben gerettet. Aus Sicherheitsgründen dürfen Sie das Zimmer nicht verlassen und mit niemand sprechen, besonders nicht mit der Presse. Und das schließt die Journalisten des Miami Herald ein. Die Regierung der Vereinigten Staaten kann Ihnen noch nichts versprechen. Von jetzt ab hängt alles von Ihnen ab.«
Ich bedanke mich bei den Beamten: Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, ich wüsste sowieso nicht, wo ich hingehen sollte. Ich erinnere sie daran, dass ich selbst angeboten habe, bei verschiedenen Gerichtsverfahren auszusagen, in Kolumbien ebenso wie in den USA, bei Prozessen von enormer Tragweite.
David, der Agent von der US-Drogenbehörde, und die anderen ziehen sich zurück, um die Agenda für den nächsten Tag zu besprechen.
»Sie sind kaum angekommen und stellen schon Forderungen an die amerikanische Regierung?«, tadelt mich Nguyen, der Polizist, der bei mir im Zimmer geblieben ist.
»Ja, weil ich schreckliche Bauchschmerzen habe. Und weil ich weiß, dass ich für Ihre Regierung von doppeltem Nutzen sein kann. Diese zwei Kisten da enthalten Beweise über die kolumbianisch-mexikanische Seite eines Betrugs am amerikanischen Fiskus, den ich auf Hunderte von Millionen Dollar schätze. Nach dem Tod von allen Zeugen und der Zahlung von dreiundzwanzig Millionen Dollar wurde die Sammelklage der russischen Opfer von Neways International zurückgezogen. Stellen Sie sich nur mal vor, was für Dimensionen der Betrug von Vertriebspartnern der Firma und der Finanzbehörden in Dutzenden von Ländern haben dürfte!«
»Steuerhinterziehung in Übersee geht uns nichts an. Wir sind bei der Drogenfahndung.«
»Wenn ich Ihnen also das Versteck von zehn Kilo Kokain verrate, besorgen Sie mir eine Aspirin, richtig?«
»Sie scheinen nicht zu verstehen, dass wir nicht vom Finanzamt oder vom FBI des Staates Utah sind, sondern von der Drogenbehörde des Staates Florida. Und verwechseln Sie nicht die Drogenbehörde mit einer Apotheke, Virginia!«
»Aber eins habe ich schon kapiert, Nguyen: dass der Prozess USA gegen Rodríguez Orejuela so ungefähr zweihundert Mal größer wird als das jetzige Verfahren USA gegen Mower!«
Als die Drogenbeamten zurückkommen, erzählen sie, dass alle Fernsehkanäle über meine Abreise aus Kolumbien berichten. Ich habe in den letzten vier Tagen fast zweihundert Interview-Anfragen aus aller Welt abgelehnt. Es interessiert mich wirklich nicht, was sie über mich berichten. Ich bitte sie, den Fernseher auszuschalten: Ich habe seit elf Tagen nicht geschlafen, kaum etwas gegessen und möchte mich nur ein paar Stunden ausruhen, um ihnen am nächsten Tag jede erdenkliche Kooperation anbieten zu können.
Als ich endlich allein bin mit dem ganzen Gepäck und diesem heftigen Schmerz als einzigem Begleiter, bereite ich mich geistig auf etwas weit Ernsteres vor als eine mögliche Blinddarmentzündung. Ein ums andere Mal frage ich mich, ob die Regierung der Vereinigten Staaten wirklich mein Leben gerettet hat oder ob diese Beamten der Drogenbehörde womöglich vorhaben, mich wie eine Zitrone auszuquetschen, um mich dann wieder nach Kolumbien zurückzuschicken. Sie könnten einfach sagen, dass meine Informationen über Rodríguez Orejuela aus der Zeit vor 1997 stammen und Utah ein anderer Bundesstaat ist. Sollte ich auf kolumbianisches Territorium zurückkehren, das ist mir völlig klar, werden alle Leute, die Leichen im Keller haben, an mir ein Exempel statuieren wollen. Am Flughafen werden mich Angehörige der Sicherheitskräfte erwarten mit irgendeinem vom Verteidigungsministerium oder von den Sicherheitsbehörden ausgestellten »Haftbefehl«. Sie werden mich in eine Geländelimousine mit abgetönten Scheiben verfrachten, und dann, wenn alle mit mir fertig sind, werden die Medien der mit den Kartellen verflochtenen oder in Diensten des wiedergewählten Staatsführers stehenden kolumbianischen Präsidentenfamilien die Schuld an meiner Folter und meinem Tod, oder an meinem spurlosen Verschwinden, den Brüdern Rodríguez Orejuela anlasten oder den von Pablo Escobar verfolgten »Pepes« oder gar dessen eigener Ehefrau.
Nie habe ich mich einsamer, kränker oder ärmer gefühlt. Es steht außer Frage: Wenn man mich nach Kolumbien zurückschickt, werde ich nicht die erste und auch nicht die letzte Person sein, die ermordet wird, weil sie der amerikanischen Botschaft in Bogotá ihre Zusammenarbeit angeboten hat. Immerhin war meine Abreise aus dem Land in einem Flugzeug der US-Drogenbehörde offenbar aller Welt eine Nachricht wert, was bedeutet, dass ich viel sichtbarer bin als andere Leute wie zum Beispiel César Villegas alias El Bandi oder Pedro Juan Moreno, die beiden Personen, die am besten die Vergangenheit des Präsidenten kannten und beide ermordet wurden. Daher fasse ich einen Entschluss: Ich werde es nicht zulassen, dass mir irgendeine Regierung oder irgendein Krimineller ein Schicksal bereitet wie Carlos Aguilar alias El Mugre, der umgebracht wurde, nachdem er gegen Santofimio ausgesagt hatte. Und ich will nicht dasselbe Schicksal erleiden wie die Ehefrau von Guillermo Pallomari, dem Buchhalter der Orejuela-Brüder, die ermordet wurde, nachdem ihr Mann in einem Flugzeug der US-Drogenbehörde in die Vereinigten Staaten ausgereist war, um auszusagen, obwohl sie sich unter höchstem Sicherheitsschutz der kolumbianischen Staatsanwaltschaft befand.
Und noch etwas weiß ich mit Gewissheit: Anders als einige der genannten Personen, die alle in Frieden ruhen mögen, habe ich nie ein Verbrechen begangen. Abertausende von Toten wie sie gemahnen mich jedoch, dass ich die Pflicht habe zu überleben. Ich weiß nicht, sage ich mir selbst, wie ich es anstellen werde, aber ich werde nicht zulassen, dass man mich ermordet, und ich werde auch nicht einfach so sterben.
»Jede Liebe ist eine Tragödie …
wahre Liebe leidet und schweigt.«
Oscar Wilde
Mitte 1982 gab es in Kolumbien verschiedene Guerillagruppen, alle entweder Marxisten oder Maoisten und begeisterte Bewunderer des kubanischen Modells. Sie lebten von Subventionen der Sowjetunion, der Entführung von Personen, die sie für reich hielten, und vom Diebstahl des Viehs der Großgrundbesitzer. Die wichtigste Gruppe unter ihnen bildeten die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, kurz FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia). Die FARC waren aus den gewaltsamen Konflikten der Fünfzigerjahre hervorgegangen, eine Zeit derart grenzenloser Grausamkeit und Bestialität, dass man sich bei ihrer Beschreibung schämt, der menschlichen Spezies anzugehören. Die Nationale Befreiungsarmee ELN (Ejército de Liberación Nacional) hatte zahlreiche Minderjährige in ihren Reihen; sie löste sich später auf und verwandelte sich in eine politische Partei. 1984 entstand die nach einem berühmten Führer der Ureinwohner benannte Bewegung Quintín Lame (Movimiento Armado Quintín Lame, MAQL).
Und dann gab es da noch die Bewegung des 19. April (Movimiento 19 de Abril), kurz M-19, die für ihre spektakulären, filmreifen Anschläge bekannt war und sich aus einer eklektischen Mischung aus Akademikern, gut ausgebildeten Menschen, Intellektuellen und Künstlern, Bürgerkindern und Militärs sowie harten Kämpfern zusammensetzte, die im Guerillajargon troperos (»Herdenführer«) genannt werden. Im Gegensatz zu den übrigen Guerillagruppen, die auf dem Land und im Urwald operierten, der beinahe die Hälfte des kolumbianischen Territoriums einnimmt, war der M-19 ausgesprochen städtisch und zählte bemerkenswerte Frauen zu seinen Führungskadern, die ebenso publizitätssüchtig waren wie ihre männlichen Kameraden.
Im Gefolge der Operation Condor – einer Geheimdienstkooperation vieler lateinamerikanischer Staaten zur Unterdrückung und Ermordung linker Oppositioneller von Ende der 1960er bis Ende der 1980er Jahre – galten in Kolumbien bei der Guerillabekämpfung einfache Regeln: Wenn irgendein Mitglied einer dieser Gruppierungen in die Hände des Militärs oder anderer Sicherheitskräfte des Staates fiel, wurde es eingesperrt und häufig umstandslos zu Tode gefoltert, ohne je einen Richter zu Gesicht zu bekommen. Fiel umgekehrt eine wohlhabende Person in die Gewalt einer Guerillagruppe, kam sie nicht frei, ehe die Familie Lösegeld gezahlt hatte, häufig erst nach jahrelangen Verhandlungen. Wer nicht zahlte, musste sterben, und seine sterblichen Überreste wurden selten gefunden, was, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bis heute gilt. Alle Kolumbianer der gehobenen Schichten kennen unter ihren Freunden, Angehörigen und Beschäftigten über ein Dutzend Entführte: solche, die gesund und unversehrt nach Hause zurückkehrten, und solche, die für immer verschwanden. Letztere unterteilen sich in diejenigen, deren Familien die Mittel fehlten, um die Forderungen der Entführer zu erfüllen, in jene, für die das saftige Lösegeld zwar entrichtet wurde, die jedoch trotzdem nie freigelassen wurden, sowie in diejenigen, für deren Leben niemand das über Generationen oder auch nur in einer Lebensspanne ehrlicher Arbeit angehäufte Erbe hergeben wollte.
Den Kopf an Aníbals Schulter gelehnt, bin ich eingeschlafen und wache abrupt auf, als die Maschine mit dem zweifachen Hüpfer, den Leichtflugzeuge bei der Landung machen, auf der Piste aufsetzt. Aníbal streichelt meine Wange und hält mich sanft am Arm zurück, als ich aufstehen will, um mir zu bedeuten, besser sitzen zu bleiben. Er zeigt aus dem Fenster, und ich kann nicht glauben, was ich draußen sehe: Zu beiden Seiten der Landepiste ist je ein Dutzend junge Männer postiert, manche tragen dunkle Sonnenbrillen, andere blinzeln mit gerunzelter Stirn in die Nachmittagssonne. Sie umringen das kleine Flugzeug und richten, mit dem Gesichtsausdruck von Leuten, die es gewohnt sind, zuerst zu schießen und dann die Fragen zu stellen, ihre Maschinengewehre auf uns. Andere stehen halbverdeckt im Dickicht, zwei von ihnen spielen sogar mit ihren Uzi-Maschinenpistolen wie unsereins mit den Autoschlüsseln. Ich muss die ganze Zeit daran denken, was wohl passieren würde, wenn eine der Waffen zu Boden fallen und mit sechshundert Schuss pro Minute losrattern würde. Die Männer, alle sehr jung, tragen bequeme, modische Kleidung: bunte Polohemden, Jeans und importierte Turnschuhe. Keiner von ihnen hat eine Uniform oder einen Tarnanzug an.
Während das kleine Flugzeug über die Piste rollt, rechne ich mir schon aus, welchen Wert wir wohl alle zusammen für eine Guerillagruppe haben könnten. Mein Verlobter ist der Neffe des früheren Präsidenten Julio César Turbay, dessen Regierung (1978–1982) mit massiver militärischer Repression gegen die aufständischen Gruppen vorging, besonders den M-19, dessen Führungsebene zum Großteil im Gefängnis gelandet ist. Aber Belisario Betancur, der gerade ins Amt gekommene Präsident, hat allen Aufständischen, die sich seinem Friedensprozess anschließen, Freiheit und Amnestie versprochen. Mein Blick wandert zu Aníbals Kindern, und das Herz zieht sich mir zusammen: Der elfjährige Juan Pablo und die neunjährige Adriana sind jetzt die Stiefkinder des zweitreichsten Mannes von Kolumbien: Carlos Ardila Lülle, Herr über alle Abfüllwerke von Sprudelgetränken des Landes. Dann sind da die Freunde, die uns begleiten: Olguita Suárez, die in einigen Wochen den sympathischen spanischen Liedermacher Rafael Urraza heiraten wird, der den Ausflug organisiert hat, ist die Tochter eines Viehmillionärs von der Atlantikküste, ihre Schwester ist mit Felipe Echavarría Rocha verlobt, Spross einer der wichtigsten Industriellendynastien Kolumbiens. Nano und Ethel sind Dekorateure und Kunsthändler, Ángela ist ein Topmodel, und ich bin eine der bekanntesten Fernsehmoderatorinnen des Landes. Mir ist klar: Wenn wir in die Hände der Guerilla fallen, wird sie alle Flugzeuginsassen nach ihrer speziellen Definition samt und sonders als »Oligarchen« und folglich als secuestrables (entführbar) einstufen, ein ebenso typisch kolumbianisches Wort wie narcos (Drogenhändler).
Aníbal ist verstummt und ungewöhnlich blass. Ich überhäufe ihn mit einem Schwall Fragen, ohne eine Antwort abzuwarten: »Woher wusstest du eigentlich, dass dies wirklich das Flugzeug ist, das uns abholen sollte? Ist dir nicht klar, dass die uns jetzt wahrscheinlich entführen? Wie viele Monate werden sie uns wohl festhalten, wenn sie erfahren, wer die Mutter deiner Kinder ist? Die sehen gar nicht wie arme Guerillakämpfer aus: Schau dir nur mal ihre Waffen und Turnschuhe an! Warum hast du mir nicht gesagt, dass ich meine Turnschuhe mitbringen soll? Diese Entführer werden mich in italienischen Sandalen und ohne meinen Strohhut durch den ganzen Dschungel schleifen! Warum hast du mich nicht in Ruhe meine Tropenkleidung einpacken lassen? Und warum nimmst du eigentlich Einladungen von unbekannten Leuten an? Die Leibwächter der Leute, die ich kenne, richten jedenfalls keine Maschinengewehre auf die Gäste! Wir sind in eine Falle getappt, weil das Kokain dir den Realitätssinn vernebelt! Wenn wir hier je wieder heil herauskommen, werde ich dich nicht heiraten, weil du von dem Zeug einen Herzinfarkt kriegst, und ich will nicht als deine Witwe enden!«
Aníbal Turbay ist groß, schön und ein Freigeist, zärtlich bis zur Ermüdung und großzügig mit seinen Worten, seiner Zeit und seinem Geld, obwohl er kein Multimillionär ist wie alle meine Exverlobten. Er wird ebenso von seinem buntgemischten Freundeskreis bewundert – darunter der Schatzsucher Manolito de Arnaude – wie von Hunderten von Frauen, deren Leben sich in »vor Aníbal« und »nach Aníbal« teilt. Sein einziger Fehler ist seine unheilbare Sucht nach dem weißen Nasenpulver. Ich finde es abstoßend, er dagegen vergöttert es noch mehr als seine Kinder, als mich, als das Geld, als alles andere. Bevor der Arme auf meine Schimpfkanonade antworten kann, öffnet sich die Tür des Flugzeugs und ein verführerischer Schwall Tropenluft flutet herein, der davon kündet, dass wir im heißen Teil dieses Landes ohne Jahreszeiten angekommen sind, der Tierra Caliente.
Zwei der bewaffneten Männer kommen an Bord, und als sie unsere perplexen Gesichter sehen, ruft einer von ihnen: »Himmel! Sie werden es nicht glauben: Wir hatten ein paar Käfige mit einem Panther und mehreren Tigern erwartet, aber die wurden wohl mit einem anderen Flugzeug geschickt. Wir bitten vielmals um Entschuldigung. Wie peinlich, vor den Damen und den Kindern … Wenn der Boss das erfährt, bringt er uns um!«
Die Hazienda besitzt, wie sie uns erklären, einen großen Zoo, und offenkundig wurde das Flugzeug mit den Gästen mit dem Transportflugzeug mit den wilden Tieren verwechselt. Während die Männer sich mit Entschuldigungen überschlagen, steigen die Piloten aus, mit der gleichgültigen Miene von Leuten, die Fremden keine Erklärungen schuldig sind, da ihre Aufgabe in der Einhaltung des Flugplans besteht und nicht in der Prüfung der Fracht.
Drei Jeeps stehen für uns bereit, um uns zur Hazienda zu fahren. Ich setze Sonnenbrille und Safarihut auf, steige aus dem Flugzeug und betrete, ohne es zu ahnen, den Boden, der mein Leben für immer verändern wird. Wir steigen in die Fahrzeuge, und als Aníbal seinen Arm um meine Schulter legt, werde ich ruhig und nehme mir vor, jede verbleibende Minute unseres Ausflugs auszukosten.
»Was für ein wunderschöner Ort!«, flüstere ich ihm zu und zeige auf zwei Reiher, die sich an einem fernen Ufer in die Luft erheben. »Und so weitläufig … Ich glaube, die Reise hierher hat sich gelohnt …«
Versonnen und in völligem Schweigen betrachten wir die herrliche Szenerie. Wasser und Himmel scheinen sich bis ans Ende des Horizonts zu erstrecken. Mich durchströmt ein Schwall von Glück. Aus einer Hütte in der Ferne tönen die Noten des Lieds »Caballo viejo« von Simón Díaz herüber, gesungen von der unverwechselbaren Stimme von Roberto Torres, diese Hymne der venezolanischen Ebene, die sich die reiferen Männer auf dem ganzen Kontinent zu eigen gemacht haben, um sie jungen Frauen ins Ohr zu säuseln, wenn sie ihre Zügel schießen lassen wollen in der Hoffnung, dass die Angebetete es ihnen gleichtut. »Wenn die Liebe so daherkommt, in dieser Weise, bemerkt man es nicht einmal …«, trällert der Sänger und berichtet von der Heldentat des alten Zuchthengstes. »Wenn die Liebe so daherkommt, in dieser Weise, trifft einen keine Schuld …«, rechtfertigt sich der Viehhirte, um schließlich das ganze Menschengeschlecht aufzufordern, seinem Beispiel zu folgen, »denn nach diesem Leben gibt es keine weitere Gelegenheit«. Und er singt es in einem Ton, der so mit Volksweisheit gesättigt ist wie mit rhythmischen Kadenzen, Verschworene eines lauen Lüftchens voller Verheißung.
So glücklich und trunken bin ich von diesem Spektakel, dass ich neugierig auf den Namen, das Leben und die Taten unseres Gastgebers werde. Der Besitzer von alldem muss wohl einer von diesen alten Politikern mit Silbermähne sein, mit massenhaft Geld und Gespielinnen, einer, der sich für den »König des Volkes« hält. Ich lehne meinen Kopf wieder an die Schulter Aníbals, diesen hochgewachsenen Hedonisten, dessen Liebe zum Abenteuer nun mit ihm verloschen ist, nur wenige Wochen, bevor ich meine Kräfte sammeln konnte, um diese Geschichte zu erzählen, gewebt aus Augenblicken, die in meiner Erinnerung gefroren sind, und bevölkert von Mythen und Ungeheuern, die niemals wieder auferstehen dürfen.
Obwohl die Villa riesig ist, fehlt ihr die Ausstattung der großen Haziendas, der traditionellen Gutshöfe Kolumbiens. Dort sieht man gewöhnlich eine Kapelle, die Reitbahn oder den Tennisplatz, die Pferde, die englischen Reitstiefel oder die Rassehunde, die antiken Silberwaren oder Kunstwerke des 18., 19. und 20. Jahrhunderts, die Ölgemälde von Jungfrauen und Heiligen oder vergoldete Holzfriese über den Türen, Säulen aus der Kolonialzeit oder die bemalten Krippenfiguren der Vorfahren, bemalte Truhen oder Perserteppiche in allen Größen, handbemaltes französisches Porzellan oder Tischdecken mit Nonnenborte oder die Rosen oder Orchideen der stolzen Dame des Hauses.
Hier sieht man auch nirgendwo die devoten Diener der reichen Gutshäuser meines Landes, die fast immer zusammen mit dem Grund und Boden vererbt werden, geduldige, resignierte Menschen von ungeheurer Sanftheit, die im Laufe von Generationen gelernt haben, die Sicherheit höher zu schätzen als die Freiheit. Jene zahnlosen, aber immer lächelnden Bauern in Ruana, einem kurzen Poncho aus brauner Wolle, die auf jede Bitte ohne Zögern reagieren und sich den Hut mit einer tiefen Verbeugung abnehmen: »Ich eile, Euer Gnaden«; »Euleuterio González zu Befehl, um Euer Gnaden in allem zu dienen, was Euer Gnaden beliebt!« Solche Diener alten Schlags haben noch nie davon gehört, dass es im Rest der Welt so etwas wie Trinkgeld gibt, doch sind sie heute beinahe ausgestorben, weil die Guerilleros ihnen beigebracht haben, dass eines nicht allzu fernen Tages, nach dem Sieg der Revolution, auch sie Land und Vieh, Waffen und Drinks und Frauen wie die der Gutsherren besitzen werden, hübsche Dinger ohne Krampfadern.
Die Zimmer der Hazienda liegen an einem langen Korridor und sind spartanisch eingerichtet: zwei Betten, ein Nachttisch mit Aschenbecher aus örtlicher Keramik, eine Allerweltslampe und Fotos vom Anwesen. Gott sei Dank gibt es in unserem privaten Badezimmer auch warmes Wasser, anders als in beinahe allen Gutshäusern der Tierra Caliente. Die endlose Terrasse ist mit Dutzenden von Tischen mit Sonnenschirmen und Hunderten von weißen, wetterfesten Stühlen übersät. Die Dimensionen der Gesellschaftsräume – so geräumig wie in jedem der Clubes Campestres, der »Landclubs« Kolumbiens – lassen nicht den geringsten Zweifel aufkommen, dass die Villa für große Empfänge mit Hunderten von Gästen entworfen wurde, und aus der Zahl der Gästezimmer schließen wir, dass hier an den Wochenenden wohl Dutzende von Geladenen beherbergt werden.
»Wie müssen erst die Feste hier sein!«, raunen wir uns zu. »Sicher engagieren sie dafür den König der Vallenato-Musik mit etlichen von Akkordeonspielern aus Valledupar!«
»Nein, die holen sich Sonora Matancera aus Kuba und Los Melódicos aus Venezuela auf einmal!«, kommentiert ein anderer in einem ironischen Ton, in dem ein Fünkchen Neid durchschimmert.
Vom Gutsverwalter erfahren wir, dass der Hausherr in letzter Minute aufgehalten wurde und erst am folgenden Tag eintreffen wird. Es ist offensichtlich, dass dem Personal Anweisung erteilt wurde, uns jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Allerdings hat man uns vom ersten Augenblick an zu verstehen gegeben, dass der zweite Stock, wo sich die Privaträume der Familie befinden, von der Führung durch das Anwesen ausgeschlossen ist. Alle Bediensteten sind Männer und scheinen für ihren Chef große Bewunderung zu hegen. Ihr im Vergleich zu den Angestellten anderer reicher Familien gehobener Lebensstil spiegelt sich in ihrem sicheren Auftreten und dem völligen Mangel an Unterwürfigkeit. Sie scheinen Familienväter zu sein und tragen neue Arbeitskleidung guter Qualität von diskreterer Art als die jungen Männer auf der Landebahn. Im Unterschied zu Letzteren führen sie keinerlei Waffen mit sich. Wir gehen durch den Flur zum Abendessen. Der hölzerne Haupttisch ist riesig.
»Wie für ein ganzes Bataillon!«, bemerkt einer von uns.
Es gibt weiße Papierservietten, das Essen auf Geschirr der Region wird von zwei effizienten und schweigsamen Frauen serviert, die einzigen, die wir seit unserer Ankunft zu Gesicht bekommen haben. Wie wir erwartet hatten, besteht das Menü aus einer leckeren Bandeja Paisa, ein für die Region Antioquia typisches Gericht und eine der Nationalspeisen Kolumbiens: Bohnen, Reis, Hackfleisch und Spiegelei, dazu eine Avocadohälfte. Nichts an diesem Gutshaus spiegelt das Bemühen um ein erlesenes, raffiniertes und luxuriöses Ambiente: Alles an dieser Hazienda von dreitausend Hektar Größe zwischen Doradal und Puerto Triunfo im heißen Tal des Rio Magdalena scheint im praktischen und unpersönlichen Stil eines großen Hotels entworfen, nicht im Stil eines traditionellen Landhauses.
Nichts hätte mich folglich in jener heißen und stillen Tropennacht, meiner ersten auf der Hazienda Nápoles, auf die kolossalen Dimensionen einer Welt vorbereiten können, deren Entdeckung für mich am folgenden Tag ihren Anfang nehmen sollte, ein Reich, das sich so sehr von allen anderen unterschied, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Und niemand hätte mich auf die außerordentlichen Ambitionen des Mannes stoßen können, der es aus Sternenstaub erbaut hatte, mit jenem Geist, aus dem die Mythen gemacht sind, welche die Geschichte der Nationen und das Schicksal ihrer Menschen für immer verändern.
Zur Frühstückszeit teilt man uns mit, dass unser Gastgeber gegen Mittag eintreffen wird, um uns persönlich seinen Zoo zu zeigen. Unterdessen machen wir uns auf, die Hazienda mit Buggys zu durchstreifen, kleine, offene Geländewagen für junge, waghalsige Leute, um damit durch sandiges Terrain zu rasen. Sie bestehen aus einem tief liegenden Chassis, das fast alles aushält, zwei Sitzen, Lenkrad, Kupplung, Tank und einem Motor, der einen Höllenlärm macht. Wo diese Gefährte entlangdonnern, bleibt eine Qualm- und Staubwolke und eine Heckwelle des Neids zurück, weil jeder, den man am Steuer eines Buggys sieht, gebräunt und strahlend erscheint, mit Shorts und Sonnenbrille und einem schönen, einen Hauch verängstigt wirkenden Mädchen mit wehendem Haar an seiner Seite oder einem keine Miene verziehenden betrunkenen Freund. Der Buggy ist das einzige Gefährt, mit dem man in volltrunkenem Zustand über einen Strand rasen kann, ohne dass seine Insassen ernstlich zu Schaden kommen, ohne dass er umstürzt und, vor allem, ohne dass die Polizei den Wahnsinnigen am Steuer einsperrt, denn er hat noch einen weiteren Vorzug: Er kommt bei Vollbremsung abrupt zum Stehen.
Der erste Morgen dieses Wochenendes hat in schönster Normalität begonnen, doch dann kommt es zu einem seltsamen Zwischenfall, als ob ein Schutzengel mich warnen will, dass die Freude und die unschuldigen Abenteuer nur das Gesicht künftigen Schmerzes maskieren.
Aníbal steht in dem Ruf, einer der größten Verrückten des Planeten zu sein, was meiner Abenteuerlust überaus entgegenkommt. Meine Freundinnen prophezeien schon, dass unsere Verlobungszeit nicht vor dem Traualtar enden wird, sondern eher auf dem Boden einer Schlucht. Obwohl er in der Regel in seinem Mercedes mit beinahe zweihundert Sachen und einer Flasche Whisky in der einen und einem halbverzehrten Imbiss in der anderen Hand durch die engen Serpentinen in den Bergen kurvt, hat er tatsächlich noch nie einen Unfall gehabt. Ich sitze glücklich in dem Buggy mit seiner Tochter auf dem Schoß, die Brise im Gesicht und das Haar im Wind, und genieße die reinste Wonne, die es bedeutet, mit Höchstgeschwindigkeit über ebenes und unberührtes Land zu rasen, das uns keine Grenzen setzt. Auf jedem anderen kolumbianischen Gut wären diese unermesslichen Weiten der Zebuzucht gewidmet und voller Tore mit Schlössern und Riegeln, dahinter Tausende Kühe mit stumpfsinnigen Blicken und Dutzende aggressive Stiere.
Drei Stunden lang fahren wir Kilometer um Kilometer durch eine in allen Grüntönen prangende Ebene, unterbrochen nur von dem einen oder anderen Gewässer oder einem Flüsschen mit wenig Wasser, von einem weich wie Samt wirkenden, senffarbenen Hügel hier oder einer leichten Bodenwelle dort, ähnlich wie das Grasland, in dem ich Jahre später Meryl Streep und Robert Redford in dem Film Out of Africa sah, nur ohne die Baobab-Bäume. Die ganze Gegend ist nur von Bäumen und Sträuchern, Vögeln und kleinen Tieren der amerikanischen Tropen bevölkert, unmöglich im Detail zu beschreiben, weil jede neue Szenerie schon beginnt, während die andere noch nicht ganz an unseren Augen vorbeigezogen ist.
Wir jagen auf eine dichte, halb waldige Vegetation in einer Mulde von ungefähr einem halben Kilometer Breite zu, wo wir uns einige Minuten unter dem Fächerdach eines Hains riesiger Guadua-Bambus-Bäume von der heißen Mittagssonne erholen wollen. Sekunden später fliegen Scharen von Vögeln aller erdenklichen Farben mit einer schrillen Kakophonie auf, der Buggy macht einen Sprung über eine unter Laub verborgene Bodenvertiefung, ein etwa zwei Meter langer Stock schlägt wie ein Geschoss auf den vorderen Teil des Gefährts, schießt ratschend durch den engen Spalt zwischen Adrianas Knie und dem meinen und kommt exakt einen Millimeter vor meiner Wange und wenige Zentimeter unter meinem Auge zum Stehen. Nichts ist passiert, anscheinend hat Gott mir ein besonderes Schicksal zugedacht.
Trotz der zurückgelegten Entfernung und dank einer Erfindung namens Sprechfunkgerät, die ich immer für snobistisch und überflüssig gehalten hatte, treffen nach zwanzig Minuten mehrere Jeeps ein, um uns zu retten und den Kadaver des ersten Buggys der Geschichte zu bergen, der einen Totalschaden erlitten hat. Eine halbe Stunde darauf befinden wir uns schon in der kleinen Krankenstation der Hazienda, bekommen Tetanusspritzen und Merbromin zur Desinfizierung und Pflaster auf unsere Abschürfungen an den Knien und meiner Wange, während alle aufatmen, dass Adriana und ich wohlauf sind und noch alle Augen haben. Aníbal hat das Gesicht eines gescholtenen Knaben, grummelt etwas über die Kosten der Reparatur des verfluchten Gefährts und wie es sich gegebenenfalls durch ein neues ersetzen ließe, wofür man zuerst die Transportkosten aus den USA in Erfahrung bringen müsse.
Wir erfahren, dass der Hubschrauber des Hausherrn vor einer Weile eingetroffen ist, obwohl keiner von uns ihn gehört hat. Etwas nervös stellen mein Verlobter und ich uns darauf ein, uns für den Schaden zu entschuldigen und Wiedergutmachung anzubieten. Minuten später betritt unser Gastgeber den Salon, wo wir uns mit dem Rest der Gäste eingefunden haben. Er strahlt, als er bemerkt, wie verblüfft wir über sein junges Alter sind. Eine schelmische Heiterkeit huscht über sein Gesicht, als hätte er seine liebe Not, nicht lauthals loszulachen.
Einige Jahre zuvor in Hongkong hatte mir der ehrwürdige und elegante Hauptmann Chang über seinen vierundzwanzig Stunden am Tag vor meinem Hotel parkenden Rolls Royce Silver Ghost mit Chauffeur in grauer Uniform, schwarzen Stiefeln und Dienstmütze gesagt: »Keine Sorge, gnädige Frau, wir haben weitere sieben nur für unsere Gäste, und der da ist für Sie!«
Im gleichen Ton ruft nun unser lächelnder Gastgeber mit einer wegwerfenden Handbewegung aus: »Grämen Sie sich nicht mehr wegen dieses Buggys, wir haben Dutzende davon!«
Im Nu hat er damit all unsere Befürchtungen zerstreut und jeden Schatten des Zweifels über seine Mittel, seine Gastfreundschaft und seine rückhaltlose Bereitschaft beseitigt, von diesem Augenblick an mit uns alle Vergnügungen zu teilen, die sein Paradies verheißt. Dann begrüßt uns der stolze Eigentümer der Hazienda Nápoles einen nach dem anderen, in einem zuerst beruhigenden, dann entwaffnenden und schließlich verführerischen Ton, dem Frauen, Kinder und Männer gleichermaßen erliegen. Dabei trägt er ein Lächeln zur Schau, das jedem von uns das Gefühl gibt, der auserkorene Eingeweihte eines sorgfältig geplanten, heimlichen Scherzes zu sein.
»Wie schön, Sie endlich kennenzulernen! Wie geht es den Wunden? Wir werden die Kinder reichlich für die verlorene Zeit entschädigen, sie werden sich nicht eine Minute langweilen! Glauben Sie mir, ich bedaure sehr, dass ich nicht früher kommen konnte. Pablo Escobar, angenehm.«
was
»Kokain. Pablo ist der König des Kokains, und die Nachfrage ist so groß, dass er auf dem besten Weg ist, zum reichsten Mann der Welt zu werden!«
»Ich hätte geschworen, dass er seinen ganzen Lebensstil durch Politik finanziert.«
»Nein, nein, Liebes, es ist genau umgekehrt: Er finanziert die ganze Politik mit diesem Stoff hier.«
Verzückt schließt er nach seiner vierzigsten Line des Tages halb die Augen und zeigt mir einen Klumpen von fünfzig Gramm Kokain, den Pablo ihm geschenkt hat.
Ich bin erschöpft und schlafe sofort ein. Als ich am folgenden Tag aufwache, ist er immer noch da, aber das Kokain ist verschwunden. Er hat blutunterlaufene Augen und schaut mich mit ungeheurer Zärtlichkeit an. Ich weiß nur, dass ich ihn liebe.