»Hallo, Pandora!« Der Busfahrer tippte sich an die Mütze. »Sag nicht, dass schon wieder Ferien sind. Ach, Kind müsste man sein!«
»Hi, Alfred. Also, ich würde lieber den ganzen Tag gemütlich im Bus sitzen, statt Algebra zu lernen – und Französisch!«
Pandora wuchtete ihren Rucksack auf die Sitzbank hinter Alfred.
Sie sah sich um auf der Suche nach einem bekannten Gesicht. Doch der Bus war fast leer. Nur hinten saß ein Pärchen. Offensichtlich Touristen, was man an ihren funkelnagelneuen Wanderschuhen unschwer erkennen konnte. Die Frau rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Wade.
Alfred sah im Rückspiegel Pandoras Blick und sagte leise: »Immer dasselbe. Die glauben, der Küstenpfad sei ein gemütlicher Wanderweg hübsch die Küste lang, und plötzlich geht’s steil bergauf oder bergab, und schwindelfrei sind sie natürlich auch nicht.«
Pandora nickte. Sie war mit ihrem Vater unzählige Male den schmalen Pfad die Küste Nordcornwalls entlanggewandert und hatte sich oft über Leute gewundert, die ihnen mit Flipflops oder ausgelatschten Sneakers begegneten.
Sie setzte sich so, dass sie bequem mit Alfred reden konnte. An seiner Kabine war zwar ein Schild angebracht, auf dem stand, dass man den Fahrer während der Fahrt nicht ansprechen durfte, aber wenn jemand es liebte, sich bei der Arbeit zu unterhalten, dann war es Alfred. Die Strecke Tintagel – Port Arthur fuhr er seit über dreißig Jahren. Als Pandora klein war, hatte sie geglaubt, Alfred würde in seinem Bus wohnen. Dabei hatte er ein nettes kleines Häuschen ein wenig außerhalb von Port Arthur und eine ebenso nette Frau namens Elsie. Das einzig nicht Nette an den beiden war Travis, ihr Sohn. Alle im Ort fragten sich, wie ein so sympathisches Paar einen so unsympathischen Sohn haben konnte. Travis war schon im Kindergarten unangenehm aufgefallen, weil er andere Kinder geschlagen und bestohlen hatte. Und je älter er wurde, desto unangenehmer wurde er. Nun saß er schon geraume Zeit im Gefängnis. Angeblich sollte er einen Raubüberfall begangen haben. Aber das wusste keiner so genau, und niemand traute sich, den netten Alfred oder die nette Elsie danach zu fragen.
»Wo sind die anderen Mädchen aus deiner Schule?«, fragte Alfred.
»Die meisten wurden mit dem Auto abgeholt, aber Mum hatte keine Zeit.«
»Und wie läuft’s denn so bei euch im Hotel?«
»Die Saison wird nicht so gut, glaub ich. Jetzt ist noch Mrs Graham gestorben. Sie ist sonst jeden Sommer gekommen. Und vier Wochen geblieben.«
»Tja, Tote können keinen Urlaub machen«, sagte Alfred, brüllte gleich darauf »Schwachkopf!«, drückte auf die Hupe und scherte nach rechts aus. »Wieder einer, der nicht kapiert hat, dass man hier links fährt.«
Pandora sah aus dem Fenster einen kleinen Wagen, an dessen Steuer eine Frau mit verschrecktem Gesicht saß. Der Mann neben ihr gestikulierte wild.
»Ich glaube, wir hätten auf dem Kontinent auch Probleme mit dem Rechtsverkehr«, sagte Pandora.
»Ich nicht«, meinte Alfred und rückte seine Mütze zurecht. »Weil ich da nämlich nicht hinfahre. Was sollte ich dort? Schöner als hier kann es nirgendwo auf der Welt sein.«
Da musste Pandora ihm recht geben. Zur Linken war das Meer. Heute lag es da wie ein ausgebreitetes, himmelblaues Seidentuch, durchsetzt von zarten weißen Spitzenborten.
In der Ferne schaukelte ein Boot auf den Wellen. Ob das wohl die Mary Lou war?, überlegte Pandora. Das Fischerboot von Zacks Vater? Vielleicht könnten Zack und sie gleich morgen eine Tour auf der Mary Lou unternehmen, die Küste entlang, und in einer der kleinen Buchten picknicken. Sollten die anderen Mädchen aus ihrer Klasse doch nach Spanien oder Italien fahren und in der Sonne braten, Pandora hätte mit keiner von ihnen tauschen wollen.
Alfred bremste ab. »Soll ich dich hier rauslassen? Oder willst du vorn rein?«
»Hier ist perfekt.« Pandora sprang vom Sitz und griff nach ihrem Rucksack. »Danke, Alfred.«
Die Tür öffnete sich – Alfred rief: »Grüß Myrtle von mir« – und schloss sich mit einem zufriedenen Schmatzen hinter Pandora, als wäre der Bus froh, wieder einen Fahrgast losgeworden zu sein.
Pandora winkte Alfred zu und sah, wie das Touristenpaar ihr aus dem Fenster neugierig nachschaute. Wahrscheinlich wunderten sie sich, dass der Fahrer an einem Ort hielt, an dem es keine Bushaltestelle gab.
Sie schulterte den Rucksack und bog in den schmalen Pfad ein, der links und rechts von Blumen und Efeu überwuchert war. Pandora hatte es zwar eilig, nach Hause zu kommen, trotzdem blieb sie stehen, um Blumen zu pflücken. Einen dicken Strauß in hellem Rosa, knalligem Pink und leuchtendem Gelb.
Der Pfad schlängelte sich den Hügel hinauf und Pandora fing an zu schwitzen. Es wäre natürlich praktischer gewesen, wenn Alfred noch um die Ecke gefahren und sie am Haupteingang von Hawthorn Manor abgesetzt hätte. Aber Pandora liebte es, von der Rückseite auf das Haus zuzukommen. Zuerst erschienen Dach und Schornsteine, dann die Fenster des ersten Stockes, in denen sich die Sonne spiegelte, und schließlich stand Pandora auf der gekiesten Auffahrt mit dem Rhododendron-Rondell in der Mitte. Von hier aus erblickte man das ganze Anwesen.
Hawthorn Manor besaß zwei Stockwerke und ein Dachgeschoss. Zum Meer hin gab es große Erkerfenster. Eine breite Treppe führte zur Eingangstür, an der links und rechts zwei Blumenkübel standen, aus denen rote und rosa Pelargonien quollen.
Auf einem Messingschild, das von der Meeresluft grün angelaufen war, stand: Hawthorn Manor – Hotel und Restaurant.
Das Wort Restaurant war mit einem Streifen Klebeband gleichsam durchgestrichen.
Die letzten Meter verfiel Pandora in Laufschritt. Sie sprang die Stufen hoch, zog mit einer Hand die schwere, zweiflügelige Tür auf und ließ den Rucksack neben den Rezeptionstresen fallen. »Mum! Mum? Wo steckst du?«
Keine Antwort. Pandora öffnete die Tür zum Frühstücksraum. Da stand noch das Geschirr auf den Tischen, und auf der Anrichte trockneten Toastscheiben vor sich hin, das ließ nichts Gutes ahnen. Wahrscheinlich hatte Jemima, das Hausmädchen, mal wieder gekündigt.
Pandora durchquerte die Halle und hörte dumpfes Klopfen. Unterbrochen von schepperndem Gehämmer. Sie seufzte. Dieses Geräusch kannte sie nur zu gut. Sie öffnete die Tür zu ihrer Rechten, die in den Keller führte. Das Scheppern wurde lauter.
Pandora lief die steile Treppe hinunter und einen düsteren Gang entlang. Sie wusste, wo sie ihre Mutter finden würde. Im Heizungsraum. Und da war sie auch: Pandoras Mutter Myrtle. Mit zerzaustem Haar und einem Schmutzfleck auf der hochroten Wange schlug sie mit einem Hammer gegen den Boiler.
»Verfluchtes Scheißding!«
»Mum!«
Myrtle drehte sich um und ihr eben noch wütendes Gesicht wurde weich. Sie ließ den Hammer fallen und umarmte ihre Tochter.
»Dorie! Wie schön, dass du da bist.«
Pandora hasste es, wenn sie Dorie genannt wurde, doch ihre Mutter durfte das. Und Zack natürlich.
»Pass auf, Mum, du zerdrückst ja die Blumen.«
Myrtle ließ Pandora los. »Wie schön, sind die für mich?«
»Für uns beide.«
»Ich wollte dir auch welche ins Zimmer stellen, hatte dich aber viel später erwartet.«
»Ich hab alles gestern Abend gepackt und konnte nach der letzten Stunde gleich los.«
Myrtle lächelte. »Das hast du nicht von mir. Ich hab immer den Bus verpasst, weil ich zig Mal zurück auf mein Zimmer musste, um irgendwas zu holen, das ich dort vergessen hatte.«
Pandora zeigte auf den Boiler. »Spinnt der schon wieder?«
»Ja, leider.« Myrtle hob den Hammer auf. »Das Wasser wird nicht richtig heiß. Ich finde ja, dass es bei dem Wetter reicht, wenn man lauwarm duscht. Mr Griddle in Zimmer 6 ist da aber anderer Meinung. Der will jeden Morgen in brühend heißem Wasser kochen wie ein Hummer im Topf.«
Pandora lachte, dann sagte sie: »Hast du bei Stringer angerufen?«
»Was glaubst denn du? Aber sobald er hört, dass ich dran bin, legt er wieder auf.«
»Ich versuch’s mal, Mum.«
Der altmodische Telefonapparat stand auf dem Tresen in der Halle neben der großen, hässlichen Schale, in die die Gäste ihre Schlüssel legen konnten, wenn sie aus dem Haus gingen.
Pandora drückte auf die Tasten. Die Nummer des Klempners kannte sie auswendig.
Auf der Stelle wurde abgenommen. »Wie oft muss ich Ihnen sagen, Mrs Parker, dass Sie mich mit Ihrer verdammten Therme in Ruhe lassen sollen! Sie hätten sich vor Jahren eine neue anschaffen sollen, dann –«
»Von welchem Geld?«, unterbrach ihn Pandora.
»Oh, du bist’s«, sagte Mr Stringer ein wenig verlegen. »Schon zu Hause? Amy ist noch gar nicht da.«
»Sie wollte mit ein paar Mädchen Eis essen, die Ferien feiern«, sagte Pandora. »Aber ich wollte auch nicht mit Amy sprechen, sondern mit Ihnen, Mr Stringer.«
Am anderen Ende der Leitung hörte sie ein lautes Seufzen.
»Okay, okay, ich komme. Aber bitte richte deiner Mutter aus, dass ich zum letzten Mal versuchen werde, das schrottige Teil in Gang zu setzen. Spätestens im Herbst, wenn sie heizen muss, fliegt es ihr um die Ohren. Mit Gas ist nicht zu spaßen.«
»Danke«, sagte Pandora und legte auf. »Mit Gas ist nicht zu spaßen«, wiederholte sie leise. Mit diesen Worten endete jedes Gespräch mit Mr Stringer. Pandora wurde dabei ganz kalt vor Angst. Sie war immer sehr erleichtert, wenn sie in den Ferien heimkam und das Haus noch stand.
Das Haus. Pandora liebte es. Sie war darin aufgewachsen, kannte jede Ecke, jeden Winkel vom Keller bis zum Dach.
Und dabei war Hawthorn Manor nicht wirklich schön. Es war zu klein, um als Herrenhaus durchgehen zu können, aber nicht so klein und gemütlich wie die für diesen Teil Cornwalls typischen Cottages aus hellem, mit Rosen oder Wein bewachsenem Sandstein.
Es war zu alt, um komfortabel zu sein, und zu neu, um Touristen das Gefühl eines typisch englischen Landhauses zu vermitteln, in dem jeden Augenblick ein Geist um die Ecke geflattert kommen könnte.
Pandoras Urgroßvater hatte Hawthorn Manor vor neunzig Jahren bauen lassen. Da war es ein schlichtes, graues Haus mit zwei Stockwerken und zehn Zimmern gewesen. Nicht viel für eine achtköpfige Familie mit Köchin und Dienstmädchen. Nachdem von den sechs Kindern zwei ausgewandert und drei gestorben waren, war das Haus in die Hände des jüngsten Sohnes übergegangen. Pandoras Großvater. Um die horrende Erbschaftssteuer zu bezahlen, hatte er die Idee gehabt, das Haus in ein Hotel umzuwandeln. Er hatte einen Wintergarten anbauen lassen, eine Art Türmchen aufs Dach gesetzt und den Eingang mit einer breiten Steintreppe versehen. Er war es auch gewesen, der Stufen in die Klippen geschlagen hatte, damit man an den winzigen Strand hinunterklettern konnte. Genau 217. Damals lief das Hotel gut. Das war nicht zuletzt das Verdienst von Edna, Pandoras Großmutter väterlicherseits, gewesen. Edna stammte aus Bristol und hatte dort als Zimmermädchen in einem großen Hotel gearbeitet. Das durfte allerdings niemand wissen. Pandora hatte einmal in einem alten Fotoalbum ein Foto von ihr als junge Frau in schwarzem Kleid und mit weißem Häubchen auf dem Kopf entdeckt und ihren Vater gefragt, ob sie da auf einer Beerdigung gewesen war.
Ihr Vater hatte ungläubig den Kopf geschüttelt. »Ein Wunder, dass es dieses Foto überhaupt noch gibt. An ihre Vergangenheit als Stubenmädchen wollte meine Mutter nicht erinnert werden.«
Pandoras Großeltern waren beide schon gestorben, als Pandora auf die Welt kam. An sie erinnerten nur zwei große Porträts in der Eingangshalle. Pandora stand oft davor und überlegte, wie die beiden wohl zu Lebzeiten gewesen waren. Das Bild von ihrer Großmutter flößte ihr ein wenig Angst ein. Sie sah darauf sehr streng, ja fast finster aus mit ihrem schmalen Mund und den kleinen dunklen Augen. Aber Grandpa hätte sie bestimmt gemocht, da war sich Pandora sicher. Obwohl auch er ernst guckte, war der eine Mundwinkel ein winziges Stück hochgezogen, als ob er nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken konnte. Und in seinen Augen war ein kleines Blitzen. Pandora hatte immer das Gefühl, dass er ihr gleich zuzwinkern und etwas Lustiges sagen würde. Der Maler der beiden Porträts war ein wirklicher Könner gewesen:
Quinn Parker, Pandoras Vater.
Quinn hatte in London an der Kunsthochschule studiert und das Bohèmeleben dort sehr genossen. Nicht im Traum hatte er daran gedacht, dass er einmal im Hotel seiner Eltern an der Rezeption stehen oder Koffer die Treppen hinauftragen würde.
Und dann erhielt er eines Tages die Nachricht, dass seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Quinn wollte das Hotel verkaufen, aber dann hätten vier Angestellte ihre Arbeit verloren. Er brach also sein Studium ab, kehrte nach Port Arthur zurück und wurde Hotelier. Doch das Talent, welches er als Künstler besaß, fehlte ihm als Hotelbesitzer leider völlig. Er investierte an den falschen Stellen, ließ sich von Handwerkern übers Ohr hauen, und jeder, der behauptete, sein Freund zu sein, durfte umsonst bei ihm wohnen. Immer, wenn ihm alles über dem Kopf zusammenzuschlagen drohte, zog er sich in den Gartenpavillon zurück. Dort hatte er zwischen Gartengeräten und Säcken mit Mulch eine Staffelei aufgestellt und malte, malte wie ein Besessener. Allerdings malte er keine Menschen mehr, sondern nur noch die Küste. Die Küste und das Meer.
Finnegan sah aufs Meer hinaus. Er legte das Fischernetz beiseite. Mitte der Woche gab es eh keine Touristen, denen er die Rolle des Fischers, der am Kai sitzt und seine Netze flickt, vorspielen konnte. Aber ab morgen waren Ferien, da würde sich Port Arthur hoffentlich mit Urlaubern füllen. Sicher, die meisten machten nur kurz Station, stärkten sich mit einer Portion Fish and Chips, bevor sie weiter auf dem Küstenpfad wanderten, oder sie verschwanden auf dem Parkplatz im Klohaus, bevor sie nach Tintagel weiterfuhren, um dort die Überreste von König Artus’ Burg zu besichtigen.
»Hast du Zack gesehen?« Finnegans Frau Janet streckte den Kopf aus der Imbissbude. Auf einem großen Schild stand mit Kreide geschrieben:
Frischer Fisch!
Es gab Fish and Chips, Kabeljaufrikadellen und gebratenen Heilbutt.
Nur die Einheimischen wussten, dass der Fisch mitnichten von Finnegan mit einem seiner Netze aus dem Meer geholt worden war, sondern aus der Tiefkühltruhe des Supermarktes stammte. Die Zeiten, in denen er mit dem Fischerboot jeden Morgen vor Sonnenaufgang aufs Meer hinausgetuckert war und die Netze ausgeworfen hatte, waren lange vorbei. Fangquoten, Arthrose in den Knien und die immer magerer werdende Ausbeute hatten ihn zu einem Fischer an Land werden lassen. Nur ab und zu fuhr er mit seiner Mary Lou zum Fischen hinaus, wenn ihn die Touristen dafür bezahlten.
»Zachary?«, fragte Finnegan zurück. »Der war eben noch hier.«
»Jetzt ist er jedenfalls weg«, stellte Janet fest. »Er sollte mir Gurken für die Fischburger holen.«
»Das kann ich doch machen.« Finnegan erhob sich und sah, wie ein Junge mit kurzen rotblonden Haaren, einem viel zu großen T-Shirt und zerlöcherten Jeans über den Kai auf ihn zurannte.
»Wo warst du? Deine Mutter braucht dich«, sagte Finnegan.
»Oben in Hawthorn Manor. Wollte gucken, ob Dorie da ist«, stieß Zack atemlos hervor. Finnegan konnte sich nicht erinnern, seinen Sohn einmal anders als außer Atem erlebt zu haben, es sei denn im Schlaf. Zack war immer in Bewegung, er konnte nicht stillhalten, keine Minute. Deshalb war auch die Schule für ihn eine Qual. Zack war nicht dumm, im Gegenteil, aber stundenlang auf einem Stuhl zu sitzen, war für ihn einfach unmöglich.
»Und ist sie da?«, fragte Finnegan.
»Japp, aber sie muss Myrtle helfen. Jemima hat die Fliege gemacht.«
»Na, das ist kein großer Verlust.« Finnegan legte seinem Sohn den Arm um die Schultern. »Kommst du mit, Gurken kaufen? Deine Mutter braucht welche für die Burger.«
Zack nickte und hüpfte neben seinem Vater her. »Kann ich sie später besuchen?«
»Wen? Deine Mutter?«
Zack lachte. »Dorie natürlich, Dad.«
Finnegan überlegte kurz. Eigentlich sollte Zachary ihm beim Streichen des Bootes helfen, Winterstürme und Salzwasser hatten dem alten Kahn arg zugesetzt, aber der Junge würde sowieso keine richtigen Ferien haben, sondern die ganze Zeit in Port Arthur verbringen müssen.
»Geht in Ordnung.«
»Morgen streichen wir die Mary Lou, Dad, versprochen«, sagte Zachary, der wie immer die Gedanken seines Vaters lesen konnte.
Auf dem Weg zum Gemüseladen kam ihnen Aurelia Whitebread entgegen. Von Weitem sah sie aus wie ein Gespenst. Ihre wallenden Gewänder waren ausgeblichen, ihre weißen Haare hingen ihr wirr um den Kopf. Finnegan wunderte sich, wie eine so dürre Person, bei der man fürchtete, sie würde beim nächsten Windstoß davonfliegen, eine Stimme haben konnte, mit der sie eine Kompanie Soldaten hätte befehligen können.
»Finnegan!«, brüllte sie ihm entgegen. »Sei mir gegrüßt! Wie geht’s?«
»Es geht, Aurelia. Warte auf Kundschaft.«
Aurelia nickte. »Wundert mich nicht. Die Sterne stehen schlecht. Wenn du willst, leg ich dir die Karten. Zum Freundschaftspreis.«
Aurelia Whitebread besaß einen Laden, in dem sie den Touristen Räucherstäbchen, Amulette gegen den bösen Blick, Pendel und Tarotkarten verkaufte. Außerdem war sie Museumsdirektorin, wie sie gern betonte. Das Museum war in einem niedrigen, weiß gestrichenen Haus am Hafen untergebracht und behauptete von sich, das größte Museum für Magie und Hexerei in ganz England zu sein.
Finnegan schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass ich nicht an diesen Hokuspokus glaube.«
»Großer Fehler. Sehr großer Fehler.« Aurelia hob mahnend einen knochigen Finger, der mit allerlei Ringen geschmückt war. Sie legte ihren Kopf schief und starrte Zack aus hervorstehenden graugrünen Augen an. »Und unser Zachary freut sich auf die Ferien?«
Finnegan erwartete, dass sein Sohn Nein sagen würde. Wie konnte er sich freuen, wenn er die meiste Zeit würde arbeiten müssen? Doch Zack nickte heftig. »Na, und wie, acht Wochen keine Schule, das ist so was von genial!«
Finnegan musste lächeln. Selbst die Arbeit am Boot oder in der Imbissbude war Zack anscheinend lieber, als eine Stunde in der Schule verbringen zu müssen.
Wieder erriet Zack die Gedanken seines Vaters. »Es macht mir nichts aus, zu arbeiten, Dad, Dorie muss ihrer Mutter auch helfen, jetzt, wo Jemima weg ist.«
»Ich hab gehört, sie arbeitet bei Jenkins im Supermarkt, räumt Regale ein«, sagte Aurelia.
»Hoffentlich ist Mike gut versichert.« Finnegan lachte. »Wie kann man nur so einen Trampel einstellen?«
Zack wurde ungeduldig. »Ich lauf zu Mrs Pumpkins und hol die Gurken, Dad.«
»Tu das, Junge, und lass anschreiben.«
Pandora ging die Treppe hoch, im ersten Stock war ihr Zimmer. Früher hatte sie es im Sommer für Gäste räumen müssen, doch seit die immer mehr ausblieben, fand sie es jedes Mal genau so vor, wie sie es verlassen hatte.
Sie warf den Rucksack aufs Bett und setzte sich auf die Bank im Erker. Das war ihr Lieblingsplatz. Von hier konnte sie die dicken, rotbraunen Kühe sehen, die auf den sattgrünen Weiden grasten, die kleine Anhöhe mit der alten Küstenwache, den Kirchturm und natürlich – das Meer.
Pandora zog die Knie an und schaute und schaute. Von ihrem Fenster im Internat blickte man nur auf Häuser, außerdem wohnten in ihrem Zimmer noch Amy, die Tochter des Klempners, und Maggie aus Tintagel. Pandora verstand sich mit beiden, obwohl sie sehr verschieden waren. Amy interessierte sich in erster Linie für Klamotten, Kino und Knutschen, und für Maggie gab es nur eins: ihr Pony Buster.
Pandora kratzte an einem Mückenstich an ihrem Arm. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie noch ihre Schuluniform trug. Deshalb hatte Zack sie vorhin so spöttisch angegrinst. Er machte sich gern lustig über Pandoras Schule, die Truro High School für Mädchen. Meinte, dass da nur die Töchter von reichen Leuten hingingen, und ganz so unrecht hatte er damit nicht. Er selbst besuchte die Grundschule von Port Arthur, war dort der älteste Schüler, und Pandora vermutete, dass Zack nur sitzen geblieben war, um die Schule auf keinen Fall verlassen und auf ein Internat gehen zu müssen.
Sie zog sich den grünen Pulli mit dem eingestickten Schulwappen aus, ließ aber den grün-weiß karierten Rock an. Sie mochte die Schuluniform und sie mochte ihre Schule. Sie war Lady Margaret dankbar dafür, dass sie jeden Monat das Schulgeld überwies, Myrtle hätte sich das niemals leisten können.
Pandoras Großmutter mütterlicherseits legte großen Wert auf ihren Adelstitel und hatte nie gutgeheißen, dass ihre Tochter einen Bürgerlichen geheiratet hatte und nun in dieser ›Bruchbude‹ lebte. Mit Bruchbude war Hawthorn Manor gemeint. Sie kam nur selten zu Besuch, und dann ließ sie ihre Eulenaugen auf dem fadenscheinigen Teppich in der Halle, dem abgeblätterten Putz an den Wänden oder der dicken Staubschicht auf dem Kamin ruhen und schüttelte mit einem »Ts, ts, ts« den Kopf. Doch Pandora war ihre einzige Enkelin. »Du kannst schließlich nichts dafür, dass deine Mutter den falschen Mann geheiratet hat«, pflegte sie zu sagen. Pandora widersprach dann jedes Mal heftig: »Dad war der beste Vater der Welt!«
War. Pandora musste schlucken, sie schaffte es nie, den dicken Kloß, der ihr beim Gedanken an ihren Dad in die Kehle stieg, herunterzuschlucken.
Unwillkürlich schaute sie nach links zum Pavillon. Wie oft war sie früher gleich nach der Schule in sein Atelier gelaufen. Den Geruch nach Terpentin und Ölfarbe hatte sie geliebt. Einmal hatte sie ihren Vater gefragt, warum er nur die Küste und das Meer malte und niemals Mum oder sie. Da hatte er sie angelächelt und gesagt: »Ich bin einfach nicht gut genug, um euch beide zu malen, aber das kommt noch.«
Es war aber nie dazu gekommen, denn Quinn war gestorben.
Pandora hatte immer Angst um ihren Vater gehabt. Er war ein wunderbarer Maler, aber in allen anderen Dingen nicht sehr geschickt gewesen. Keinen Nagel hatte er gerade in die Wand schlagen können, und wenn er auf dem Dach herumgeturnt war, um die Regenrinnen von welkem Laub zu befreien, war Pandora vor Angst ganz schlecht geworden. Doch Quinn war nicht etwa vom Dach gefallen, hatte einen elektrischen Schlag bekommen oder sich bei der Reparatur des Boilers verbrüht, nein, er war im Pavillon einfach umgekippt, den Pinsel noch in der Hand. Im Krankenhaus hatte man festgestellt, dass er von Geburt an ein schwaches Herz gehabt und es an ein Wunder gegrenzt hatte, dass er nicht schon viel früher tot umgefallen war.
Quinns Tod war drei Jahre her. Pandora hatte den Pavillon lange nicht betreten können, erst im letzten Sommer hatte sie sich gern dorthin zurückgezogen, um in Ruhe zu lesen, zu zeichnen oder einfach nur, um die Nähe ihres Dads zu spüren. Wie oft hatte sie ihn von ihrem Fenster aus den Pavillon verlassen sehen. Er hatte dann jedes Mal kurz zu ihr hochgeschaut und gewinkt.
In diesem Moment ging die Tür des Pavillons auf – und Pandora blieb das Herz stehen. Ein Mann kam heraus, er schaute nicht hoch, er winkte ihr auch nicht, langsam schlenderte er, in der Hand eine Zigarette, über den gekiesten Weg auf das Haus zu. War das ein Hotelgast? Und wenn ja, was hatte er in Quinns Atelier zu suchen? Normalerweise war der Pavillon abgeschlossen.
Der Mann blieb stehen, blies gekonnt ein paar Rauchkringel in die Luft und warf die Zigarette auf den Boden. Er trat den Stummel aus und rückte seinen Strohhut zurecht.
Pandora wusste jetzt schon, dass sie ihn nicht ausstehen konnte. Allein dieser weiße Anzug!
Sie rutschte von der Bank. Sie musste den Pavillon abschließen, sofort! Nicht, dass da noch mehr Leute rumschnüffelten.
Pandora lief aus dem Zimmer, den Gang entlang, passte auf, dass sie nicht in dem Loch im Läufer hängen blieb, und sauste die empört knarrende Holztreppe hinunter.
Sie fand ihre Mutter in der Küche.
Myrtle steckte bis zu den Ellbogen in einer riesigen Teigschüssel. »Eins muss man Jemima ja lassen, ihre Scones waren sensationell. Ich weiß nicht, ob ich die so gut hinbekomme.«
»Der Trick ist Natron«, sagte Pandora. »Du darfst nur nicht zu viel nehmen. Wo ist der Schlüssel für den Pavillon, Mum?«
»Den habe ich«, sagte eine Stimme.
Pandora fuhr herum. Da stand der Mann im weißen Anzug. Er nahm seinen Strohhut ab und fuhr sich mit einem Taschentuch über die schweißbedeckte Stirn. »Ziemlich heiß dort drin.«
»Sie dürfen da überhaupt nicht rein«, sagte Pandora unfreundlich.
Der Mann sah sie an, als bemerke er sie erst jetzt. Er setzte sich den Hut wieder auf und zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Darf ich nicht, kleine Lady?«
Myrtle wischte sich die teigverschmierten Hände an einem Handtuch ab. »Das ist Mr Philby, Dorie. Er hat den Pavillon gemietet.«
»Gemietet?« Pandora schrie es fast. »Das geht doch nicht!«
Der Mann machte ein erschrockenes Gesicht. »Oh! Ich wusste nicht, dass es da ein Problem gibt.«
Myrtle warf ihrer Tochter einen beschwörenden Blick zu.
»Bitte entschuldigen Sie vielmals, Mr Philby, es ist nur so, dass wir das Atelier meines verstorbenen Mannes noch nie vermietet haben und –«
»Und das ist sicher sehr schmerzhaft für dich, einen Fremden darin zu sehen, verstehe«, sprach Mr Philby weiter und lächelte Pandora so mitfühlend an, dass sie spürte, wie ihr die Tränen kamen.
»Schon gut«, stieß sie hervor, riss ein Blatt Küchenpapier ab und schnäuzte sich die Nase.
»Verehrte Mrs Parker, ich bin hier, um zu fragen, ob ein Paket für mich angekommen ist.«
»Bis jetzt nicht«, sagte Myrtle. »Erwarten Sie etwas Wichtiges?«
Mr Philby hob die Arme. »Was gibt es Wichtigeres für einen Maler als sein Werkzeug? Farben, Pinsel, Leinwand …«
»Es müssten noch Farben von meinem Mann –«
Pandora hustete laut.
»Nein, nein!«, wehrte Mr Philby ab. »Ihre Tochter würde es sicher nicht gutheißen, wenn ich die benutzen würde.«
Er zeigte auf die Teigschüssel. »Gehe ich recht in der Annahme, dass es zum Tee wieder Ihre phänomenal köstlichen Scones geben wird?«
»Ja, also … Ich hoffe, aber Sie wissen ja, Jemima …«, begann Myrtle, doch Mr Philby ließ sie nicht ausreden.
»Die Scones werden sicher fantastisch. Und könnte ich vielleicht ein Kaltgetränk bekommen?«
Pandora unterdrückte ein Kichern. Kaltgetränk!
»Nehmen Sie sich bitte etwas aus dem Kühlschrank, Mr Philby«, sagte Myrtle. »Sie müssen nicht immer fragen. Schreiben Sie es einfach auf den Block.«
»Sie haben viel Vertrauen in Ihre Mitmenschen, Mrs Parker, ich hoffe, es wird nie enttäuscht«, sagte Mr Philby ernst, ging zu dem riesigen Kühlschrank neben der Tür und öffnete ihn. Er zog eine Flasche Wasser heraus und kritzelte dann umständlich etwas auf den Block, der daneben hing.
Pandora trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Wann verschwand der Kerl endlich?
Mr Philby drehte sich zu ihnen um, lächelte und sagte: »Ich werde einen Spaziergang an der Küste machen und mich ein wenig inspirieren lassen.« Beiläufig fügte er hinzu: »Wo sind eigentlich die Bilder Ihres Mannes, Mrs Parker? Ich kenne nur das, was in dem Laden des Pastetenbäckers hängt.«
»Bei Fergus MacKenzie, meinen Sie. Er war ein guter Freund meines Mannes.«
»Ich habe das Bild erblickt und wusste sofort, dass ich von diesem phänomenalen Künstler mehr sehen muss. Wie tragisch, dass er –«
»Die meisten Bilder sind auf dem Dachboden«, unterbrach ihn Myrtle. »Wir konnten sie nicht im Pavillon lassen, weil es da im Winter zu feucht ist. Aber im Wintergarten, in unserem ehemaligen Restaurant, hängen drei große Landschaftsbilder, die können Sie sich gern anschauen.«
Mr Philby zog seinen Hut. »Mit dem größten Vergnügen.«
Pandora schloss hinter ihm die Tür.
»Was ist das denn für ein komischer Kauz?«
Myrtle rollte den Teig aus. »Er hat Nummer 9 gemietet und zahlt mir außerdem 250 Pfund die Woche für den Pavillon. Ich konnte nicht Nein sagen.«
»Warte, ich helfe dir«, sagte Pandora.
Sie ging zur Spüle und wusch sich die Hände. Dann nahm sie ein Glas und stach Kreise aus dem Teig.
»Danke, Dorie.«
»Wie lange bleibt er?«
Myrtle zuckte die Achseln. »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Vielleicht bleibt er den ganzen Sommer und –«
Pandora stöhnte auf.
»– und ich wäre froh darüber, denn es sieht nicht gut aus, Dorie, überhaupt nicht gut.«
Pandora schaute vom Backblech hoch. »Wie viele Zimmer sind denn vermietet, Mum?«
»Frag mich lieber nicht. Allein drei Gäste haben abgesagt, als ich ihnen erklären musste, dass wir keinen Strand mehr haben und der nächste vier Meilen entfernt ist.«
Immer wieder führten schwere Stürme dazu, dass Teile der Küste abbrachen. Jetzt hätte man sich von der letzten der 217 Stufen direkt ins Meer stürzen können, aber wer wollte das schon?
»Und Professor Prendergast beehrt uns dieses Jahr auch nicht.«
Professor Prendergast, ein pensionierter Hochschullehrer, kam jedes Jahr im Juli, blieb vier Wochen, saß im Garten, neben sich einen dicken Stapel mit Büchern, und las.
»Ist er krank?«
Myrtle kniete vor dem Herd und schob das erste Backblech hinein.
»Sind viel zu viele, aber den Rest kann ich ja einfrieren«, murmelte sie.
»Mum, warum kommt Mr Prendergast nicht?«
»Er kommt ja, aber er wird unten in Port Arthur wohnen. In Aurelias Bed and Breakfast.«
»Warum das denn?«
»Wir haben kein Restaurant mehr, Dorie. Das ist das Problem. Mr Prendergast ist alt, der Weg zum Hafen runter ist ihm einfach zu anstrengend.«
»Wohl eher der Weg zurück, wenn er eine Flasche Wein intus hat«, sagte Pandora.
Myrtle lachte. Beide wussten, dass Professor Prendergast nicht nur gern las, er trank auch gern einen guten Schluck.
»Ich hab ja angeboten, ihn nach Port Arthur zu fahren, wann immer er will, aber er meinte, er möchte lieber unabhängig sein.«
Der Duft nach Scones erfüllte die Küche.
Myrtle setzte sich an den Küchentisch und malte mit dem Finger Kringel in das Mehl. Dann sah sie Pandora an. »Das wird wahrscheinlich unser letzter Sommer in Hawthorn Manor, Dorie. Ich … Wir müssen verkaufen.«
»Nein«, rief Pandora. Der Gedanke war einfach schrecklich. Hawthorn Manor war ihr Zuhause, sie liebte alles, die knarrenden Stufen, die bleiverglasten Fenster in der Halle, den schäbigen Teppich mit dem verblassten Blumenmuster, ihr Zimmer und natürlich den Garten und die hohen Weißdornhecken, die dem Haus den Namen gegeben hatten.
»Wo sollen wir denn hin?« Sie flüsterte es fast.
»Ich hatte überlegt, ob wir uns in Truro eine kleine Wohnung suchen. So könntest du dort weiter zur Schule gehen, müsstest aber nicht übernachten, das würde auch Geld sparen.«
»Das Geld zahlt Lady Margaret«, warf Pandora ein.
»Ich habe mit meiner Mutter gesprochen«, sagte Myrtle. »Sie wäre bereit, mir monatlich einen Zuschuss zu geben, bis ich einen Job gefunden habe. Einen sehr großzügigen Zuschuss«, fügte sie hinzu.
Natürlich. Lady Margaret hatte dann ihr Ziel erreicht. Endlich war der alte Kasten weg.
»Ich will nicht nach Truro«, stieß Pandora hervor. »Ich liebe Port Arthur.«
»Das weiß ich doch, Dorie. Aber in Port Arthur gibt es keine Arbeit für mich. Was könnte ich hier schon tun? Regale einräumen wie Jemima? Pendel und Klangschalen verkaufen in Aurelias Hexenladen? Nein, danke!« Sie lächelte bitter. »Vergiss nicht, Dorie, ich hab nichts gelernt.«
»Hast du doch! Du bist Innenarchitektin.«
»Du weißt genau, dass ich das Studium nie beendet habe. Und eine Visitenkarte ist Hawthorn Manor wirklich nicht.«
Myrtle hatte zwar viele Ideen gehabt, wie man das alte Haus verschönern und für Gäste hätte attraktiver machen können, aber ohne Geld waren es Ideen geblieben. Das einzig dekorative Element im Haus war die große Bodenvase in der Halle. Je nach Jahreszeit war sie mit Blumen oder Zweigen gefüllt. Jetzt quoll sie über vor Rosen und Rittersporn. Das kostete schließlich nichts. Man musste nur in den Garten gehen, die Fülle an Blumen war unerschöpflich.
»Ich mag nicht mehr, Dorie«, sprach Myrtle weiter. »Wenn ich nur an den nächsten Winter denke, wird mir ganz anders.«
Es gab an der Küste Cornwalls zwar selten Eis und Schnee, aber im Winter wehte oft ein scharfer, kalter Wind, der durch die Ritzen von Hawthorn Manor drang, egal, wie viele zusammengerollte Handtücher Myrtle zwischen die Fensterflügel stopfte.
Das Telefon in der Halle läutete.
»Soll ich?«, fragte Pandora mit Blick auf die mehlverkrusteten Hände ihrer Mutter.
»Ich geh schon.«
Pandora warf einen Blick in den Herd. Scones zu backen, war eine heikle Sache, man musste höllisch aufpassen, dass sie nicht zu braun wurden.
Myrtle kam zurück. Sie sah verwirrt aus.
»Noch eine Absage?«, fragte Pandora.
»Im Gegenteil. Das war meine Mutter.«
»Kommt Lady Margaret etwa her?«, fragte Pandora erstaunt.
»Sie nicht, aber sie schickt uns den Enkel einer alten Freundin. Er heißt Ashley.«
»Ashley? Ist das nicht ein Mädchenname?«, fragte Zack. Er saß neben Pandora auf der Kaimauer und schlug mit den Fersen rhythmisch gegen die Steine.
Pandora zeigte auf eine blutige Schramme an seiner Stirn. »Neu?«
Zack nickte stolz. »Bin den Heather Hill mit dem Skateboard runter. Na ja, hätte ich wohl besser lassen sollen, mein Skateboard ist hin«, fügte er geknickt hinzu.
Zacks Beine und Arme – und manchmal auch der Kopf – waren übersät mit Narben und Blutergüssen in allen Farben von Dunkelblau über Grün zu Gelb. Zack war nicht etwa ungeschickt, doch bei seinem Bewegungsdrang blieb es nicht aus, dass er ständig irgendwo gegenstieß, stürzte oder stolperte.
Pandora biss von ihrem Fischburger ab.
»Dieser Ashley ist jedenfalls ein Junge.« Sie leckte sich das Fett von den Fingern. »Ich mag den Backfisch deiner Mutter, aber er ist ganz schön fettig, findest du nicht?«
»Hmmm«, machte Zack mit vollem Mund. »Das ist ja gerade das Gute dran.«
Pandora war sich nicht sicher, ob das so gut war. Auf jeden Fall schmeckten Janets Fischburger besser als der gekochte Kabeljau in weißer Sauce, den es im Internat gab und der vor Gräten nur so strotzte.
Zack wischte sich die Finger an der Hose ab. Die war eh so dreckig, dass man es nicht sah. »Gibt schon komische Namen. In meiner Klasse heißt einer Lancelot. Den solltest du sehen, winzig klein und feuerrote Haare. Der Name passt wie Arsch auf Eimer. Lancelot war nämlich der tapferste und stärkste Ritter der Tafelrunde, wenn er sich bloß nicht in die blöde Guinevere verliebt hätte.« Er seufzte.
Zack mochte ein schlechter Schüler sein, aber er wusste alles über König Artus und die Ritter der Tafelrunde. Pandora hatte sich nie dafür interessiert. Das war alles so lange her, außerdem wusste keiner, ob Artus wirklich gelebt hatte. Doch damit durfte sie Zack nicht kommen. Da verstand er keinen Spaß.
»Er ist in Tintagel geboren«, sagte Zack, der nicht nur die Gedanken seines Vaters, sondern auch die von Pandora erriet. »Das haben neue Ausgrabungen bestätigt. Man hat feines Geschirr aus Glas und Ton gefunden, sogar eine römische Amphore, das stammt alles aus dem 6. Jahrhundert und muss einer Königsfamilie gehört haben. Das ist der Beweis!«
Pandora musste lachen. »Du redest wie ein Archäologe.«
»Werde ich später auch«, sagte Zack.
»Da brauchst du ziemlich viel Geduld, musst stundenlang winzige Scherben abbürsten und zusammenkleben.«
Er nickte heftig mit dem Kopf. »Kann ich.«
Pandora glaubte ihm das sogar. Wenn Zack sich für etwas interessierte, dann war er voll und ganz bei der Sache.
»Und wann kommt dieser … Ashley?«, fragte er.
»Heute Nachmittag. Als Lady Margaret anrief, um Bescheid zu sagen, war er schon unterwegs.«
»Ihr konntet also nicht Nein sagen. Raffiniert.« Zack grinste, dann verdüsterte sich sein Gesicht. »Heißt das etwa, dass du jetzt Babysitter spielen musst und keine Zeit mehr hast?«
»Ich denk nicht im Traum dran«, sagte Pandora. »Meine Mutter meint, ich müsste mich um ihn kümmern, aber der Typ ist genauso alt wie ich. Der soll mal schön allein klarkommen.«
Pandora spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Sie hatte Ashley zwar noch nie gesehen, wusste aber schon jetzt, dass sie ihn nicht mochte. Erst machte sich Mr Philby in Quinns Atelier breit und dann tauchte auch noch ein fremder Junge auf. So hatte sie sich ihre Ferien ganz sicher nicht vorgestellt.
»Kommst du mit auf den Friedhof? Ich will meinem Dad ein paar Blumen bringen.« Zack war der Einzige außer ihrer Mutter, der sie dorthin begleiten durfte.
Zack sprang von der Mauer, knüllte das Papier seines Brötchens zusammen und warf das Knäuel geschickt in einen Mülleimer.
»Oben an der Wegkreuzung wächst ganz viel Fingerhut«, sagte Pandora. »Der sieht wunderschön aus.«
»Wunderschön giftig«, sagte Zack.
Sie rannten um die Wette den Weg hoch, bis sie zur Abzweigung kamen, die rechts nach Hawthorn Manor und links in Richtung Kirche führte.
Zack war natürlich schneller und lehnte sich lässig gegen die dichte, hohe Hecke, die den Weg vom Feld trennte.
»Macht ihr eigentlich keinen Sport da in eurer Eliteschule?«
Pandora blieb stehen und hielt sich die Seite. »Machen wir … natürlich … und außerdem ist das keine … Eliteschule … und du warst schon immer schneller als ich.«
Zack nickte zufrieden. »Allerdings.«
Sie kletterten über ein Gatter. Ein paar Kühe hoben gelangweilt den Kopf, um gleich darauf weiterzugrasen.
Pandora zog Zack zum Rand der Weide, deren Böschung in Pink und Violett förmlich glühte.
In kürzester Zeit hatten die beiden die Arme voll. Zack betrachtete nachdenklich die Blüten. »Da sind ja Punkte drin«, sagte er und steckte den Zeigefinger in einen der rosafarbenen Trichter, zog ihn aber schnell wieder raus. Eine böse brummende Hummel surrte an ihm vorbei. »Die sind ja nicht nur giftig, sondern auch gefährlich!«
Pandora schüttelte vorsichtig die Stängel und noch mehr Bienen und Hummeln schwirrten aus den Blüten davon.
»Wir sollten noch was Weißes dazunehmen«, schlug Pandora vor. »Wie wär’s mit Wilder Möhre?«
»Keine Ahnung«, knurrte Zack. »Ich hab’s nicht so mit Blumen.«
Pandora pflückte hier etwas Weißes … da etwas Gelbes … und hob immer wieder den Kopf, um aufs Meer zu schauen, das in einem so dunklen Blau dalag, als habe man ein riesiges Tintenfass ausgeschüttet.
Endlich hatte sie genug. Fachmännisch betrachtete Pandora den üppigen Strauß. »Vielleicht werde ich doch Floristin«, sagte sie. »Dann mache ich in Port Arthur einen kleinen Laden auf und –« Sie brach ab und drehte sich zu Zack um. »Meine Mutter will Hawthorn Manor verkaufen und mit mir nach Truro ziehen.«
»Was?« Zack schrie es fast. »Warum das denn?«
»Weil das Hotel nicht läuft, darum. Es kommen einfach nicht genug Gäste.«
Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinanderher. Gedankenverloren zupfte Zack die Blüten von den Stielen.
»Nicht!«, rief Pandora. »Hör auf damit.«