Über das Buch
Eiskalte Morde an der Küste – der neue John-Benthien-Krimi von Spiegel-Bestsellerautorin Nina Ohlandt An einem bitterkalten Februarmorgen wird John Benthien zu einem einsamen Haus in der nordfriesischen Marsch gerufen. Der Kommissar traut seinen Augen nicht: Vor der Tür des Hauses steht eine Tote, von Kopf bis Fuß in Eis gehüllt. Die geschockten Hausbewohner identifizieren sie als ihre seit Wochen vermisste Tochter. Später erfährt Benthien, dass die Frau ermordet wurde. Doch warum hat der Mörder ihre Leiche auf so groteske Weise inszeniert? Benthiens Ermittlungen verlaufen zunächst ergebnislos, bis zwei weitere »Eisleichen« auftauchen, die letzte auf Amrum. Nach und nach entschlüsselt der Kommissar das bizarre Rätsel – und entdeckt eine Verbindung zu seiner eigenen Vergangenheit …
Über die Autorin
Nina Ohlandt wurde in Wuppertal geboren, wuchs in Karlsruhe auf und machte in Paris eine Ausbildung zur Sprachlehrerin, daneben schrieb sie ihr erstes Kinderbuch. Später war sie als Übersetzerin, Sprachlehrerin und Marktforscherin tätig, bis sie zu ihrer wahren Berufung zurückfand: dem Krimischreiben im Land zwischen den Meeren, dem Land ihrer Vorfahren. Derzeit arbeitet sie am sechsten Krimi um den Flensburger Hauptkommissar John Benthien.
Nina Ohlandt
Eisige Flut
Nordsee-Krimi
John Benthiens fünfter Fall
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelillustration: © shutterstock/Jenny Sturm;
shutterstock/Jeramey Lende; shutterstock/Jenny Sturm
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-4924-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Personenliste Kripo Flensburg
John Benthien, Erster Hauptkommissar
Tommy Fitzen, Oberkommissar, alter Jugendfreund von Benthien
Lilly Velasco, Oberkommissarin
Juri Rabanus, Hauptkommissar, alleinerziehender Vater von Amélie
Lester Smythe-Fluege, Hauptkommissar, der »Neue« aus Hannover
Leon Kessler, frischgebackener Kommissar
Mikke Jessen, Kommissaranwärter
Annika Gerisch, Kommissaranwärterin
Ferner: Esther Talley, Mitarbeiterin im Innendienst
Personenliste Kriminaltechnik
Claudia Matthis, Leiterin der Kriminaltechnik
Stefano Rossi, geht mit Benthien und Fitzen manchmal ein Bierchen trinken
Staatsanwälte
Dr. Thyra Kortum, sie war eine Freundin von
Benthiens Mutter
Weitere Personen siehe Anhang
Sie stand vor dem einsamen Haus, unbeweglich, die Hand an der Klingel. Aus ihrer eisigen Hülle schaute sie blicklos ins Weite, über die leere, dunkle Schneeebene. Sie konnte nicht mehr denken, sie konnte nichts mehr wahrnehmen. Jemand hatte sie, die Besucherin, vor ihrem Elternhaus abgestellt wie eine Puppe, wie ein Exponat im Museum. Gleich würde ihre Mutter kommen und die Zeitung hereinholen.
Elke Derling konnte nicht schlafen in jener Nacht, seit Stunden wälzte sie sich im Bett herum. Obwohl die Heizung im Schlafzimmer lief und das Fenster geschlossen war, fror sie erbärmlich. Irgendwann gegen vier Uhr stand sie leise auf, um Hans nicht zu wecken, und zog sich bibbernd eine Thermostrumpfhose unter ihren Flanellschlafanzug. Obenherum versuchte sie, sich mit einem Rollkragenpullover zu wärmen, und ihre eiskalten Hände steckte sie in ihre wärmsten Handschuhe.
Ein Blick aufs Thermometer verriet ihr, dass es draußen Minus 27 Grad waren – einer der eisigsten Winter, da war sich Elke sicher, seit dem Katastrophenwinter 1978/1979, in dem in Schleswig-Holstein bei Temperaturen bis zu minus 50 Grad unvorstellbare Schneestürme gewütet hatten. Siebzehn Menschen verloren damals ihr Leben.
Auch jetzt lag der Schnee meterhoch, und der eisige Wind fegte heulend wie eine gemarterte Seele ums Haus. Die Küste war nicht weit entfernt. Direkte Nachbarn hatten sie hier nicht, und so war das kleine Backsteinhaus, das allein in der weiten Landschaft stand, der Kälte und dem Sturm schutzlos ausgeliefert.
Elke holte noch zwei Wolldecken aus dem Schrank; mit der einen deckte sie Hans zu, der am Abend mit einer Wollmütze ins Bett gegangen war, die andere legte sie auf ihre Daunendecke. Sie kroch wieder ins Bett in der Hoffnung, doch noch ein bisschen warm zu werden. Sie beneidete Hans, der, egal in welcher Lebenslage, selig schlief, sobald sein Kopf ein Kissen berührte. Oft schon hatte sie gedacht, dass Sorgen und katastrophale Ereignisse ihn einfach nicht so tief berührten wie sie – doch inzwischen hatte sie ihre Meinung geändert. Schlaf war für Hans ein Allheilmittel, das ihm zu einer gewissen Ausgeglichenheit verhalf, zu einer seelischen Stärke, um die sie ihn nur beneiden konnte. Dennoch hatte sie ihn manchmal weinen sehen, vor allem in letzter Zeit, seit dem Verschwinden ihrer Tochter Anja, und das, obwohl er stets bemüht war, sich nichts anmerken zu lassen, ihr immer eine starke Schulter zu bieten. Manchmal hatte sich Elke für ihre Schwäche geschämt.
Auch jetzt musste sie wieder an Anja denken, ihre verschwundene Tochter. Seit vier Wochen, seit der zweiten Januarwoche, gab es kein Lebenszeichen mehr von ihr. Das Schlimme war, dass sie zuerst gar nichts von Anjas Verschwinden mitbekommen hatten, denn sie waren nach langer Zeit noch mal verreist, für zehn Tage nach Mallorca. Elke hatte sich zwar gewundert, dass Anja sich nicht meldete und auch telefonisch nicht erreichbar war. Doch erst, nachdem sie zurückgekehrt waren und sie Anjas leeres Haus und die verdorbenen Lebensmittel im Kühlschrank entdeckt hatten, hatten sie ihre Tochter als vermisst gemeldet. Allerdings ohne Erfolg.
»Wie alt ist Ihre Tochter? Zweiundfünfzig Jahre? Hat sie irgendein Gebrechen? Depressionen? Psychische Störungen? Ist sie schon häufiger verschwunden? Könnte sie selbstmordgefährdet sein? Hat sie Familie, Kinder? Nein? Dann, Frau Derling, können wir Ihnen leider nicht helfen«, hatte der ältere, väterlich wirkende Polizist gesagt und sie mitleidig angeguckt. Danach hatte er sie darüber belehrt, dass es nicht Aufgabe der Polizei war, eine Aufenthaltsermittlung durchzuführen, wenn keine Gefahr für Leib und Leben bestand, da Personen im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte das Recht hatten, ihren Aufenthaltsort frei zu bestimmen.
Der Hinweis, dass ihre Tochter ein sehr zuverlässiger Mensch war, dass sie niemals ihre Arbeit als Sekretärin in der Spedition im Stich lassen würde, ohne sich zu entschuldigen, und noch viel weniger ihr geliebtes Pferd, das sie sich erst kürzlich angeschafft hatte, hatten lange Zeit kein Gehör gefunden. Immerhin hatte man Anjas kleines Häuschen nach Spuren eines Unfalls oder einer Gewalttat durchsucht, aber nichts gefunden. Was Elke und Hans zusätzlich beunruhigte, war, dass keine Kleidung fehlte. Es gab auch keinen Brief oder einen anderen Hinweis, wo Anja hingegangen sein könnte.
Seit einigen Tagen nun ermittelte die Polizei von Niebüll tatsächlich. Inzwischen wusste man, dass seit vier Wochen kein Geld mehr vom Konto abgehoben worden war, auch Anjas Kreditkarten waren nicht belastet worden. Es gab buchstäblich kein Lebenszeichen von ihr; auch nicht im Internet, denn Anja war, was das anbelangte, ziemlich altmodisch gewesen: Sie kaufte weder online ein, noch kommunizierte sie in irgendwelchen Netzwerken. Ihr Pferd, das sie üblicherweise bis zu fünfmal pro Woche besuchte, hatte sie bei einem Bauern untergestellt, doch auch der hatte von Anja seit Wochen nichts mehr gesehen oder gehört. Genauso wenig wie ihre Freunde.
Elke fror noch immer im Bett, vielleicht auch deshalb, weil ihre Gedanken, wie so oft, um ihre Tochter kreisten und keinen Augenblick zur Ruhe kamen. War sie entführt worden? Hatte sie es warm, dort, wo sie war, bekam sie zu essen? Unter Tränen schlief Elke schließlich ein, allerdings nicht für lange. Gegen sechs Uhr stand sie auf und ging in die Küche, um Kaffee zu kochen. Weil sie auch nach dem Anziehen noch immer fror, machte sie sich eine Hühnersuppe aus der Dose. Mit einem heißen Pott Kaffee, an dem sie sich die Hände wärmte, und dem dampfenden Teller Suppe, auf die sie plötzlich gar keinen Appetit mehr hatte, saß sie am Tisch und starrte aus dem Fenster in die schwach schimmernde Schneelandschaft, so gut sie durch die zahlreichen Eisblumen überhaupt etwas sehen konnte.
Irgendwann stand sie auf, um für Hans die Zeitung reinzuholen. Sie selbst interessierte sich nicht mehr für lokale oder internationale Neuigkeiten, seit Anja verschollen war, aber für Hans war die Zeitung wichtig. Ohne sie hätte er mit sich selbst nichts anfangen können.
Sie schlüpfte in ihren dicken Wintermantel und setzte gegen den eisigen Wind ihre fellgefütterte Kosakenmütze auf den Kopf. Vor Jahren, als die Umwelt für Elke noch eine Rolle spielte, las sie von einer Frau, die an einem Wintermorgen, nur mit Schlafanzug, Pantoffeln und Morgenrock bekleidet – war ja nur ein kurzer Weg –, die Zeitung aus dem Briefkasten am Gartenzaun holen wollte. Sie rutschte auf dem vereisten Boden aus und erfror innerhalb kürzester Zeit, weil niemand sie zu dieser frühen Stunde gesehen hatte.
Eigentlich, dachte Elke, während sie sich ihre Gummistiefel anzog, könnte es ihr ja egal sein. Aber diese Gedanken waren unrecht. Sie durfte Anja nicht aufgeben, und auch Hans brauchte sie; sie konnte ihn nicht allein lassen in dieser gnadenlosen Welt.
Sie streifte vorsichtshalber noch ein paar Spikes über die Schuhe, holte den Eimer mit dem Granulat, schaltete das Außenlicht an. Dann öffnete sie die Tür.
Und prallte entsetzt zurück.
In dieser einsamen Gegend war sie nicht allein. Draußen auf dem Treppenabsatz, dicht vor ihr, stand Anja.
Elke blinzelte, ihr Blick saugte sich an ihrer Tochter fest; sie konnte nicht fassen, was sie sah.
Ihr wurde heiß; in ihren Ohren rauschte es, ihr Kopf schien zu bersten. Sie wollte schreien, doch sie brachte nur ein heiseres Wimmern hervor, ehe ihr schwarz vor Augen wurde und sie zusammenbrach.
In dem winzigen Ort Süderlügum, mitten in der nordfriesischen Marsch nahe der dänischen Grenze, war an diesem frühen Samstagmorgen der Teufel los. Zwei Streifenwagen standen mit blinkendem Blaulicht vor dem kleinen Backsteinhaus, zwei Notarztwagen fuhren gerade ab, um das ältere Ehepaar nach Niebüll ins Klinikum Nordfriesland zu bringen. Die Frau hatte einen schweren Schock erlitten, der Ehemann aller Wahrscheinlichkeit nach einen Herzinfarkt, als er begriffen hatte, wer da vor seiner Tür stand.
Auch der Polizeifotograf, die beiden Kriminaltechniker und der Rechtsmediziner, die genau in dieser Reihenfolge aus Flensburg und Kiel eingetroffen waren, wollten ihren Augen nicht trauen. Und Claudia Matthis, die Leiterin der Spurensicherung, konnte sich nicht erinnern, so etwas jemals gesehen zu haben.
»Wir sollten unbedingt auf die Kripo warten, ehe wir anfangen«, sagte Stefano Rossi, ihr junger Kollege mit italienischen Wurzeln, und trat wegen der Kälte von einem Fuß auf den anderen. »Ich glaube, Benthien wird uns den Kopf abreißen, wenn er nicht mehr den Originalschauplatz vorfindet.« Er war gerade dabei, die forensischen Tatortleuchten aufzustellen – UV-Lampen sowie diverse Handlampen.
»Es kann auch nicht schaden, abzuwarten, bis es heller geworden ist«, ergänzte Bruno, der langbärtige Fotograf, und blies seinen warmen Atem in die Hände.
»Okay, wir warten auf die Kripo. Aber im Haus, da ist es wenigstens warm«, stimmte Claudia Matthis, eine taffe Vierzigerin, zu, nachdem alles ausgepackt worden war. Um keine etwaigen Spuren zu verwischen, hatten sie Decken abseits des Zugangsweges auf den Schnee gelegt, auf denen sie sich nun zum Haus bewegten.
Wenig später saßen sie in der Küche um den Tisch beisammen – Claudia und Stefano von der Spurensicherung, Bruno, der Fotograf, und Dr. Radtke, der Gerichtsmediziner – und tranken den Kaffee, den Elke Derling vor einer Stunde zubereitet hatte. Stefano, der eigentlich immer essen konnte, freute sich über die lauwarme Hühnersuppe, zumal er noch nicht gefrühstückt hatte.
»Schade«, sagte er kauend, »dass die Derlings im Krankenhaus sind. Wir hätten ein paar Auskünfte gut gebrauchen können.«
»Die Polizei in Niebüll hat eine Vermisstenmeldung aufgenommen«, erklärte Claudia. »Soweit ich weiß, haben sie erst in der letzten Woche angefangen, die Sache ernst zu nehmen. Sie wollen uns die Akte mailen.«
Dr. Radtke, der bärbeißige Rechtsmediziner, sagte gar nichts. Er erntete Proteste, als er seine Zigaretten hervorzog, doch am Ende saßen alle vier rauchend um den Tisch – in dieser Küche wurde ohnehin geraucht, wie ein voller Aschenbecher verriet – und gaben sich der Illusion hin, ein wenig Zigarettenrauch könnte für eine gemütlichere Atmosphäre in dieser klammen Küche sorgen, während um die Hausecken der eisige Nordwind heulte.
Endlich vernahmen sie Motorenlärm, Reifen auf einer knirschenden Schneedecke, zuschlagende Autotüren. »Die Herren von der Kripo sind im Anmarsch«, sagte Stefano zufrieden. »Wir können loslegen.«
John Benthien, Erster Hauptkommissar bei der Flensburger Kripo, und sein Freund und Kollege, Oberkommissar Tommy Fitzen, standen mit offenen Mündern vor dem Treppenaufgang der Derlings. Oben, auf dem überdachten Treppenabsatz, versperrte ihnen jemand den Weg zur Haustür. Eine Figur aus Eis stand dort und hatte den Arm zur Klingel erhoben. Ein gefrorener Mensch, nein, ein gewesener Mensch, jetzt eine Leiche, eingeschlossen in Eis. Sie war unter der dünnen, klaren Eisschicht recht gut zu erkennen, zumal, wenn wie jetzt, das Licht der Haustürlampe darauf fiel. Es war eindeutig Anja Derling, der man den Anschein gegeben hatte, sie wolle nach Hause kommen. Aber sie war tot, sorgfältig arrangiert von ihrem Mörder, seltsam lebendig aussehend unter der Eisschicht, die sie umgab wie ein eiskalter, aber schützender Kokon. Nur, dass dort nie ein Schmetterling schlüpfen würde, nicht jetzt und auch nicht im Frühling …
Ja, schoss es Benthien durch den Kopf, Anja Derling war zurück, war zu Besuch bei ihren Eltern. Welch krankes Hirn dachte sich nur so etwas aus?
»Das muss man sich mal vorstellen«, sagte Benthien nun laut, »die Mutter öffnet die Tür und steht ihrer toten Tochter gegenüber, die sie durch eine Eisschicht ansieht. Kein Wunder, dass die Derlings jetzt in ärztlicher Obhut sind.«
Fitzen, sonst durchaus redegewandt, hatte es offenbar die Sprache verschlagen. Er schüttelte nur ungläubig den Kopf.
Dann nahm die übliche Routine ihren Lauf.
Bruno machte mit der digitalen Spiegelreflexkamera Fotos des sorgsam ausgeleuchteten Tatortes. Da die Leiche im gefrorenen Zustand nicht untersucht werden konnte, wurde sie sehr schnell abtransportiert in die Gerichtsmedizin. Fitzen, der es nicht lassen konnte und dem brummigen Gerichtsmediziner trotz allem ein paar Auskünfte entlocken wollte, bekam das, was jeder, einschließlich ihm selbst, erwartet hatte: keine Antwort, dafür aber einen zornigen Blick.
»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mir vom bloßen Hinsehen eine Meinung bilden kann, noch dazu durch eine Eisschicht hindurch?«, blaffte der Arzt, intern auch bekannt als Dr. No. »Immerhin, eins kann ich Ihnen sagen …« Er zog an seinem Zigarillo und paffte ein paar Rauchringe in die Luft.
»Ja, was?«, fragte Fitzen eifrig.
»Die Frau ist tot. Kalt und mausetot!« Er grinste und winkte ihnen zu. »Arrivederci.«
»Seine italienische Aussprache ist grauenhaft«, bemerkte Stefano, nachdem der Wagen des Arztes hinter einer hohen Schneewehe verschwunden war.
Dann machte er sich ans Werk. Zusammen mit seiner Chefin Claudia Matthis untersuchte er den Treppenabsatz, die fünf Treppenstufen, die Zufahrt zum Haus, schnaufend, aufstapfend, sich die Hände reibend, denn draußen war es immer noch weit unter null Grad, während Benthien und Fitzen sich in der Küche an dem jetzt nicht mehr so warmen Kaffee labten. Benthien telefonierte mit dem Krankenhaus, in das man die Derlings gebracht hatte, und erfuhr, dass Frau Derling unbedingt mit der Polizei reden wollte.
»Dann mal nichts wie hin!«, sagte Fitzen, stülpte sich seine Mütze über die verwuschelten Haare, die bis über den Kragen reichten, und war abmarschbereit, gerade, als Stefano und Claudia ins Haus kamen.
»Sieht schlecht aus«, berichtete Claudia. »Der Neuschnee, die Feuchtigkeit und die Kälte haben alle etwaigen Spuren zerstört. Reifenspuren oder Fußspuren sind auch nicht zu erkennen. Der Täter kann sich wirklich beim Wettergott bedanken. «
»Was ist mit Blut, Speichel, Schweiß? Hautschuppen oder Haaren?«, beharrte Benthien, der die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben hatte. »Könnt ihr wenigstens sagen, ob es ein, zwei oder mehrere Leute waren, die die Leiche hier abgeladen haben?«
Stefano schüttelte den Kopf. »Keine Chance, Amigo. Selbst mit dem Polilight haben wir nichts gefunden. Durch Polilight können verschiedene Arten von Beweisstücken zum Fluoreszieren gebracht und dadurch erkennbar gemacht werden, aber durch den andauernden Schneefall sind sie entweder zerstört worden – oder es hat nie welche gegeben.«
»Wir werden die Leiche natürlich auch im Leichenschauhaus untersuchen, wenn sie aufgetaut ist. Ihre Kleidung ist ja zum Glück noch da«, warf Claudia ein. »Vielleicht finden wir dann etwas. Fürs Erste kann ich nur sagen, dass der oder die Täter die Leiche hier vor Ort mit Wasser übergossen haben. Bei den krassen Temperaturen in der letzten Nacht hat sich sehr schnell eine Eisschicht gebildet. Aber vorher muss die Leiche irgendwo eingefroren gewesen sein, und zwar genau in dieser Stellung.«
»Was meinst du mit ›in dieser Stellung‹?«, wollte Fitzen wissen.
»Der oder die Täter haben ihre Beine so ausgerichtet, dass sie, mithilfe des Exponatständers, den sie in sie hineingebohrt haben, stehen konnte, dann wurden der rechte Arm und der Zeigefinger so positioniert, dass es aussieht, als wollte sie auf den Klingelknopf drücken.«
»Mein Gott, wie krank ist das denn?«, entfuhr es Fitzen nicht zum ersten Mal.
»Er hatte also einen Plan, ein Szenario«, sagte Benthien und strich sich durch die dichten braunen Haare, sodass sie in alle Richtungen standen, wie er es oft zu tun pflegte, wenn er nachdachte oder angespannt war.
»Die Rückschlüsse müsst ihr ziehen«, bemerkte Claudia, »das ist euer Job. Wir fahren jetzt zurück, im Haus müssen wir ja nichts weiter untersuchen. Bis später!«
Kurz darauf saßen auch Benthien und Fitzen im Auto auf dem Weg nach Niebüll, ins Klinikum Nordfriesland, um mit der bedauernswerten Mutter über ihre Tochter zu sprechen.
»Was ist eigentlich ein Exponatständer?«, fragte Fitzen eine gute Stunde später, nachdem sie die Klinik in Niebüll verlassen hatten. »Ist es das, was ich denke? So ein Ständer für Museumsstücke?«
Benthien saß am Steuer und lenkte den Wagen vorsichtig über die schnell vereisende Straße in Richtung Langenhorn, einem kleinen Ort zwischen Niebüll und Husum, wo Anja Derling ein Häuschen gemietet hatte.
»Genau, darauf fixiert man Exponate, zum Beispiel in Museen und Ausstellungen«, erklärte Benthien. »So wie es hier am Tatort beziehungsweise Fundort aussah, hat der Täter einen stockähnlichen Ständer mit einem schweren Fuß benutzt, vielleicht aus Beton. Oben muss er zugespitzt gewesen sein.«
»Und er hat ihn der Frau offensichtlich in den Leib gerammt, um sie zu stabilisieren, wie widerlich ist das denn?«, sagte Fitzen, während er in ein Krabbenbrötchen biss. Manchmal wünschte sich Benthien, Fitzens Nervenkostüm zu haben. Obwohl man nicht sagen konnte, dass Tommy Fitzen unsensibel war. Er konnte nur wunderbar eine Grenze ziehen zwischen seiner Arbeit im Polizeidienst und seinem Privatleben. Benthien gelang das nicht immer so einfach. Oft träumte er nachts von den Tatorten, besonders den grausamen, blutigen. Nach dem Anschlag auf das World Trade Center hatte er nächtelang von den Verzweifelten geträumt, die sich aus den Fenstern gestürzt hatten und im Traum immer vor seinen Füßen gelandet waren. Er sollte versuchen, in dieser Hinsicht von seinem Freund zu lernen.
»Ich frage mich«, sagte Fitzen in seine Gedanken hinein, »ob das der erste Mord unseres Täters war. Wenn ja, hat er das ziemlich perfekt gemacht, wie nach einem Drehbuch. Ich frage mich außerdem, ob wir hier den Anfang einer Mordserie erleben …« – Benthien stöhnte leise auf – »oder ob es ein Täter aus dem nahen Umfeld des Opfers ist, der es genau auf Anja Derling und niemand anderen abgesehen hat. Was glaubst du?«
»Das kann ich doch jetzt noch nicht sagen, Tommy. Lass uns erst mal Derlings Haus durchsuchen, ihr Handy, ihren Computer, die Nachbarn befragen, dann wissen wir mehr. Nach dem, was ihre Mutter erzählt hat, kann ich mir allerdings kaum vorstellen, dass sie sich Feinde gemacht hat. Sie war zu unauffällig, um überhaupt irgendwo anzuecken.«
»Mütter wissen nicht immer alles von ihren Töchtern«, sagte Fitzen weise und sammelte ein paar Krabben ein, die von seinem Brötchen gefallen waren.
Benthien dachte darüber nach, was ihnen Frau Derling eben in der Klinik über ihre Tochter erzählt hatte.
Anja war ein schwieriges Kind gewesen, in der Schule nur mittelmäßig, für das Gymnasium hatte es nicht gereicht. Eigentlich hatte sie sich immer benachteiligt gefühlt, zumal ihre beiden älteren Brüder beruflich erfolgreicher waren. Der eine war ein renommierter Theaterschauspieler in Düsseldorf, der andere hatte Medizin studiert und lebte in den USA, wo er in der Zellforschung tätig war.
»Aber sie hat es trotzdem geschafft, einen guten Abschluss zu machen, ist auf eine Berufsfachschule gegangen und hat sich bis zur Sekretärin hochgearbeitet, oder, wie man heute sagt, zur Wirtschaftsassistentin«, hatte Frau Derling mit einem gewissen Stolz in der Stimme erzählt.
Doch auch dann war Anja nie so richtig zufrieden mit ihrem Leben gewesen. Zumal sie lange Zeit keinen Freund hatte. Bis sie sich, vor über zwanzig Jahren, in einen hübschen jungen Thailänder verliebte, der ihre Liebe zu erwidern schien, sie jedoch nicht heiratete. Stattdessen ging er zurück in seine Provinz, und Anja, die gerade so von ihrem Gehalt leben konnte, beschwatzte ihre Mutter, ihr Geld zu leihen – was diese auch tat –, um ihrem Kim nach Thailand zu folgen. Dummerweise war der, als sie zwei Jahre später dort ankam, bereits verheiratet und Vater eines vier Monate alten Babys.
»Anja war am Boden zerstört«, hatte ihnen Frau Derling erzählt. »Sie liebte diesen Menschen nun mal und hat alles versucht, um ihn zurückzugewinnen. Eineinhalb Jahre ist sie in Thailand geblieben. Als sie zurückkam, war sie schwanger von Kim. Es war ein Junge. Er wurde in Husum geboren, und sie hat ihn Carmelo genannt. Aber es war schwer für sie als alleinerziehende Mutter, zumal sie ja arbeiten musste. Die meiste Zeit habe ich den kleinen Carmelo betreut. Und Anja hing immer noch an ihrem Kim, obwohl er inzwischen schon dreifacher Vater war. Sie war so unglücklich, dass ich ihr noch einmal ein halbes Jahr Thailand finanziert habe. Mein Mann, Hans, war ja dagegen. Aber Anja konnte sehr hartnäckig sein, wenn sie etwas wollte. Und vor allem wollte sie, dass Kim seinen Sohn kennenlernt. Wer weiß, vielleicht hat sie darauf gehofft, dass Kim sich doch noch für sie entscheidet.« Sie hatte tief geseufzt. »Sie können sich vielleicht vorstellen, wie enttäuscht ich war, als sie ohne Carmelo zurückkam. Kim und seine Frau, die inzwischen im Norden von Thailand lebten, wollten ihn adoptieren, und Anja schien das ganz recht zu sein. Ich war wirklich außer mir! Aber Anja meinte, dort hätte er ein besseres Leben, als sie ihm als arbeitende, alleinerziehende Mutter bieten konnte, er wäre dann ja doch den ganzen Tag in der Kindertagesstätte oder bei einer Nanny gewesen.«
»Hätten Sie ihn nicht betreuen können?«, hatte Fitzen gefragt, aber Frau Derling hatte erklärt, sie habe damals gerade ein besonders schlimmes Muskelrheuma gehabt, hätte Kortison bekommen und wäre nicht sehr belastbar gewesen.
»Was hältst du von Anja Derling?«, fragte Fitzen nun, während er sein zweites Brötchen auspackte. »Glaubst du, der Sohn käme infrage? Hass, Wut, Enttäuschung, weil sie ihn ja quasi weggegeben hat? Stattdessen hat sie sich dann ein Pferd angeschafft, was auch ziemlich betreuungsintensiv ist, aber nicht ganz so teuer und aufwändig wie ein Sohn.«
Benthien zuckte mit den Schultern. »Sie war doch gerade erst drei Monate in Thailand gewesen, letzten Herbst. Also kümmert sie sich um ihren Sohn. Warum sollte er ihr hinterherfliegen?«
»Vielleicht hatten sie Streit? Bangkok ist von Deutschland rund elf Flugstunden entfernt, also nicht gerade eine Weltreise. Ihr Sohn ist inzwischen achtzehn, und das Eis könnte symbolisch gemeint sein, seine eigene Mutter, die ihn im Stich gelassen hat, ein Mensch mit einem eisigen Herzen …«
Benthien warf Fitzen einen Blick zu. »Sag mal, liest du neuerdings Heftromane? Wir wissen noch viel zu wenig, um irgendwelche Schlüsse ziehen zu können. Natürlich werden wir den Sohn überprüfen, aber lass uns doch mal unvoreingenommen an die Sache herangehen. Außerdem wäre ich dir dankbar, mein Lieber, wenn du mir nicht den ganzen Wagen vollkrümeln würdest!« Benthien zögerte kurz, ehe er fortfuhr. »Sag mal, bilde ich mir das ein, oder kam dir Elke Derling auch irgendwie bekannt vor? Ich meine, ich hätte sie schon mal gesehen.«
»Beruflich, als Zeugin, oder hast du sie mal verhaftet?« Fitzen schüttelte den Kopf. »Mir war sie völlig unbekannt. Übrigens, meiner Mutter sagen auch oft Leute, dass sie ihnen bekannt vorkommt, oder Fremde grüßen sie. Sie meinte kürzlich ganz resigniert zu mir, sie hätte wohl ein norddeutsches Dutzendgesicht. Vielleicht sieht Elke Derling jemandem ähnlich, den du kennst.« Fitzen biss in sein Matjesbrötchen und konnte gerade noch den Tropfen Soße auffangen, der unter dem Salatblatt hervorquoll.
»Wird wohl so sein«, antwortete Benthien nachdenklich und konzentrierte sich wieder auf die Straße vor ihm.
Martha Gropius erwachte früh an diesem Morgen. Vielleicht war es der Nordsturm, der um ihr altes Haus strich und alles zum Klingen, Klopfen und Scheppern brachte, was nicht niet- und nagelfest war. Auch Butte war bereits wach. Er lag auf seiner Matratze neben ihrem Bett und blickte sie aus seinen großen braunen Augen an, die aussahen, als habe sie jemand mit einem Kajalstrich umrandet. Als er merkte, dass Martha wach war, sprang er auf. Er reckte sich ausgiebig, wobei er die Zunge herausstreckte und sonderbare Laute in allen Tonlagen hervorbrachte, ein Mittelding zwischen Jaulen, Quietschen und kleinen, begeisterten Hundeschreien. Butte war überhaupt der stimmbegabteste Hund, den Martha kannte, kein anderer hatte solch ein reichhaltiges Repertoire an Tönen wie er. Sie kuschelte sich noch einmal in die Kissen und hing ihren Erinnerungen nach. Einmal hatte sie ihrer Mutter in den Urlaub geschrieben, dass Butte so unglaublich drollig war, wenn er sie morgens begrüßte, und hatte – vergeblich – versucht, ihr Buttes so besondere Laute zu beschreiben. Und dann seine begeisterten Begrüßungszeremonien, wenn er jemand lange nicht mehr gesehen hatte …
Nein, für Erinnerungen hatte sie jetzt keine Zeit, sie musste an die Arbeit gehen! Martha setzte sich auf den Bettrand und versenkte ihre Hände in Buttes unglaublich weichem Brustfell, ließ seine lustigen Ohren, halb hängend, halb stehend, durch ihre Hände gleiten und gab ihm einen Kuss auf die Stirn, die sich in Karamellfarben fast herzförmig von dem übrigen schwarzen Fell absetzte. Butte drückte dafür seinen Kopf gegen ihren Oberschenkel und rieb seine Schnauze an ihrem dicken Nachthemd, wobei er sie nicht aus den Augen ließ.
Wenig später saß er in der Küche und beobachtete, wie Martha Frühstück machte, wobei seine Zunge tropfte wie ein Wasserhahn, der leckt.
Er bekam einen kleinen Appetithappen in Form von Hundekuchen, bevor Martha sich neben den bullernden alten Kachelofen an den Küchentisch setzte und sich ihren Milchkaffee zurechtmixte. Wie schön, dass ihr Großvater sich als Erstes heute Morgen um den Ofen gekümmert hatte! Ihr selbst fiel es schwer, die Briketts zu schleppen, aber der Ofen war wichtig, denn im Heiztank war kaum noch Öl für die Zentralheizung. Und bevor sie nicht den nächsten Vorschuss bekam, würde sie kein neues Öl kaufen können, daher war trotz der eisigen Temperaturen äußerste Sparsamkeit angesagt.
Sorgenvoll blickte sie aus dem Fenster, doch sie sah nur ihr eigenes Spiegelbild: eine Frau mit graublonden Haaren und schlechtem Schnitt, einem mageren Hals, knochigen Schultern und großen Augen, die ihr Gesicht beherrschten. Früher, als sie noch attraktiv war, hatte der eine oder andere ihrer Freunde oder Verehrer ihr öfter gesagt, sie sähe so traurig aus, was sie immer geärgert hatte, denn es klang so bedürftig. Jetzt, glaubte sie, könnten sie durchaus recht haben – wenn es denn noch welche gäbe. Nur Johannes, Johannes hatte das nie gesagt.
Martha löschte das Licht und zündete ein Teelicht an. Sie trat ans Fenster, legte die Hände um ihr Gesicht und blickte hinaus in den Schnee. Natürlich war es noch dunkel draußen, aber dass die Schneedecke wieder gewachsen war und immer neuer Schnee hinzukam, konnte sie erkennen. Sie seufzte. Blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als den schmalen Trampelpfad zur Straße wieder freizuschaufeln wie jeden Tag, sonst wäre sie irgendwann gänzlich eingeschneit.
Martha konnte sich nicht erinnern, jemals einen solchen menschenfeindlichen Winter erlebt zu haben. Und das im Februar, wo in anderen Jahren im Garten bereits die ersten Forsythien und Osterglocken blühten. Sie sehnte sich so sehr nach dem Frühjahr. Winter, das war für sie Sterben und Tod, ein tiefes, graues Loch, auf dessen Grund sie sich jetzt befand, zusammen mit Depressionen und der Ungewissheit, ob sie da jemals wieder herausfinden würde.
Sie räumte den Küchentisch ab, stellte das benutzte Geschirr in die Spüle und griff, fast widerwillig, zu ihrem Block, um die erste Illustration für das neue Buch anzufangen. Es war ein Thema, das ihr ganz und gar nicht behagte: Folter im Mittelalter. Unglaublich, was die Menschen damals einander angetan hatten! Und sie musste diese Schilderungen nun in bildhafte Szenen umsetzen: geköpfte, geräderte, aufgespießte Menschen, die für zum Teil geringfügige Vergehen oder solche, die man ihnen andichtete, bestraft worden waren, immer auf die grausamste Art und Weise, immer bis zum Tod. Sie kannte den Autor nicht, aber ihr schien, als hätte er ein großes Vergnügen bei seinen akribischen Schilderungen empfunden.
Sie machte die ersten zögerlichen Striche. Eine Frau auf dem Scheiterhaufen, festgebunden an einen Pfahl, Flammen hatten bereits ihre im Luftzug des Feuers wehenden Haare erfasst, der Mund war aufgerissen zu einem einzigen, ungeheuerlichen Schrei, ähnlich dem Gemälde von Edvard Munch. Sie kannte es gut, denn einen Druck davon hatte sie in ihrem Schlafzimmer aufgehängt.
Als Martha aufsah, erblickte sie im Türrahmen ihre Tante Bea, wie jeden Tag in ihrer geblümten Schürze, wie jeden Tag bereit zur Arbeit. Sie ging zu Martha und umarmte sie. »Musst du wieder so was Schreckliches malen? Mein armes Kind.«
Ja, die Zeit der Gartenblumen war vorbei, die sie im Herbst hatte malen dürfen. Martha stand auf, um ihrer geliebten Tante eine Tasse Kaffee einzuschenken. Niemand hatte je für Tante Bea gesorgt, aber sie war immer für die Familie da gewesen, unermüdlich hatte sie über das Wohl ihrer Lieben gewacht. Da war es doch wohl an der Zeit, sie ein kleines bisschen zu verwöhnen, und sei es nur, dass der Kaffee bereits eingeschenkt auf sie wartete.
Das altmodische schnurgebundene Telefon schrillte. Martha zuckte zusammen. Wer rief sie so früh am Tag an? Es war, wie sich herausstellte, Frau Derling, Anjas Mutter. Sie weinte und erzählte, wieder einmal, ihre Geschichte von der verschwundenen Tochter – Martha kannte sie bereits zur Genüge –, doch diesmal berichtete sie etwas Neues. Dass Anja heute Morgen vor ihrer Türe gestanden hatte, gekleidet in ihre schwarze Winterhose und den roten Rolli, gehüllt in Eis und dennoch seltsam lebendig, aber natürlich tot. Tot, tot, tot! Ihre Tochter – eine Tote – hatte sie am frühen Morgen begrüßt! Martha wusste kaum, was sie sagen sollte, aber Elke Derling erwartete auch keine großen Worte. Sie weinte immer noch, als beide auflegten.
»Anja«, sagte Martha zu ihrer Tante, »ist wieder aufgetaucht. Ermordet. Sie hat wohl auch nichts anderes verdient, oder?«