ÜBER DAS BUCH
Lia und Rafe konnten aus Venda fliehen, doch verletzt und durchgefroren liegt ein ungewisser Weg vor ihnen. Während sie Rafes Heimat, dem Königreich Dalbreck, Stunde um Stunde näherkommen, spürt Lia, dass sie schon viel zu lang weit weg ist von Morrighan, ihrem Zuhause. Dabei deutet alles darauf hin, dass das Land kurz vor einem Krieg steht. Und obwohl Rafe ihr eine Zukunft als Königin an seiner Seite verspricht, ahnt Lia, dass sie ihrer Bestimmung folgen muss. Sie möchte als Erste Tochter von Morrighan ihrem Volk zur Seite stehen und für ihr Land kämpfen. Aber ist sie bereit, Rafe zu verlassen, um ihrer inneren Stimme zu folgen?
Der 3. Band der New York Times-Bestseller-Reihe »Die Chroniken der Verbliebenen«.
ÜBER DIE AUTORIN
Mary E. Pearson hat bereits verschiedene Jugendbücher geschrieben. Der Kuss der Lüge, Auftaktband der Chroniken der Verbliebenen, ist der erste ihrer Titel, der auf Deutsch erscheint. In den USA hat sie damit in Bloggerkreisen geradezu einen Hype ausgelöst. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden in Kalifornien.
MARY E. PEARSON
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch
von Barbara Imgrund
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2016 by Mary E. Pearson
Map Copyright © 2016 by Keith Thompson
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Julia Przeplaska, Ingolstadt
Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer
unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: kiuikson |
Ana Gram | Skreidzeleu | Cara-Foto | Spectral-Design
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-4944-3
luebbe.de
lesejury.de
Für Rosemary Stimola,
die Träume wahr werden lässt
Das Ende der Reise. Das Versprechen. Die Hoffnung.
Ein Ort, um zu bleiben.
Aber er ist noch nicht in Sicht, und die Nacht ist kalt.
Komm aus der Dunkelheit, Mädchen.
Komm heraus, hierher, wo ich dich sehen kann.
Ich habe etwas für dich.
Ich halte sie zurück und schüttle den Kopf.
Ihr Herz flattert unter meiner Hand.
Er verspricht Ruhe. Er verspricht Essen.
Und sie ist hungrig und müde.
Komm heraus.
Aber sie kennt seine Hinterlist und bleibt an meiner Seite.
Die Dunkelheit ist das Einzige, was uns noch Sicherheit gewährt.
Gaudrels Vermächtnis
DIE DUNKELHEIT WAR etwas Schönes. Der Kuss eines Schattens. Eine Liebkosung, so zart wie Mondlicht. Sie war immer mein Schutz gewesen, ob ich nun auf einem von Sternen beleuchteten Dach herumschlich oder mich bei Mitternacht eine Gasse entlangstahl, um meine Brüder zu treffen. Die Dunkelheit ließ mich die Welt vergessen, in der ich lebte, und lockte mich, von einer anderen zu träumen.
Auf der Suche nach ihrem Trost ließ ich mich tiefer fallen. Süßes Gemurmel rührte mich. Nur die Sichel eines goldenen Mondes schien in dem flüssigen Dunkel, schwebend, schaukelnd, immer in Bewegung und immer außerhalb meiner Reichweite. Sein wechselndes Licht erhellte eine Wiese. Ich schöpfte neuen Mut. Ich sah Walther mit Greta tanzen. Gleich hinter ihnen drehte sich Aster zu einer Musik, die ich nicht genau hören konnte, und langes Haar floss ihr dabei über die Schultern. War dies schon das Fest der Befreiung? Aster rief mir zu: Beeilung, Prinzess! Dunkle Farben wirbelten umher; ein Sprühregen aus Sternen wurde violett; die Ränder des Mondes lösten sich am schwarzen Himmel auf wie Zucker in einem Wasserglas; die Dunkelheit wurde undurchdringlich. Warm. Willkommen. Weich.
Wenn nicht dieses Rempeln gewesen wäre.
Das rhythmische Schütteln kehrte wieder und wieder. Es wollte etwas.
Bleib.
Diese Stimme, die nicht loslassen wollte. Kalt und grell und scharf.
Halte dich fest.
Eine breite, harte Brust, eisiger Atem, als meine Augen aufgingen, eine Stimme, die immer wieder die Decke wegzog, Schmerz, der sich so betäubend auf mich stürzte, dass ich keine Luft bekam. Die schreckliche Helligkeit, die aufblitzte, mir in die Augen stach und endlich schwand, als ich nicht mehr konnte.
Wieder Dunkelheit, die mich einlud, doch zu bleiben. Kein Atem. Kein gar nichts.
Als ich auf halbem Weg zwischen der einen und der anderen Welt war, erlebte ich einen Moment der Klarheit.
Dies war Sterben.
*
LIA!
Ich wurde erneut der tröstlichen Dunkelheit entrissen. Die wohlige Wärme wurde unerträglich heiß. Weitere Stimmen waren zu hören. Barsch. Schreiend. Laut. Zu viele Stimmen.
Das Sanctum. Ich war wieder im Sanctum. Soldaten, Statthalter … der Komizar.
Meine Haut brannte, stach wie Feuer, war feucht vor Hitze.
Lia, mach die Augen auf. Sofort.
Befehle.
Sie hatten mich aufgespürt.
»Lia!«
Ich riss die Augen auf. In dem Raum wirbelten Feuer und Schatten, Fleisch und Gesichter. Ich war umzingelt. Ich versuchte zurückzuweichen, doch ein sengender Schmerz raubte mir den Atem. Sterne tanzten vor meinen Augen.
»Lia, beweg dich nicht.«
Und dann ein Durcheinander von Stimmen. Sie ist zu sich gekommen. Haltet sie fest. Lasst sie nicht aufstehen.
Ich zwang einen flachen Atemzug in meine Lungen, und mein Blick wurde scharf. Ich betrachtete die Gesichter, die auf mich herabstarrten. Statthalter Obraun und sein Leibwächter. Es war kein Traum. Sie hatten mich geschnappt. Und dann drehte eine sanfte Hand meinen Kopf zur Seite.
Rafe.
Er kniete neben mir.
Ich sah zurück zu den anderen, und da fiel es mir wieder ein. Statthalter Obraun und seine Leibwächter hatten auf unserer Seite gekämpft. Sie hatten uns bei der Flucht geholfen. Aber warum? Neben ihnen sah ich Jeb und Tavish.
»Statthalter«, flüsterte ich, aber ich war zu schwach, um mehr zu sagen.
»Sven, Eure Hoheit«, sagte er und beugte das Knie. »Bitte nennt mich Sven.«
Der Name klang vertraut. Ich hatte ihn in fieberhaften, verworrenen Momenten gehört. Rafe hatte ihn Sven genannt. Ich blickte mich um und versuchte, mich zu orientieren. Ich lag auf einer Bettrolle auf dem Boden. Schwere Decken, die nach Pferd rochen, lasteten auf mir. Satteldecken.
Ich versuchte, mich auf einen Ellbogen hochzustemmen, aber wieder durchfuhr mich Schmerz. Ich fiel zurück, während der Raum sich drehte.
Wir müssen die Pfeilspitzen herausholen.
Sie ist zu schwach.
Das Fieber verbrennt sie. Sie wird nur noch schwächer werden.
Die Wunden müssen gereinigt und genäht werden.
Ich habe noch nie ein Mädchen genäht.
Fleisch ist Fleisch.
Ich lauschte ihrem Gespräch, und die Erinnerung kam wieder. Malich hatte auf mich geschossen. Einen Pfeil in den Oberschenkel und einen in den Rücken. Das Letzte, woran ich mich erinnerte, war, dass ich am Flussufer lag und Rafe mich auf die Arme nahm, um mich zu tragen. Seine Lippen waren so kühl auf meinen. Wie lange war das her? Und wo waren wir jetzt?
Sie ist stark genug. Mach schon, Tavish.
Rafe nahm mein Gesicht in seine Hände und beugte sich zu mir herunter. »Lia, die Pfeilspitzen stecken tief. Wir werden die Wunden aufschneiden müssen, um sie herauszuholen.«
Ich nickte.
Seine Augen glänzten. »Du darfst dich nicht bewegen. Ich muss dich festhalten.«
»Ist schon in Ordnung«, flüsterte ich. »Ich bin stark. Wie ihr selbst sagt.« Ich konnte selbst hören, dass meine schwache Stimme meine Worte Lügen strafte.
Sven fuhr zurück. »Ich wünschte, ich hätte Branntwein für Euch, Mädchen.« Er reichte Rafe etwas. »Steck ihr das zwischen die Zähne, damit sie draufbeißen kann.«
Ich wusste, warum – ich sollte nicht schreien. War der Feind in der Nähe?
Rafe schob mir eine Lederscheide in den Mund. Kühle Luft strich über mein nacktes Bein, als Tavish die Decke zurückschlug, um meinen Oberschenkel zu entblößen. Ich spürte, dass ich unter der Decke nur wenig anhatte. Ein Hemd, wenn überhaupt. Sie mussten mir das durchweichte Kleid ausgezogen haben.
Tavish murmelte eine Entschuldigung, verschwendete aber weiter keine Zeit. Rafe drückte meine Arme zu Boden, und jemand anders tat dasselbe mit meinen Beinen. Das Messer grub sich in meinen Oberschenkel. Meine Brust zitterte. Ein Stöhnen drang zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen hervor. Mein Körper wand sich gegen meinen Willen in Zuckungen, und Rafe musste noch mehr Kraft aufwenden. »Sieh mich an, Lia. Schau nicht weg. Es ist bald vorbei.«
Ich bohrte meinen Blick in das strahlende Blau seiner Augen. Sein Blick brannte wie Feuer. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Das Messer suchte sich seinen Weg, und ich blinzelte. Erstickte Schreie entrangen sich meiner Kehle.
Sieh mich an, Lia.
Bohren. Schneiden.
»Ich hab sie!«, rief Tavish endlich.
Ich konnte nur noch keuchen. Jeb wischte mir mit einem kühlen Lappen übers Gesicht.
Gut gemacht, Prinzessin, hörte ich von jemandem, den ich nicht kannte.
Das Nähen war ein Kinderspiel im Vergleich zum Schneiden und Bohren. Ich zählte jeden Stich mit. Es waren vierzehn.
»Und jetzt zu Eurem Rücken«, sagte Tavish. »Das wird ein bisschen schlimmer.«
*
Als ich aufwachte, schlief Rafe neben mir. Sein Arm lag schwer auf meinem Bauch. Ich konnte mich kaum noch daran erinnern, dass sich Tavish an meinem Rücken zu schaffen gemacht hatte; ich wusste nur noch, dass er gesagt hatte, die Pfeilspitze stecke in einer Rippe fest, und das habe mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Ich hatte das Schneiden, das Bohren und den Schmerz so grell gespürt, dass mir die Sinne schwanden. Endlich hatte Rafe mir wie aus himmelweiter Entfernung ins Ohr geflüstert: Sie ist draußen.
Nicht weit von mir brannte ein kleines Feuer in einem Steinkreis. Es beleuchtete die Mauer dahinter, aber der Rest unseres Unterschlupfs blieb im Dunkeln. Es war eine Art große Höhle. Ich hörte das Wiehern der Pferde. Sie waren hier drin bei uns. Auf der anderen Seite des Feuerkreises sah ich Jeb, Tavish und Orrin in ihren Bettrollen schlafen, und gleich links neben mir saß Statthalter Obraun gegen die Höhlenwand gelehnt. Nein, nicht Obraun … Sven.
Mit einem Schlag begriff ich: Dies waren Rafes vier Männer. Jene vier, in die ich kein Vertrauen gehabt hatte – Statthalter, Leibwächter, Stallbursche und Floßbauer. Ich wusste nicht, wo wir waren, aber gegen alle Widerstände hatten sie uns irgendwie über den Fluss gebracht. Uns alle. Lebendig. Außer …
Ich bekam Kopfschmerzen, während ich versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Für unsere Freiheit hatten andere einen hohen Preis zahlen müssen. Wer war gestorben, und wer hatte das Blutbad überlebt?
Ich versuchte, Rafes Arm von meinem Bauch zu schieben, damit ich mich aufsetzen konnte, aber selbst diese kleine Regung sandte grelle Schmerzblitze in meinen Rücken. Sven beugte sich vor, alarmiert durch meine Bewegung, und flüsterte: »Nicht aufstehen, Eure Hoheit. Es ist noch zu früh.«
Ich nickte und atmete vorsichtig, bis der Schmerz abklang.
»Eure Rippe ist wahrscheinlich durch die Wucht des Pfeils angebrochen, und vielleicht habt Ihr Euch im Fluss noch mehr Knochen gebrochen. Ruht Euch aus.«
»Wo sind wir?«, fragte ich.
»In einem kleinen Versteck, in dem ich vor vielen Jahren untergeschlüpft bin. Ich bin froh, dass ich es überhaupt gefunden habe.«
»Wie lange war ich bewusstlos?«
»Zwei Tage. Es ist ein Wunder, dass Ihr noch lebt.«
Mir fiel ein, dass ich im Fluss versunken war. Ich hatte um mich geschlagen, war hochgespült worden, hatte hastig Luft geholt und war dann wieder nach unten gezogen worden. Meine Hände griffen nach Felsen, Baumstämmen, doch alles entglitt mir, und dann war da die verschwommene Erinnerung an Rafe, der sich über mich beugte. Ich wandte den Kopf nach Sven um. »Rafe hat mich am Ufer gefunden.«
»Er hat Euch fast zwölf Meilen getragen, bevor wir ihn gefunden haben. Das ist der erste Schlaf, den er seitdem bekommt.«
Ich sah zu Rafe, dessen Gesicht abgezehrt und lädiert war. Er hatte eine Platzwunde über der linken Augenbraue. Der Fluss hatte auch von ihm seinen Tribut gefordert. Sven erzählte, dass er, Jeb, Orrin und Tavish das Floß zum geplanten Landeplatz navigiert hatten. Sie hatten ihre eigenen und ein halbes Dutzend vendische Pferde, die sie in einem Scharmützel erbeutet hatten, auf einer behelfsmäßigen Koppel zurückgelassen, doch viele waren entlaufen. Sie trieben die zusammen, derer sie noch habhaft werden konnten, holten die Vorräte und Sättel, die sie in der Nähe in einer Hausruine versteckt hatten, ritten zurück und suchten das Ufer und den Wald nach uns ab. Endlich entdeckten sie Spuren und folgten ihnen. Als sie uns gefunden hatten, waren sie die ganze Nacht zu diesem Unterschlupf geritten.
»Wenn ihr in der Lage wart, unsere Spuren zu finden, dann …«
»Keine Sorge, Eure Hoheit. Hört.« Er legte den Kopf auf die Seite.
Heftiges Heulen fuhr durch die Höhle.
»Ein Schneesturm«, sagte er. »Es gibt keine Spuren mehr, denen man folgen könnte.«
Ich war mir nicht sicher, ob der Sturm Segen oder Fluch war – er würde auch uns am Fortkommen hindern. Ich musste daran denken, was meine Tante Bernette mir und meinen Brüdern über die großen eisigen Stürme ihrer Heimat erzählt hatte. Sie hüllten Himmel und Erde in Weiß und türmten so viel Schnee auf, dass sie und ihre Schwestern nur nach draußen kamen, wenn sie aus dem ersten Stock der Festung kletterten. Hunde mit Schwimmhäuten an den Pfoten zogen Schlitten über den Schnee.
»Aber sie werden trotzdem die Verfolgung aufnehmen«, erwiderte ich. »Irgendwann.«
Er nickte.
Ich hatte den Komizar umgebracht. Griz hatte vor den Clans – Vendas Rückgrat – meine Hand zum Himmel erhoben. Er hatte mich im selben Atemzug zur Königin und zur Komizarin erklärt. Die Clans hatten gejubelt. Nur wenn er meine Leiche präsentierte, würde nun ein Nachfolger die Herrschaft für sich beanspruchen können. Ich konnte mir gut vorstellen, dass Malich dieser Nachfolger werden wollte. Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, was mit Kaden passiert war. Ich konnte es meinem Geist nicht erlauben, dorthin abzudriften, doch das Gesicht, das Kaden zuletzt gemacht hatte und in dem sich der Schmerz und der Treuebruch widerspiegelten, tauchte immer wieder vor mir auf. Hatte Malich ihn niedergestreckt? Oder einer seiner Landsleute? Er hatte gegen sie und für mich gekämpft. Am Ende hatte er sich für mich entschieden, nicht für den Komizar. War der Anblick eines toten Kindes im Schnee das Zünglein an der Waage gewesen? Bei mir schon.
Ich hatte den Komizar umgebracht. Es war leicht gewesen. Kein Zögern, keine Gewissensbisse. Würde meine Mutter mich für wenig besser als ein Tier halten? Ich hatte nichts gefühlt, als ich mit dem Messer zugestoßen hatte. Nichts, als ich erneut zugestoßen hatte, nur den leichten Widerstand von Fleisch und Eingeweiden. Nichts, als ich danach drei weitere Vendaner getötet hatte. Oder waren es fünf gewesen? Ihre erschrockenen Gesichter verschmolzen in distanzierter Verschwommenheit miteinander.
Aber nichts davon war rechtzeitig geschehen, um Aster zu retten.
Nun war es ihr Gesicht, das vor meinem inneren Auge erschien – ein Bild, das ich nicht ertragen konnte.
Sven hielt mir eine Tasse mit Brühe an die Lippen und sagte, ich müsse mich stärken, aber ich spürte schon wieder, wie die Dunkelheit nahte. Dankbar ließ ich mich von ihr überwältigen.
ALS ICH ERWACHTE, hatte sich Stille ausgebreitet. Das Heulen des Sturms war verstummt.
Meine Stirn war verschwitzt, einzelne Haarsträhnen klebten daran. Ich hoffte, dies war ein Zeichen dafür, dass das Fieber sank. Dann hörte ich angestrengtes Flüstern. Ich öffnete die Augen ein wenig und spähte zwischen den Wimpern hindurch. Ein weiches Licht durchdrang die Höhle, und ich sah sie dicht beieinanderkauern. Welche Geheimnisse besprachen sie da?
Tavish schüttelte den Kopf. »Der Sturm ist vorbei, sie werden schon aufgebrochen sein. Wir müssen weiter.«
»Sie ist zu schwach zum Reiten«, hielt Rafe leise dagegen. »Außerdem ist die Brücke beschädigt. Sie kommen nicht hinüber. Wir haben noch Zeit.«
»Sicher«, sagte Sven, »aber sie werden die Überquerung am unteren Flusslauf wagen.«
»Dorthin haben wir vom Sanctum aus eine gute Woche gebraucht«, meinte Jeb.
Rafe nahm einen Schluck aus einer dampfenden Tasse. »Und mit dem Schnee wird es jetzt doppelt so lange dauern.«
»Weshalb auch wir langsamer sein werden«, wandte Tavish ein.
Orrin wippte auf den Hacken vor und zurück. »Hängt mich auf, aber sie werden wahrscheinlich glauben, dass wir alle tot sind. Ich würde es tun. Niemand hat es je über diesen Teufelsfluss geschafft.«
Rafe rieb sich den Nacken, dann schüttelte er den Kopf. »Wir schon. Und wenn sie flussabwärts keine einzige Leiche im Wasser treiben sehen, werden sie Bescheid wissen.«
»Aber selbst wenn sie hinüberkommen, werden sie keine Ahnung haben, wo wir sind«, erwiderte Jeb. »Wir hätten überall an Land gehen können. Das sind Hunderte Meilen, die sie absuchen müssen, und das ganz ohne Spuren, denen sie folgen könnten.«
»Noch ohne Spuren«, gab Tavish zu bedenken.
Sven wandte sich um und ging zum Feuer hinüber. Ich schloss die Augen und hörte, wie er etwas aus dem Kessel in seine Blechtasse goss; dann spürte ich, dass er vor mir stand. Wusste er, dass ich wach war? Ich hielt die Augen geschlossen, bis ich hörte, dass er zu den anderen zurückkehrte.
Sie setzten ihre Besprechung fort; Rafe war dafür abzuwarten, bis ich wieder bei Kräften war. Setzte er sich und die anderen wegen mir einer Gefahr aus?
Ich machte Geräusche, als würde ich eben erst aufwachen. »Guten Morgen. Rafe, kannst du mir aufhelfen?« Alle drehten sich um und fassten mich erwartungsvoll ins Auge.
Rafe kam herüber und kniete sich neben mich. Er legte seine Hand auf meine Stirn. »Du bist immer noch ganz heiß. Es ist zu früh …«
»Mir geht’s schon besser. Ich wollte nur …« Er drückte meine Schultern nach unten und gab nicht nach.
»Ich muss mal, Rafe«, sagte ich etwas schärfer. Das ließ ihn innehalten. Er sah verlegen über die Schulter zu den anderen zurück. Sven zuckte die Achseln, als wüsste er nicht, was er ihm raten sollte.
»Ich will gar nicht daran denken, wie entwürdigend die letzten Tage in dieser Hinsicht gewesen sein müssen«, fügte ich hinzu. »Aber jetzt bin ich wach und will das selbst erledigen. Alleine.«
Rafe nickte und half mir vorsichtig auf. Ich gab mir alle Mühe, das Gesicht nicht zu verziehen. Es ging langsam, ungelenk und schmerzvoll vonstatten, auf die Füße zu kommen. Als ich meinen genähten Oberschenkel auch nur ein wenig belastete, fuhren brennende Stöße durch mein Bein bis hinauf in die Leistengegend. Ich stützte mich schwer auf Rafe. Mir schwirrte der Kopf vor Schwindel, und ich spürte Schweiß auf meiner Oberlippe perlen; aber ich wusste, dass alle zusahen, und nahm meine Kräfte zusammen. Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Schon besser.« Die Decke hielt ich anstandshalber fest um mich gewickelt, denn ich trug nichts als meine Unterwäsche am Leib.
»Dein Kleid ist trocken«, sagte Rafe. »Ich kann dir helfen, es wieder anzuziehen.«
Ich starrte auf das Hochzeitskleid, das über einen Felsbrocken gebreitet war und in dem die Rottöne vieler verschiedener Stoffe miteinander verschmolzen. Sein Gewicht hatte mich im Fluss nach unten gezogen und fast umgebracht. Alles, was ich sehen konnte, als ich es anschaute, war der Komizar. Ich fühlte, wie seine Hände über meine Arme nach unten glitten und er damit noch einmal Ansprüche auf mich als sein Eigentum anmeldete.
Ich wusste, dass sie meine Abneigung spürten, es wieder anzuziehen, aber es war nichts anderes da. Wir waren alle nur knapp dem Tod entronnen, mit nicht viel mehr als unseren Kleidern am Leib.
»Ich habe eine Ersatzhose in meiner Satteltasche«, sagte Jeb.
Orrin blickte ihn ungläubig an. »Eine Ersatzhose?«
Sven verdrehte die Augen. »War ja klar.«
»Wir können den unteren Teil des Kleids abschneiden, dann kann der Rest als Hemd herhalten«, schlug Tavish vor.
Sie wirkten auf einmal sehr beflissen, sich mit etwas zu beschäftigen, das sie von meinem dringenden Bedürfnis ablenkte, und machten Anstalten, sich zu entfernen.
»Wartet«, sagte ich, und sie blieben stehen. »Danke euch allen. Rafe hatte mir schon erzählt, dass ihr die besten Soldaten Dalbrecks seid. Jetzt weiß ich, dass er nicht übertrieben hat.« Ich sah zu Sven. »Und es tut mir leid, dass ich gedroht habe, dein Gesicht den Schweinen zum Fraß vorzuwerfen.«
Sven lächelte. »Vergeben und vergessen, Eure Hoheit«, sagte er und verbeugte sich.
*
Ich saß an Rafes Brust gelehnt zwischen seinen Beinen. Er hatte die Arme um mich gelegt, und eine Decke bedeckte uns beide. Wir kauerten am Eingang der Höhle, blickten auf die Bergkette gegenüber und beobachteten, wie die Sonne hinter den Gipfeln unterging. Es war kein schöner Sonnenuntergang. Der Himmel war dunstig und grau, und ein düsterer Wolkenschleier hing über den Bergen – aber dennoch: Dies war die Richtung, in der zu Hause lag.
Ich war schwächer, als ich gedacht hatte, und nach den paar Schritten in einen benachbarten Höhlengang zur Verrichtung meiner Notdurft war ich gegen die Wand gesunken und hatte mich abstützen müssen. Ich erledigte, was zu erledigen war, und rief Rafe, um mir beim Rückweg zu helfen. Er hatte mich hochgehoben, als würde ich überhaupt nichts wiegen, und hatte mich hierhergetragen, da ich darum gebeten hatte, einen Blick nach draußen werfen zu dürfen, um zu sehen, wo wir waren. So weit das Auge reichte, hatte sich ein weißes Tuch über die Landschaft gebreitet und sie in einer einzigen Schneenacht vollkommen verwandelt.
Ich hatte einen Kloß im Hals, als der letzte Fetzen Helligkeit geschwunden war. Nun hatte ich nichts mehr, worauf ich meinen Blick richten konnte, und andere Bilder tauchten vor meinen Augen auf. Ich sah mein eigenes Gesicht. Wie war es möglich, dass ich meine eigene erschrockene Miene sehen konnte? Aber es war so, als würde ich von einer erhöhten Warte aus herunterschauen, vielleicht von der eines Gottes, der hätte einschreiten können. Ich spulte noch einmal jeden einzelnen Schritt in meinem Kopf ab und versuchte herauszufinden, was ich hätte tun können – oder hätte anders tun müssen.
»Es war nicht deine Schuld, Lia«, sagte Rafe, als könnte er Aster in meinen Gedanken sehen. »Sven stand oberhalb auf einem Wehrgang und hat gesehen, was passiert ist. Es gab nichts, was du hättest tun können.«
Etwas krampfte sich in meiner Brust zusammen, und ich unterdrückte ein Schluchzen in meiner Kehle. Ich hatte noch nicht Gelegenheit gehabt, ihren Tod zu betrauern. Ich hatte nur ein paar ungläubige Tränen vergossen, bevor ich den Komizar mit dem Messer durchbohrt hatte und alles außer Kontrolle geraten war.
Rafes Finger verschränkten sich unter der Decke mit meinen. »Willst du darüber reden?«, flüsterte er an meiner Wange.
Ich wusste nicht, wie das gehen sollte. Zu viele widersprüchliche Gefühle tobten in mir: Gewissensbisse, Zorn und sogar Erleichterung; die totale Erleichterung darüber, dass ich noch am Leben war, dass Rafe und seine Männer noch am Leben waren, dass ich hier in Rafes Armen lag. Über eine zweite Chance. Über das gute Ende, das Rafe mir versprochen hatte. Aber im nächsten Atemzug schlug eine Woge von Schuldgefühlen über mir zusammen. Wie konnte ich erleichtert sein, wenn Aster tot war?
Dann kochte wieder der Zorn auf den Komizar hoch. Er ist tot. Ich habe ihn umgebracht. Und ich wünschte mir mit jedem Schlag meines Herzens, dass ich ihn noch einmal umbringen könnte.
»In meinem Kopf geht es drunter und drüber, Rafe«, entgegnete ich schließlich. »Ich fühle mich wie ein Vogel, der in den Dachsparren gefangen ist. Es gibt keine Möglichkeit zu entkommen, kein Fenster zum Hinausfliegen. Keine Möglichkeit, das in meinem Kopf zu sortieren. Was, wenn ich …«
»Was hättest du denn tun sollen? In Venda bleiben? Den Komizar heiraten? Seine Marionette werden? Aster seine Lügen auftischen, bis sie so verdorben gewesen wäre wie die anderen? Wenn du überhaupt so lange gelebt hättest. Aster hat im Sanctum gearbeitet. Ihr Leben war schon immer in Gefahr; schon lange bevor du nach Venda kamst.«
Mir fiel ein, was Aster gesagt hatte: Nichts ist hier sicher. Deshalb kannte sie all die geheimen Tunnel so gut. So fand sie immer eine Möglichkeit, rasch auszuweichen. Nur diesmal nicht, weil sie sich um mich gekümmert hatte und nicht um sich selbst.
Verdammt, ich hätte es wissen müssen!
Ich hätte es wissen müssen, dass sie nicht auf mich hören würde. Ich hatte gesagt, sie solle heimgehen, aber das fruchtete nicht. Aster sehnte sich danach, ein Teil von etwas zu sein. Sie wollte so dringend gefallen. Sie wollte immer helfen – sei es, indem sie mir stolz meine polierten Stiefel präsentierte, sich bückte, um ein ausgemustertes Buch in den Höhlen aufzuheben, mich durch die Tunnel führte oder mein Messer im Nachttopf versteckte. Ich kann laut pfeifen. Es war ihr Wunsch gewesen, bei mir zu bleiben. Aster war erpicht auf jede erdenkliche …
Chance.
Sie hatte nur eine Chance gewollt. Einen Weg hinaus, eine größere Geschichte als jene, welche für sie geschrieben worden war, genau wie es auch bei mir gewesen war. Sagt meinem Bapa, dass ich es versucht habe, Prinzess. Eine Chance, ihr eigenes Schicksal in die Hände zu nehmen. Aber ihr war die Flucht nicht vergönnt gewesen.
»Sie hat mir den Schlüssel gebracht, Rafe. Sie hat sich in die Unterkunft des Komizars geschlichen und hat ihn geholt. Wenn ich sie nicht darum gebeten hätte …«
»Lia, du bist nicht die Einzige, die ihre Entscheidungen infrage stellt. Ich bin meilenweit mit dir auf den Armen gelaufen, und du warst mehr tot als lebendig. Und bei jedem Schritt habe ich gegrübelt, was ich hätte anders machen können. Ich habe mich hundertmal gefragt, warum ich deine Nachricht damals nach unserer Verlobung ignoriert habe. Alles hätte ganz anders kommen können, wenn ich mir nur zwei Minuten Zeit genommen und dir geantwortet hätte. Ich musste mich am Ende zwingen, nicht mehr daran zu denken. Wenn wir zu viel Zeit auf die Vergangenheit verschwenden, führt das nirgendwohin.«
Ich lehnte den Kopf zurück an seine Brust. »Da bin ich gerade, Rafe. Im Nirgendwo.«
Er strich mir sanft übers Kinn. »Lia, wenn wir eine Schlacht verlieren, müssen wir uns wieder sammeln und erneut angreifen. Eine andere Strategie wählen, wenn es geht. Aber wenn wir über jede unserer Handlungen nachgrübeln, lähmt uns das, und bald werden wir vollkommen handlungsunfähig sein.«
»Das klingt wie die Rede eines Soldaten«, sagte ich.
»Das ist es auch. Das ist es, was ich bin, Lia. Ein Soldat.«
Und ein Prinz. Einer, den der Rat inzwischen bestimmt ebenso suchte wie die Prinzessin, die den Komizar erstochen hatte.
Ich konnte nur hoffen, dass das Blutbad die Schlimmsten aus diesem Pack das Leben gekostet hatte. Dass es die Beste nicht verschont hatte, wusste ich bereits.
ICH KÜSSTE SIE und legte sie vorsichtig auf das Bett aus Decken. Sie war in meinen Armen eingeschlafen, mitten im Satz, in dem sie darauf bestand, auf ihren eigenen Beinen in die Höhle zurückzukehren. Ich deckte sie zu und ging nach draußen, wo Orrin gerade das Abendessen über dem Feuer zubereitete.
Nähre den Zorn, Lia, hatte ich zu ihr gesagt. Nutze ihn. Denn ich wusste, dass die Schuldgefühle sie sonst umbringen würden, und wie sollte ich es ertragen, wenn sie noch mehr leiden musste, als sie es ohnehin schon tat?
Orrin hatte die Feuerstelle unter einem Felsüberhang eingerichtet, damit der Rauch nicht so auffiel. Nur für den Fall … Aber es herrschte dichter grauer Nebel. Selbst wenn in der Nähe jemand den Horizont absuchte, wäre der Rauch unmöglich auszumachen gewesen. Die anderen wärmten sich am Feuer, während Orrin den Spieß drehte.
»Wie geht’s ihr?«, fragte Sven.
»Sie ist schwach und hat Schmerzen.«
»Aber sie hat sich ganz schön bemüht, es zu vertuschen«, sagte Tavish.
Keiner von ihnen hatte sich von ihrem Lächeln täuschen lassen, ich am allerwenigsten. Jeder Teil meines eigenen Körpers war zerschlagen und zerschrammt von diesem Höllenfluss. Ich hatte angeknackste Fingerknöchel und Muskelkater – und dabei war ich nicht auch noch von zwei Pfeilen getroffen worden. Sie hatte viel Blut verloren. Kein Wunder, dass ihr schwindelig geworden war, als sie aufstand.
Orrin wies mit dem Kopf auf den gebratenen Dachs, der schon eine dunkelgoldene Färbung annahm. »Der wird ihr schon wieder auf die Beine helfen.«
»Sie hat nicht nur körperliche Schmerzen«, unterbrach ich ihn. »Asters Tod lastet auf ihr. Sie stellt alles infrage, was sie getan hat.«
Sven rieb sich die Hände über dem Feuer. »Das macht ein guter Soldat eben. Er analysiert, was er getan hat, und …«
»Ich weiß, Sven, ich weiß«, blaffte ich. »Und er sammelt sich und greift wieder an. Das hast du mir tausendmal eingebläut. Aber sie ist kein Soldat.«
Sven steckte die Hände wieder in die Taschen. Die anderen beobachteten mich aufmerksam.
»Kein Soldat wie wir vielleicht«, erwiderte Jeb. »Aber trotzdem ein Soldat.«
Ich warf ihm einen eisigen Blick zu. Ich wollte nichts davon hören. Ich war es leid, dass sie ständig Gefahren ausgesetzt war, und wollte ihr nicht noch mehr zumuten. »Ich sehe mal nach den Pferden«, sagte ich und ging.
»Gute Idee«, rief Sven mir nach.
Sie wussten, dass es nicht nötig war, nach den Pferden zu sehen. Wir hatten ein Gehölz gefunden, an dessen Ästen sie fressen konnten, und hatten sie dort sicher angebunden.
Aber trotzdem ein Soldat.
Auf meinem Zwölf-Meilen-Marsch hatte ich mich mit viel mehr beschäftigen müssen als nur mit meinem Versäumnis, dass ich damals ihre Nachricht nicht beantwortet hatte. Ich sah Griz wieder und wieder ihre Hand heben und sie zur Königin und Komizarin ausrufen. Ich sah den Schrecken in ihrem Gesicht und erinnerte mich daran, dass ich zornig geworden war. Die vendischen Barbaren versuchten, sich noch mehr an ihr festzukrallen, dabei hatten sie doch schon genug Schaden angerichtet.
Sie war nicht ihre Königin und Komizarin, und sie war auch keine Soldatin.
Je eher ich sie sicher nach Dalbreck bringen konnte, desto besser.