Was macht man, wenn einen die eigene Mutter auf Besichtigungstour durch diverse Altersheime schickt? Schließlich ist sie schon fast 100 Jahre alt, und was soll aus ihm werden, wenn, ja wenn … Sky du Mont fühlt sich ertappt. Denn seit die Frau weg, der Hund tot und die Kinder aus dem Haus sind, stellt sich die Frage nach Veränderung. Aber muss es gleich ein Altersheim sein? Mit Humor und einer großen Portion Herz (gemischt mit einer kleinen Portion Philosophie) widmet sich Sky du Mont der Frage: Was ist das eigentlich, Alter? Wann sind wir wirklich alt? Und wer sagt uns, wie wir im Alter zu leben haben? Mit zahlreichen Auftritten der originellsten Lebensentwürfe höherer Jahrgänge, von der Rentnerband bis zur Rentnergang. Garantiert komisch. Garantiert ein Gewinn für alle Leser.
Sky du Mont wurde 1947 als Neven du Mont in Buenos Aires geboren. Zuletzt glänzte er neben Tom Cruise und Nicole Kidman in Stanley Kubricks »Eyes Wide Shut« und im »Schuh des Manitu«. Er moderiert das VIP-Journal »Sky Lights« und hat mehrere Krimi-Drehbücher u.a. für Tatort verfasst.
JUNG
STERBEN IST
AUCH KEINE
LÖSUNG
Wenn Söhne in die Jahre kommen
Aus dem Englischen von
Angela Koonen
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen
Originalausgabe
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Ulrike Strerath-Bolz
Titelillustration: © Manfred Esser, Bergisch Gladbach; © FinePic.de
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Satz: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
Gesetzt aus der Weiss Antiqua
Druck und Verarbeitung: CPI books GmbH, Leck – Germany
Printed in Germany
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-5007-4
www.bastei-entertainment.de
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»Jede Art zu schreiben ist erlaubt –
nur eine langweilige nicht«.
Voltaire
Danke für deine wundervolle und kluge Hilfe.
D. Edsel
Wenn dir mit fast sechsundsiebzig jemand sagt: »Steh auf, benimm dich anständig und gib die Hand!« – dann ist es vermutlich meine Mutter.
Die Menschen werden ja bekanntlich immer älter. Für meine Mutter gilt das besonders. Sie ist jetzt sechsundneunzig und fit wie ein Turnschuh. Neuestes Modell. Ich gönne ihr das von Herzen und freue mich natürlich auch, wenn ich sie sehe. Aber es hindert mich doch sehr am Erwachsenwerden. Was sich ein bisschen seltsam anfühlt, wenn man sich langsam auf die siebenundsiebzig zubewegt. Tatsache ist: Man ist nie zu alt, um von Muttern erzogen zu werden.
Im Grunde ist ein solcher Erziehungswahn ja nur Ausdruck mütterlicher Liebe. Zumindest behauptet sie das. Und wer wollte sich dagegen schon wehren. Schlucken musste ich erst, als sie mir neulich eröffnete: »Junge, du solltest dich mal nach einem geeigneten Altersheim umsehen.«
»Wirklich? Ich dachte nicht, dass du jemals darüber nachgedacht hast, in ein Altersheim zu gehen.«
»Nicht ich, Kind. Dich wüsste ich gerne gut untergebracht, wenn ich mal nicht mehr bin.«
Wenn sie mal nicht mehr ist? Ich meine, hallo, mit sechsundsiebzig hat man sich mittlerweile so daran gewöhnt, dass man eine Mutter hat, dass man einfach lebt, als hätte man immer eine Mutter. Immerhin wäre ja dann die ganze eigene Vergangenheit ausgelöscht. Denn ich kann mich an kaum noch etwas erinnern, was früher war. Sie schon. Aber die Idee, dass sie mir einen Platz im Altersheim besorgt … Sie. Mir!
Ich hustete erst einmal zu Ende. Dann stand ich auf und gab ihr ein Küsschen links und eines rechts. »Klar, Mama. Darüber sprechen wir, wenn ich das nächste Mal bei dir bin.«
»Wie du meinst, Junge. Aber vergiss es nicht wieder. Ich habe den Eindruck, dein Gedächtnis war schon mal besser.«
»Ich denke dran, Mama. Ganz bestimmt … nicht«, murmelte ich vor mich hin.
»Ach, und nimm den Rollator wieder mit.«
Erstaunt sah ich zu dem Rentnerporsche, der ganz hinten in der Ecke des Zimmers stand. »Wieso? Du wolltest doch einen haben.«
»Das Teil ist Mist«, beschied meine Mutter mit einer wegwerfenden Handbewegung, ehe sie wieder zu ihrem Gin Tonic griff.
»Ach, wirklich? Was stimmt denn nicht daran?«
»Er ist zu langsam. Gib ihn Frau Hummel.«
»Aber Frau Hummel sitzt doch im Rollstuhl!«
»Eben. Dann kann sie mal darüber nachdenken, wie das war, als sie noch einigermaßen laufen konnte, das Miststück!«
»Mutter, bitte! Sie hat doch nie was mit Papa gehabt und …«
»Ja, aber nur, weil ich Papa den Hausschlüssel versteckt hatte und er sich tagelang nicht aus dem Haus getraut hat, aus Angst, er käme nicht mehr herein.«
»Ja, weil du dich geweigert hattest, ihm die Tür zu öffnen, wenn er läutet. Und das im Winter bei fünf Grad minus. Und dazu hast du ihm auch noch seinen Wintermantel versteckt.«
»Allerdings. Und sein Gebiss!«
An dieser Stelle ein dringender Appell an alle Mitmenschen, besonders an alle männlichen: Achten Sie darauf, wen Sie sich als Mutter aussuchen! Es gibt da vermutlich große Unterschiede. Und es ist mitnichten so, dass Sie es hinter sich haben, wenn Sie endlich die erste eigene Bude beziehen. Im Gegenteil: Solange man zu Hause lebt, wird man wenigstens bekocht, die schmutzige Wäsche findet dankbare Abnehmer, saubere findet sich wundersamerweise immer wieder – und das auch noch schön gebügelt – im Kleiderschrank. Alles super also, da kann man über das Genörgel der Eltern schon mal hinwegsehen, über ihre völlig überzogenen Erwartungen und das totale Verkennen des eigenen einzigartigen Talents. Aber wenn man dann denkt, man sei jetzt wirklich erwachsen geworden, muss man leider feststellen: In den Augen der Eltern wird man es überhaupt nie. Nie!
Als ich den Führerschein machte: »Hach, Junge, das wurde aber auch Zeit! (Ich war gerade achtzehn.) Ein bisschen musst du allerdings schon noch üben – in diesem Schnarch-Tempo kommst du ja nie ans Ziel! Jetzt gib mal Stoff!«
Als ich meine erste Freundin hatte, steckte Mutter mir Kondome in sämtliche Taschen. Was dann wirklich gut ankam, als ich das Mädchen nichtsahnend bat, den Haustürschlüssel aus meiner Jackentasche zu holen, wobei mehrere Gummis auf dem Boden landeten. Es war unser letztes Rendezvous.
Jahre später, als ich heiratete: »Klausi, ist das denn die Richtige? Ich sag ja nichts und es geht mich auch überhaupt nichts an, aber die passt ja gar nicht zu uns!« Sie hatte tatsächlich zu uns gesagt. »Und die Zähne, oh Gott … Naja, du musst ja selbst wissen, was du machst. Für mich wäre die nichts!«
Als ich zum ersten Mal geschieden wurde: »Also wirklich, Junge, was hast du dir nur gedacht! Hast du geglaubt, die Ehe ist ein Sandkastenspiel oder findet nur im Bett statt? Ich hab’s dir ja gleich gesagt, dass das mit der nichts wird, aber du wolltest ja nicht hören.«
Als ich die ersten grauen Haare bekam: »Oh Gott! Du wirst doch nicht schon graue Haare bekommen? Du musst färben, sonst glauben die Leute, ich wäre auch schon so alt!«
Eltern behandeln Kinder auch mit über siebzig noch so, als wären sie sieben. Sie schrecken vor keiner Peinlichkeit zurück. Öffentliche Maßregelungen wegen ungezogener Sprache: ein Klassiker. Herumzupfen an der Kleidung: fällt einem schon gar nicht mehr auf. Anspielungen auf frühkindliche Vorlieben kommen immer zur Unzeit, dann aber garantiert:
»Klausi, machst du immer noch auf die Klobrille, weil du zu faul bist, sie hochzuklappen?«
»Mama, da war ich fünf oder sechs. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«
»Ach ja, so ist das, er wird immer vergesslicher, mein Junge.«
Der Hinweis, wie süß man mal war: unausweichlicher Bestandteil jedes Familienfestes: »Ich liebe ja dieses Töpfchen-Foto! Guck doch mal, Klausi, wie süß du da guckst. Dieser angestrengte, voll konzentrierte Gesichtsausdruck …«
So geht das, seit ich denken kann. Und es wird auch so weitergehen, solange ich noch denken kann. Vermutlich darüber hinaus. Denn ehe meine Mutter dement wird, werde ich es. Die Frau ist ja wirklich unverwüstlich. Keine Ahnung, ob es die Gene sind oder pure Boshaftigkeit. Seit über siebzig Jahren betütelt sie mich. Dabei werde ich alt und älter, während ihr der Zahn der Zeit scheinbar nichts anhaben kann. Sicher, rein optisch ist sie auch keine siebzehn mehr. Sicher auch keine siebzig. Aber sie sieht immer noch richtig gut aus, wenn man sich die Falten wegdenkt. Während unsereiner … Aber lassen wir das.
Schon klar, man kann sich die Eltern nicht aussuchen, leider. Aber man kann doch frühzeitig dafür sorgen, dass man die Anerkennung bekommt, die man verdient. Man muss nur darauf achten, dass man seine Eltern beizeiten erzieht. Mein Freund Willy zum Beispiel hat das gut hingekriegt: Wenn er zu Hause aufläuft, dann stehen die Alten stramm! Gut, er ist natürlich auch Gerichtsvollzieher, und seine Eltern sind leider notorisch überschuldet, seit sie ihm mehrere unvollendete Studiengänge finanziert haben. Trotzdem: Da erkennt man die gleich gute Elternstube.
Oder eine Kollegin aus Berlin, mit der ich seit vielen Jahren gut befreundet bin. Die hat ihre Eltern schon seit Weihnachten nicht mehr gesehen. Weihnachten 84. »Hat sich nicht ergeben«, sagte sie, als ich mal fragte. »Aber die kommen gut ohne mich zurecht.« Beneidenswert, das. Bei uns sieht das so aus: Weihnachten, das sind bei uns die paar Tage im Jahr, an denen ich meine Mutter mal nicht sehe. Weil sie nämlich einen kleinen Trip in die Karibik einlegt, um sich unter Palmen verwöhnen und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen. »Weihnachten tut mir nicht gut«, pflegt sie immer zu sagen. »Es macht fett, faul und müde. Nichts für mich.«
Womit sie hundertprozentig recht hat. Mama ist nun mal eine Powerfrau. Ich möchte gar nicht wissen, was sie da drüben auf Jamaika oder Kuba alles anstellt.
Gerade im vorgerückten Alter ist es ja mitunter ganz schön, mal etwas mehr Post zu bekommen. Damit meine ich nicht die Wurfsendungen diverser Lotterien, die Flugblätter örtlicher Autohändler und Fitnessstudios oder die Mahnungen der Elektrizitätswerke, sondern richtige, echte Post: Briefe zum Beispiel. Oder E-Mails. Das kann Schwung ins Leben bringen, man fühlt sich gebraucht, aktiv und weltläufig.
Kann aber auch ganz anders sein: überfordernd, frustrierend und peinlich. Zum Beispiel, wenn es kommt wie bei mir.
Ich sitze bestimmt nicht immer am Fenster und gucke runter. Um so viel Zeit totzuschlagen, dafür fehlt mir schlicht die Zeit. Aber nach einer Weile guckte ich eben doch mal aus dem Fenster und beobachtete den Briefträger bei der Arbeit. Was soll ich sagen: Er sortierte geschlagene fünf Minuten Post in meinen Briefkasten. Am Schluss stopfte er einfach alles obendrauf.
Neugierig lief ich nach unten (wobei ich großzügig über Frau Schneiders pikierte Miene hinwegsah, der es wohl nicht passte, dass ich nur meine Boxershorts und Hausschuhe trug) und holte die Berge an Briefen zu mir in die Wohnung. Viel Handbeschriebenes. Umschläge in verschiedenen Pastellfarben. Hübsche Briefmarken. Post aus München, Köln, Kreuznach, Lüdenscheid, Hannover, Backnang, Moskau und Bangkok. Bangkok? Ich drehte den Brief um und stutzte. Tatsächlich, an mich adressiert.
Wie sich herausstellte, schien ich es über Nacht zum Herzensbrecher der Nation gebracht zu haben. Was sage ich: der ganzen Welt! Denn es waren in der Tat auch Briefe aus Österreich, Slowenien, Iran, Sudan, Brasilien und Grönland dabei. Alle von Frauen, die sich vorstellen konnten, den Rest ihres Lebens mit mir zu verbringen.
Verdutzt und auch ein wenig geschmeichelt begann ich die Lektüre und guckte mir die vielen beigelegten Fotos an. Nach einiger Zeit stellte ich fest, dass viele der abgebildeten Frauen nach zwei oder drei Bier viel besser aussahen als vorher, und ich begann von dem einen oder anderen Abenteuer zwischen Kaukasus und Rocky Mountains zu träumen. Erst viel später begann sich in mir die Frage zu regen: Warum schreiben die eigentlich alle mir? Und warum erst jetzt? Ich meine, hey, man lebt ja schon etwas länger auf dem Planeten, da hätte die holde Weiblichkeit auch früher draufkommen können, einen mit unaufgeforderten Liebesergüssen zu bombardieren. Andererseits: Wie sind die eigentlich alle auf mich gekommen?
Es ist ja nicht so, dass man weltberühmt wäre und dass die Adresse in jedem Käseblatt des Universums nachzulesen wäre. Oder doch? Das Nächste, was ich tat, war, das nächstliegende Käseblatt herauszukramen, das Rissener Tagblatt (und an der Stelle will ich ausdrücklich betonen, dass Rissen ein ganz toller Stadtteil von Hamburg ist und das Tagblatt jederzeit konkurrenzfähig mit der New York Times!). Ein schrecklicher Verdacht hatte mich beschlichen. Konnte es am Ende sein …? Ich blätterte. Politik. Wirtschaft. Kultur. Nichts. Und dann natürlich noch die ganzen Kleinanzeigen. Gesucht und gefunden, Kfz-Markt, Haustierbörse, Partnersuche.
Partnersuche!
Ein Blitz durchfuhr mich. Denn von der ersten Seite der Singleanzeigen blickte mir mein eigenes Konterfei entgegen. Es war dieses dümmliche Bild, das meine Mutter mal auf Teneriffa von mir gemacht hatte und auf dem ich wie eine erschreckte Giraffe gucke. Geschockt griff ich zum Telefon und wählte Kurzwahl 1: Mama. Sie schien auf den Anruf gewartet zu haben, denn sie war schon dran, bevor es überhaupt geläutet haben konnte. »Klausi?«
»Mama, bitte, nenn mich nicht immer Klausi!«
»Wie geht es dir, Junge? Was machen die Knie?«
»Ach, die Knie sind natürlich … vor allem das linke … Äh, Mama, lenk jetzt nicht ab. Ich weiß, was du getan hast!«
»Um Himmels willen, Klausi, du sprichst ja, als hättest du gerade einen Horrorfilm geguckt.«
»Du hast eine Anzeige für mich in die Zeitung gesetzt!«
Ein kurzes Zögern nur, aber ich konnte es nicht genau deuten. Grinste sie? Gähnte sie? Aus der Frau wird man nicht schlau. Schließlich atmete sie durch und sagte: »Hübsch, nicht wahr?«
»Hübsch? Ich glaub’s nicht. Du hast das wirklich getan? Ich meine, es hätte ja ein blöder Scherz von meinem Kumpel Karl-Heinz sein können. Oder …«
»So was macht ihr? Im Ernst? Finde ich aber ziemlich kindisch, Klaus.«
Ich schloss die Augen und zählte innerlich bis acht. Das soll ja helfen, um wieder runterzukommen. Brachte nichts. »Hör mal, Mama, das kannst du doch nicht machen!«
»Warum denn nicht, Klausi? Ich fand das eine richtig gute Idee.«
»Ich gehe hier unter in Briefen!«, jammerte ich. »Und das ist irre peinlich!«
»Ach was. Da dran ist gar nichts peinlich. Königin Silvia hat ihren Mann auch durch eine Anzeige kennengelernt.«
»Quatsch, Mama, die war Hostess für den König bei Olympia.«
»Hostess? Um Gottes willen! Ich wusste nicht, dass die Arme aus solchen Verhältnissen stammt. Dann war es eben die Queen.«
»Die Queen kannte ihren Mann schon im Kindergartenalter.«
»Wirklich? Ich dachte, auch in England wären Kinderehen …«
»Mama! Es geht hier nicht um die Queen oder sonst jemanden, sondern um mich!«
»Ja, mein Junge«, sagte sie und kicherte. »Es geht immer um dich, was?«
»Das ist so was von megapeinlich.«
»Ach was, papperlapapp. Was du brauchst, ist jemand, der sich um dich kümmert. Eine Frau wäre gerade das Richtige. Du bist schließlich nicht mehr der Jüngste. Gibt ja nichts Trübsinnigeres, als alleine zu Hause herumzusitzen und keine Ansprache zu haben.«
»Das musst du gerade sagen.« Ein Fehler. Ich hätte nicht in diese Kerbe schlagen dürfen. Auf solche Vorhaltungen hat Mama immer eine gute Antwort. »Bei mir ist das was anderes, Junge, ich bin schließlich selber eine Frau. Die braucht keinen Mann. Jedenfalls keinen, der zu Hause rumsitzt und Unordnung macht, so wie alle Männer, wenn sie erst mal in die Jahre kommen. Hast du denn überhaupt gelesen, was ich geschrieben habe?«
»Ich trau mich nicht.«
»Doch, doch, lies mal. Es wird dir gefallen!«
Und ich las:
Jugendlicher Rentner (relativ unsportlich, leicht vergesslich, einigermaßen humorvoll, schnell erregbar) sucht jung gebliebene, ordentliche Partnerin zur Freizeitgestaltung. Eigenschaften wie Kochen, Nähen, Putzen, körperliche Reinlichkeit und finanzielle Unabhängigkeit sind Voraussetzungen.
In diesem Fall half Bier, wie ich schnell feststellte, gar nichts. Da musste Härteres her. Aber selbst nach drei Schnäpsen war die Anzeige für mich so was wie ein gesellschaftliches Todesurteil.
»Was hast du dir nur dabei gedacht, Mama?«, stammelte ich, als ich endlich meine Sprache wiedergefunden hatte. »Das kannst du doch nicht machen! Wo ist das denn überall erschienen?«
»Och, nur in ein paar Zeitungen und Zeitschriften. Und natürlich in verschiedenen Online-Foren. Übrigens hast du morgen einen Termin am Tegernsee, um …«
Das war der Moment, in dem ich den Hörer auf die Gabel knallte und aus dem Haus rannte, um sämtliche Zeitungen und Zeitschriften zu kaufen, derer ich habhaft werden konnte.
Was soll ich sagen: Es stand in praktisch allen Medien. Und auf allen Foren. Von »liebe-und-partnerschaft-fuers-alter.de« bis »senioren-tinder.com«. Ein einziger riesiger Albtraum, aus dem ich auch nach vier weiteren Schnäpsen einfach nicht erwachte (weil ich stattdessen in einen gnädigen Schlaf fiel).
Zum Glück war ich am nächsten Tag so mit Reisevorbereitungen beschäftigt, dass ich gar keine Zeit mehr hatte, über Mamas bösen Streich mit der Kontaktanzeige nachzudenken. Stattdessen hatte ich einen Besichtigungstermin im Süden der Republik und saß deshalb früh im Flieger und später im Mietwagen.
Tegernsee. Ein Idyll in Oberbayern. Wer noch nicht da war, sollte unbedingt einmal hinfahren. Die Berge sind hoch, der See ist tief, das Bier schmeckt, die Kellnerinnen tragen Dirndl, und die Sprache klingt guttural und behauptet, Deutsch zu sein.
Etwas oberhalb des Sees auf einer Anhöhe steht das »Gut Tattern«, nach eigenen Angaben »eine der schönsten Seniorenresidenzen der Welt«. Warum nicht gleich des ganzen Universums! Aber gut, man soll ja keine Vorurteile haben. Ich hatte meiner Mutter versprochen, mir den Laden mal anzusehen, und ich würde dieses Versprechen halten, verdammt noch mal.
Sehr gediegen empfing mich das Anwesen im typisch alpenländischen Stil mit einem Wahlspruch über dem Portal: »Grüß Gott im Gut Tattern.« Irgendwie kam mir der Slogan seltsam vor, ich hätte aber nicht sagen können, weshalb.
»Tachchen, Herr Berg!«, begrüßte mich der Chef, ein sehr vitaler, jovialer und lackierter Berliner in Lederhose und Lodenjanker. »Wie schön, dat Sie den Weg zu uns jefunden ham!«
»Hatten Sie Zweifel?«, fragte ich zurück und erntete ein Lachen und ein Augenzwinkern.
»So ist’s recht, Herr Berg«, erwiderte der Mann. »Um keenen Witz verlejen. Det jefällt mir.« Er wies mit seiner Hand in die Halle, die aussah, als hätte man das Adlon einer Trachtenkur unterzogen. »Bitte, nehmse Platz. Kaffee? Tee?«
Ich schüttelte den Kopf. »Danke, nichts.«
»Wie Se wünschen.« Er setzte sich mir gegenüber und hob die Hände in einer etwas hilflosen Geste. »Also, ehrlich gesagt«, fing er an und rollte auf erschreckende Weise die Augen. »Ick weeß jetz nich janz jenau, wat wir für Sie tun können. Ihre Frau Mutter hatte ja anjerufen …«
»Richtig. Sie sucht einen Platz in einem schönen Altersheim.«
»Da muss ick deutlich widersprechen: Et handelt sich hier um eine Seniorenresidenz.«
»Macht das einen Unterschied?«
»Na, für uns natürlich schon. Und für unsere Bewohner erst recht! Und nu sindse hier, um unser Haus in Augenschein zu nehmen.«
»Richtig.«
»Darf ick fragen: Wie alt ist Ihre Frau Mutter denn?«
»Tja, also, natürlich dürfen Sie das fragen. Sie ist sechsundneunzig. Aber wieso interessiert Sie das?«
»Na, denn müssen wir beispielsweise überlejen, dat wir nicht ausjerechnet n Appartemang im vierten Stock für sie suchen, nich wahr? Ick meene, von wegen der Treppen. Obwohl wir selbstverständlich über Aufzug verfüjen und …«
»Es geht aber gar nicht um meine Mutter«, erklärte ich mit einem Lächeln, das es mit seinem locker aufnehmen konnte.
»Ach? Sondern?«
»Um mich.«
»Oh!«
Als ich das Gut Tattern wieder verließ, strahlte mir das Tegernseer Tal in all seiner Schönheit entgegen. Auf dem Wasser tummelten sich Segelboote, auf den Terrassen der zahllosen Restaurants führten die Kellnerinnen ihre prächtigen Dekolletés spazieren, ein paar Kinder stritten sich am Ufer um einen toten Fisch – und ich hatte plötzlich das Gefühl, dieser Fisch wäre ich.
So viel schönes Leben ringsumher – und ich gehe allen Ernstes Altersheime besichtigen. Geht’s noch? Von einem plötzlichen heiligen Zorn ergriffen, rief ich meine Mutter an (die gerade am Flughafen war und auf ihre Maschine Richtung Costa del Sol wartete), um ihr gehörig die Meinung zu geigen.
»Junge, ich habe nicht viel Zeit«, meldete sie sich. »Was gibt’s?«
»Mama, ich war in diesem Altersheim …«
»Du meinst, in einer Seniorenresidenz?«
»Jedenfalls war ich auf Gut Tattern.«
»Oh, wie schön. Und wie war es dort?«
»Der Name ist Programm.«
»Nun sei nicht so zynisch, Junge. Soll ich dir vielleicht einen Platz in der Kita suchen?«
Der erste hellsichtige Gedanke meiner Mutter seit Langem, wie ich fand. »Im Ernst, Mama«, sagte ich. »Das ist nichts für mich. Lauter alte Leute. Und dann dieses Ambiente. Da komme ich mir vor wie …«
»Wie was, mein Guter? Sechsundsiebzig? Ich hoffe, du schwindelst dir nicht selber was vor wegen deines Alters?«
»Hör mal, Mama. Du bist doch gerade mal wieder auf dem Weg in den Urlaub. Und du bist um einiges älter als ich.«
»Zumindest kann ich so einen Flug gut überstehen, ohne aufs Klo zu müssen«, erklärte sie gehässig. »Oder hab ich es etwa mit der Prostata?«
»Mama, du hast gar keine Prostata.«
»Eben«, sagte sie, als sei damit alles geklärt. »Und jetzt muss ich zum Gate.«
»Mama, hör mal, ich …« Aber sie hatte schon aufgelegt.
Wie sie mich wenig später mit einer Kurznachricht aus Andalusien wissen ließ, hatte meine Mutter mir eine ganze Reihe von Terminen gemacht: Montag Gut Tattern, Mittwoch das »Seniorenschlössl« im Bayerischen Wald (Hallo! Ich wohne in Hamburg. Was soll ich quasi im Ausland?). Freitag sollte ich die »Happy End Residenz« auf Usedom besuchen. Am Sonntag war dann Schloss Oberübelbach dran. Das Programm der nächsten Woche würde Mama mich »rechtzeitig wissen lassen«.
Ich bin ein Mensch, der gerne reist und auch gerne viel. Aber mussten es sämtliche Seniorenheime der Republik sein? War es nicht geradezu der Beweis, dass ich weit davon entfernt war, ein solches Heim zu brauchen, wenn ich wie ein Verrückter kreuz und quer durch die Republik jettete?
Nun, ich mietete mir einen schnittigen Wagen, tippte die gesammelten Reiseziele in das Navi und hoffte, dass die Bordelektronik angesichts dieser Herausforderung nicht explodierte. Tat sie nicht. Aber ich wäre fast explodiert, weil ich mit der Technik nicht zurechtkam. Immerhin konnte ich umbuchen: »Haben Sie vielleicht ein Auto für mich, das ohne den ganzen Schnickschnack auskommt?«
»Was meinen Sie mit Schnickschnack, Herr Dings?«
»Damit meine ich zum Beispiel das Navi, Herr Bums.« Ich holte Luft. »Und überhaupt diese ganzen Touchscreens und die Knöpfe und komischen Keineahnungwas.«
»Tja, also, das sind doch ganz normale Gadgets.«
»Ganz normale was?«
»Na, Extras eben. Dinge, die man im Auto braucht.«
»Ich nicht. Ich hätte gerne einen Wagen, der fährt. Das wäre völlig ausreichend für mich.«
Das Leben steckt ja voller Erkenntnisse. Zum Beispiel, dass es für das Renommee nicht besonders förderlich ist, mit einem Smart vorzufahren, wenn man nicht als Anwärter auf den neu zu besetzenden Hausmeisterposten gelten will. Im »Seniorenschlössl«, mitten im schönen Allgäu gelegen, haben sie mich erst einmal weitergeschickt zum Hintereingang, an dem, vermutlich noch aus grauer Vorzeit, ein Schild angebracht war: »Für Dienstboten und Lieferanten – Hausieren verboten!« Aber das war gar nicht so schlecht. Denn tatsächlich lernt man über das Wesen einer Firma mehr, wenn man sich ihr von der Personalseite her nähert.
Also machte ich erst einmal Kaffeepause mit den Schwestern, die sich bereitwillig über die Zustände im »Schlössl« ausließen. Das Übliche: zu viel Arbeit, zu wenig Geld. Und natürlich ein Chef, der ein Riesena … sei, aber nur einen ganz kleinen Schw … habe. An der Stelle sei vermerkt: Mein Wortschatz an Beschimpfungen und Schlüpfrigkeiten ist in der Viertelstunde um dreihundert Prozent gewachsen. Wenn ich an diesen kleinen Plausch denke, treibt es mir heute noch die Schamesröte ins Gesicht.
Das Problem ist, dass man mit all diesem Insiderwissen kaum noch dem Leiter der Einrichtung entgegentreten kann, ohne ständig an seine Socken zu denken, an seine Haarschuppen oder an viel Schlimmeres. Ich outete mich also als potenzieller »Senior« und bat, mich zu Doktor von Wittich zu bringen (den sie alle Doktor Winzig nannten – weshalb, konnte ich mir ja nun allzu bildlich vorstellen.