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Die Autorin

Kerri Milyko, Ph. D., ist Psychologin, war lange Zeit an der Universität von Nevada tätig und leitet nun das von ihr gegründete »Precision Teaching Learning Center« in Tampa, Florida.

Kerri Milyko

Lernen im Sekundentakt

Präzisionslernen bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen

Übersetzt von Andra Bernard

Verlag W. Kohlhammer

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Pharmakologische Daten verändern sich ständig. Verlag und Autoren tragen dafür Sorge, dass alle gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung hierfür kann jedoch nicht übernommen werden. Es empfiehlt sich, die Angaben anhand des Beipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

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1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033772-5

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-033773-2

epub:     ISBN 978-3-17-033774-9

mobi:     ISBN 978-3-17-033775-6

Geleitwort zur Reihe »Autismus Konkret«

Das afrikanische Sprichwort »It takes a village to raise a child«/Deutsch: »Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen« gilt sicherlich auch für Kinder und Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Und vielleicht braucht es sogar mehr als ein Dorf: nämlich das Wissen von Spezialisten in verschiedenen Ländern, die sich Autismus Spektrum Störungen auf ihre Fahnen geschrieben haben. Ziel unserer Reihe »Autismus Konkret« ist es daher, das Wissen internationaler Experten zu relevanten Themen zu bündeln und Eltern, Therapeuten, Lehrer und anderen Fachkräften dieses Wissen in leicht verständlicher Form und so konkret wie möglich zur Verfügung zu stellen.

Oft ist es nicht einfach, Betroffenen mit ASS zu helfen. Eltern und Fachkräfte wissen, dass Zeit besonders kostbar ist, wenn es darum geht, effektiv Veränderungen zu bewirken. Daher sollten Erklärungsmodelle und Hilfen bewährt und wissenschaftlich anerkannt sein. Wir haben daher Kollegen in Deutschland, Österreich, England und den USA gebeten, ihr Spezialwissen über bestimmte evidenzbasierte und praxiserprobte Therapiemethoden in kurzer, konkreter Form mit unseren Lesern zu teilen.

Hierbei wird ein Einblick in folgende Themen gegeben: Lernen durch ABA und AVT (Applied Behavior Analysis und Autismusspezifische Verhaltenstherapie), Anders denken lernen – Kognitive Verhaltenstherapie zum Abbau von Frustration und Ängsten und zum Aufbau von sozialen Fähigkeiten, Lernen von positiven Alternativen zu Verhaltensproblemen, Lernen im Alltag – Natürliches Lernen, Lernen im Sekundentakt – Präzisionslernen, Lernen durch Apps, Lernen durch visuelle Hilfen, Lernen durch Videomodellierung, Lernen von Spiel und Beziehungen zu Gleichaltrigen: Integrierte Spielgruppen, Lernen im inklusiven schulischen Setting, Medikamentöse Hilfe und die Suche nach den Ursachen von Autismus-Spektrum-Störungen.

Wir hoffen, dass die Bände unserer Reihe »Autismus Konkret« Eltern und Kollegen helfen, Ursachen besser zu verstehen und wissenschaftlich anerkannte Therapiemethoden kennenzulernen. Hierbei wünschen wir, dass jeder Praxisband der Serie einen Beitrag leistet, therapeutische Hilfen für Betroffene mit ASS konkreter zu machen und Kindern und Jugendlichen mit ASS eine echte Chance zu geben, sich so zu entwickeln, dass eine Teilhabe am Leben der Gemeinschaft auch tatsächlich möglich wird. Und dazu braucht es sicher »Mehr als ein Dorf«.

Dr. Vera Bernard-Opitz, Herausgeberin der Reihe, Irvine,

April 2021

Geleitwort zu diesem Band

Dieser Band unserer »Autismus-Konkret-Serie« ist ein Versuch, die Methode des Präzisionslernens (PL) in Deutschland bekannter zu machen. PL ist eine Lernstrategie, die sich besonders in amerikanischen und australischen Schulen für Kinder und Jugendliche mit Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) und Autismus Spektrum Störungen bewährt hat. Auch von Athleten, Musikern oder Studenten verschiedener Fachrichtungen wird sie eingesetzt.

Nach einem Sommerkurs an der hierfür bekannten Morningside Academy in Seattle fragte mein Sohn: »Mama, warum sind denn nicht alle Schulen so?« Offensichtlich fand er das einfache und schnelle »Lernen in Sekunden« und die Bewertung des eigenen Lernfortschritts auf logarithmischen Kurven sehr überzeugend.

Im Folgenden wird anhand von Fallbeispielen verschieden stark beeinträchtigter Kinder mit ASS deutlich, dass PL ein sehr präzises Lernen ist, das allerdings auch eine sehr genaue Planung voraussetzt. So sollte der Schüler mit ASS flüssig reden, schreiben, lesen und rechnen können oder auch andere soziale Verhaltensweisen oder Selbsthilfetätigkeiten »automatisch richtig machen«. Um das zu erreichen wird komplexes Verhalten analysiert und problematische Komponenten, wie Artikulation, Stifthaltung, Zahlen lesen, Grüßen, die Zähne putzen oder die Straße richtig überqueren, wiederholt im »Sekundentakt« geübt. Ziel von PL ist es, dass Teilschritte komplexer Fähigkeiten durch Wiederholungen automatisiert werden und somit den Beteiligten nicht mehr schwerfallen.

PL setzt präzise Planung voraus, was auch für andere ABA/AVT-Ansätze gilt. Allerdings diskutieren die Vertreter von PL und ABA/AVT, durch welche Lerndaten der Lernfortschritt am besten kontrolliert werden kann. Während verhaltenstherapeutische Arbeit sich meist mit einer Messung des Antwortverhaltens als Prozent richtig begnügt, betonten Präzisionslehrer, dass der Lernfortschritt auf die jeweilige Lernzeit bezogen werden muss. Nur so kann ein langsam und mühevoll sprechender, schreibender, rechnender oder arbeitender Schüler von einem Schüler unterschieden werden, der all das automatisch erledigt, dem es leichtfällt und der dieses oft auch gern macht.

Eine spannende Beobachtung zieht sich dabei durch dieses Buch: die wiederholte Erkenntnis, dass das gezielte Üben von Teilkomponenten zu einer Verbesserung des Endziels führt, ohne dass dieses selbst trainiert werden muss. Und das klingt doch vergleichbar zum wiederholten Üben des Aufschlags beim Tennis oder der endlosen Wiederholung von Akkorden, um vielleicht doch noch ein Tennisprofi oder virtuoser Pianist zu werden.

Auch wenn wir nicht alle Lernenden zu solchen Höchstleistungen bringen können und auch nicht bringen wollen, kann das Verstehen der genauen Problempunkte und das schnelle Üben kleiner Lernschritte für viele Betroffene Lernen erfreulicher und effektiver machen.

Dr. Vera Bernard-Opitz, Herausgeberin der Reihe, Irvine,
April 2021

Inhalt

  1. Geleitwort zur Reihe »Autismus Konkret«
  2. Geleitwort zu diesem Band
  3. 1   Willkommen zum Präzisionslernen
  4. 2   Flüssiges Verhalten
  5. 2.1   Ergebnisse flüssigen Verhaltens
  6. 2.2   Flüssiges Verhalten messen
  7. 3   Eindruck vom Präzisionslernen: Die Zeitmessung
  8. 3.1   Definition und Ziel
  9. 3.2   Beobachtung während einer Zeitangabe
  10. 3.3   Strategien vor der Zeitmessung
  11. 3.4   Nach einem Timing
  12. 4   Grundlagen lehren
  13. 5   Julie – Niedriges verbales Repertoire
  14. 5.1   Übungen
  15. 5.2   Überprüfen des Fortschrittes
  16. 6   Thomas – Geringe Sprachfähigkeiten
  17. 6.1   Akquisitionstraining
  18. 6.2   Herausforderndes Verhalten
  19. 6.3   Überprüfung des Fortschrittes
  20. 7   Aiden – Gute verbale Fähigkeiten
  21. 7.1   Trainingsprogramm
  22. 7.2   Herausforderndes Verhalten
  23. 7.3   Überprüfung des Fortschrittes
  24. 8   Generalisation
  25. 8.1   Motorische Fähigkeiten
  26. 8.2   Schulische Fähigkeiten
  27. 8.3   Soziale Fähigkeiten
  28. 9   Antwort auf kritische Einwände
  29. Literatur
  30. Anhang

1          Willkommen zum Präzisionslernen

 

 

»Als erstes lassen Sie mich zunächst betonen, dass der Präzisionsunterricht durch Kinder in sonderpädagogischen Klassen entstanden ist. Hätten die Kinder ihren Therapeuten nicht ihre Ideen und Bedürfnisse mitgeteilt, hätten wir Präzisionslernen nicht so gut und schnell entwickeln können.« (Ogden Lindsley)

Präzisionslernen (PL) verändert das Lernen von vielen Kindern durch die folgenden Grundsätze:

image  Das Zielverhalten muss genau bestimmt werden.

image  Das Kind weiß es am besten.

image  Beginne mit den Grundlagen und berücksichtige das Verhältnis der Komponenten zu ihren Endzielen.

image  Zeichne den Lernfortschritt auf und analysiere ihn.

image  Flüssiges Verhalten ist gekonntes Verhalten.

Der Vater des Präzisionslernens, Ogden Lindsley, und sein Team haben innerhalb der Verhaltensanalyse eine Methode entwickelt, die später die Pädagogik und andere Disziplinen beeinflusst hat. Sie betonten, dass PL im Wesentlichen ein Messsystem ist und keine Lernmethode (Lindsely, 1971). Lindsleys hatte die Idee, dass dieses System nicht nur im Schulunterricht, sondern auch in der Sprachtherapie oder der Krankenpflege eingesetzt werden könnte. In diesem Fall würde es dann nicht um PL allgemein gehen, sondern um Präzisionslernen in der Sprachförderung oder Präzisionslernen im Bereich der Krankenpflege. Mittlerweile ist Präzisionslernen tatsächlich ein integrierter Teil auch von Disziplinen geworden, die nicht akademisch sind. So wird PL beim Tanz, beim Sport, bei der Autismusbehandlung und beim Üben alltäglicher Fähigkeiten eingesetzt, um die jeweiligen Leistungen zu verbessern (s. Videos unter www.theDailyBA.com).

Die verschiedenen Anwendungen des Präzisionslernens sind auch in der Förderung von Betroffenen mit Autismus zu beobachten. Da es sich bei PL um ein Messsystem handelt, kann es bei verschiedenen Kindern eingesetzt werden. So können ältere Kinder mit vielen Fähigkeiten, die an schulischen Aufgaben arbeiten, ebenso davon profitieren wie diejenigen, die jünger sind, noch keine Arbeitshaltung oder nur geringe Sprachfähigkeiten haben. Auch können Kinder, die schwerwiegende Verhaltensprobleme haben, wie Aggression oder hochfrequente Stereotypien, ihr Verhalten durch PL verbessern. Auch Eltern und Therapeuten können von dieser Methode profitieren. So können Therapeuten Ziele des Elterntrainings genau erfassen und Fortschritte kontrollieren. Da es sich um das Messen und die Analyse von Lerndaten in Echtzeit handelt, stellt PL ein sehr sensibles Werkzeug dar, das alle menschlichen Verhaltenshäufigkeiten umfasst. Daher schließt der Ansatz weder bestimmte Personen noch bestimmte Verhaltensziele aus.

Man muss berücksichtigen, dass die klassische Anwendung von PL frei von Inhalten ist und Lernziele nach verschiedenen etablierten Curricula festgelegt werden (Kerr, Smyth & McDowell, 2010). Das ist besonders für Kinder mit Autismus wichtig, denn für diese Kinder gibt es bereits zahlreiche Erfassungsinstrumente und Curricula, die auf die Entwicklung früher Sprache und beginnender Selbstversorgung beruhen. Dabei wird der festgelegte Lehrplan zum Teil an das betreffende Individuum angepasst. Es ist Ziel dieses Buchs, Beispiele für verschiedene zentrale Strategien von PL darzustellen, z. B. freies operantes Verhalten, Lernschritte oder Zeiteinheiten. Diese werden in den folgenden Kapiteln vorgestellt, sodass Sie darauf aufbauend Ihre eigenen Lehrpläne erstellen oder bestehende Pläne bearbeiten können.

Um PL angemessen anzuwenden, muss man zunächst die Standard Celeration Chart (SBD – Standardisierte logarithmische Lernkurve) kennenlernen. Diese wird im Anhang ausführlicher beschrieben (image Anhang). Die SBD stellt die Basis für datenbasierte Entscheidungen dar, die für jedes Kind verbindlich sind. PL geht jedoch über einfache Diagramme hinaus. Zu den wichtigen Merkmalen von PL gehört das Definieren und Messen flüssiger/gekonnter Leistungen (image Kap. 2), das Ausführen von kurzen Übungsintervallen (image Kap. 3), das Messen des Lernfortschritts (image Anhang), das Festlegen eines bestimmten Lernschritts (sog. »pinpointing«) und die Analyse von Komponenten/Endzielen (image Kap. 4). Ich betrachte es als meine Aufgabe als Autorin, Wissenschaftlerin und Pädagogin, Ihnen nicht nur Beispiele zu geben, wie PL bei Personen mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) wirksam sein kann, sondern auch die zentralen Merkmale von PL darzustellen, welche diese Methode für jede Population hilfreich macht.

Hinweise für den Leser:

*Sie werden Bilder meiner Familie sehen, meines Mannes Ethan (der auch ein Präzisions-Therapeut ist) und meiner Kinder Kaelin, Drazen und Micha, denen ich sehr dankbar bin, dass sie diese Interventionen demonstrieren. Das Behavior Analyst Certification Board (BACB) fordert Praktiker nachdrücklich auf, das Bild ihrer Klienten nicht für persönliche Zwecke zu nutzen, und deshalb habe ich mich entschieden, Bilder meiner Familie für dieses Buch zu verwenden. Ich hoffe, dass diese Bilder helfen, Klarheit bei einigen Methoden zu bringen, die ansonsten verwirrend oder zu technisch sein können.

**Kliniker können Precision Teaching zusätzlich zu anderen Methoden einsetzen (z. B. Videofeedback, Token-Ökonomie und andere derartige Techniken). Es ist selbstverständlich, dass der Klient immer mit Würde und Respekt behandelt werden sollte und dass die Zustimmung zur therapeutischen Intervention – sofern möglich – vom Klienten gegeben werden sollte.

2          Flüssiges Verhalten

 

 

Sowohl in der traditionellen Pädagogik als auch bei ABA-Programmen gelten »Prozent richtiger Antworten« als wichtigste Messeinheit. Therapeuten messen dabei, wie genau ein Individuum ein bestimmtes Zielverhalten zeigt. Allerdings ist es oft ein Problem, wenn der Schwerpunkt der Lernüberprüfung lediglich auf der Genauigkeit der Antworten liegt.

Stellen sie sich ein typisches Szenario vor: Zwei Schüler, Laura und Tim, sind in derselben Klasse. Beide schreiben ihren wöchentlichen Mathe-Test und bekommen 100 %. Allerdings war Laura schon nach 15 Minuten fertig und Tim brauchte die komplette Stunde. Hier besteht also ein offensichtlicher Unterschied zwischen beiden Testleistungen, die nicht allein durch »Prozent richtiger Antworten« bewertet werden können. Der Lehrer hat sicher auch diesen Unterschied zwischen den Schülern bemerkt; wenn er jedoch am Ende des Schuljahres ihre Noten durchsieht, wird er nur feststellen, dass sie 100 % richtig geantwortet haben. Das allerdings verdeckt jeden tatsächlich beobachteten Unterschied.

Dieses einfache Beispiel kann man auch auf verschiedene ABA-Ansätze und Kinder mit Autismus anwenden, sei es das Einfügen von Formen in Aussparungen, das Zuordnen von Farben, das Verbinden von Punkten zu Zahlen, das Benennen von Abbildungen, das Lesen oder auch Aufgaben aus dem Bereich der Selbstversorgung.