„Worauf es ankommt, ist nicht die Masse von Erkenntnissen,
sondern das innere Handeln des Menschen.“
(Søren Kierkegaard in Dietz, 1993, S. 5)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2021 Sabine Wöger
Illustration: Sabine Wöger
Veröffentlichung: Wolfgang Wöger
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7534-7471-7
Es war 1996, als ich in Viktor Emil Frankls Wohnzimmer saß. Elly Frankl gab uns einen Kaffee und seine Enkeltochter Katja saß neben uns. Wir diskutierten über den religiösen Glauben. Und natürlich auch über Gewissen, Schuld und Vergebung. Man kann ja schwer leugnen, dass diese Begriffe auch deutlich religiös gefärbt sind. Immerhin steht in der Bibel im Römerbrief „Denn wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun, was das Gesetz fordert, das in ihr Herz geschrieben ist, so sind sie sich selbst Gesetz und beweisen damit, dass ihr Gewissen es ihnen bezeugt.“ (Römerbrief, Kapitel 2, Vers 14,15) Genau dies hat auch Frankl in seiner Dissertation geschrieben, die später als Buch zu „Der unbewusste Gott“ umbenannt wurde. Das heißt nichts anderes, als dass der Mensch ein Gewissen in sich trägt. Ob er will oder nicht. Allerdings haben wir die Freiheit, Gewissen-los, also los bzw. frei vom Gewissen, zu entscheiden, oder eben Gewissen-haft, will heißen, dass uns ein Gewissen anhaftet.
Als Frankl vom damaligen Bundespräsidenten Klestil anlässlich einer KZ-Gedenkfeier in die Wiener Hofburg eingeladen wurde, hatte ich die Ehre, auf seiner Gästeliste zu stehen. Bevor die Feier in der Hofburg begann, bemerkte Frankl anhand der Namenskarten, dass an seinem Tisch neben ihm ein Jude sitzen würde, der oft voller Hass in der Öffentlichkeit gegen den Nationalsozialismus auftrat. Er bat mich damals, heimlich die Namenskarten am Tisch auszutauschen. Gesagt, getan, ich tauschte die Namenskarten aus. Frankl lachte darüber und betonte mir gegenüber, dass er selbst-bewusst die Vergebung lebe, es keine Kollektivschuld gebe und er dieses Verhalten seines jüdischen Landsmannes nicht teilen könne. Schon eine sehr heroische Haltung, obwohl seine gesamte Familie im KZ ermordet wurde. Frankl lehrte nicht nur die Logotherapie, sondern er lebte sie auch. Er handelte seinem Gewissen gemäß und vergab seinen eigenen Peinigern die Schuld. So entstanden Freiheit und Frieden in ihm.
Sabine Wöger beschreibt in diesem hervorragenden Buch genau diese Thematik von Schuld und Gewissen. Aus meiner Sicht ein wichtiger Beitrag für unsere Gesellschaft, um ein besseres Leben führen zu können. Dieses Buch zeigt aber auch dem Einzelnen auf, wie man Gewissen-haft und in der Vergebung leben kann. Dadurch kommt es, wie Frankl mir damals erzählte, zum inneren Frieden.
Dr. Klaus Gstirner
Leiter der Europäischen Akademie für Logotherapie und Psychologie in Graz.
Wer wegen gesinnungslosen Handelns an Schuld oder an Schuldgefühlen leidet, braucht wenigstens einen Menschen, der einem vorbehaltlos begegnet und sich auf die individuellen Nöte einlässt, darauf vertrauend, dass sich durch die authentische und kompetente Interaktion ein Weg aus der Gewissensnot erschließen wird. Wer die Möglichkeit, sich zu entschuldigen, ungenutzt ließ, und wenn die Person, die man rückblickend um Vergebung hätte bitten sollen, zwischenzeitlich verstorben ist, braucht es eine Person, die der empathischen Begleitung beim Betreten des transzendenten Raums fähig ist, um mit dem Gewissen in Kontakt zu kommen. Sinnverwirklichungsmöglichkeiten jenseits von Schuld und Versäumnis und fern des Begreif- und Verstehbaren können dann erschlossen werden.
In der Logotherapie ist das „Ja“ zur Person, die immer mehr als ihre Tat ist, tief verwurzelt. Die Würde wird einem Menschen immer zuteil, auch dann, wenn er unehrenhaft handelt, seine Entscheidungen nicht nachvollziehbar sind oder seine Einstellungen den eigenen Werthaltungen widersprechen. Dass Menschen einander Unrecht tun, ist gewiss. Jedoch sind im Gegenzug menschliche Individuen zweifelsohne dazu fähig, zu sich selbst eine reflexive Distanz einzunehmen, um sich mit dem Unrecht, das sie anderen zugefügt oder an sich selbst erfahren haben, auseinanderzusetzen, um einer zuvor problematischen Gesinnung eine neue Orientierung zu geben. Jenseits aller Fachlichkeit können psychologisch Beratende, die gemäß den Standes- und Ausübungsregeln dazu verpflichtet sind, „ihren Beruf nach bestem Wissen und Gewissen auszuüben“ (BMI Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort, 1998, § 1, Abs. 1), stets noch eines anbieten: die logotherapeutische Haltung, die voraussetzungslos die Würde jeder Person wahrt, unabhängig davon, was das Gewissen belastet und die Seele beschwert; und das ist viel. Ratsuchende dürfen sich dessen gewiss sein, dass es in logotherapeutischen Praxen ein ehrliches „Willkommen“ gibt. Hilfesuchende bekommen die Möglichkeit, sich zu entschleunigen, sich zu beruhigen und sich im Lichte einer respektvollen und achtsamen Beziehung ihrem Inneren zuwenden zu können.
Logotherapeutisch Beratende sind sich dessen bewusst, dass dem Gewissen in der Bewältigung von existenziellen Fragen eine richtungsweisende Funktion zukommt. Sie helfen beim Öffnen von Türen zu neuen Sichtweisen, beim Entwickeln hilfreicher, lebensbejahender Einstellungen durch den Gebrauch der geistigen Trotzmacht und bei der Erhellung des individuellen Sinnanrufs, den das Leben an jede Person richtet. Lebens- und Sozialberatende begegnen ihren Klient*innen frei von Veränderungs-, Zeit- oder Lösungsdruck. Unethisches Verhalten muss zur Wahrung der Würde von Menschen, Tieren und zugunsten des Naturschutzes entschieden abgelehnt werden, weshalb Beratung niemals wertneutral oder gar wertlos sein darf. Wenn Beratende zu Verhaltensweisen, die mit Unwerten liebäugeln, entschieden „Nein“ sagen, bejahen sie dennoch fortwährend den z. B. schuldbeladenen Menschen. Es liegt nicht in der Intention der Helfenden, darüber zu urteilen, ob ein Mensch gut oder böse ist, weil das menschliche Vermögen niemals nur nach einer Tat bemessen werden kann. Auch liegt es nicht im Ermessen der Beratenden, ob und wie jemand mit Schuld oder erfahrenem Unrecht umgehen soll, denn dies herauszufinden, liegt in der Verantwortung jeder und jedes Einzelnen selbst. Bei der Bewältigung von Gewissenslast ist die aktive eigenverantwortliche Gestaltung der jeweiligen Herausforderung bedeutsam, anstatt sich dem passiven Opferdasein hinzugeben und einer gewissenstreuen Lebensweise den Rücken zuzukehren. Wer sich an den Quellengaben des Gewissens nährt, kann wählen, ob man tatsächlich alle Gefühle im Moment loswerden muss oder ob es besser ist, sich von ihnen zu distanzieren. Es ist also eine Frage der persönlichen Verantwortung, wie wir mit unseren Emotionen umgehen. Wer verzichtet, bereut, vergibt oder um Verzeihung bittet, erlebt sich selbst als jemanden, der sich für oder gegen etwas entscheidet und somit einen Unterschied machen kann.
Das erste Kapitel handelt von Viktor Frankl und seine Logotherapie. Zentrale Wissensaspekte zu den Themen „Gewissen“ und „Schuld und Schuldgefühl“ werden im zweiten und dritten Kapitel dargelegt. Die Schrift soll auch zum Nachdenken, zur Selbsterfahrung und -reflexion einladen, etwa im Hinblick auf Situationen, in denen man sich selbst nicht wiederzuerkennen glaubte und beispielsweise nahe daran war, unmoralisch und rechtswidrig zu handeln. Vielleicht quält aber auch ein Schuldgefühl, eine Schuldscham oder eine Gewissensangst, und Sie spüren, dass es an der Zeit ist, sich davon zu befreien. Das vierte Kapitel beinhaltet Praxiswerkzeuge, die ich in den Jahren meiner psychotherapeutischen Tätigkeit entwickelt habe und die sich in der Beratung und Therapie meiner Klient*innen besonders bewährt haben. Hoffend, dass Sie, geschätzte Lesende dieses Buches, eine auf (logotherapeutischem) Wissen und auf Praxiserfahrung basierende Hilfestellung für sich selbst bzw. für die psychologische Beratung in den Händen halten, danke ich für Ihr Interesse.
Pucking, im Mai 2021
„Existenzanalyse und Logotherapie“ – die „Dritte Wiener Richtung der Psychotherapie“
Es gibt wohl keine andere psychotherapeutische Schule, deren Begründer derart radikal und tief greifend mit Gewissensfragen konfrontiert wurde, wie die von Viktor Frankl, 1905–1997. Er ist der Begründer der „Dritten Wiener Richtung der Psychotherapie“, die er nach Freuds Psychoanalyse und Adlers Individualpsychologie „Logotherapie und Existenzanalyse“ nannte (Frankl, 2002b, S. 315). Diese therapeutische Schule ist stark von den einschneidenden und todbringenden Erfahrungen rund um den Holocaust geprägt, die er und seine Angehörigen in den Jahren zwischen 1940 und 1945 erfahren mussten. Im Zusammenhang mit der lebensbegleitenden Auseinandersetzung mit Sinnfragen rund um Leid, Schuld und Tod, diese hatte bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges begonnen, sprach Frankl von der „tragischen Trias“ (2009, S. 32) eines Menschenlebens. Die fortwährende Sinnsuche verwirklichte er gemäß seinem Theorem und vor allem in realen existenziell bedrohlichen Lebenssituationen, die von Zynismus, Verachtung und Gewalt geprägt waren. Insbesondere durch die konstruktive und mit einer intensiven Sinnsuche einhergehenden Bewältigung von Unrecht, das er und seine Familie durch den Holocaust erdulden mussten, gab Frankl ein eindrückliches personales Zeugnis, das hoffentlich noch vielen Generationen zugänglich sein wird.
Ein Wink des Himmels erweist sich als unüberhörbarer Sinnanruf
Der in Wien geborene Jude und Arzt Frankl erhielt 1940 die Möglichkeit, das ersehnte US-amerikanische Ausreisevisum für sein Überleben zu nutzen. Zunächst haderte er damit, ob er aus Österreich ausreisen sollte, wissend, dass er als Jude den Rassenwahn der Hitlerfaschisten wahrscheinlich nicht überleben würde. So sehr er sich im ersten Moment über das ersehnte Ausreisevisum freute, so sehr quälte ihn die Frage, welche Folgen seine Emigration für seine Eltern haben würden, denn sie standen mit ihm unter Deportationsschutz. Er überlegte: „Wo liegt meine Verantwortung?“ (BR alpha, 2017, Minute 11:47), bei seinem „geistigen Kind“ (ebd., Minute 11:59), der Logotherapie, oder lag sie darin, in Österreich zu bleiben, um die Eltern vor der Deportation zu schützen? An diesem Tag ging Frankl in den Wiener Stephansdom, um dort das tägliche Orgelkonzert anzuhören und um zu meditieren. Ohne eine Antwort auf seine Frage gefunden zu haben, machte er sich auf den Weg nach Hause, dabei immer noch auf einen „Wink des Himmels“ (ebd., Minute 12:46) hoffend. Zu Hause angekommen sah er auf dem Tisch einen Stein liegen. Frankl schildert in der berührenden Dokumentation von BR alpha (2017, Minute 12:47–14:05), was sein Vater zu ihm sagte:
Ach, Viktor, das habe ich vergessen, dir zu erzählen: Heute Vormittag bin ich um unseren Häuserblock herumgegangen und dort auf dem Terrain, wo die größte Wiener Synagoge von den Nazis niedergebrannt worden war, […] dort finde ich diesen Stein und bemerke, das ist etwas Heiliges, das darf ich nicht liegen lassen. Schau mal her, das ist ein Marmor. Darauf ist eingraviert, ganz groß und vergoldet, ein hebräischer Buchstabe. Und ich wusste sofort, das ist ein Stück von den Zehn-Gebote-Tafeln über dem Altar in der Synagoge. Und ich kann dir sogar verraten, zu welchem der zehn Gebote dieses Stück gehört, denn dieser hebräische Buchstabe dient als Abkürzung nur in einem einzigen dieser Zehn Gebote.
„Und das wäre?“, fragte ihn sein Sohn Viktor. Der Vater antwortete: „Ehre Vater und Mutter, auf dass du bleibest im Lande“ (ebd.). In diesem Augenblick beschloss Viktor Frankl, in Wien zu bleiben.
Schon der Entschluss, sich 1941 für den Verbleib in Wien zu entscheiden, und vom Ausreisevisum nach Nordamerika keinen Gebrauch zu machen, stattdessen das Deportationsrisiko und den eigenen Tod in Kauf zu nehmen, basierte auf einem starken Gewissensappell, dem Frankl letztlich folgte. Er nahm den Hinweischarakter einer „zufälligen“ Begebenheit wahr und ernst, und nicht nur das, er entschied sich in diesem Moment auch dazu, die zu diesem Zeitpunkt nicht absehbaren Folgen seiner Entscheidung mit in Kauf zu nehmen.
Das schwere Schicksal der Familie Frankl
Nachdem er 1941 die Krankenschwester Tilly Grosser geheiratet hatte, zwangen 1942 die Nationalsozialisten das Ehepaar zur Kindesabtreibung, eine der unzähligen menschenverachtenden Taten an jüdischen Frauen zur Zeit des Nationalsozialismus. Im selben Jahr wurden er, seine Ehefrau und seine Eltern in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, danach in die Lager Auschwitz, Dachau und Kaufering II. Der Alltag in den Lagern war von der Ausbeutung der Arbeitskraft, von Hunger, von Krankheiten, von desolaten hygienischen Bedingungen und von der ständigen Todesbedrohung geprägt. Vater Gabriel starb 81-jährig, sechs Monate nach der Zwangsverschickung nach Ausschwitz infolge einer Lungenentzündung (Frankl, 2002a, S. 6). Mutter Elsa verlor 65-jährig unmittelbar nach Ankunft in Ausschwitz ihr Leben im Gas. Auch Schwester Stella und Bruder Walter wurden ermordet. Im letzten KZ erlitt Frankl selbst eine Fleckfiebererkrankung. Dem Schicksal von Tilly Grosser haftet eine besondere Tragik an. Sie kam am Tag der Befreiung aus dem KZ Bergen-Belsen durch die Engländer zu einem Zeitpunkt ums Leben, zu dem ein Überleben bereits möglich gewesen wäre. Sie war extrem geschwächt, kam deswegen zu Fall und wurde von den in die Freiheit drängenden Häftlingen zu Tode getrampelt. Am 27. April 1945 wurde Frankl von US-Truppen befreit und kehrte im August 1945 nach Wien zurück, wo er vom Ableben seiner Angehörigen erfuhr.
Ich an seiner Stelle? Frankl hat tröstende Worte …
Oft denke ich darüber nach, wie ich anstelle von Viktor Frankl wohl reagiert hätte. Angenommen, ich wäre mit der grausamen Realität konfrontiert worden, dass alle meine Liebsten ermordet worden waren. Welche Antwort hätte ich auf diese Zumutung gegeben? Ich bezweifle, dass ich die menschliche Größe aufbringen könnte, mich von Hass und Rachegefühlen auf die Nazis zu distanzieren. Im Kleinen ist mir dies möglich, im Großen würde ich wahrscheinlich kläglich scheitern. Die Psychotherapeutin und Psychologin Elisabeth Lukas, geboren 1942, eine Schülerin von Frankl, fragte ihn: „Sie sind so glaubwürdig, durch das, was sie selbst gelebt haben […]. Ihnen nimmt man ab, dass man […] unter den schwierigsten Bedingungen seelisch heil bleiben kann. Aber wie sollen Ihre Schüler nun das glaubhaft machen, die ja nicht alle durch ein Konzentrationslager gehen können?“ Er antwortete: „Ach, […], jeder hat sein Ausschwitz“ (BR alpha, 2017, Minute 09:40–10:25).
Sollte ich jemals in eine ähnliche Lage wie Frankl geraten, kann ich nur hoffen, dass sein Geist mich in den Talgängen des Schicksals begleitet. Wenn ich mich mit ihm auch geistig verbunden fühle, so bedauere ich es, ihn nicht persönlich gekannt zu haben.
Frankl: „Es gibt keine Kollektivschuld!“ (Frankl, 2002b, S. 300)
Frankl setzte sich mit den Schuldbeladenen intensiv auseinander und sprach sich gegen die Kollektivschuld aus. Ausdrücklich distanzierte er sich von jeglicher kollektiven pauschalen Abwertung und Beschuldigung von Menschen. Hingegen lag ihm daran, in einem jeden Menschen Gutes wie Böses differenziert zu erkunden: „Schuld kann jedenfalls nur persönliche Schuld sein […]. Aber ich kann nicht schuld sein an etwas, das andere Leute getan haben, und seien es auch die Eltern oder die Großeltern“ (Frankl, 2002b, S. 297), und weiter: „Wen sollte ich auch hassen? Ich kannte ja nur die Opfer, aber ich kenne nicht die Täter […]. Es gibt keine Kollektivschuld“ (aus der Rede1 von Viktor Frankl am 11. März 1988; in Frankl, 2002b, S. 300). „Experimentum crucis“ (Frankl, 2002a, S. 75) bezeichnete Frankl unpathetisch die Erfahrungen in den Lagern der Nationalsozialisten, die sein weiteres Leben entscheidend prägen sollten und Anlass für die Entwicklung einer psychotherapeutischen Richtung gaben, die insbesondere den leidenden, vom Schicksal hart getroffenen und/oder schuldig gewordenen Menschen in den Fokus der Aufmerksamkeit stellte. Weil Schuld wie auch Leid und Tod zur „tragischen Trias“ (Frankl, 2009, S. 32) eines jeden Menschen gehören, keine Person dem Schuldig-Werden entrinnen kann, liegt eine zentrale Aufgabe des Lebens darin, den Auftragscharakter von Schuld zu erkennen und diesem bestmöglich gerecht zu werden.
Für das Leben, das ihm nach dem Überleben des Holocaust geschenkt war, wollte sich Frankl würdig und dankbar erweisen. Er entsagte sich jeglichem anti-deutschen Völkerhass und begegnete gar jenen Täter*innen, die sich aus der Verantwortung entzogen und/oder sich zu zweifelhaften Kompromissen bereit erklärten, verständnisvoll.
1 Hinweis: Die Rede von Viktor Frankl anlässlich einer Gedenkkundgebung des Hitlereinmarsches 1938 in Österreich ist unter https://www.youtube.com/watch?v=leGKtWlwHt4, „collective guilt does not exist“, abrufbar.
Bereits als Gymnasiast erfolgte eine kritische Auseinandersetzung mit den Menschenbildern der damals vorherrschenden Therapieschulen, insbesondere der Psychoanalyse von Sigmund Freud, 1856–1939, und der Individualpsychologie von Alfred Adler, 1870–1937. 1924 publizierte der Medizinstudent Frankl in der „Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie“ einen Aufsatz mit dem Titel „Psychotherapie und Weltanschauung“, in dem er die Verschränkung von Psychotherapie und Philosophie thematisierte und zentrale Charakteristika seiner späteren Logotherapie beschrieb. Im Unterschied zu Adler waren aus Sicht von Frankl beispielsweise Neurosen nicht nur auf organische Minderwertigkeiten und dem Streben nach Überwindung derselben zurückzuführen, sondern Ausdruck des Personalen (Frankl, 2002a, S. 40). Anders als beispielsweise Freud war Frankl ein gläubiger Mensch und schon als Gymnasiast davon überzeugt, dass das Leben viel mehr ist als ein bloßer „Verbrennungsprozess und Oxidationsvorgang“ (Frankl, 2005, S. 13), wie ein Professor von Frankl in der Mittelschulzeit behauptet hatte. „Ja, was für einen Sinn hat denn dann das ganze Leben?“ (ebd.), hinterfragte Frankl den Lehrenden kritisch. Freud hingegen, der die Befreiung des Menschen von seinen regressiven Tendenzen als den Kern der Psychoanalyse verstand, waren religiös Gläubige zwanghaft, illusionär und infantil. 1926 sprach Frankl auf einem Vortrag in Wien erstmals über die „Logotherapie“, in der die Überwindung des Sinnlosigkeitsgefühls im Vordergrund stehen sollte. Aufgrund abweichender Anschauungen wurde er 1927 aus dem Verein für Individualpsychologie ausgeschlossen. Doch löste dieser Bruch keineswegs Resignation in ihm aus. Er blieb seiner Denkweise treu und gründete 1928 die ersten Jugendberatungsstellen in Wien mit dem Ergebnis des Rückganges von Schülersuiziden.
Die Anthropologie der Existenzanalyse wurzelt in der Existenzphilosophie, nach deren Anschauung das Wesen des Menschen in seiner Freiheit begründet ist. Diese beruht jedoch nicht auf Willkür, sondern basiert auf reflektierten personalen (ethischen) Entscheidungen. Existenz und Dasein werden in der Existenzphilosophie zur Beschreibung der Besonderheit allein des Menschen verwendet. „Dasein“ steht zumeist für den Menschen allgemein, „Existenz“ hingegen qualifiziert dieses Dasein näher. Existenz meint demnach „das Wesen des Daseins“. Søren Kierkegaard, 1813–1855, verwendete den Begriff „Existenz“ im Sinne von Aufgabe und Vollzug. Menschsein konstituiert sich nicht im Gegeben-Sein, sondern im Aufgegeben-Sein. Sie gelangt durch Überschreiten und Transzendieren des Erreichten und Bestehenden zum Sein und kann somit nur als einzelner Augenblick, als eine herausgehobene Situation im Leben erfahren werden. Der Mensch muss demnach etwas Sinnvolles tun, um zu seiner Existenz zu gelangen. Jede Person wird vom Leben herausgefordert, ihr eigenes Ethos zu entwickeln. Der Philosoph verwies auf die Verantwortung des Menschen gegenüber dem Anspruch Gottes. Aus Angst vor der Konfrontation mit der eigenen Gewissenslast darf nicht in die Sphäre der Konformität geflohen werden. Der Mensch ist also kein faktisches, sondern ein fakultatives Wesen, das nicht dem Gegeben-Sein ausgeliefert ist, sondern ein situatives Aufgegeben-Sein in sich trägt, so Frankl (2012, S. 93). Indem der Mensch Sinnvolles tut, überschreitet und transzendiert er das Gefühlte und Erlittene. Menschen sind fähig, sich durch geistige Leistung von der eigenen psychophysischen Faktizität zu distanzieren und dem eigenen physisch-psychischen Sein gegenüberzutreten. „Existieren“ bedeutet laut Frankl, „aus sich selbst heraus und sich selbst gegenüber[zu]treten“, das bedeutet, die geistige Person kann über die körperliche und emotionale Dimension reflektieren und Stellung beziehen (ebd.). Entgegen dem Determinismus der Trieb- und Sexualtheorie von Sigmund Freud, die den Menschen mehr als Opfer und weniger als Gestalter seiner Lebensumstände versteht, ist im logotherapeutischen Menschenbild der Wille zum Sinn verankert, durch den es dem Menschen möglich ist, den körperlichen Voraussetzungen und psychischen Gestimmtheiten zu trotzen, um nicht etwa an einer Krankheit zu zerbrechen oder den Sinn einer Hochsensibilität zu verfehlen. Fern des Nihilismus, der den Menschen zu einem Homunkulus degradiert, ist der Mensch „mehr als ein Spielball von Reaktionen und Instinkten“ (Frankl, 1946, S. 27) oder als „ein Produkt von Trieben, Erbe und Umwelt“ (Frankl, 2002b, S. 60). Niemand ist sich selbst völlig überlassen und seinen Gefühlen ausgeliefert. Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ und Max Schelers „Formalismus in der Ethik“ waren prägende und erste von Frankl gelesene Werke, ebenso Schriften von Karl Jaspers und anderen Denkern. Ebenso ist Frankls Auffassung von der menschlichen Existenz stark an die Existenzanalytik Martin Heideggers angelehnt, dessen Transzendenzbegriff wiederum demjenigen von Jaspers nahesteht. Frankl setzt in Anlehnung an Heidegger Existenz mit Sinn gleich. Existenz hat demnach keinen Sinn, weil sie bereits Sinn ist (Frankl, 1946, S. 21).
Die Verschränkung von Anthropologie, Medizin und Psychotherapie am Beispiel einer Gruppenpsychotherapie
Die Anthropologie der Logotherapie fokussiert vor allem auf den leidenden Menschen und seinen Willen zum Sinn. Als praktizierender Neurologe und Psychiater übertrug Frankl seine Erkenntnisse unmittelbar in die Behandlungspraxis, wo er sie stetig und im Dialog mit seinen Patient*innen weiterentwickeln und in Form zahlreicher Publikationen ausführlich darlegen konnte. Dankenswerterweise hinterlässt Frankl auch Fallsequenzen, die Einblick in sein unmittelbares psychotherapeutisches Wirken geben. Die Einsichten, die gewonnen werden, wenn das Leben aus der Perspektive der Endlichkeit bewertet wird, und welche Kraft eine sokratische Gesprächsführung hat, zeigt die folgende Begebenheit im Rahmen einer gruppentherapeutischen Sitzung. Eine Gruppe befasste sich mit der Situation einer Frau, deren 11-jähriger Junge an einem Blinddarmdurchbruch verstorben war. Weil die Frau einen Suizidversuch unternommen hatte, wurde sie in die psychiatrische Klinik, in der Frankl tätig war, eingewiesen. Der 20-jährige Sohn litt an einer infantilen Zerebralparese und war auf pflegerische Unterstützung angewiesen. Frankl holte eine andere Teilnehmerin aus der Gruppe zu sich und bat sie, sich vorzustellen, sie sei hoch betagt und halte Rückschau auf ihr Leben, in dem gesellschaftliches Prestige vordergründig war, ebenso das Streben nach erotischer Erfüllung. „Was würde sie zu sich selbst sagen?“, fragte Frankl diese Frau. Daraufhin antwortete sie:
Ich hatte ein gutes Leben, war reich, wurde verwöhnt, hielt die Männer zum Narren, indem ich mit ihnen flirtete, und ließ mir nichts abgehen. Nunmehr bin ich alt, ich lasse keine Kinder zurück und muss sagen, dass mein Leben streng genommen ein Fehlschlag war; denn ins Grab kann ich mir nichts mitnehmen. Wozu war ich auf der Welt?
Danach sollte sich die Mutter der beiden Söhne, von denen der jüngere gestorben war, sich in dieselbe Lage versetzen und mit der Gruppe ihre Gedanken über das gelebte Leben teilen. Diese lauteten:
Ich hatte mir Kinder gewünscht, und dieser mein Wunsch ging in Erfüllung. Das jüngere starb, und mit dem älteren blieb ich zurück. Wenn nicht ich gewesen wäre, hätte aus ihm nichts Rechtes werden können. Er wäre in irgendeiner Anstalt für Idioten gelandet; aber so war ich es, die aus ihm einen Menschen machte. Mein Leben war kein Fehlschlag. Mag es auch noch so schwer gewesen sein, es war voll von Aufgaben, und wenn es mir gelungen sein sollte, sie zu bewältigen, war es sinnvoll.
Die Anwesenden verstanden, dass es letzten Endes nicht darauf ankommt, wie lustvoll oder leidbeladen ein Leben war, sondern vielmehr darauf, ob eine Person aufrichtig um Sinnerfüllung bemüht war (Frankl, 2005, S. 38–39).
Die Logotherapie ist die angewandte Psychotherapie auf Grundlage des von Viktor Frankl entwickelten wert- und sinnorientierten Modells, also die therapeutische Ausgestaltung des logotherapeutischen Menschenbildes. Das altgriechische Wort „lógos“ weist eine Bedeutungsvielfalt auf. Es wird mit „Wort“, „Rede“ und mit dem geistigen Vermögen, das eine Konversation hervorbringt, gleichgesetzt, weswegen es auch „Sinn“ oder „Vernunft“ bedeuten kann. „Lógos“ verweist auf philosophische und religiöse Grundanschauungen, vor allem in der stoischen Philosophie, ebenso in Texten jüdisch-hellenistischen und christlichen Ursprungs, wo der Ausdruck auch „Wort Gottes“ bedeutet. Das Johannesevangelium beginnt beispielsweise mit den Worten: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott“ (Joh 1,1 in BibleServer, 2016, o. S.). Das griechische Wort „therapeía“ steht für „Heilbehandlung“ und „Pflege“ (Duden, o. J., o. S.). Der Begriff „Pflege“ verweist im übertragenen Sinn auf die heilsame Bedeutung einer zielgerichteten zwischenmenschlichen Beziehungspflege zwischen Beratenden/Therapeut*innen und den ihnen anvertrauten Menschen, die eine grundlegende Basis für den Beratungs- bzw. Therapieprozess schafft.
Die Logotherapie wirkt kultur- und konfessionsübergreifend sowie völlig losgelöst davon, ob ein Mensch religiös ist oder nicht. Das logotherapeutische Menschenbild trägt die Überzeugung in sich, dass jeder Mensch ein Gespür und ein Gewissen hat. Diese Richtung der Psychotherapie weist einen Theoriekern auf, dem eine Philosophie zugrunde liegt, die sich mit existenziellen Fragen des Personseins befasst. Neben der körperlichen und psychischen Dimension des Menschen gibt es die geistige, die „noetische“, die die beiden anderen Dimensionen übersteigt und nach Wert- und Sinnverwirklichung strebt. Lebenskrisen gehen oftmals mit einem schmerzvollen Sinnlosigkeitsgefühl einher. Frankl sprach vom „existenziellen Vakuum“ (Frankl, 2005, S. 11) bzw. von der „existenziellen Frustration“ (ebd.). Was in den hoch entwickelten Industrieländern im scheinbaren Widerspruch zwischen maximaler Logik und dem größten Defizit an Sinn stärker wird, ist die Suche der Menschen nach Antworten auf existenzielle Fragen, z. B. „Wer bin ich? Worin liegt der Sinn meines Lebens?“ Wer den Gewissensruf, kohärente Deutungen und den subjektiven Sinnhorizont seines Lebens nicht wahrnehmen kann, fühlt eine Sinnleere. Das ist ein Leben jenseits von Freude, Begeisterungsfähigkeit und Kreativität. Wer der Annahme unterliegt, das Leben sei eine Plage, ein ständiger Kampf oder die bloße Verkettung schicksalhafter Umstände, ist dazu aufgerufen, sich mit einem ausgeprägten Sinnmangel und mit einem verstummten Gewissen tiefgründig auseinanderzusetzen.
Bei der Behandlung von Sinnkrisen kommt eine primär medikamentöse Behandlung rasch an ihre Grenzen, weil sie den eigentlichen quälenden Schmerz oder eine Gewissensnot nicht heilen kann. Lediglich die belastenden Auswirkungen des nicht erkannten noetischen Schmerzes wie Getriebenheit, Depression und diffuse Angst werden vorrübergehend ruhiggestellt, während das primäre noetische Leiden durch Medikation unbehandelt bleibt. In einer logotherapeutischen Beratung wird der Wille zu einer sinnstiftenden Lebensweise gestärkt, um die eigenen körperlichen und seelischen Potenziale für die Überwindung des persönlichen Leidens entfalten bzw. weiterentwickeln zu können.
Wer Logotherapeut*innen aufsucht, erfährt weder Moralisierung, Bewertung noch Besserwisserei. Der Dialog zwischen Beratenden und Ratsuchenden erfolgt auf Augenhöhe, von Mensch zu Mensch. Statt Sinnsuchende als „depressiv“ einzuschätzen, weil sie etwa am Werteschwinden bzw. -verlust in der Gesellschaft oder am Arbeitsplatz leiden, forschen logotherapeutisch geschulte Personen gemeinsam mit den Klient*innen nach dem Hinweis- bzw. Aufgabencharakter, der herausfordernden Lebenslagen innewohnt. Da gibt es beispielsweise die menschliche Intuition, die tief aus dem Inneren kommt und quasi als Vorsprecherin oder Künderin des Gewissens fungiert(2002b, S. 24).
Die Existenzanalyse ist eine der Logotherapie zugrunde liegende Forschungsrichtung und zugleich ein therapeutischer Weg aus einer Sinnkrise. Es handelt sich um eine Anthropologie, die den Menschen in seiner leiblich-seelisch-geistigen Einheit und Ganzheit zu fassen sucht und die Charakterisierung und Qualifizierung der Essenz der Existenz intendiert. Gemeint ist eine „Analyse der ganzen Existenz“ und eine „Analyse auf Existenz hin“, also auf das menschliche Sein hin, das Ver-antwort-lichsein bedeutet. Mittels Existenzanalyse wird die Essenz der Existenz charakterisiert, mit dem Ziel, das Leben eigenverantwortlich, wert- und sinnorientiert zu gestalten. Erfüllung findet ein Mensch dann in seinem Leben, wenn er nicht nur dem nachgeht, was dem eigenen Genuss dient, sondern darin, herauszufinden, wie er beispielsweise auch zu anderen gut sein kann.
Zentrale existenzanalytische Fragen lauten: „Was macht mich im Kern aus?“, „Worin liegen meine Begabungen und Charismen, die ich zur Mehrung des Guten in der Welt einsetzen kann?“, „Wer soll ich sein?“ „Welchen Beitrag kann und soll ich zur Verbesserung menschlicher Existenz leisten?“, „Wem und wozu bin ich gut?“ oder „Was ist mein individueller Auftrag in einer konkreten Lebenssituation?“ Es werden nicht primär oder ausschließlich die Eigeninteressen, sondern vor allem gemeinschaftlich und ethisch bedeutsame Ziele angestrebt. Weder Macht, Prestige noch Status auf Kosten anderer entfalten menschliches Potenzial, sondern menschliche Begegnungen auf Basis von Vertrauen, Empathie und Authentizität. Nicht der Dienst nach Vorschrift erfüllt ein Leben mit Sinn, sondern die Freude am sinnvollen Tun, oder wie der Begründer der SOS-Kinderdörfer Hermann Gmeiner, 1919–1986, es ausdrückte: „Alles Große in unserer Welt geschieht nur, weil jemand mehr tut, als er muss“ (SOS Kinderdörfer weltweit, o. J., o. S.).
Der therapeutische Aspekt der speziellen Existenzanalyse liegt in der Erhellung individueller, konkreter existenzieller Situationen und in der Unterstützung auf dem Weg zu einer selbstständigen Findung, die sich an einem objektiven „ontologischen“ Sinn orientiert.
Der Arzt, Psychiater und Psychologe Alfried Längle, geboren 1951, entwickelte einen anderen Zugang der Existenzanalyse und Logotherapie, die Personale Existenzanalyse, und gründete die „Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse“ (GLE Österreich, o. J., o. S.) in Wien. Anders als in der von Viktor Frankl entwickelten Logotherapie, bei der ausschließlich die objektive Sinnfindung intendiert wird, erachtet Längle ebenso das existenzielle subjektive Sinnerleben einer Person für bedeutsam. Auch die Biografie und die Emotionalität des Menschen werden in der beratenden und psychotherapeutischen Arbeit mehr berücksichtigt. Längle trägt dem Gesichtspunkt Rechnung, dass die Trotzmacht des Geistes nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern erst auf der Grundlage einer Ich-Stärkung im Rahmen von Beratung und/oder Psychotherapie erarbeitet und aufgebaut werden muss.
In dem 2020 von Alexander Batthyány und Elisabeth Lukas publizierten Buch „Logotherapie und Existenzanalyse heute. Eine Standortbestimmung“ (S. 120–147) werden zentrale Unterschiede zwischen dem franklschen und dem längleschen Ansatz beschrieben. Betroffen machen mich allerdings die abwertenden Formulierungen seitens der Autorin, mit der sie die Spezifika der Personalen Existenzanalyse darlegt, ohne den möglicherweise ergänzungsbedürftigen Reichtum von Längles Erkenntnissen in Erwägung zu ziehen. Überdies werden persönliche und nicht beigelegte Differenzen mit Längle im Rahmen dieser Publikation ausschließlich aus ihrer Sicht beschrieben.
Frankl drängte es zum Schreiben, den an der Logotherapie interessierten Personen steht somit eine Vielzahl an Publikationen zur Verfügung. Die „Ärztliche Seelsorge“ (1946) und „… Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ (1998) sind Grundlagenwerke über den Menschen, die einerseits ob der Tatsache erschüttern, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind, die andererseits eine Ermutigung zum Gut-, Wahrhaftig- und Authentisch-Sein sind. Beide oben genannten Publikationen zeugen davon, wie sehr durch den Glauben an einen (Über-)Sinn eine Einstellungsmodulation selbst unter widrigsten Umständen möglich ist. Dem Buch „…Trotzdem Ja zum Leben sagen“ (1998) verdanke ich mein Wirken als Logotherapeutin. Es hat mich im Kern bewegt und mir die Entschlossenheit und Kraft geschenkt, mich für unterstützungs-, hilfe- und pflegebedürftige Menschen und Tiere einzusetzen. Der Titel dieses Buches ist ein Zitat aus dem Refrain der Lagerhymne des KZ Buchenwald, dem „Buchenwaldlied“, das 1938 von zwei Häftlingen komponiert wurde. In diesem heißt es:
O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen,
weil du mein Schicksal bist.
Wer dich verließ, der kann es erst ermessen,
wie wundervoll die Freiheit ist!
O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen,
und was auch unsre Zukunft sei –
: wir wollen trotzdem „ja“ zum Leben sagen,
denn einmal kommt der Tag –
dann sind wir frei! :(ORT House, 2021, o. S.).
Bis heute haben diese ersten bedeutenden Schriften Frankls nichts an Aktualität eingebüßt, vor allem im Hinblick auf die menschliche Sehnsucht und Fähigkeit, sich auf etwas hin auszurichten, „das nicht wieder es [Anmerkung d. V.: der Mensch] selbst ist“ (Frankl & Kreuzer, 1986, S. 78). Indem der Mensch einen Sinn außerhalb seiner selbst für möglich hält und danach forscht, bis er ihn schließlich findet, kann er sein Selbst, seine biologisch-schicksalhaften Bedingtheiten und das psychische Leiden überschreiten. Schicksalhaftes kann durch den „Dienst an einer Sache“ oder „in der Liebe zu einer Person“ (Frankl, 2009, S. 18) überwunden werden. Gar bekommt dadurch manch eine Situation erst im Rückblick ihren Sinn.
Praxisbeispiel: Wie eine Mutter den Abschied von ihrer „kleinen Prinzessin“ gestaltete