Anmerkungen
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Meyer & Meyer Verlag
„EINE REISE VON TAUSEND MEILEN BEGINNT MIT DEM ERSTEN SCHRITT.“
CHINESISCHES SPRICHWORT
(DAO TE CHING)
Tai Chi
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eISBN 978-3-8403-3673-7
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Vorwort
1Einführung
1.1Was ist Tai Chi?
1.2Positive Aspekte des Tai-Chi-Trainings
2Grundlagen
2.1Stellungen
2.2Grundlegende Bewegungen
2.3Allgemeine Prinzipien
2.4Ausrüstung
3Chi Gong
3.110 Figuren, Yang-Stil, Chi Gong
3.2Fünf Figuren, Wu-Stil, Chi Gong
3.3Vier Figuren, Sun-Stil, Chi Gong
4Pushing Hands
4.1Grundspiel „Horizontale Kreise”
4.2Vertikale Kreise
4.3Richtungswechsel, beidhändiges Sun-Stil-Muster
4.4Nahdistanz, beidhändig
4.5Fauststoß
4.6Ziehende Kreise
4.7Freie Spiele und Anwendung
5Unbewaffnete Formen
5.140 Figuren, Yang-Stil, Wettkampfform
5.1.1Grundlagen
5.1.2Beschreibung der Form
5.1.3Anwendung der Techniken der Yang-Stil-Form
5.273 Figuren, Sun-Stil, Wettkampfform
5.2.1Grundlagen
5.2.2Beschreibung der Form
5.2.3Anwendung der Techniken der Sun-Stil-Form
6Waffenformen
6.1Yang-Stil, 13 Figuren, Säbelform
6.1.1Grundlagen
6.1.2Beschreibung der Form
6.1.3Anwendung der Techniken der Yang-Stil-Säbelform
6.2Yang-Stil, 32 Figuren, Schwertform
6.2.1Grundlagen
6.2.2Beschreibung der Form
6.2.3Anwendung der Techniken der Yang-Stil-Schwertform
Schluss
Anhang
Links
Literatur zum Thema
Bildnachweis
Das vorliegende Buch entstand aus dem Wunsch heraus, ein Lehrbuch zu entwickeln, das Tai Chi in allen seinen Ausprägungen zeigt und dabei komplex genug ist, um Fortgeschrittenen zu gefallen, und dennoch Grundlegendes so erklärt, dass auch Anfänger damit arbeiten können – Tai Chi komplett.
Tai Chi lässt sich meiner Ansicht nach in vier grundlegende Bereiche teilen: Chi Gong, Formen, Anwendungen und Pushing Hands. Die Formen wiederum lassen sich in unbewaffnete Formen und Waffenformen unterteilen. Alle Bereiche zusammen ergeben dann ein abgerundetes Trainingsprogramm mit vielen positiven und aufschlussreichen Aspekten. Beschäftigt man sich ausschließlich mit den Formen, ohne Chi Gong und Pushing Hands zu trainieren, nimmt man sich einerseits wichtige und interessante Aspekte aus der Welt des Tai Chi, andererseits werden auch die Formen ohne diese Trainingsmethoden nie so ausdrucksvoll werden, als wenn man Tai Chi komplett trainiert. Mit den Anwendungen kann man dann die Techniken und Prinzipien aus der Form und aus Pushing Hands in einen Selbstverteidigungskontext einbauen und so trainieren.
Unter dieser Prämisse ist das Buch aufgeteilt: Zuerst werden Grundlagen erläutert, dann verschiedene Chi-Gong-Methoden vorgestellt. Es folgen Pushing-Hands-Partnerübungen und als letzter Teil des Buches eine detaillierte Beschreibung von vier Tai-Chi-Formen. Anwendungsbeispiele werden im jeweiligen Umfeld beigefügt; so schlägt man die Brücke von der Kampfkunst hin zur Selbstverteidigung.
Die Formen orientieren sich hauptsächlich am Yang-Stil, der weltweit einer der meistpraktizierten ist. Dieser zieht sich als roter Faden durch das gesamte Buch, d. h., auch im Chi Gong und in den Partnerübungen sind Teile aus dem Yang-Stil enthalten. Die Formen werden in der traditionellen Reihenfolge eingeführt: zuerst die unbewaffnete Form, dann der Säbel als erste Waffe und schließlich das Schwert als fortgeschrittene Waffenform.
Zusätzlich zum Yang-Stil präsentiere ich noch eine Form aus dem eher unbekannten Sun-Stil. Diese unterscheidet sich sehr stark vom Yang Stil und bildet so ein interessantes Yin zum bekannten Yang. Damit sollte auch für Kenner der Materie genug Material zum Üben geboten sein.
Die Präsentation von mehreren Tai-Chi-Stilen entspricht auch meinem persönlichen Zugang zur Kampfkunst. Ich habe Mitte der 1990er-Jahre angefangen, mich mit Tai Chi zu beschäftigen. Anfangs war es als meditativer Gegenpol zu anderen Kampfsportarten, die ich betreibe, gedacht. Dann aber hat mich die Komplexität dieser faszinierenden chinesischen Kampfkunst immer tiefer in ihren Bann gezogen.
Als ich aus beruflichen Gründen dann einige Jahre in Sao Paulo/Brasilien gelebt habe, konnte ich in der dortigen Chinatown „Liberdade“ von verschiedenen chinesischen Meistern direkt lernen. 2009 habe ich dann meine erste Trainingsreise nach China unternommen. Seitdem versuche ich, regelmäßig direkt bei chinesischen Meistern, z. B. in Hongkong oder Chengdu, zu trainieren. Viele Meister, das heißt viele verschiedene Ansätze, viele verschiedene Lehrerpersönlichkeiten und viele verschiedene Stile. Dies hat den Vorteil, dass sich dadurch mehrere Ansätze vergleichen lassen und es ergibt sich ein Überblick, was generell im Tai Chi gleich ist, und worin sich die einzelnen Stile unterscheiden.
Das vorliegende Buch versteht sich als praxisorientiertes Lehrwerk zum direkten Gebrauch im Training. Theoretische Konzepte werden entsprechend diesem Ansatz erklärt. Einige wichtige Informationen zum Tai Chi im Allgemeinen finden sich natürlich auch. Es fehlt allerdings ein detaillierter geschichtlicher oder esoterischer Teil, da dies meinem Ansatz widerspricht. Nebenbei gesagt, ist es in diesem Feld, ob der komplizierten Quellenlage, sowieso schwer, ein realistisches Bild wiederzugeben.
Zusätzlich zu den Beschreibungen der einzelnen Bereiche gibt es detaillierte Bilderfolgen, die zusammen mit dem Text das Verständnis erleichtern. Die sehr komplexen Tai-Chi-Formen werden dann noch durch eine Videodatei abgerundet, in der manche der vielleicht noch offenen Fragen geklärt werden können. Dem Anfänger soll gesagt sein, dass der hochkomplexe Technikbereich des Tai Chi mit Geduld und Durchhaltevermögen von jedem erschlossen werden kann.
Die Videos zu den Techniken finden Sie unter folgenden Links:
• www.mmurl.de/taichi1 (Yang Comp)
• www.mmurl.de/taichi2 (Yang Schwert)
• www.mmurl.de/taichi3 (Sun Comp)
• www.mmurl.de/taichi4 (Yang Säbel)
Ich hoffe, dass mit diesem Buch vielen Tai-Chi-Praktizierenden neue Ansätze und Trainingshilfen gegeben werden.
Selbst ein praktisch orientiertes Lehrbuch über Tai Chi kommt nicht ganz ohne einen theoretischen Teil aus. Zum einen sollen für Einsteiger in die Materie die wichtigsten Grundlagen erklärt werden, zum anderen sind gewisse Ideen und Konzepte zur korrekten Ausführung der Techniken unabdingbar notwendig.
Problematisch in diesem Zusammenhang ist allerdings die komplexe Struktur des Tai Chi im Speziellen und die der chinesischen Kampfkünste im Allgemeinen. Tai Chi wird weltweit von unzähligen kompetenten chinesischen Meistern unterrichtet und praktiziert. Diese haben allerdings oftmals völlig unterschiedliche Systeme und Ideen – man denke hier nur an die geschichtlichen und ideologischen Unterschiede zwischen der Volksrepublik China und Taiwan. Zentralisierungs- und Uniformitätsbemühungen bleiben also oft auf das jeweilige Land beschränkt. Generell natürlich ist es fraglich, ob man hier überhaupt die lebendige Vielfalt dieser faszinierenden Kampfkunst in solcher Weise beschneiden sollte.
Kleine Pause einer Tai-Chi-Gruppe in Chengdu (Volksrepublik China)
Erschwerend hinzu kommt, dass viele der wichtigen Tai-Chi-Texte und Lehrwerke nicht aus dem Chinesischen übersetzt sind, wenn sie denn überhaupt publiziert sind.
Was also tun? Ich habe mich dazu entschlossen, ein möglichst zusammenhängendes Bild des theoretischen Umfeldes anhand der Lehrmeinungen und Ansichten meiner persönlichen Lehrer zu präsentieren. Da diese sich oft aufgrund ihres jeweiligen individuellen Stils und Zugangs in bestimmten Punkten diametral widersprechen, versuche ich, aus einem stilneutralen Blickpunkt zu vermitteln und zusammenzufassen.
Im Folgenden sollten die maßgeblichen Punkte geklärt werden. Die fundamentalen Fragen, die es zu stellen gibt, sind:
Was ist denn eigentlich Tai Chi?
Was bringt mir Tai Chi?
Auf was muss ich denn beim Tai Chi achten?
Eine einfache Definition besagt, Tai Chi ist eine chinesische Kampfkunst. Dieser Ansatz muss aber verfeinert werden, insbesondere deshalb, da viele, die Tai Chi praktizieren, sich gar nicht als Kampfkünstler sehen; Tai Chi muss also eine besondere Stellung im Rahmen der Kampfkunst haben.
Die chinesischen Kampfkünste lassen sich prinzipiell in zwei große Kategorien teilen: die äußeren und die inneren Stile bzw. Kampfkünste. Diese sind auch bekannt als harte und weiche Form. Die äußeren Stile legen großen Wert auf körperliche Fitness, Kraft und Schnelligkeit. Dies spiegelt sich in ihren Trainingsmethoden wider. Die inneren Stile dagegen legen ihren Schwerpunkt auf die Ausbildung innerer Kraft, oder, weniger esoterisch gesehen, auf die Ausbildung taktiler Fähigkeiten mit entsprechender Folgereaktion. Man kann tendenziell sagen, dass die äußeren Kampfkünste eher offensiv, die inneren eher defensiv orientiert sind. Interessanterweise verschwimmen diese Unterschiede dann bei langjähriger Praxis der Systeme, wenn die äußeren Stile weiche und die inneren Stile harte Elemente in das System einführen.
Meister William Wan, Kei-ho unterrichtet in seiner Schule auf Hong Kong Island harte und weiche Stile.
Trotzdem unterscheidet sich der Zugang zur Thematik grundlegend. Die inneren Stile beginnen ihr Training von Anfang an mit anderen Schwerpunkten. Die Ausbildung und Pflege von Atemtechniken steht hier an oberster Stelle. Mit dieser Fertigkeit erzeugt man die innere Energie „Chi“ und sie hilft auch, die nötige Ruhe für stressige Kampfsituationen zu erzeugen. Man sieht schon hier, dass dieser Zugang nicht nur für die Kampfkunst, sondern auch für eine allgemeine Gesundheitsförderung ausschlaggebend ist.
Ein weiterer entscheidender Unterschied zu den äußeren Kampfkünsten ist, dass man die Geschwindigkeit aus den Übungen nimmt und langsam übt. Dadurch lässt man sich Zeit, während der Ausführung der Technik, diese auf korrekte Ausführung und Form zu überprüfen. Außerdem wird so die Ausbildung einer allgemeinen inneren Ruhe gefördert. Bei dieser Art des Übens ist es auch möglich, die Atmung genau zu regulieren und zu überwachen.
Die verwendeten Kampftechniken an sich variieren natürlich in den inneren Formen der Kampfkunst genauso wie in den äußeren. Der Hauptunterschied liegt hier eher in der Aufnahme der Angriffe bzw. in der allgemeinen Strategie. Anstatt zu versuchen, die Situation von Anfang an zu dominieren, verlegen sich die inneren Kampfkünste auf Reaktion. Diese soll so feinfühlig sein, dass durch geringe Manipulation die Kraft des Angreifers so ausgenutzt wird, dass dieser sich letztendlich selbst besiegt. Das Mittel dazu stellt eine Verfeinerung der Aufmerksamkeit durch Training dar. Im Tai Chi heißt das konkret, durch taktiles Feedback in der Aufnahme des Angriffs, den Weg zum Sieg zu erkennen. Das Werkzeug, um dies zu üben, heißt „Pushing Hands“. Bei dieser Art der Partnerübung lernt man, Zug und Druck allein durch den Kontakt der Hände zu erfühlen, und dann damit umzugehen.
Die Aufnahme und Weiterleitung von Angriffen mit dem Handrücken ist typisch für das Sun-Stil-Tai-Chi.
Innere als auch äußere Kampfkünste in China bedienen sich des Formentrainings als zentralem Element in den Kampfkünsten. Formen bieten dem Trainierenden die Möglichkeit, seine Techniken allein, ohne Partner, zu üben. In den inneren Kampfkünsten kommt hier natürlich die oben erwähnte innere Reflexion während des Übens hinzu. Formen an sich stellen einen fiktiven Kampf mit einem oder mehreren Gegnern dar. Die verwendeten Techniken und Prinzipien entstammen aus dem jeweiligen System. Zusätzlich zur allgemeinen Verbesserung der Kondition durch die Bewegung haben die Formen eine Steigerung der Koordination und der Orientierungsfähigkeit zur Folge.
Im Zusammenhang mit dem Formentraining scheint es mir erwähnenswert, eine Besonderheit chinesischer Stile zur Sprache zu bringen. Anders als in den gängigen japanischen, koreanischen, philippinischen oder den meisten anderen ostasiatischen Kampfkünsten, die sich ebenfalls mit Formen beschäftigen, bestehen die chinesischen Formen aus verschiedenen Bewegungssequenzen, die wiederum in kleine Einheiten aufgeteilt sind. Diese besitzen dann jeweils eigene Namen, im Unterschied zu anderen Systemen, wobei es nur einen Namen für die komplette Form gibt, z. B. Karate „Heian Shodan“.
Die Zahl der verschiedenen kleinen Teile, im Folgenden als Figuren bezeichnet, zusammen mit dem Stil, benennt dann die Form, z. B. 40er Yang-Stil-Form. Die Bezeichnung der Einzelfiguren selbst ist ebenfalls sehr interessant. Modernere Formen geben meist nur eine kurze Zusammenfassung der Bewegung, so z. B. „Der rechte Fersenstoß“ bezeichnet eben die Fußtechnik, die benutzt wird. In älteren Formen werden diese prosaischen Namen mit poetischen gemischt, z. B. „Die Mähne des Wildpferds teilen“.
Es eröffnet sich hier ein spannender, neuer Aspekt im Tai-Chi-Formentraining: Zusätzlich zur korrekten Ausführung lassen sich die Bewegungen jetzt unter der Prämisse der entsprechenden Namen durchführen, z. B. bei „Der weiße Kranich breitet seine Schwingen aus“ gilt es also in dieser Abstraktion, sich den Kranich zu vergegenwärtigen und dessen Bewegung zu imitieren.
Dieses aus der taoistischen Philosophie abgeleitete Grundgerüst ist natürlich ein fakultatives Element, dessen Bedeutung jeder für sich selbst erwägen mag. In Kap. 6 füge ich im Zusammenhang mit den nüchtern modernen Namen der Yang-Stil-Schwertform eine Liste der poetische Namensvarianten, die mir einer meiner chinesischen Meister, Herr Chen aus Chengdou, zur Verfügung gestellt hat, bei.
An dieser Stelle scheint es mir nötig, einige Worte zur chinesischen Sprache zu äußern. Wer sich über längere Zeit mit Tai Chi beschäftigt, wird zweifellos früher oder später mit den Besonderheiten der chinesischen Sprache konfrontiert. Diese betreffen sowohl die gesprochene als auch die geschriebene Sprache.
In der gesprochenen Sprache gibt es prinzipiell zwei Punkte, die den Zugang zum Chinesischen erschweren. Zum einen ist Chinesisch eine sogenannte Tonsprache. Das bedeutet, dass sich die Bedeutung eines Wortes nicht nur nach dem phonetischen Inhalt, d. h., dem Klang nach, unterscheidet, sondern auch durch die Tonhöhe bzw. die Tonhöhenunterschiede. Dieses Phänomen macht die chinesische Aussprache für den deutschen Muttersprachler zu einer echten Herausforderung.
So kann beispielsweise das Wort „ma“ je nach Betonungsmuster verschiedene Bedeutungen haben, diese changieren je nach Tonhöhe von „Mutter“ zu „Hanf“, „schimpfen“ oder „Pferd“. Unter diesen Voraussetzungen scheint es mir sinnvoll, im Zweifelsfall lieber die deutsche Übersetzung für Fachbegriffe zu verwenden, als unter Umständen von völlig anderen Dingen zu reden, ohne dies zu wissen.
Der zweite Aspekt, der oft übersehen wird, ist, dass es das Chinesische eigentlich gar nicht wirklich gibt. Das Hochchinesische, auch Mandarin genannt, ist die Sprache, die in China als Standard gesprochen und in der Schule gelehrt wird. Daneben gibt es aber weitere Sprachen und Dialekte, die so stark von dieser Norm abweichen, dass die Verständigung häufig nicht mehr gegeben ist. Trainiert man beispielsweise in Hongkong, so werden einem viele Begriffe, trotz eventueller Grundkenntnisse in Chinesisch, verschlossen bleiben, da in dieser Region kantonesisch gesprochen wird.
Auch die Schreibung der chinesischen Wörter ist schwierig. Dies hat den Ursprung in der Tatsache, dass die chinesische Schrift ausschließlich aus Piktogrammen bzw. Ideogrammen und Phonogrammen besteht. Dies sind symbolhafte Zeichen, die strukturell zunächst nichts mit der Aussprache des Wortes gemeinsam haben. Im Unterschied etwa zum Japanischen, in dem auch chinesische Zeichen verwendet werden, wo die Zuordnung klar geregelt ist, da es zusätzlich zwei Silbenschriftsysteme (Hiragana und Katakana) gibt, die das Lautbild in Deutsch abbildbar machen, gibt es diese problemlose Zuordnung im Chinesischen nicht. Es müssen also Systeme geschaffen werden, die diese Zuordnung erst ermöglichen.
Die beiden Zeichen bedeuten „goldene Schildkröte“.
Im Laufe der Geschichte gab es hierzu verschiedene Ansätze. Für uns heute aktuell sind hauptsächlich zwei: das ältere Wade-Giles-System (Tai Chi) und die moderne Pinyin-Umschrift (Taiji). Ich habe bei der Umschrift in diesem Buch die Gebräuchlichkeit der Verwendung als praktisches Prinzip gewählt, d. h., es so geschrieben, wie es meiner Meinung nach am häufigsten in den deutschen Texten verwendet wird.
Man sieht also, dass bei der Tai-Chi-Praxis der Gebrauch von originalen chinesischen Wörtern nicht unbedingt immer sinnvoll ist. Deshalb werden meist Übersetzungen verwendet. Die hier im Buch verwendeten sind meine eigenen Versionen, d. h., sie können unter Umständen von anderswo gebrauchten abweichen. Ich denke aber, dass durch die oben dargestellte Problematik der chinesischen Sprache ein toleranter Zugang im Hinblick auf die im Tai Chi gebrauchten Begriffe und deren Schreibung im Deutschen eigentlich selbstverständlich ist.
Die Abgrenzung zwischen inneren und äußeren Stilen in der chinesischen Kampfkunst ist im Hinblick auf die oben genannten Kriterien intuitiv relativ einfach erfassbar. Sehr viel schwieriger gestaltet sich die Abgrenzung des Tai Chi von den anderen inneren Kampfkünsten, wie z. B. Bagua Zhang. In dieser Hinsicht kann, denke ich, auch nur eine graduelle Antwort gegeben werden. Eines dieser Merkmale ist sicherlich der gesundheitsfördernde Unterbau der Tai-Chi-Systeme. Sie sind nicht nur eng mit der traditionellen chinesischen Medizin verknüpft (Stichwort Chi Gong), sondern haben durch ihre geruhsame Ausführungsweise der Formen und die innere Kontemplation der Techniken, ein internationales Publikum von Nicht-Kampfsportlern begeistert.
Doch möglich macht dies letztendlich ein noch wichtigerer Unterscheidungspunkt: die große Bandbreite und Offenheit des Tai Chi! Innerhalb der traditionellen inneren chinesischen Kampfkünste wird normalerweise ein relativ enger Fokus auf das spezielle Vorgehen des jeweiligen Systems gelegt. Innerhalb des Tai Chi, so scheint mir, ist diese Fokussierung sehr viel durchlässiger und in manchen Fällen gar nicht vorhanden. Dies zeigt sich beispielsweise in der Tatsache, dass es im Tai Chi, im Unterschied zu vielen anderen Kampfkunstsystemen, normalerweise keine Graduierungen und Gürtelsysteme gibt. Manche Schulen oder Organisationen bieten dies zwar aus kommerziellen oder organisatorischen Gründen an, dies entspricht aber nicht einem allgemeinen Konsens.
Die Anpassungsfähigkeit und Offenheit des Tai Chi an sich hat zur Folge, dass sich unter diesem Namen eine schier unüberschaubare Vielfalt von verschiedenen Systemen, Schulen, Organisationen und Ideen angesiedelt hat. Um zumindest eine grobe tendenzielle Ordnung vornehmen zu können, bietet es sich an, Tai Chi im Zusammenhang der fünf großen traditionellen Familienstile des Tai Chi zu betrachten. Diese können dann als Maßstab für eine Einschätzung der jeweiligen Elemente, die den Einzelnen interessieren, dienen. Die fünf Stile sind:
Dieser Stil ist wahrscheinlich weltweit der bekannteste und am weitesten verbreitete Tai-Chi-Stil. Er bildet zusammen mit dem Chen-Stil den sogenannten Großen Rahmen. Dies besagt, dass in diesen beiden Stilen große Stellungen und raumgreifende Bewegungsabläufe typisch sind. Kennzeichnend für den Yang-Stil sind gleichmäßige und ruhige Bewegungsausführungen in einem harmonisch dahinfließenden Gesamtablauf.
Der Chen-Stil ist der älteste der fünf Familienstile des Tai Chi. Er wird deshalb auch oft als Alter Rahmen bezeichnet. Wie auch im Yang-Stil werden hier große Stellungen und Gebärden bevorzugt. Charakteristisch für den Chen-Stil ist ein Wechsel von schneller und langsamer Bewegungsausführung im Ablauf. In mancher Hinsicht erinnert er an die äußeren Kampfkünste. Die traditionellen Formen dieses Stils sind vergleichsweise lang. Im Bereich der Waffenformen wartet der Chen-Stil mit einem großen Repertoire von verschiedenen Waffen und Waffengruppierungen auf.
Dieser Stil wird oft auch als Mittlerer Rahmen bezeichnet, da die Stellungen und Figuren in einer natürlichen Körperhaltung ausgeführt werden, sie sind also weder besonders groß noch besonders klein. Die Bewegungen werden ruhig und gleichmäßig gestaltet; die Schrittmuster und Technikausführungen jedoch haben etwas offensiv Direktes.
Dieser zweite Wu-Stil (mit unterschiedlicher Tonhöhe) wird oft auch Hao-Stil genannt, wegen des wohl berühmtesten Vertreters dieser Stilrichtung, Hao He (auch bekannt als Hao Weizhan), der diesen Ende des 19. Jahrhunderts populär gemacht hat. Diese Art des Tai Chi ähnelt stark dem Sun-Stil, mit dem es sich die kleinen, kompakten Bewegungsabläufe und Figuren des Kleinen Rahmens teilt.
Dies ist der zweite Stil des Kleinen Rahmens. Er zeichnet sich durch typische Figuren, wie „Öffnen und Schließen“, als auch durch kurze, realitätsnahe Techniken aus. Viele Elemente dieses Stils wurden von anderen inneren Stilen, wie Bagua Zhan (Ba Gua Quan) und Xinyi (Quan), entlehnt und in dieses Tai-Chi-System integriert. Die Stile des Kleinen Rahmens sind wahrscheinlich die weniger bekannten der fünf Familienstile.
Mithilfe dieser theoretischen Einführung sollte es jedem möglich sein, das für ihn richtige Tai-Chi-Training zu finden. Ob man stilübergreifend, bewusst nur in einem Stil oder ganz ohne einen der traditionellen Stile frei Tai Chi ausübt, bleibt letztendlich jedem selbst überlassen. Natürlich hat auch jeder seine persönliche Zielsetzung für das Tai-Chi-Training; in dieser Hinsicht habe ich die interessante Erfahrung gemacht, dass auch an Kampfsport uninteressierte Teilnehmer Spaß an Pushing-Hands-Kampfspielen haben, genauso wie routinierte Kampfsportler sich von Chi-Gong-Atemübungen faszinieren lassen.
Gerät man zum ersten Mal mit Tai Chi in Kontakt, so geschieht das häufig in einem gesundheitsorientierten und nicht in einem Kampfsportumfeld. Tai Chi als Mittel der praktischen Gesundheitsförderung als eine Art von aktivem Wellness ist in aller Munde. Was ist denn nun aber so besonders positiv am Tai-Chi-Training?
Ich denke, man muss hier verschiedene Aspekte unterscheiden, die für den Einzelnen, allein oder mit anderen Gesichtspunkten zusammen, die Motivation bilden, Tai Chi zu lernen und zu üben. Der wohl bekannteste Ansatz betrifft die Gesundheit. Da sich Tai Chi in Hinsicht auf die Energielehre mit der traditionellen chinesischen Medizin viele Ansätze teilt, kann man sagen, dass der Energieaspekt bzw. Energiefluss durch Tai Chi gestärkt wird und die gesundheitsfördernde Wirkung in jedem Training automatisch aktiviert wird. Da dieser Ansatz besonders im Chi Gong erkennbar und erlernbar ist, wird er ausführlicher in diesem Kapitel behandelt.
Sieht man einmal von diesem, für viele Europäer zu esoterischem Ansatz ab, bleiben aber noch einfachere positive Punkte für die Gesundheitsförderung: Zum einen wird durch die Bewegung der Kreislauf angeregt und die Durchblutung erhöht, zum anderen wird durch die konzentrierte Ausführung der Formen, im Zusammenspiel mit der tiefen Atmung, eine geistige Ruhe erzeugt, die in ihrer Wirkung einer Tiefenentspannung durch andere Methoden gleicht. Die langsame Ausführung der Form verhindert auch Sportverletzungen der gängigen Art, wie Muskel- oder Gelenkverletzungen. Da jeder sein individuelles Tempo sowie die konkrete Ausführung der Form selbst bestimmt, kann Tai Chi auch noch in hohem Alter mit allen Aspekten trainiert werden.
Mit der Yang-Stil-Säbelform auf den ersten Platz bei den 10. Internationalen World Martial Arts Games in der Kategorie „Chinese Weapon Forms“
Eng verknüpft mit der allgemeinen Verbesserung der Gesundheit ist die Förderung von sportspezifischen Aspekten, insbesondere durch das Formentraining.
Ein Aspekt des Formentrainings ist natürlich das Techniktraining. Durch die Formen werden die grundsätzlichen Techniken, d. h. Schläge, Tritte und Abwehrtechniken, mit der Schrittarbeit verbunden. Die Formen orientieren sich an fiktiven Auseinandersetzungen mit einem oder mehreren Gegnern. Je nach Form kann dies dann spezielle Situationen oder Techniken betreffen. In den fortgeschrittenen Formen werden durch die Anwendung von Waffen spezielle Umfelder geschaffen. In allen Formen sind zusätzlich Grundlagen und Basisbewegungen versteckt, die eine dauernde Auseinandersetzung mit den Kernelementen des jeweiligen Systems oder Stils garantieren.
Über das bloße Techniktraining hinaus wird jedoch auch das räumliche Orientierungsvermögen geschult. Um eine Form erfolgreich ausführen zu können, ist es unerlässlich, dass zu jeder Zeit klar ist, wo im Raum man sich befindet. Die Struktur der Form muss als mentales Bild vorhanden sein und dann in ein tatsächliches Bewegungsmuster umgesetzt werden. Zu diesem Zweck finden sich in den meisten Tai-Chi-Formen Bewegungen, die vom linearen Rechts-links-Muster abweichen; meist auf eine weitere diagonale Linie.
Mit dem Orientierungsvermögen zusammenhängende Bereiche, wie z. B. Umsicht und Bewegungsgefühl, profitieren ebenfalls vom Formentraining. Führt man diesen Gedankenstrang fort, so wird klar, dass auch taktische Elemente im Formentraining versteckt sind. Wird der Raum in der Form in Abschnitte, Strecken und Winkel zerlegt, so ermöglich dies auch in einem tatsächlichen Kampf eine Aufteilung des Ortes in dieser Art und Weise. So kann also der Kampf nach dem vorliegenden Umfeld in positiver Weise beeinflusst werden.
Als Trainingsmittel bietet die Form darüber hinaus die Möglichkeit, ohne Partner zu üben. Tai Chi ist eine Kampfkunst, die diese Art des Trainings als Hauptbestandteil des Grundlagentrainings ansieht. In dieser Hinsicht unterscheidet es sich nicht sehr von anderen asiatischen Kampfsportarten, wie Karate oder Taekwondo.
Um dem Anspruch an die Realität gerecht zu werden, müssen Fähigkeiten wie Timing, Distanz und variable Reaktionen auf unterschiedliche Situationen mit einem Partner trainiert werden. Zu diesem Zweck verfügt das Tai Chi über eine taktil gelenkte Trainingsmethode – Pushing Hands. Die grundlegenden Bewegungen für diese Art des Übens, wie Gewichtsverlagerung von einem auf das andere Bein oder die Stellung der Arme und des Oberkörpers, werden in der Form gelernt. Zusätzlich zu einer Verbesserung der technischen und koordinativen Fähigkeiten kann durch das stetige Üben der Formen auch die Kondition verbessert werden. Viele Tai-Chi-Meister schlagen vor, zusätzlich zum normalen, langsamen Tempo, die Formen auch ab und zu schneller auszuführen.
Darüber hinaus bietet sich in der Präsentation der Form ein Mittel zum ästhetischen Ausdruck. Zwar sind die Formen im Gegensatz zum Chi Gong streng geordnet und sollen immer nach dem gleichen Schema ausgeführt werden, dennoch bleibt genug Freiraum, um seine eigene kunstvolle Interpretation umzusetzen. Wie weit diese Abweichungen gehen, hängt von der Situation und dem System ab. In Turniersituationen versucht man natürlich, so nahe wie möglich an ein standardisiertes Ideal zu gelangen. Dies wird schließlich von den Kampfrichtern bewertet. Andererseits gibt es in vielen Quellen zum Tai Chi immer wieder den paradoxen Hinweis, dass eine Form nie die Gleiche sein kann, obwohl sie sich gleicht.
Dies betont, meine ich, den Punkt, dass der Ausführende dazu angehalten ist, die Form nach seiner individuellen Auffassung zu gestalten und auszuführen. Gerade über den Grad der Abweichung wird in Expertenkreisen oft diskutiert und debattiert. Es ergibt sich von selbst, dass in einem stilübergreifenden System die Freiheit immer größer ist als in einem geschlossenen Rahmen.
Ein oft völlig unterschätzter Punkt ist der Selbstverteidigungsaspekt des Tai Chi. Aufgrund der Basisstruktur als innere Kampfkunst wird dieser Aspekt nicht sofort deutlich und ist im System versteckt. Am ehesten erfasst man ihn in den Partnerübungen. Mit den Pushing-Hands-Übungen wird das taktile Abschätzen und die Anwendung von Kraft und Energie geübt. Die Art und Weise der Übung ist eher kooperativ als kompetitiv. Dennoch kann durch gezielte Simulation von Techniken im situativen Umfeld der Kampfkunst- und Selbstverteidigungsaspekt intensiv geübt werden.