Carsten Zehm

Operation Romulus

Das Geheimnis der verschwundenen Nazi-Elite

Thriller

Das Erste, das in einem Krieg stirbt, ist die Wahrheit, egal, ob auf Seiten der Angreifer oder der Angegriffenen.

Das Letzte, was nach einem Krieg wiederhergestellt wird, ist ebenfalls die Wahrheit …

… wenn überhaupt.

03. September 1943, Kapuzinerkloster Saint Antoine, in der Nähe von Bastia, Korsika

Die Explosion riss dem Posten die Beine ab. Aus Sicht des Obersturmbannführers sah es aus, als wäre der Posten in einem aufsteigenden Geysir aus Erde und Gestein verschwunden. Erst dann drang der Krach der Detonation in sein Bewusstsein. Eben noch hatte Obersturmbannführer Rauff sich darüber aufgeregt, dass die Posten wohl eher Gedanken an die korsischen Mädchen am Strand verschwendeten, als sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren und jetzt polterte der Stahlhelm eines der Posten auf die enge Straße, die sich am Kloster vorbei den Berg nach oben wandte. Die zweite Explosion ereignete sich zwischen dem Klostergebäude und dem ersten LKW. Dann erst nahm Rauff das Jaulen der Triebwerke wahr.

»Tiefflieger!« kam die Warnung eines Postens, als die erste Maschine bereits über das Kloster hinweggebraust war. Erst jetzt begannen die Flaks über Bastia und oben auf dem Berg zu bellen. Die zweite Maschine feuerte aus den Bordgeschützen. Ihre Schüsse fetzten faustgroße Löcher in die Körper zweier SS-Angehöriger, die die verschweißten Kisten aus den Klostergebäuden zu den wartenden LKWs schleppten. Wie die Träger krachte auch ihre Kiste zu Boden. Einem der SS-Männer hatte ein Geschoss den halben Schädel weggerissen. Durch den Aufschlag auf den steinigen Boden öffnete sich die Schweißnaht. Goldene Münzen und ein paar Ketten, offensichtlich sehr wertvoll, glitten aus dem Schlitz und blieben im Staub vor den Mauern liegen.

»Verdammte Scheiße!«, brüllte Rauff, sprang aus dem Horch 901 und rannte ungeachtet der Gefahr gestikulierend quer über die von Bastia nach Saint-Florent führende Straße zu den LKWs. »Fahrt die Wagen hier weg!«

Das Krachen weiterer Explosionen übertönte seine Stimme. »Zwischen die Bäume! Verdammt, fahrt die Wagen zwischen die Bäume!« Er duckte sich, als könne er sich damit gegen die niedergehenden Bomben schützen. Auch unten in Bastia dröhnten Explosionen. Vielleicht waren die deutschen Schiffe im Hafen das eigentliche Angriffsziel?

Einer der SS-Männer, der eben noch mit seinen Kameraden ziellos auf der Suche nach einer Deckung herumgerannt war, sprang in das Führerhaus des vorderen LKWs, ließ den Motor aufjaulen und raste mit dem Wagen vom Kloster weg, preschte von der Straße herunter, einen engen, steilen Seitenweg entlang und suchte Schutz in einem kleinen Hain Olivenbäume. Rauff selbst sprang in den zweiten Wagen, startete den Motor und jagte die Straße herunter nach Bastia. Die Ladeklappe des LKWs war noch herabgeklappt und die aufgeladenen Kisten drohten herunterzufallen. Nur wenige Meter über den Gebäuden des Klosters tauchte plötzlich eine der englischen Zweimotorigen auf. Die Bordkanonen bellten über das Heulen der beiden Propeller hinweg. Gleich einer Perlenschnur jagten die Einschläge hinter dem Wagen her, der eine der vielen Straßenkurven benutzte, um aus der Feuerlinie des Engländers zu kommen. Rauff hämmerte den nächsten Gang hinein und riss das Lenkrad herum. Der Wagen krachte zwischen zwei eng beieinander stehenden Gebäuden hindurch, verlor beide Seitenspiegel und blieb stehen. Die Geschosse des Jägers fetzten hinter dem LKW auf dessen ursprünglichen Kurs weiter, zerschossen einen stehen gebliebenen Eselskarren und zwei Zypressen, bevor die Bordkanonen verstummten.

»Gottverdammte Scheiße!«, wiederholte Rauff. Dann kehrte Ruhe ein. Waren die Jäger verschwunden? Kehrten sie in wenigen Minuten zurück? Mit Verstärkung?

Auch die Flaks verstummten, zuerst die in Bastia am Hafen, dann die oberhalb von ihnen auf dem Berg.

Auf jeden Fall konnten sie mit der Beladung der LKWs nicht so weitermachen wie bisher. Rauff sprang aus dem Führerhaus und rannte zur Straße. Er blieb an der Hausecke stehen. Von seinem Kommando war niemand zu sehen, sah man von den beiden Toten ab, die neben der aufgeplatzten Kiste lagen, und den über eine größere Fläche verteilten Resten des Postens, der von der Fliegerbombe getroffen worden war.

»Meldung!«, brüllte er.

»Zwei Spitfire, Herr Obersturmbannführer«, kam eine Meldung aus den oberen Fenstern des Klosters. »Sie haben Richtung Nordosten abgedreht und sind über dem Meer.«

»Und warum haben Sie sie nicht gesehen, als sie im Anflug waren?«

Schweigen.

»Verluste?«

»Müller und Weinrich«, kam die Meldung seines Stellvertreters. SS-Hauptsturmführer Rosslar trat aus der Tür hervor, aus der die beiden jetzt toten Träger der Metallkiste gekommen waren. »Und Lesener.« Das war der Posten, den die erste Bombe erwischt hatte.

»Lassen Sie die restlichen Kisten zu den LKWs bringen. Die Wagen bleiben im Sichtschutz.« Rauff verließ den Schatten des Hauses. »Ich will, dass zwei weitere Leute oben in der Kirche Ausschau halten, egal was die Mönche sagen. Kümmern Sie sich um die Toten. Zwei Mann sollen den Schmuck wieder einsammeln und die beschädigte Kiste reinbringen. Pesendorf soll sie reparieren. Und die Posten rund um das Kloster ziehen sich unter die Bäume und zwischen die Häuser zurück. Los! Los! Los!«

Und während Rosslars Befehle vor dem Kloster erschallten und die schwarzuniformierten SS-Leute des Rauffschen Kommandos in Bewegung kamen, drehte sich der Obersturmbannführer wieder dem Horch zu. Der stand unbeschädigt noch immer seitlich unter den weit ausladenden Ästen der Pinie am Haupteingang des Klosters. Rauff riss die Tür auf. »Zeigen Sie her!«

Der andere Mann im Wagen hatte für die bevorstehende Aktion seine SS-Uniform gegen einen zivilen Anzug getauscht. Blass und mit großen Augen starrte er den Obersturmbannführer an, noch immer den Schreck über den kurzen, aber heftigen Angriff der beiden englischen Jagdflieger in den Gliedern. Rauff setzte sich, ohne die Tür zu schließen, in den Wagen und streckte fordernd die Hand aus. Der zivil Gekleidete reichte dem Obersturmbannführer ein Blatt Millimeterpapier. Dieser nahm es und betrachtete Zeichnung und Ziffern darauf. In einer Mappe auf den Knien des ersten Mannes wusste der Obersturmbannführer weitere, gleiche Papiere mit ähnlichen Zeichnungen.

Auch Rauffs Atmung ging noch immer heftig. »Gut. Wiederholen Sie noch einmal Ihre Mission, Körner.«

Draußen wirbelte die SS-Mannschaft, schleppte im versuchten Laufschritt weitere Metallkisten zu den wartenden LKWs. Sie fluchten und schwitzten in der Sonne. Das Wetter bescherte ihnen hohe Temperaturen, die eher zum Baden denn zum Schuften einluden. Die Posten, die sich zurückgezogen hatten, waren nicht zu sehen. Sie achteten auf auftauchende Widerstandskämpfer. Die Korsen waren berühmt für ihr Streben nach Unabhängigkeit. Aber da war niemand. Jetzt konnte die SS ungestört die Kisten verladen.

Der Rest des Einsatzkommandos wartete entweder am Hafen von Porto Vecchio oder war in mehreren Fahrzeugen über die gesamte Strecke dorthin verteilt. Staub lag in der Luft, von den Bomben, dem Gewehrfeuer der Spitfires und den rennenden Männern aufgewirbelt. Es hatte zu lange nicht geregnet.

Körner sammelte sich. »Wir haben sieben dieser Karten angefertigt«, er wies auf die Zeichnung, die Rauff in den Händen hielt. »Sie zeigen den scheinbaren Platz, an dem das Schiff mit dem Schatz gesunken sein soll, Obersturmbannführer. Die Karten werden in den nächsten Monaten hier, doch vor allem in Nordafrika vorsichtig unter dem angeblichen Mantel der Geheimhaltung verteilt. Das Schiff mit dem Gold jedoch wird von Porto Vecchio aus …«

Obersturmbannführer Rauff hob die Hand. »Sie sollen nicht quatschen, Hauptscharführer!«

Hauptscharführer Körner zuckte wegen des scharfen Tons zusammen. Er diente schon seit mehreren Jahren unter dem SS-Obersturmbannführer, sowohl im Reichssicherheitshauptamt als auch an der Ostfront und zuletzt im Sonderkommando als Beuteeinheit während Rommels Afrika-Feldzug.

Der Zynismus und die Kaltherzigkeit, mit denen Rauff dabei vorging, richtete sich auch schnell gegen seine Untergebenen, wenn diese seiner Meinung nach nicht exakt und schnell genug seinen Befehlen nachkamen. Seit dem letzten Sommer arbeitete ihr Einsatzkommando im Geheimauftrag in Nordafrika. Sehr zum Leidwesen des Obersturmbannführers hatten sie dort keine Gelegenheit gehabt, Gas-Wagen gegen die Juden einzusetzen, mit denen sie in der Sowjetunion so »gute Erfahrungen« gemacht hatten.

Sie waren in den von Rommel eroberten Gebieten auf Beutefang gegangen, eine Beute, die sich jetzt in den Kisten befand, die nur wenige Meter von ihnen entfernt verladen wurden. Beute, die noch wenige Monate zuvor geweihte Stätten und Haushalte afrikanischer Juden geschmückt hatte. Nach den beiden verlorenen Schlachten von el-Alamein wurde die Luft dünner für das deutsche Afrika-Corps und natürlich damit auch für das Rauffsche Einsatzkommando. Um die eroberte Beute zu schützen, hatten sie diese weisungsgemäß nach Korsika gebracht. Und hier verlud die SS jetzt den Schatz im Gesamtgewicht von fast vier Tonnen.

»Im Gegensatz zu Ihnen kenne ich die Bestimmung der Kisten, Hauptscharführer.« Rauff sprach den Dienstgrad in einem Ton aus, der dem Angesprochenen den Abstand zu seinem Vorgesetzten deutlich machte. »Und ich weiß, was wir vorhaben. Ich will überprüfen, ob Sie alle Einzelheiten Ihrer Mission kennen.«

Der Hauptscharführer schluckte. »Ich begebe mich getarnt als französischer Zivilist nach Algier. Dort warte ich. Sobald ich irgendwelche Gerüchte über den Schatz höre, werde ich aktiv und verteile unsere vorbereiteten Informationen und die falschen Karten. Sparsam mit den Karten umgehen, es dürfen nicht zu viele kursieren. Ebenso mit den Informationen und Gerüchten. Erst auf direkten Befehl von Ihnen oder einem glaubwürdigen Vertreter werde ich die konspirative Tätigkeit beenden.«

»Richtig. Und wenn es Jahre dauern wird. Selbst wenn wir, was der Führer verhindern möge, diesen Krieg verlieren sollten.« Seit Stalingrad war Rauff sich nicht mehr so sicher, was den Endsieg anging, noch dazu, wo die Alliierten vor kurzem in Sizilien und jetzt sogar in Italien gelandet waren. Die Räumung Korsikas stand bevor und von den versprochenen Wunderwaffen war weit und breit nichts zu sehen.

Rauff beobachtete die Männer seines Kommandos beim Verladen. Seine Gedanken aber weilten bei der allgemeinen Lage. Es wurde Zeit, dass sich das Kriegsglück wieder zugunsten der Deutschen wendete. So richtig aber glaubte Rauff nicht mehr daran.

Im Westen über Frankreich ging die Sonne unter und südöstlich von Korsika, auf Sizilien, trafen sich zur selben Zeit die Alliierten mit Vertretern der italienischen Regierung, um einen Waffenstillstand zu unterzeichnen. Deutschland würde Italien als Verbündeten verlieren.

Nur wenige Stunden nach dem Gespräch zwischen Rauff und seinem Untergebenen befand sich die Beute auf einem Schiff, das Kurs auf die Meerenge von Gibraltar nahm und von dort seinen Bug nach Süden drehte.

Auch andere, weit über Rauff stehende Personen im Staatsapparat des Deutschen Reiches zweifelten mittlerweile am Endsieg. Und deshalb hatten sie die Hände nach dem Schatz ausgestreckt, den Rauff zusammengeraubt hatte und der als sogenannter Rommel-Schatz in die Geschichte eingehen sollte.

Dieses Hände-Ausstrecken jedoch erfolgte nicht, um sich persönlich zu bereichern. Operation Romulus war angelaufen.

Von dieser Operation aber wusste auch SS-Obersturmbannführer Walter Rauff nichts.

Teil Eins: Deutschland