Paul Riedel

Das Zauberspiegel des Eros

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

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Vorwort



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Paul Riedel

©Paul Riedel, München 2017

Printed in Germany

Umschlag: © Paul Riedel, München 2017

Lektorat: Michael von Sehlen



Erste Auflage 2017

Paul Riedel

Geboren am 27. Mai 1960 in der brasilianischen Stadt Sao Paulo als Paulo Sergio Riedel, nutzt er den Namen seines Urgroßvaters als Künstlernamen.

Er beendete 2010 eine erfolgreiche Karriere in der IT- und Datenbanken-Branche und widmet sich seitdem seiner bildenden Kunst und Literatur.

Zwischen 2007 und 2011 absolvierte er eine Ausbildung als Psychotherapeut nach dem Heilpraktikergesetz, die seine Kenntnisse von der menschlichen Psyche vertieft hat.

Seine Muttersprache Portugiesisch prägt seine Romane durch ihren reichen Wortschatz, genau wie sein Interesse für die Antike mit ihrem Reichtum an literarischen Formen seinen Stil beeinflusst.



Die Beobachtungsgabe ist ein hohes Gut des Menschen, das mit von vielen Generationen tradierten philosophischen Überlegungen zu einer besonderen Kunst gewachsen ist. Auch die psychische Evaluierung von Aktionen und Reaktio­nen gibt uns in unserer Geschichte weitere Informationen, die wir weder durch eine Schreibfeder vor Augen noch von einem Mund gesprochen zu Ohren bekommen haben, deren Entwicklung wir jedoch kaum übersehen können.

Wir sind in unserer Beobachtungsfähigkeit stets besser geworden. Mit einem naiven Tratsch angefangen, sind wir zu Experten der Psyche ausgereift und kommen an Grenzen, die wir vorher nicht erahnt haben.

Alle diese Informationen, die wir sammeln, können uns helfen, Situationen des Alltags zu verstehen und unser Handeln besser zu gestalten oder zu begründen.

Jedoch die stets wachsende Informationsflut durch Medien und die virtuelle Welt nehmen uns die Zeit für eine Verfeinerung und Filterung der Informationen weg, die wir bekommen. Im Ergebnis stehen wir irgendwann vor einem Berg von Informationen, ohne zu wissen, welche Handlung von uns erwartet wird. Diese Ohnmacht kann sogar unsere Entwicklung zum Stillstand zwingen, als wären wir vor Angst vor einem unbezwingbareren Moloch erstarrt, vor dem, was wir als unsere Errungenschaft bezeichnen.

Dies als Ergebnis einer Evolutionsstrategie zu bewerten, wäre eine rein spekulative Annahme, für die nie eine Grundlage oder Beweismöglichkeit existieren wird. Aber diese Machtlosigkeit konfrontiert uns mit der Tatsache, dass Technologie in der Informationsflut uns dazu gebracht hat, vor einem unsichtbaren Feind zu kapitulieren, dessen Mutter und Vater wir gleichermaßen sind, wie einst Eros, der Urgott der begehrlichen Liebe.

Wir sehen und fühlen die Konsequenzen, wir sind uns dieses Kampfes bewusst, aber vor allem wissen wir eins: dass der größte Feind, den wir nicht bezwingen können, unser eigenes Spiegelbild ist.




1

Die Sonne schien angenehm auf den Park herunter und nicht einmal eine schwache Brise war an jenen Tag zu spüren. Die Wärme, die von einem wolkenlosen Himmel strahlte, war gleichmäßig über die grüne Wiese verteilt. Egal ob im Schatten der Bäume oder in freier Sonne.

Aber die Stimmung des Hugo van Hülsen war grauer als ein Regentag. Sie war grauer als seine grauen Haare, die seine fast sechzig Lebensjahre zierten.

Zuerst erfuhr er, dass sein Arbeitgeber in Rente geht, und dann, dass dessen verzogener Sohn die Leitung des Verlags übernehmen sollte. Diese schicksalsverändernden Ereignisse wären nicht wichtig, wenn es nicht bedeuten würde, dass seine Abteilung aufgelöst wäre.

Lucius Grünmantel, wie der Sohn des Geschäftsführers des Mayer Verlages hieß, sah das Lektorat nur als Kostenposten und so verkündete er in der Sitzung an jenem Morgen, dass die Abteilung zu einer externen Firma übertragen wird. Im Fachjargon bedeutete dies, dass wer dort noch eine Stelle hatte, würde in eine Frührente geschickt oder mit neuen Vertragskonditionen konfrontiert, denen man kaum zustim­men könnte. Da er noch nicht alt genug für eine Frührente war, sah er sich schon in der nächsten Schlange am Arbeitsamt um Hilfe bitten. Zu jung für eine Rente, doch zu alt, um sich woanders zu bewerben.

Hugo nahm auf einer Bank im Park Platz und öffnete die Packung mit seinem Pausenbrot. Doch sein Appetit hatte ihn verlassen und mit Gedanken an die kommenden Tage ohne Geld aß er nun doch sein gekauftes Brot.

‚Mist‘, fluchte er innerlich.

Eine blonde, leicht mollige Frau bewegte sich in seine Richtung. Der Kleidung nach zu urteilen müsste sie joggen, dachte Hugo bei sich. Unbeholfen und fast mitleiderregend hob sie ihre Füße vom Boden und hievte ihre Hüften in eine flottere Gangart.

Sie lächelte ihn kokett an. Doch er erwiderte das Lächeln nicht. Er war selten kommunikativ und er war seit mindes­tens zehn Jahren nicht mehr gewohnt, dass Frauen sich für ihn interessierten.

Nachdem er das Brot aufgegessen hatte, knüllte er die Brötchentüte zusammen und warf sie in den nahebei stehenden Papierkorb. Die blonde Frau, die zum zweiten Mal an ihm vorbeirannte, schrie: „Zwei Punkte!“, und winkte ihm zu.

Es war offensichtlich, dass sie sich für ihn interessierte, aber in einer so miesen Stimmung war er mit Sicherheit an diesem Tag kein guter Gesprächspartner. Er wusste auch nicht mehr, wie er sich bei einem Date verhalten sollte. Er war etwas verlegen und wollte seinen Kummer woanders abklingen lassen. Eventuell in einer Bar, wo er sich bis zur Besinnungslosigkeit besaufen könnte.

Als sie zum dritten Mal an ihm vorbeirannte, wollte er nicht länger den Miesepeter spielen.

„Fleißig, fleißig“, gab er freundlich an und beobachtete die leidvollen Bemühungen der Frau.

„Man tut, was man kann. Ich bin wieder auf Diät“, beichtete die blonde, kurvige Venus, während sie auf der Stelle lief.

„Sorry, ich bin heute etwas mürrisch. Ich werde bald auf Jobsuche sein müssen“, brach es aus Hugo heraus, als wollte er sich von einem großen Druck befreien. Es war so traurig für ihn, solch einen Schluss erleben zu müssen, nachdem er dem Verlag doch so lange treu gewesen war.

„Ich hatte nie einen Job, in dem ich länger als sechs Monate gearbeitet habe. Daher kann ich mit Kündigungen bestens umgehen.“ Sie lud sich selbst ein, neben Hugo zu sitzen.

„Ich heiße Margareth. Mit Betonung auf ‚heiße‘“. Sie fächerte sich mit ihrer kleinen Hand Luft zu und lachte fröhlich und unbeschwert.

„Hallo ‚heiße‘ Margareth, ich bin Hugo. Mit Betonung auf verzweifelt und bald arbeitslos.“ Er war sich bewusst, dass er nicht so charmant war, wie es Margareth sicher erhofft hatte. Doch entschied er sich, weiter eine Weile sitzen zu bleiben.

„Was machst du?“

„Ich bin Lektor und Redakteur beim Mayer Verlag.“

„Kenne ich. War auch mal in einem Verlag beschäftigt. Schließt der Verlag?“

„Nein. Wir haben uns von dem alten Besitzer verabschiedet und ab heute ist sein Sohn der neue Chef. Meine Abteilung wird nicht mehr gebraucht, haben wir heute erfahren. Meine ältesten Kollegen haben bereits einen neuen Vertrag bekommen und was ich bekommen werde, kann ich mir kaum vorstellen.“

Margareth hörte ihm mit Interesse zu, wusste aber nicht seine Verzweiflung nachzuvollziehen.

„Du hast, wie ich annehme, Erfahrung, das kann auf der Suche nach einem Job behilflich sein.“

„Wohl kaum. Ich bin zu alt für diesen Markt. Wer über vierzig ist, hat schlechte Karten. Aber immerhin darf ich mit einem der von mir Betreuten angeben. Ich betreue Eros Petrocelli.“

Das war der einzige wichtige Mandant des Verlages und wenn das Lektorat aufgelöst würde, käme er in die Obhut eines Account-Managers, der bestimmt viel weniger verdiente.

„Du malst aber schwarz. Wenn deinen Klienten der Eros Petrocelli Schwarm der Nacht und Nächte ist, dann kann der Verlag sich nicht so einfach von dir verabschieden.“

Eros war ein Sänger, der, als der Abstieg seines Bühnen­erfolgs begann, seine Begabung als Schriftsteller entdeckt hatte.

„Sicherlich nicht so leicht, aber wenn ich nicht einen ganz tollen Einfall habe, kann meine Arbeit von einem Anfänger übernommen werden und ich darf mir eine Senioren­beschäftigung suchen.“

„Ich habe bereits zwei seiner Bücher gelesen. Ich liebe erotische Romane. Nichts für eine züchtige Dame“, sagte Margareth etwas kokett.

„Ich denke, er schreibt eher pornografisch, aber man könnte es auch so nennen. Alle beiden Romane wurden von mir lektoriert. Der dritte auch, kam vor zwei Monaten heraus.“

„Oh mein Gott. Das ist fabelhaft. Den dritten Roman habe ich noch auf meiner Einkaufsliste.“

„Ich hätte lieber einen gebildeten Schriftsteller, aber er ist berühmt und das reicht dem Verlag für seine Zwecke. Sie würden sogar Biografien von Minderjährigen publizieren, Hauptsache, es wird gut vermarktet.“

Beide lachten miteinander und Margareth war schließlich siegreich mit ihrer Annäherung und brachte Hugo dazu, sie zu einem Abendessen einzuladen.

„Wohnst du hier in der Nähe?“, wollte sie erfahren.

„Nein. Ich wohne im Osten der Stadt.“

„Ah. Das ist aber was ganz anderes. Dass jemand von ferne hier zu Besuch kommt.“

„Der Verlag hat hier in Richtung Germering seinen Sitz. Wollen wir unsern Kummer bei einem Abendessen austau­schen?“, fragte Hugo überflüssigerweise.

2

Die Uhr an der Wand tickte regelmäßig und ein glänzender Bronzekegel tanzte im Rhythmus der geschlagenen Sekun­den monoton unter ihr. Das Sonnenlicht des Nachmittags, das den Raum durch das vordere Fenster erhellte, begann sich langsam zu verabschieden.

Hugo van Hülsen spürte, wie der Induktionsstrom seines Displays seinem Zeigefinger zusetzte, und überlegte, ob er eine Pause einlegen oder lieber wieder einen Papier­ausdruck lesen sollte. Aber das Lesen machte ihm Spaß und er las gerade so vertieft, dass er lieber das Kribbeln an seinen Zeigefinger ignorierte, bevor er die Umwelt mit weiterem Papiermüll verletzen wollte.

Früher hätte er das ganze Manuskript ausgedruckt und die zahlreichen Erzählungen, die er per Post bekam, Blatt für Blatt durchgesehen. Aber mit Rücksicht auf den schwinden­den Urwald hatte er sich vor einigen Jahren entschieden, seine Lesezeit nur noch elektronisch gestützt zu gestalten.

Das Ticken der Uhr an der inneren Wand des Wohnzimmers nahm er meistens nicht bewusst wahr, aber an jenem Tag waren seine Nerven etwas gespannter als sonst und es schien ihm, als wäre dieses Geräusch besonders laut. Da er nicht das Lesen unterbrechen wollte, schaltete er mit seiner freien linken Hand mit der Fernbedienung das Radio und dann eine an seinem Lesegerät angebrachte USB-Leselampe an.

Seit zwei Jahren arbeitete er nun schon von zu Hause aus und versuchte das Beste aus seiner unfreiwilligen Karriere­veränderung zu machen. Er konnte im Home-Office wenig­stens Musik hören und sich mehr um seine Bedürfnisse kümmern.

Bachs Sonata Nummer 5 in F Minor plätscherte zart aus dem Lautsprecher und überdeckte das monotone Ticken der Uhr und machte Platz für die angenehme Melodie. Hip-Hop oder andere modernere musikalische Ausrichtungen, die er ebenfalls mochte, forderten zu viel Aufmerksamkeit und würden ihn von der Lektüre ablenken, daher ließ er weiter die sanften klassischen Stücke im Radio laufen.

Die feuchte Luft blies durch das offene Fenster und ließ ihre Elfenbeinhaut erschaudern. Düster schwebten die Gardinen mit dem Wind und reflektierten das spärliche Licht der Nacht. Während sich ihre Haare mit der Gänsehaut aufrichteten, blickte sie auf einen Schatten in der nächtlichen Dunkelheit, der sich draußen schnell bewegte.

Sie hätte am liebsten um Hilfe gerufen, jedoch wusste sie, dass im Umkreis des Anwesens nur Eulen oder Raben ihre Schreie hören würden und keiner sonst in der Lage wäre, ihr zu helfen.

Angst konfrontierte sie mit Symptomen, die sie bis dahin kaum gekannt hatte. Ihr Herz pochte stärker als sonst und ein leichter Adrenalinschub brachte sie einer Ohnmacht nahe.

Sie hob ihre Hand zum Griff und zog das offene Fenster zu und verriegelte es in der Hoffnung, dass der Schatten, der sich draußen bewegte, aufgeben und sie in Ruhe lassen würde.

Ein stummer Blitz erhellte den dunklen Himmel der Nacht und die trockenen Blätter des Kastanienbaums flogen in Scharen nach links und hinterließen den kahl werdenden Baum, der nun einem greisen Waldschrat ähnelte. Sie zählte bis acht, bis ein Ton aus dem Donner zu hören war. Noch war der Regen weit weg von ihrem Haus, aber bald würde sie der Sturm erreichen.

Die Anzeige auf Hugos Pad verblasste und ein Batteriezeichen zeigte, dass der Strom restlos verbraucht war, und jetzt musste er das Lesen für einen Moment aufgeben, da er das Gerät nachladen musste. Trotz mehr­maligen Fluchens blieb das aufsässige Gerät dabei, mehr Strom zu fordern.

Hugo las zum wiederholten Male ‚Der Zauberspiegel‘ seines Schützlings Eros Petrocelli. Das Werk war noch weit von der Herausgabe entfernt und er wollte vor allem den minderwertigen Wortschatz des Jungen in seinem voraussichtlich letzten Projekt beim Mayer Verlag etwas verbessern.

Eros Petrocelli, der Autor, war außer in der Musik auch einmal als Fernsehstarlet in einer Live-Soap zu sehen. Eros sah gut aus und wusste seinen Charme vor der Kamera einzusetzen. Sogar als man herausfand, dass er seine intimen Momente lieber mit Männern teilte, waren alle seine weiblichen Fans von seinen gebastelten Erklärungen vor den Kameras betört. Eros brachte es sogar fertig zu erklären, dass seine Homosexualität ihn vom Sex fernhielt, woran viele seiner Fans nach ergreifenden Ohnmachtsanfällen vor der Kamera fest glaubten.

Nach zwei Jahren Zusammenarbeit war es Hugo bereits gelungen, einiges an seiner Wortwahl zu verbessern, aber hin und wieder ließ sich Eros als Schriftsteller, der er nach seiner mäßig erfolgreichen Fernsehkarriere geworden war, in seinen Texten von billigen Romanen inspirieren.

Hugo stand auf, während das nächste Lied im Radio ertönte. Er konnte es nicht ganz einordnen, aber er nahm an, es sollte der Komponist Franz Liszt aus dem XIX. Jahrhundert sein. Die langsam aufbauenden Töne waren gut aufeinander abge­stimmt und während sich im Hintergrund eine Violine um Aufmerksamkeit bemühte, musste sich Hugo unter den Tisch bücken und das verlorene Stromkabel des Pads suchen.

Als die Violine sich etwas mehr in der Melodie durchsetzte und das aufdringliche Piano endlich seinen Platz im Hintergrund fand, steckte er das Stromkabel in sein Pad, das dankbar die Auflade-LED leuchten ließ. Mit einem Klick wurde die Lese­lampe ausgeschaltet.

Hugo ließ das Pad auf dem Schreibtisch aus Holz liegen, nahm kurz auf seinem Lesesessel Platz und deckte sich mit einer Sofadecke zu. Seine Füße froren und trotz des wunder­baren Nachmittags, der sich draußen verabschiedete, war er so sehr in die Stimmung des Romans eingetaucht, dass er immer noch die dort beschriebene feuchte Kälte spürte.

Sein Ingwertee war bereits kalt geworden und ihm war klar, dass mit der verlorenen Wärme auch der wohltuende Geschmack entschwunden war. So ließ er die kalte Tasse noch eine Weile auf dem Tisch stehen und überlegte, was ihm an der zuvor gelesenen Szene nicht gefiel.

Er erinnerte sich an den ersten Roman von Eros, dessen Lektorat er damals innehatte, in dem verschiedene Beschrei­bungen mit erotischen Passagen der derbsten Form geschmückt waren. Nicht selten musste er Sätze wegstreichen, wie Ihre bebenden Pudding-Brüste oder Ihr Verlangen kroch über ihre langen Beine in ihre geheimnis­volle Orchidee. Dabei ergriff ihn immer noch ein leichtes Entsetzen und er ver­zog angewidert seine Mundwinkel.

Er musste zugeben, dass Eros gelehrig und innovativer war als alle anderen der von ihm im Verlag Betreuten, aber ihm fehlten immer noch gewisse Ausdrucksweisen. Zum Teil war das durch sein Alter und seinen explosiven Hormon­haushalt motiviert, aber Hugo hatte wenig Geduld und Verständnis für solche billigen Sätze. Aber trotz aller Stolper­steine in ihrer Zusammenarbeit war Hugo mit dem erreich­ten Zustand in Eros’ Entwicklung als Autor zufrieden.

Er brachte die Teetasse und das sonstige Geschirr auf einem Tablett zur Küche, als das Telefon im Flur Franz Liszts Melodie wie ein landendes UFO übertönte.

Schnell wurde das Tablett mit einem klirrenden Geräusch auf die Kommode in den Flur gelegt und Hugo nahm das Telefon ungeschickt ab. Eine Stimme sprach sofort und unaufhörlich, während der Apparat zu Boden rollte.

„Hast du wieder das Telefon fallen lassen?“, hörte er die klagende Stimme sagen, während der Apparat mit einem dumpfen Geräusch auf den Parkettboden purzelte.

Als er endlich wieder greifen konnte, drückte er unbeabsichtigt den falschen Knopf, so dass er nicht weiter­sprechen konnte, da die Leitung bereits tot war.

Er legte den Apparat auf das Tablett, ging in Richtung Küche und wusste, dass Margareth, seine beste Freundin, bestimmt wieder anrufen würde.

Im Radio sprach die Stimme des Moderators einen unver­ständlichen Satz, den Hugo nicht mehr zuordnen konnte. Als er es als das norwegische Klassik-Radio erkannt hatte, erklang wieder das Telefon.

„Margareth, meine Liebe“, begrüßte er sie, ohne darauf zu warten, dass sie sich meldete. Nach einer kurzen Pause klang ihr Name fast melodramatisch.

„Bis du hingefallen oder ist wieder das Telefon herunter­gefallen?“, fragte sie in einem fast investigativen Ton.

„Margareth, kümmere dich um deine Dinge. Ich war nur ungeschickt.“ Er wusste, dass sie ihm wieder indirekt Vorwürfe machen wollte, dass er eventuell am Tag zuvor zu viel Wein getrunken oder den Genuss der Schlaftabletten übertrieben hatte. Diese Gebetsmühle hörte er seit einigen Monaten von ihr und es schien, als hätte sie sich vorgenommen, in seinem Leben den freigewordenen Platz seiner Mutter zu übernehmen, die im Alter von achtundachtzig Jahren in einem Pflegeheim fast allein und dement verstorben war.

„Ich wollte nur kurz anrufen, weil du dich gestern so merkwürdig gemeldet hast, dass ich nicht wusste, ob du krank warst oder sonst was.“ Das ‚Sonst was‘ wurde mit Nachdruck ausgesprochen, aber er überhörte es diskret.

„Nein, es geht mir gut“, sagte er kurz angebunden und nach einer unmerklichen Überlegungspause.

„Hast du den Roman fertiggelesen?“

„Nein. Eros hat wieder Anflüge von billigen Romanen in seinen Texten und ich will das genauer prüfen. Ich komme mir manchmal so vor, als hätte ich einen Tag des Murmeltiers und müsste alles wieder von vorne machen. Eros ist zwar gut und seine Bücher verkaufen sich im Moment sehr gut, aber er ist jung und will zu viel in zu kurzer Zeit erreichen. Sein aktueller Roman ist schlicht gesagt billig geschrieben. Ich werde mindestens noch zwanzig Tage daran arbeiten müssen, um die Klischees durch qualitativ ansprechende Sprachelemente zu ersetzen.“

„Ach, du Armer“, sprach Margareth leicht schmollend.

„Na ja. Das ist nun mal bei meiner Arbeit so.“

„Lass dich nicht entmutigen. Deine Arbeit ist sehr wichtig für ihn. Wollen wir uns zum Abendessen treffen?“

Außer ihrer Rolle als Mutter schien sie auch entschieden zu haben, ihn irgendwann zu ihrem Ehemann küren zu wollen.

„Heute nicht. Ich will das zu Ende bearbeiten und möglichst früh ins Bett gehen. Mein Kopf macht mir momentan zu schaffen.“

„Ach, das ist Männerjammern, oder? Wir haben Frühling und der Pollenflug ist wieder da. Jammer nicht so. Das ist ja fürchterlich.“

Er fühlte sich, als würde sein Gehirn in Watte verwandelt und über seinen Schädel hinauswachsen. Es war wirklich ein typisches Pollenflugsymptom, dachte er.

„Klar“, fügte er sich Margareths Aufklärung, fühlte sich aber dennoch als Opfer.

Beinahe hätte Hugo ‚Klar, Mutter‘ gesagt, aber das sprach er mit Rücksicht auf die gute Beziehung lieber nicht aus.

„Du rufst nie an – wenn ich dich nicht anrufe, höre ich nichts von dir.“

„Ich bin im Stress.“

„Ich brauche auch etwas Aufmerksamkeit.“

„Klar, Margareth. Ich werde mich öfters melden. Ich muss sowieso irgendwann in Urlaub gehen. Die Arbeit setzt mir ziemlich zu.“

„Rufst du mich an, wenn du mit dem Buch fertig bist? Ich würde es auch gerne vor der Herausgabe lesen.“

„Ja.“

„Ich bin neugierig, wie das weitergeht. Eros hat einen interessanten Stil und durch deine Arbeit ist er viel interessanter geworden.“ Der zweite Teil des Satzes hörte sich nachgeschoben an, aber er wollte nicht undankbar sein und grunzte bejahend.

„Ich rufe dich Morgen an, ja?“

„Sicher, Hugo. Mach’s gut.“

Sie legte auf und er überlegte, was er gerade hatte tun wollen, und schaute sich um. Als er das Tablett mit dem Geschirr auf dem Tisch sah, fiel es ihm wieder ein und so ging er damit zur Spülmaschine. Aus dem Wohnzimmer hörte er, wie das klassische Radio vor sich hin tönte.

Während er das Geschirr hineinplatzierte, fiel ihm ein, dass etwas an dem Text nachgebessert werden musste, aber wegen des Stromausfalls fand er sie Stelle nicht mehr.

Zurück im Arbeitszimmer hörte er, wie der norwegische Moderator etwas plapperte, was er wieder nicht verstand, aber es musste etwas über Cosima de Flavigny, die Tochter von Franz Liszt, gewesen sein. Er tippte auf die Kurzwahltaste der Fernbedienung und das Radio wechselte zu einem anderen Sender.

Die Stimme der britischen Sängerin Shirley Bassey erklomm gerade Höhen und muntert ihn etwas auf. Er drückte auf das Fernsehen, wo das Video zum Sender lief und die düsteren Figuren von Get the Party started schwebten in Schwarz gekleidet über den Boden und brachten ihm etwas von Hemingway in Erinnerung. Er holte sein Tablet, das noch am Stromkabel hing, und blätterte im Roman zu der Stelle, wo er unterbrochen worden war. Er ging rhythmisch, zum Gesang der Meisterin tänzelnd, zum Sessel, während der Beat der Musik die von Bildern eingerahmten und modische Fächer und Hüte tragenden, sich elegant-lasziv bewegenden Models begleitete. Diese Bilder belasteten Hugos Aufmerksamkeit so, dass er das Video ausschaltete und weiter Where do I begin? hörte.

Liane spürte die Angst, die in ihr aufstieg, und schloss die Gardinen vor dem Fenster. Sie wollte telefonieren und um Hilfe bitten, aber wer sollte ihr helfen, wenn sie die Bedrohung nicht erkennen oder gar beschreiben konnte?

Eine Tür öffnete sich.

Sie hörte, wie Schritte sich in der Küche bewegten, und das Schlurfen ließ vermuten, dass der Mensch oder das Wesen, das sich bereits im Haus befand, groß und schwer war.

Der Duft von gärendem Moos drängte sich in ihre Nase und das Schlurfen war nahe der Schwelle zum Wohnzimmer zu hören.

Wer ist da?“, fragte sie in den Raum. „Zeigen Sie sich!“

Auf ihre Aufforderung kam keine Antwort, aber die Geräusche waren nun deutlicher zu hören. Als würde dieses Wesen absichtlich die Dunkelheit herbeirufen, erlosch im ganzen Haus das Licht.

Draußen funkelten ferne Blitze am Himmel und warfen die schattigen Konturen des kahlen Kastanienbaums an die geschlosse­nen Gardinen. Diesmal konnte sie zwischen den Blitzen und dem Dröhnen des Donners kaum bis drei zählen.

Schaue in den Spiegel“, forderte sie eine gutturale Stimme auf und brach so das im Raum herrschende Schweigen.

Hilfe“, kam gequält durch ihre Stimmbänder, während ihr der in ihrem Mund aufsteigende Speichel die Sprache erstickte.

Panik stieg Liane zu Kopf und sie verlor kurz ihr Bewusstsein, während ihr Körper langsam zu Boden sank. Ihr Unterleib fühlte sich an, als würden dort tausend Teufel mit brennen­den Hufen einen unheilvollen Tanz vollführen.

Sie blieb noch für eine kurze Weile bei Bewusstsein und spürte, wie lange krallenartige Finger sich in ihren Körper hineinbohrten und der Schmerz sie hin und wieder zum Aufwachen brachte.

Ihre Kräfte hatten sie verlassen und sie konnte sich nur wünschen, dieser grausame Moment würde bald mit ihrem Tod enden. Schuldgefühle übermannten sie und sie akzeptierte diese Tortur als Urteil.

Eine breite Hand schlug ihre Wangen und forderte sie auf aufzuwachen.

Sie wäre lieber schnell über die Schwelle des Todes hinübergetreten, aber dieses unheimliche Wesen schien nach ihren Todesqualen zu gieren.

Sie wollte schreien, in der Hoffnung, sie könnte sich damit befreien, aber es war vergebens. Aus ihrem Hals kam keine Stimme, die die Mauern der Angst hätte überwinden können.

Wie ihr danach geschah, erlebte sie nicht mehr, da es ihrem Geist in einem Moment der Verzweiflung gelang, sich von diesem Tortur zu befreien.

Blut floss über das Geranienmuster des Teppichs und umrandete ihren Körper mit einem rubinfarbenen Schimmer.

Am nächsten Tag lag ihr Körper nackt auf dem Boden der schlecht eingerichteten Wohnung und der Gestank von Urin schwängerte die Luft. Ihre Kleider waren wild von ihrem leblosen Körper gerissen worden und bildeten nun einen Kranz um sie.

Lianes weiße Haut bekam einen bläulichen Glanz und ihre Haare waren um ihren Kopf ausgebreitet, als wären sie für diesen Moment frisiert worden.

Diese Szene des Schreckens blieb jedoch für zwei Tagen ohne Betrachter und so wölbte sich ihr Bauch.

‚Igitt!‘, hörte Hugo seine eigenen Gedanken, als hätte er dies selbst ausgesprochen.

Er markierte diverse Stellen mit dem Finger und holte die Funktastatur, um einige Kommentare in den Text einzu­geben. „Blumentopf gießen, Blumentopf gießen, Blumentopf gießen“, beschwor er dreimal hintereinander. Er sprach es, um das Ekelgefühl, das der letzte Satz ausgelöst hatte, loszuwerden.

Er schrieb fast eine halbe Stunde, wie Eros diese Szene stilistisch verbessern sollte, und gab einen Hinweis, dass der Spiegel in der Szene zu kurz kam, da er eine Schlüsselrolle im Ablauf der Geschichte hatte.

Zufrieden mit seinen Leistungen fügte er dies in eine E-Mail ein und drückte den Sendeknopf. Eine Sanduhr drehte mehrere Purzelbäume und er entschied, dem Computer die weitere Arbeit zu überlassen.

Das Telefon vom Flur, das er in die Küche mitgenommen hatte, konnte er vom Wohnzimmer aus blinken sehen und es zeigte damit, dass das Funksignal funktionierte. Er war sich sicher, das Telefon nicht in die Gabel gelegt zu haben, aber Margareth hatte so viel geredet, dass er dachte, es getan zu haben, ohne es zu merken.

Er schaltete das Radio aus und bereitete sich vor, die Nach­richten des Abends im Fernsehen zu genießen.

3

„Ich gebe irgendwann auf“, beklagte sich Eros mit starrem Blick auf den Computermonitor. Die Tastatur knallte auf den Arbeitstisch und klang so, als würden alle Tasten abspringen.

Sein Partner Francis schreckte in der nebenliegenden Küche zusammen und ließ beinahe die Glasschüssel seiner Mutter fallen, die er gerade aus dem Ofen holte.

„Was ist denn schon wieder? Ich bin am Backen und hasse es, wenn du solche Ausbrüche vor dich hin laberst und mich dabei störst.“ Francis’ Stimme tönte klagend aus der Küche und wie es sich anhörte, musste sein Kopf wohl im Ofen sein.

„Rede in meine Richtung, sonst verstehe ich dich nicht.“ Eros war ein typisches Muttersöhnchen und erwartete gerne, dass jeder sich nach ihm richtete. Seine lockigen italienischen Haare erinnerten an den Jungen auf dem Gemälde „Der Lautenspieler von Caravaggio“.

Francis kam, seine Hände mit einem Küchentuch abtrock­nend, ins Arbeitszimmer und blickte verständnisvoll zu seinem Partner hin. Sein karibischer Teint war etwas vom Winter verblasst, aber seine unverkennbare tropische Art ließ ihn immer wieder aufs Neue wie der Strandjunge erscheinen, den Eros unter der Sonne von Martinique kennengelernt hatte.

„Was ist denn schon wieder? Was fluchst du vor dich hin?“

Eros hatte seinen Kopf auf die verschränkten Arme gelegt und mit gesenktem Kopf zeigte er mit der rechten Hand auf den Monitor und tat so, als würde er weinen.

„Was denn?“, fragte Francis leicht nervös, während er mit dem Küchentuch die Mehlreste von seiner Hand abrubbelte.

„Mein Lektor hindert mich weiterhin, den Roman so heraus­zugeben. Er meint, dass die erotischen Beschreibungen zu anzüglich seien und die Gewaltszenen zu blutig.“ Er warf sich nach hinten gegen die Stuhllehne und sprach betont langsam: „Mein Name ist Eros.“

Mit dem Hinweis auf seinen Namen wollte er seine Verpflichtung betonen, körperlicher Liebe und Zorn Ausdruck zu verleihen, wie es sein Namensvater, der Gott Eros, Erzeuger der Götter, auch getan hatte.

„Mein lieber Schatz. Du heißt zwar Eros, aber du bist nicht die Wiedergeburt eines Gottes und die Nacht hat dich nicht in einem Ei gezeugt. Höre auf ihn. Er ist lange in diesem Geschäft. Er ist vor allem ziemlich teuer und der Verlag ist großzügig, diese Kosten für dich zu übernehmen. Kneife die Arschbacken zusammen und lerne von ihm. Zugegeben, das Projekt sollte sechs Monate dauern und wir sind beinah bei zwei Jahren, aber doch nun fast am Ende. Reiß dich zusammen.“ Hier sprach die reine Vernunft aus Francis, der nebenbei auf den Ofen aufpasste. Francis bewegte sich zur Küche und hörte nur nebenbei dem Jammern seines Partners zu.

„Aber er ist alt und er versteht nicht, was die Frauen lesen wollen. Ich bin sicher, dass es das letzte Mal, als er Sex gehabt hat, in der Sahara geregnet hat.“

In der Küche mischte sich ein kreischender Lacher mit dem Geräusch zweier fallender Backformen.

„Was?“, Francis trat an die Türschwelle, gab sich theatralisch und fasste sich mit der rechten Hand lasziv an seine Brust.

„Du Schwester vom Dienst verstehst, was Frauen wollen?“, kritisierte Francis weiter.

Eros schmollte und tat so, als hätte er den Seitenhieb nicht verstanden.

„Dein Lektor ist etwas älter als du, sagen wir zwanzig Jahre, und wäre er kein Hetero, würde ich dich sofort an deine Mutter zurückgeben und mich bei ihm anbiedern.“ Francis bewegte das Küchentuch um sich herum, als wäre es ein Tanzschleier, und bewegte sich tanzend wie eine arabische Bauchtänzerin. „Nur weil du einige Drinks mit den Weibern im Lillos trinkst und einige perverse Gespräche mit ihnen führst, bist du noch lange kein Hetero und in Hinblick auf die körperliche Liebe et cetera solltest du auf ein Väterchen hören. Ich glaube, er hat mehr Mumuhs gesehen als du und er weiß etwas mehr über Frauen als du. Da bin ich mir sehr sicher.“

Eros musste zugeben, dass ihm bisher alle Kritiken seines Lektors wirklich geholfen hatten, ihn von einem angehenden Rapper ohne Zukunft zu Eros, dem Schriftsteller der Jugend, zu machen.

„Aber er überliest das Dichterische an den Aphorismen“, verteidigte sich Eros.

„Tut er nicht und nur, weil du einige einfache Reime wie Kuh zu Muh, oder Himmel zu Pimmel beherrschst, bist du bei weitem kein Dichter. Und bitte: Ein Rapper ist kein Kulturträger. Bis auf Fußpilze und sonstige Parasiten, die die meisten mit sich auf die Partys tragen, finde ich in diesem Milieu keine nennenswerte Kultur.“

„Huhmmmpf“, war von dem beleidigten Eros zu hören, dazu nervöses Klappern auf der Computertastatur.

„Und ich und mein Leib sind die lebenden Beweise, dass du sehr wenig von Frauengenitalien verstehst.“ Francis zog sein T-Shirt hoch und zeigte zum Beweis seinen nackten Bauch.

„Nutte“, konterte Eros.

„Du mich auch. Was hat er gemeckert?“ Francis duftete nach Zimt und Nelken und das rührte nicht nur von den Backzu­taten her, sondern auch von seiner eigenen Deomischung.

„Er meint, dass der Spiegel nicht im Vordergrund der Szene ist, und so wie ich es verstanden habe, wollte er dem Gespräch vor Lianes Ermordung etwas mehr Inhalt geben.“

Francis überlegte kurz und kam an Eros’ Seite zum Computer und las die E-Mail selbst durch. Er scrollte sie einige Male hinauf und hinunter und holte das Manuskript auf den Desktop des Computers. Er schob Eros auf dem Stuhl nach hinten und setzte sich auf dessen Schoß.

„Auha. Du bist schwer“, beklagte sich Eros.

„Und du bekommst gleich ein blaues Auge, wenn du so etwas noch einmal sagst.“ Francis war sich bewusst, dass er sich in der letzten Zeit etwas zu sehr an Köstlichkeiten gelabt hatte und ihm eine Diät nicht schlecht täte.

„Tja. Er hat Recht“, urteilte Francis. „Wir hätten klären sollen, dass sie sterben sollte, weil sie ihre Nebenbuhlerin zum Selbstmord geführt hat und das Gesetz da nichts hätte ausrichten können.“ Francis las murmelnd den Text, auf der Suche nach dem Fehler. „Ja, und wir haben auch nicht über das Spiegelbild gesprochen. Gut. Wir müssen das nachbessern. Wir setzen nach der Aufforderung, sich im Spiegel anzublicken, eine Szene, in der Liane das Gesicht der sterbenden Andrea sieht, wie sich sie qualvoll vergiftete. Wir geben etwas von der sterbenden Julia von Shakespeare hinzu. Es ist zwar etwas kitschig, aber wird ihm bestimmt gefallen. Auch meiner Ansicht nach ist sie zu schnell gestorben. Das Biest müsste wirklich leiden. Wir legen etwas nach und lassen sie zweimal über den Teppich rollen.“ Francis dachte kurz nach. „Sie könnte kotzen. Das mögen die Kids. Ja, und neeh … an dem Erbrochenen zu ersticken, wäre zu plump. Belassen wir es dabei, aber Kotzen muss sein“, beschloss Francis.

Eros schüttelte seinen Kopf, als würde er diese Haltung von Francis nicht verstehen.

„Ach ja? Jetzt kommst du mit sowas? Das fällt dir aber sehr spät ein, oder? Du kannst dich auch etwas mehr bemühen, sonst ist das Ganze deinetwegen im Verzug.“

Francis merkte, dass Eros wieder einen Anfall von Selbstüberschätzung hatte, und machte sich wieder auf den Weg zur Küche. Er schnallte seine Flip-Flops mit einer besonders heftigen Geste zu, um damit indirekt Eros seine Empörung über den Vorwurf mitzuteilen.

Eros presste beide Hände auf seinen Mund und wollte sofort mit Entschuldigungen auf die Knien fallen und er überlegte, wie er das jetzt ausräumen sollte.

„Mann, sei nicht sauer“, bat Eros, als er merkte, dass er sich eigentlich undankbar gegenüber Francis’ Hilfe gezeigt hatte.

Francis hielt kurz am Ausgang des Arbeitszimmers inne und drehte sich um.

„Ich tippe deine Diktate gerne ein und nach Möglichkeit überhöre ich das Gefasel, das du diktierst, während ich etwas mehr Eleganz in den Text einbaue, aber ich bin nicht dein Sekretär.“ Francis verschwand durch den Türbogen in Richtung der Küche und vorsichtig, aber bestimmt, knallte er die Tür zur Küche zu.

Eros erschrak und ging Francis schuldbewusst nach. Er machte die Tür langsam auf und hoffte, Francis würde nicht eine Plastikschüssel nach ihm werfen. Da Francis nicht reagierte, ging Eros, sich seines Fehlverhaltens bewusst, besorgt auf Francis zu, während der hektisch die Spüle abputzte und absichtlich sein Gesicht von Eros abwandte.

Eros näherte sich langsam und während seine Hände Francis’ Hüfte umfasste, drückte er seine behaarte Brust gegen Francis’ Rücken und seine Nase an seinen Hals, der nach Gewürzen duftete. Beim Versuch, ihn zu küssen, wendete Francis sein Gesicht von ihm ab.

„Ich bin nicht dein Lakai“, stieß Francis eingeschnappt hervor. Eros wusste nur zu gut, dass er in den drei Jahren, die sie bereits zusammenlebten, ohne Francis nicht einmal die erste Zeile korrekt geschrieben hätte.

„Nein, aber Versuchungen sollte man nachgeben. Wer weiß, ob sie wiederkommen!“ Eros presste seine Männlichkeit einladend an Francis’ Lenden heran.

„Billig. Mit Oscar-Wilde-Zitaten willst du mich jetzt beeindrucken?“

Jeden Tag schrieb Francis neue Zitate auf Lernkarten und half Eros damit, etwas mehr über Literatur zu lernen. Trotz des ganzen Erfolges litt Eros an einer schlechten Ausbildung und einer zu nachlässigen Erziehung von einer stets besoffenen Mutter.