Paul Riedel
Virtuelle Liebe
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
Virtuelle Liebe
Impressum tolino
Die Welt verändert sich und Nostalgie kann unsere Sinne trüben.
Gefühlsenthaltsamkeit ist ein steigendes Problem, die durch unsere Technologie ausgelöst wird. Zum einen werden wir nach jeglichem Gefühlszeichen hungrig, andererseits wächst das Misstrauen.
Wie soll der Mensch in der Zukunft sein Leben gestalten?
Glaubt man den Kontaktportalen, wird man dort die so lange gesuchte Liebe treffen, jedoch würde man diese je treffen, wäre die Geschäftsgrundlage des Portals weg. Das steigende Angebot an unzufriedenen Liebesuchenden erhöht die Auswahl. Daraus erfolgt eine Bagatellisierung der Suchenden.
Die Prinzipien von Angebot und Nachfrage invadieren unsere Privatsphäre und verändern unseren Charakter.
In dieser kurzen Geschichte erlebt der Leser, wie Gutgläubigkeit und Naivität einen Menschen zerstören können.
Kann der Mensch intellektuell der Vereinnahmung durch größere Mächte widerstehen, oder sind wir bereits alle Opfer unseres technologisierten Geistes.
Stille herrschte im Raum und die Sonne an diesem Sommertag war noch lange nicht bereit, sich zu zeigen. Weiße Wände stützten eine ebenso weiße Decke und unten wurden sie von einem Boden getragen, wo ein deprimierend grauer Teppich verlegt worden war. Die Bürotische waren fast wahllos im Raum verteilt, entsprechend der Empfehlung von modernen Innenarchitekten. Alle vier Männer im Raum blickten unsicher zum grauen Boden. Kein Handy klingelte und kaum ein Räuspern war im Nebenraum zu hören.
Auf dem Bildschirm des Fernsehens an der hinteren Wand fror das Bild ein, nachdem der Pausenknopf gedrückt worden war. Eine Szene, die aus witzig gemeinten amerikanischen Soaps entnommen zu sein schien. Eine asiatische Frau, eine Reporterin, und aus verschiedenen Quellen schossen Lichtblitze auf beide. Der Gestank verbrannten Kaffees schwebte durch den Raum und unter dem Mantel des Schweigens, das dort herrschte, machte sich das schwere Aroma unangenehmer bemerkbar als sonst.
„Ich kann mir das nicht erklären“, heulte ein etwas voluminöser rothaariger Mann namens Angus. Er war ein erst knapp über vierzig Jahren alter Mann, sah aber wie sechzig aus. Seine Haare hatten sich bereits vor drei Jahren von seinem runden Haupt verabschiedet, nur an den Schläfen waren noch einige treue Exemplare von seiner früheren Mähne übriggeblieben und das darunterliegende Gesicht war faltig und rötlich. Unter den quälenden Umständen und dazu mit seiner weinerlichen Stimme ähnelte er einer Figur eines beliebigen antiken griechischen Theaterstücks. Sein Satz endete in einer sardonischen Grimasse und er kauerte sich in seinen Lederpolstersitz.
„Zu spät für deine Krokodiltränen, du Arsch“, Toshis Stimme klang leicht bedrohlich. Toshi lebte bereits seit seinem elften Lebensjahr in Deutschland und vor drei Jahren war er nach München gezogen und von seinem japanischen Ursprung war noch kaum etwas zu erkennen, außer den scharfkantigen Augen und dem bedrohlichen Blick eines zornigen Samurais.
„Ich habe nie mit einem virtuellen Jemand über mein privates Leben gesprochen.“ Angus blickte ins Leere und suchte nach etwas, was er eventuell übersehen hatte.
„Trotzdem, diese Reporterin kennt sogar Details deiner Liebespraktiken ebenso gut wie Details aus unserer Politik.“ Toshi schaltete die Espressomaschine aus und ging mit der Kanne aus dem Raum in Richtung der Küche, wo eine gewöhnliche Kaffeemaschine stand. Er war schlank und sah für einen Berater in seiner Position sehr zierlich aus, aber sein sehr entschiedener Gang verriet, dass er viel Durchsetzungsvermögen besaß. Er arbeitete seit fast fünfzehn Jahren in der Politik und verfügte über sehr gute Verbindungen zu allen Parteien und Politikern.
„Du wirst zurücktreten müssen. Kein Politiker kann sich nach einer solchen Blamage noch im Amt halten.“ Siegfried wurde meistens nur Siggi genannt und er war immer freundlich, aber an seiner Professionalität konnte keiner zweifeln. Er war immer zuversichtlich bei seinen Auftritten, und wie viele politische Berater wusste er sich bei Bedarf auch durchzusetzen. Viele Reporter wussten, dass Siggi zu widersprechen auch bedeuten konnte, bei der nächsten Pressekonferenz vergessen zu werden, oder schlimmer, auf einen unmöglichen Platz eingeladen zu werden. Die Lage, in die sie durch eine Enthüllung gebracht worden waren, war für alle Beteiligten fatal. Als Berater könnte er sich nur noch schnell aus dieser Affäre retten, indem er alles ordentlich abschließen und sich einen neuen Job suchen würde.
„Du bist nicht der erste Mann, der seinen Schwanz nicht in der Hose behält, aber du bist mindestens der erste, der sich in Thailand beim Sex mit drei Transvestiten fotografieren lässt und dann das Foto noch ins Internet postet.“ Siggi konnte kaum einen Lacher unterdrücken, als er zum Standbild im Fernsehmonitor blickte.
Das Büro war schlicht eingerichtet und bis auf einige nützliche Büromaterialen, die auf den Tischen lagen, waren nur zwei Kunstdrucke an der Wand zu sehen, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Matisse hatten. Es war kein passendes Szenario für ein solches Drama. Angus war vor drei Jahren mit einem Freund im Urlaub in Thailand gewesen und hatte ihn seither nie wieder getroffen. Beide hatten sich über Anstand und Spaß so gestritten, dass Angus seinen Rückflug erst drei Tage später als geplant antrat. Er fand seinen moralischen Ausrutscher normal für einen Männerurlaub. Angus dachte, dass eventuell dieser Freund Kopien von den Fotos aus seiner Kamera gemacht hätte. Das war mehr als unwahrscheinlich, weil er die Kamera immer bei sich gehabt hatte.
Auch Angus‘ Frau hatte sicherlich niemals in seinen Sachen gewühlt und selbst wenn, sie war nicht imstande, ein E-Mail-Programm zu öffnen, daher wäre es purer Zufall gewesen, falls sie etwas gefunden hätte.
Das Standbild in Fernsehen hatte einige Diskretionsstreifen über Angus‘ Penis und den Penis des fünfzehnjährigen Naidong, einem der drei Transvestiten, der den Anschein erweckte, Angus von hinten befriedigen zu wollen, während Angus lachte und wie ein nackter dickbäuchiger Faun Naidong seinen Hintern entgegenreckte. Man konnte sich beim Ansehen dieses Fotos das Wort grotesk in verschiedenen Ausführungen vorstellen. Kein Bild für das Nachmittagsfernsehen, aber bestimmt ein Bild, das am nächsten Tag auf dem Titelblatt aller Skandalblätter der Stadt sein würde, falls sie nicht klug und schnell reagierten. Das war Angus sehr klar.
Angus selbst gab zu, dass das Bild etwas zu derb war. Damals im Urlaub hatte er es lustig gefunden, aber jetzt, einen Tag vor der Ankündigung einer wichtigen Gesetzesvorlage, kam ihm dieses Kunststück nicht mehr so lustig vor.
Das Ganze hatte sich wirklich so zugetragen, wie man es sich bei spätpubertären Männer im Urlaub vorstellt. Er war in seinem betrunkenen Zustand mit seinem Kumpel durch die Straßen von Koh Samui getorkelt. Kaum sehr weit gekommen, wurden beide alternde Herren von drei sehr hübschen Damen angesprochen. Wie es in Thailand in Urlaubsorten zu erwarten war, kamen die Damen mit in ihr Hotel. Bei Sekt und Bier zogen sich alle hemmungslos aus. Das Foto entstand, als sie dann nackt feststellten, dass es sich um Transvestiten handelten und nicht um Frauen. Angus fand die Verwechselung lustig und so entschied er sich, für dieses Foto zu posieren.
Kein Psychologe, keine Psychologin wird je verstehen, was manche Männer in solchen Momenten empfinden, und sie selbst wären auch nie in der Lage, die Situation zu erklären. Eine Mischung aus Scham, Naivität mit einem Übermaß an Alkohol setzte eine peinliche Marke im Leben schon vieler Männer und Frauen, so leider auch in Angus‘ Leben.
„Und du bist sicher, dass niemand dieses … Foto im Internet hat sehen können?“ Toshi war wieder mit der sauber gespülten Kaffeekanne ins Zimmer hineingestürmt. Die Pause vor dem Wort Foto gab einem klaren Hinweis auf seine Gefühle, welche meistens verborgen blieben.
Die Sendung lief weiter und ein achtzehnjähriger Thailänder erzählte, wie der deutsche Angus ihn geliebt und seine Reise nach Deutschland bezahlt hatte und dass er ihn bald darauf heiraten wollte. Sicher, einen Oscar würde der Transvestit für diese Vorstellung niemals bekommen.
„Er lügt!“, heulte Angus wieder und an der Echtheit seiner Tränen war nicht zu zweifeln. Er suchte nach Worten und wollte klarstellen, dass er nicht homosexuell sei, was seine Kollegen in diesem Moment gar nicht interessierte. Angus‘ Augen waren rot angelaufen und angeschwollen. Das war nicht das erste Mal, dass etwas Unerwartetes seine politische Karriere bedrohte, aber diesmal schien eine Lösung die Möglichkeiten seiner Assessoren zu übersteigen.
Der Beitrag endete mit einer lächelnden Reporterin mit einer scheußlichen roten Perücke, die „Zurück ins Studio!“ rief, und ein anschließendes herzzerreißendes Jaulen von Angus erfüllte den Raum.