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Für meine Familie, die mich auf meinem unkonventionellen Weg immer unterstützt hat
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Robert Steiner
© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2016
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016/2018 unter dem Titel »Alone on the Wall« bei W. W. Norton & Company, Inc., New York
© 2016/2018 Alex Honnold und David Roberts
Redaktion: Karin Steinbach, St. Gallen
Covergestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München
Covermotiv: Jimmy Chin
Fotos im Bildteil: Dierdre Wolownick (1, 2); Sean McCartney (3); Cedar Wright (4); Sender Films (5, 18); Jimmy Chin (6, 14, 15, 16, 17; 21, 29); Dawn Kish (7); Ben Moon (8, 9, 10, 11); Andrew Burr (12, 13); Renan Ozturk (19, 20, 22); Austin Siadak (23, 28); Tom Evans (24); Rolando Garibotti (25); Alex Honnold (26); Tommy Caldwell (27)
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
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1 Moonlight
Kurz nach der Morgendämmerung stieg ich ein. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich den richtigen Anfang erwischt hatte, denn in diesen unteren Seillängen war ich schon seit zwei oder drei Jahren nicht mehr gewesen. Der Beginn der Route ist irgendwie unschön und unklar – Rampen, Quergänge und Handrisse, die nach rechts hinaufführen –, aber nicht so schwierig wie die oberen zwei Wanddrittel.
Trotzdem war ich aufgeregt, sogar etwas euphorisch. Am Vortag hatte es mehr oder weniger ununterbrochen geregnet, und nun war der Fels sandig, rutschig und viel feuchter, als ich gehofft hatte. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn ich noch einen Tag gewartet hätte. Aber ich war unglaublich motiviert. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, noch einen weiteren Tag in meinem Bus zu sitzen und immer wieder dieselben Gedanken durchzukauen, die mir in den letzten 48 Stunden durch den Kopf gegangen waren. Ich musste das Eisen schmieden, solange es heiß war.
Der »Moonlight Buttress« befindet sich an einem 370 Meter hohen, fast senkrechten Sandsteinfelsen im Zion-Nationalpark in Utah. Unter den Tausenden von Routen in Zion ist sie vielleicht die schönste – die reinste und klassischste. Weil sie durchgehend einen hohen Schwierigkeitsgrad aufweist, gehört sie auch zu den extremsten anhaltend schweren Rissklettereien der Welt.
Die erste Durchsteigung des »Moonlight Buttress« erfolgte im Oktober 1971 durch Jeff Lowe und Mike Weis, zwei Legenden der amerikanischen Kletterszene. Sie benötigten anderthalb Tage und biwakierten auf einem Band in der Wandmitte. Sowohl zur Fortbewegung als auch zum Ausruhen verwendeten sie eine Menge Schlaghaken und Bohrhaken, kletterten also technisch.
Fast 21 Jahre später, im April 1992, gelang Peter Croft und Johnny Woodward die erste freie Begehung. Sie verzichteten auf technische Hilfsmittel und fanden Bewegungssequenzen, die es ihnen ermöglichten zu klettern, ohne an Steighilfen zu hängen. Nachdem sie die Route in neun Seillängen durchklettert hatten, bewerteten sie die Schwierigkeit mit hart 5.13a (sie wurde später auf 5.12d herabgestuft). Das war 1992 nahe am oberen Limit des Freikletterns, weltweit – eine brillante Leistung von Croft und Woodward.
Peter Croft war schon damals einer meiner Helden, denn in den 1980er- und 1990er-Jahren hatte er die Grenzen des Free-Solo-Kletterns – des Kletterns ohne Seil und ganz ohne Hilfsmittel – ins nie Dagewesene verschoben. Viele der Routen, die er damals free solo begangen hatte, waren in den Jahrzehnten danach in diesem Stil nicht mehr wiederholt worden.
Aber meines Wissens hatte bisher niemand auch nur daran gedacht, den »Moonlight Buttress« free solo zu klettern. Und ebendas hoffte ich am 1. April 2008 zu schaffen.
In meinem Hinterkopf kreiste ein nagender Gedanke an die Felsstruktur mit dem Namen »Rocker Blocker«. Das ist ein relativ breites Band, etwa halb so breit wie ein französisches Bett, am Ende der dritten Seillänge. Da es nur lose am Fels anliegt, hat jemand es mit zwei Bohrhaken verankert, und so ist es zu einem guten Standplatz etwa 120 Meter über dem Boden geworden.
Was mir Angst machte, war nicht das Band selbst. Vom Rocker Blocker aus konnte man, auf den Zehenspitzen stehend, gerade noch einen Schlüsselgriff hoch oben erreichen, von dem aus ein Boulderproblem im Grad 5.12c zu lösen ist, genau über jenem Band. Man muss zwar nicht direkt springen, um den Zug zu machen, aber man muss doch ziemlich pressen, bis man eine schmale Leiste greifen kann. Als ich unten die leichten Seillängen kletterte, hatte ich Bammel wegen dieses Problems, das dort oben drohend auf mich wartete. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich mich auf dem Band würde halten können, falls ich herunterfiel, aber es würde mir sicher keinen Spaß machen, dies nachzuprüfen.
Am Vortag, als ich bei Regen in meinem Bus saß, hatte ich mir ganz bewusst alles vorgestellt, was mir beim Klettern passieren könnte. Auch dass ein Griff ausbrechen oder ich mich einfach nicht daran halten könnte und abstürzen würde. Ich sah vor mir, wie ich vom Band abprallte, hinunterflog bis ganz zum Boden, wie eine purzelnde Stoffpuppe, und mir dabei praktisch alle Knochen brach. Am Wandfuß würde ich wahrscheinlich verbluten.
Die Nacht zuvor hatte ich nicht sehr gut geschlafen. Daher war ich am Morgen früh dran, so wie ich es geplant hatte, in der Hoffnung, der Sonneneinstrahlung in der Wand zuvorzukommen und in der Route kühle Bedingungen vorzufinden. Um zum Fuß des Moonlight Buttress zu gelangen, muss man den Virgin River durchwaten. Anfang April ist der Fluss saukalt. Ich durchwatete ihn barfuß. Das reißende Wasser ging mir bis über die Knie. Meine Füße wurden rasch taub, und mein ganzer Körper geriet in einen leichten Schockzustand. Zudem musste ich auf mein Gleichgewicht achten, während ich die Füße vorsichtig in die Lücken zwischen den glatt geschliffenen Flusssteinen setzte.
Als ich zu der Stelle kam, wo ich den Einstieg der Route vermutete, versteckte ich meine Zustiegsschuhe und meinen Rucksack. Ich hatte beschlossen, zum Klettern nichts mitzunehmen, weder etwas zu essen noch Wasser, noch Reservekleidung. Ich hängte mir den Magnesiabeutel um und schnürte meine Kletterschuhe zu. Meine Füße waren immer noch kalt, aber nicht wirklich taub, ich konnte meine Zehen durchaus spüren. Ich trug nur Shorts und ein T-Shirt. Im letzten Moment steckte ich mir die Kopfhörer in die Ohren und schaltete meinen iPod an. Ich klapperte meine persönliche Top-25-Liste ab – vorwiegend Punk und modernen Rock.
Es mag lächerlich klingen, aber ich hatte keine Uhr, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass ich einen Speed-Rekord für den »Moonlight Buttress« aufstellen würde. Ich verwendete meinen iPod, um die genaue Anzahl Minuten zu messen, die ich brauchen würde. Musik trägt außerdem dazu bei, fokussiert zu bleiben – obwohl ich es inzwischen vorziehe, ohne iPod zu klettern, weil ich ihn als eine Art Krücke empfinde.
In meinen Augen hängt bei einer Free-Solo-Begehung eines Bigwalls alles von der Vorbereitung ab. Tatsächlich hatte ich die harte Arbeit im »Moonlight Buttress« an den Tagen vor der Durchsteigung geleistet. Als ich dann unterwegs war, kam es nur noch auf das Ausführen an.
Ich war die gesamte Route vorher nur einmal geklettert, mit Bill Ramsey. Er war Mitte vierzig, kletterte aber noch richtig gut und war bereits im »Moonlight Buttress« gewesen, um für eine freie Begehung zu trainieren. Er hatte mich als Partner für seine freie Durchsteigung angefragt, und wir wechselten uns im Vorstieg ab. Es war ein großer Tag für uns, als wir beide die Route frei und ohne Sturz ins Seil kletterten.
Aber das war zwei oder drei Jahre zuvor gewesen. An den Tagen vor meinem Free-Solo-Versuch hatte ich mich auf die oberen 250 Meter der Route konzentriert. Der Normalweg zum Gipfel des Pfeilers ist eine gemütliche Wanderung auf einem Trampelpfad, und so schleppte ich 200 Meter Seil hinauf, seilte mich ab und übte die Bewegungen toprope – von oben gesichert – ein. Zur Selbstsicherung verwendete ich ein Sicherungsgerät, das man »Mini Traxion« nennt. Bei Zugbelastung nach unten verklemmt es sich am Seil, während es mühelos nach oben gleitet, solange man klettert. Wäre ich gestürzt oder hätte ich auch nur gerastet, hätte das Mini Traxion mich gehalten.
Ich kletterte die oberen 200 Meter des »Moonlight Buttress« zweimal im Toprope. Die Schlüsselstelle der ganzen Route – die schwierigste Einzelstelle, die entscheidende Passage der Begehung – besteht aus einer verblüffend sauber geschnittenen, sechzig eter langen Verschneidung. Sie ist die vierte der neun Seillängen und der Grund für die Bewertung mit 5.12d: anhaltend und wirklich anstrengend, sodass die Arme ziemlich gepumpt sind, wenn man oben ankommt.
Für beide Toprope-Generalproben dieser oberen 200 Meter hatte ich jeweils nur etwa eine Stunde gebraucht. Ich fühlte mich absolut sicher, hatte die Route im Griff. An keiner einzigen Stelle war ich gestürzt oder hatte auch nur ein ungutes Gefühl gehabt.
Aber dann fiel mir auf, dass das 200 Meter lange Seil nicht bis zu einer entscheidenden Rechtsquerung in der dritten Seillänge reichte, die mit 5.11c bewertet ist. Also kam ich am folgenden Tag mit 250 Meter Seil wieder zum Gipfel, seilte mich nochmals ab und übte die Kletterzüge des Quergangs so lange ein, bis ich auch sie im Repertoire hatte.
Bei meinen Probeläufen begegnete ich ein paar Kletterern. Ich rettete sogar eine Techno-Kletterin, die nicht recht wusste, was sie tat, und im Vorstieg nicht mehr weiterkam. Ich schrie: »Hey, schnapp dieses Seil!« und warf ihr das Ende meines Fixseils zu, damit sie sich aus ihrer Falle befreien konnte. Sie war mir ganz schön dankbar. In einer Route wie dieser kommt nicht jeden Tag jemand aus heiterem Himmel heruntergeseilt.
Dann folgten zwei Regentage. Ich saß auf einem Autokinoparkplatz in Springdale in meinem Bus, starrte zur Windschutzscheibe hinaus und dachte nach. Ich war ins Kino gefahren, um mir die Zeit zu vertreiben, aber den Rest des Tages bis in den Abend hinein und fast den ganzen nächsten Tag saß ich im Bus und machte nichts anderes als grübeln. Nicht dass ich etwas zu erledigen gehabt hätte – ich hatte nichts anderes zu tun, als eben nachzudenken. Über die Route.
Ich saß da und malte mir alles aus, Stunde um Stunde. Stellte mir jede Bewegung vor, alles, was mir passieren könnte. Das ganze Denken spinnt sich um eine solche Herausforderung, wie ich sie mir vorgenommen hatte.
Das meine ich mit Vorbereitung. Nun würde ich herausfinden, ob ich mich gut genug vorbereitet hatte – ob ich all das einfach ausführen konnte, was ich mir vorgestellt hatte, jeden Griff und Tritt auf dem langen Weg bis zum Ausstieg aus der Wand.
Ende März 2008 kannte Alex Honnold über den kleinen Kreis seiner Freunde hinaus kaum jemand. Sieben Jahre später, mit dreißig Jahren, war er wahrscheinlich der weltweit berühmteste Kletterer. Das soll nicht heißen, dass er der beste Kletterer der Welt ist – eigentlich gibt es so etwas wie den besten Kletterer gar nicht, denn der Sport besteht aus vielen Spielarten, vom Himalajabergsteigen über das Bouldern bis hin zum Hallenklettern.
Der Grund für Honnolds kometenhaften Aufstieg ist, dass er die extremste und gefährlichste Form des Kletterns weit über die Grenzen dessen vorangetrieben hat, was zuvor vorstellbar war. Free solo klettern heißt ohne Seil klettern, ohne Partner und ohne »Hardware« wie Haken, Keile oder Klemmgeräte, mit denen man sich an der Wand sichert. In ihrer extremen Einfachheit kann diese Einstellung zum Sport von jedem zufälligen Beobachter verstanden werden. Die Risiken sind absolut: Wenn du fällst, stirbst du.
Was Alex fertigbrachte, war, weit schwierigere und auch längere Routen free solo zu klettern, als irgendjemand vor ihm je für möglich gehalten hatte. Bis jetzt ist er heil davongekommen, auch wenn einige seiner besten Freunde befürchten, dass er dabei umkommen wird.
Free solo ist weit mehr als ein akrobatisches Kunststück. Es bedeutet, Klettern auf seine elementarste Herausforderung zu reduzieren: ein Mann (oder eine Frau) gegen den Fels, nur mit Kletterschuhen an den Füßen und – für den besseren Halt – Magnesia an den Fingerspitzen. Es ist Klettern in seiner ursprünglichsten, reinsten Form.
Es ist aber nicht die einzige Spielart des Kletterns, die Alex betreibt. Seine »Speed Link-ups« – das direkte Aneinanderreihen von zwei oder drei Bigwall-Routen gegen die Stoppuhr, unter sparsamster Verwendung von Seilen und Sicherungen – haben die Geschichte des Yosemite Valley neu geschrieben. Und seit 2013 hat Alex seinen Horizont noch durch den Alpinismus erweitert und vollbringt auch auf diesem Feld Dinge, die bisher noch niemandem gelungen sind.
Kurz gesagt, Alex Honnold ist ein Visionär des Kletterns, wie er vielleicht einmal in einer Generation vorkommt. Er ist aber auch intelligent, witzig, ein Mann mit erstaunlich wenig Ego und außerdem ein Mensch, der versucht, die Welt für jene besser zu machen, die weniger privilegiert oder talentiert sind als er. Fast jeder, der ihn kennt oder auch nur beobachtet, mag ihn, denn wie Jon Krakauer sagt: »Er ist absolut echt. An ihm ist nichts Aufgesetztes.«
Immer und immer wieder werden ihm bei seinen öffentlichen Auftritten dieselben Fragen gestellt, von kleinen Kindern bis zu Männern mit grauen Bärten. Es sind diese grundlegenden Fragen zu dem, was er am Fels treibt: Haben Sie keine Angst, dabei umzukommen? Warum machen Sie das?
In gewissem Sinn sind solche Fragen nicht zu beantworten. Höchstens auf jene Art wie George Leigh Mallory, der 1923 einem Journalisten, als er schon zum x-ten Mal gefragt worden war, warum er den Everest besteigen wolle, entgegnete: »Weil es ihn gibt.« (Eigentlich war das nur die unwillige Antwort von jemandem, der diese Frage satthatte, trotzdem ist dieser Ausspruch wohl das bekannteste Zitat in der Geschichte des Alpinismus.)
Alex hat seine eigenen witzigen Sprüche, um auf solche Fragen zu reagieren. Auf die nach der Angst vor einem Absturz: »Es werden wohl die schlimmsten vier Sekunden meines Lebens sein.« Und: »Ich bin mir sicher, die eine Hälfte der Leute wird sagen: ›Wenigstens starb er bei dem, was er am liebsten tat‹, und die andere Hälfte wird sagen: ›Was für ein Trottel!‹«
Alex ist zweifelsohne ein ehrgeiziger, kompetitiver Bursche. Und doch ist ihm eine Bescheidenheit eigen, die in seiner angeborenen Schüchternheit gründet und die sich in Form einer radikalen Untertreibung seiner Leistungen äußert, die – wie man an den oben zitierten Sprüchen sieht – an Selbstironie grenzt. Sein Spitzname im Kreis seiner engsten Kletterkumpel: Alex »No Big Deal« Honnold.
In den letzten vierzig Jahren war es nur eine Handvoll Kletterer, die das Risiko des Free-Solo-Kletterns an des Messers Schneide vorangetrieben hat. Die Hälfte von ihnen ist tot. Einige haben ihre Jahrzehnte des Tanzes über dem Abgrund überlebt. Zu ihnen gehört nicht nur Peter Croft, sondern auch Henry Barber, der in den 1970er-Jahren kreuz und quer durch die Welt reiste und die Lokalmatadore in den Klettergebieten von Wales bis Australien verblüffte, indem er ihre schwierigsten Routen auf Anhieb schaffte.
Andere starben, weil ihnen ein einziger Fehler unterlief. Unter ihnen war Derek Hersey, ein in die Vereinigten Staaten verpflanzter Brite, der 1993 in der »Steck/Salathé« im Yosemite zu Tode stürzte, möglicherweise weil ein heftiger Regenguss die Griffe rutschig gemacht hatte. Auch Dan Osman, Charlie Fowler und Michael Reardon starben bei Unfällen, die im Zusammenhang mit ihren extremen Unternehmungen in Felswänden und auf Bergen standen. Aber am meisten erschütterte die Kletterszene der Tod von John Bachar, mit Peter Croft einer der beiden herausragenden Solo-Kletterer der 1980er- und 1990er-Jahre. 35 Jahre lang hatte er eine Route nach der anderen ohne Seil begangen, dann stürzte er im Juli 2009 bei einer kurzen Kletterei, die er schon oft gemacht hatte, in der Nähe seines Zuhauses in Mammoth Lakes, Kalifornien, tödlich ab.
Alex betont, dass keiner dieser Elitekletterer starb, als er die damaligen Grenzen des Free-Solo-Kletterns überschritt. Hersey und Bachar stürzten in Routen ab, die normalerweise klar im Bereich ihres Könnens lagen. (Es gab Spekulationen, dass eine Rückgratverletzung – Folge eines kurz vorher passierten Autounfalls – Bachars tödlichen Sturz verursacht haben könnte, weil er dadurch im Arm und in der Schulter plötzlich keine Kraft mehr hatte.) Reardon kam durch eine tückische Welle ums Leben, nachdem er an einer Klippe in Irland solo nach unten geklettert war. Fowler erstickte in einer Lawine, als er die Erstbesteigung eines Gipfels im Westen Chinas versuchte. Osman starb, als er die Grenzen eines Sports erweitern wollte, den er selbst erfunden hatte – Rope Jumping, das bewusste Abspringen aus einer Felswand, um den Sturz dann von einem oder mehreren Sicherungsseilen abfangen zu lassen. Bei einem Rekordsprung von 300 Metern am Leaning Tower im Yosemite stürzte Osman in den Tod, als sein Seil riss.
Aber jeder dieser fünf extremen Solo-Kletterer stand immer noch an vorderster Front, als er umkam. Osman war dabei, die Grenzen des Rope Jumping auszuloten, und bezahlte das Experiment mit seinem Leben. Henry Barber ist zwar mit seinen 62 Jahren noch lebendig und munter, kam aber in den frühen Achtzigerjahren einem tödlichen Absturz gefährlich nahe, als er für eine amerikanische Fernsehshow dabei gefilmt wurde, wie er eine Felswand an der britischen Küste solo kletterte. Durch die plötzliche Bewegung eines in der Nähe stehenden Kameramanns abgelenkt, verlor er das Gleichgewicht. Er beschrieb diesen Moment später so: »Es hat mich kalt erwischt … Ich machte einige Stemmbewegungen, drückte mich mit beiden Händen von den Seiten der Rinne ab. Ich drückte ein bisschen zu stark, meine Schulter knallte gegen die Wand, und ich begann zu fallen. Das Adrenalin schoss mir von den Zehen direkt in den Kopf … Ich hatte keinen Halt mehr und stürzte nach unten. Aber das Gleichgewicht und der Bewegungsfluss bis hin zu diesem Punkt retteten mich, ich hielt mich gerade noch am Fels und kletterte weiter.«
So intelligent, wie er ist, neigt Alex zu einer sehr rationalen Sicht auf das Leben. Er beteuert sogar: »Ich mag das Risiko nicht. Ich fahre nicht gern über die gelbe Doppellinie. Ich würfle nicht gern.« Er unterscheidet zwischen Folgen und Risiko. Die Folgen eines Sturzes beim Free-Solo-Klettern seien offensichtlich fatal. Aber das heiße nicht, so argumentiert er, dass er die äußersten Risiken auch eingehe. Er sagt: »Für mich ist das Risiko die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich abzustürzen. Die Folgen sind das, was dann mit mir passiert. Deshalb versuche ich, mein Solo-Klettern möglichst sicher zu machen, sodass es unwahrscheinlich ist, dass ich abstürze, auch wenn es wirklich schlimme Folgen hätte, wenn ich es täte.«
Nicht weniger rational sind auf der anderen Seite die Argumente enger Freunde, die sich wegen der Risiken, die er eingeht, Sorgen machen. Tommy Caldwell, sieben Jahre älter als Alex, war bei Link-ups mehrerer Routen und bei alpinen Expeditionen sein Partner. Er ist einer der weltbesten Felskletterer, und Alex bewundert ihn als eines seiner Vorbilder. 2011 sagte Caldwell: »Ich habe nie versucht, eine wirklich schwierige Route free solo zu klettern. Ich bin schon oft – vielleicht schon ein Dutzend Mal – völlig unerwartet gestürzt, in relativ einfachem Gelände, weil ein Griff ausbrach, sich der Gummi von der Schuhsohle löste, irgend so etwas. Wenn ich free solo geklettert wäre, wäre ich jetzt tot. Ich mag Alex wirklich gern. Ich will nicht, dass er stirbt.«
Inzwischen besteht Alex’ Publikum längst nicht mehr nur aus Hardcorekletterern und Leuten aus der Szene. Man kennt ihn zum Beispiel als »den Jungen, den Lara Logan in der Sendung ›60 Minutes‹ interviewte«, oder als »den Burschen auf diesem tollen Titelbild von ›National Geographic‹«. Damit aber auch Nichtkletterer nachvollziehen können, was Alex macht, ist eine kurze Einführung in die Techniken, die Ausrüstung und die Schwierigkeitsbewertungen nötig.
Beim konventionellen Felsklettern sind zwei Kletterer mit einem Nylonseil – meist sechzig Meter lang – verbunden. Einer von ihnen ist am Standplatz an Sicherungspunkten im Fels fixiert und sichert den Führenden, während dieser vorsteigt. Um die Höhe und damit die Folgen eines Sturzes möglichst gering zu halten, bringt der Vorsteiger Zwischensicherungen (auf Englisch »protection« oder kurz »pro«) an.
Lange Jahre in der Geschichte des Felskletterns bedeutete das, dass der Seilschaftserste einen Haken in einen natürlichen Riss im Fels schlug. Haken sind unterschiedlich geformte Metallstifte, sie wurden anfangs aus Eisen hergestellt, später aus qualitativ besseren Chrom-Molybdän-Legierungen. Sobald der Haken solide saß, hängte der Vorsteiger einen Karabiner – das ist ein ovaler Metallring mit einem zurückfedernden Öffnungsglied – in die Öse des Hakens und klickte dann das Seil in den Karabiner ein. Wenn er dann zum Beispiel anderthalb Meter über dem Haken stürzte, so konnte ihn der Sichernde nach einem Sturz von wenig mehr als drei Metern halten – die zusätzliche Strecke entsteht durch die Dehnung des Nylonseils, die auch den Sturz abfedert.
In den Achtzigerjahren verloren die Schlaghaken – außer beim Expeditionsbergsteigen – an Bedeutung, denn das ständige Einhämmern und spätere Herausklopfen der Haken beschädigte den Fels und hinterließ hässliche Hakenlöcher. Stattdessen begannen die Kletterer, Klemmkeile zu verwenden, unterschiedlich geformte kleine Metallkörper, die in Felsrisse eingeführt werden konnten und sich bei Zugbelastung nach unten verklemmten. Im Allgemeinen sind Klemmkeile erheblich weniger sicher als Haken. Ende der Siebzigerjahre erfand Ray Jardine geniale Klemmgeräte, die er »Friends« nannte (heute nennt man sie meist »Cams«). Diese Geräte bestehen aus einer Feder und auf einer Achse angeordneten Segmenten. Zieht man den Hebel zu sich heran, rücken die Segmente zusammen. Nun kann man den Cam selbst in einen parallelen Riss schieben, in dem kein Klemmkeil halten würde. Lässt man den Hebel los, drückt die Feder die Segmente gegen die Seitenwände des Risses, wo sie sich verklemmen. Ein gut platzierter Cam kann ein Gewicht von mehr als tausend Kilo halten. Unnötig zu sagen, dass die Cams das Felsklettern revolutioniert haben.
Schon die frühen Kletterer haben Passagen, die sie anders nicht überwinden konnten, durch Verwendung ihrer Sicherungsmittel als künstliche Haltepunkte gemeistert. Dies nennt man auf Englisch »direct aid« oder einfach »aid«, im Deutschen spricht man von »technischem Klettern«. Ganze Seillängen können unter Verwendung von Trittleitern – Seilschlingen, in die drei oder vier Fußschlaufen oder Sprossen eingeknüpft sind – technisch geklettert werden. Man hängt dabei eine Trittleiter in einen Haken, einen Klemmkeil oder einen Cam und steigt dann mehr in den Leitersprossen als am Fels nach oben.
Schließlich wurde die Auswahl an Sicherungsmitteln noch durch Bohrhaken erweitert. In kompaktem Fels ohne Strukturen bohrt der Kletterer ein Loch, früher mit Hammer und Meißel, heute mit einer Bohrmaschine. In dieses Loch schlägt er dann einen zylindrischen Bolzen, der meist aus rostfreiem Stahl besteht. Auf den Bolzen wird eine Lasche geschraubt, die, ähnlich wie bei einem normalen Haken, eine Öse aufweist. In sie hängt der Kletterer eine Expressschlinge (zur Begradigung des Seilverlaufs) und anschließend sein Seil ein. Ein gut gesetzter Bohrhaken hält so viel wie der beste Schlaghaken.
Nicht zu verwechseln mit dem Free-Solo-Klettern, bedeutet der Begriff »Freiklettern«, dass der Vorsteiger seine Sicherungspunkte nur verwendet, um einen Sturz abzufangen. Er legt, im Gegensatz zum technischen Klettern, keinen Keil oder Cam, um sich daran hochzuziehen. Er klettert mit seinen Händen und Füßen nur am Fels. Sofern er gute Sicherungen gelegt hat, bleibt er im Sturzfall mit großer Wahrscheinlichkeit unverletzt.
In den Vereinigten Staaten werden die Schwierigkeitsgrade frei gekletterter Felsrouten nach dem sogenannten Yosemite Decimal System (YDS) bewertet, das gegenwärtig vom Grad 5.1 bis zum Grad 5.15 reicht. Der Grund für die seltsame Nummerierung liegt darin, dass Fachleute in den USA lange Zeit glaubten, dass schwierigere Routen als 5.9 niemals geklettert werden könnten. Ende der Sechzigerjahre wurde diese Grenze aber überschritten, und den Experten blieb nichts anderes übrig, als den Grad 5.10 einzuführen. Das System ist bezüglich Erweiterungen konservativ, und so wurden die höheren Grade, zum Beispiel 5.13, selbst wieder in vier Unterklassen unterteilt, nämlich in 5.13a bis 5.13d. Auf hohem Niveau Kletternde geben zu, dass der Unterschied zwischen den Graden 5.13b und 5.13c genauso groß ist wie zwischen 5.8 und 5. 9. Momentan sind die weltweit schwierigsten Klettereien, von denen es nur eine Handvoll gibt, mit 5.15c bewertet.
In den letzten zwanzig Jahren haben die Bohrhaken dem Phänomen »Sportklettern« zum Durchbruch verholfen, einer Spielart, bei der man im Gegensatz zum traditionellen Klettern keine mobilen Sicherungsmittel wie Klemmkeile oder Cams legt und wieder entfernt. In einer Sportkletterroute sind im Fels verbleibende Bohrhaken in Abständen von zwei bis drei Metern vorhanden, die oft schon vor der ersten Begehung beim Abseilen gesetzt werden. So können sehr schwierige Linien frei geklettert werden, auch auf Fels, der weder Cams noch Keile zu setzen erlaubt, und dies mit fast hundertprozentiger Sicherheit. Der Vorsteiger hängt einfach einen Bohrhaken nach dem anderen ein. Das Halten eines Sturzes ist für den Sichernden Routine.
Die Popularität des Sportkletterns ist in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen. Es gibt heute Teenagerasse, die Sportkletterrouten im Grad 5.14 klettern können, ohne je eine einzige Seillänge traditioneller Freikletterei vorgestiegen zu sein, und die auch gar nicht wüssten, wie man das macht.
Da die von 5.1 bis 5.15 gehende Yosemite-Skala nur die reine Schwierigkeit des härtesten Zuges misst, sind alle mit den höchsten Schwierigkeitsgraden bewerteten Klettereien auf der ganzen Welt kurze Sportkletterrouten in leicht zugänglichen Gebieten. Um eine Route im Grad 5.15 anzupacken, wird ein Experte wie zum Beispiel Chris Sharma oder Adam Ondra die Bewegungssequenzen wochen- oder sogar monatelang einüben und dabei Hunderte Male ins Seil stürzen, bis er die Linie in einem Versuch sturzfrei klettern kann. Diese Form des Kletterns ist so spezialisiert, dass die Ondras dieser Welt praktisch nichts anderes mehr praktizieren. Ironischerweise ist damit das traditionelle Klettern »sportlicher« – gefährlicher und mehr Mut abverlangend – als das Sportklettern.
Free-Solo-Klettern ist jedoch noch einmal eine ganz andere Sache. Wenn Alex Honnold eine seiner langen Free-Solo-Begehungen macht, braucht er weder ein Seil noch einen Partner, um seinen Sturz abzufangen, noch irgendwelche Sicherungsmittel, um damit abzusichern oder sich daran hochzuziehen. Weil das Risiko eines Sturzes schon beim Grad 5.11 oder 5.12 beträchtlich ist, haben es nur wenige Könner gewagt, die Grenzen des Free-Solo-Kletterns über 5.11 hinaus zu verschieben – und dann gewöhnlich auf kurzen Routen und erst nach mehrmaliger Erkundung der Linie mit Seil und Partner, um sich jeden Griff und jeden Bewegungsablauf einzuprägen. (Immerhin kann man, wenn man ohne Seil klettert, auch schon beim Grad 5.4 abstürzen und tot sein, wenn ein Griff oder Tritt ausbricht.)
Free-Solo-Klettern ist daher die sportlichste – und reinste – Art des Felskletterns, die es je gab. Es ist das ultimative Grenzabenteuer im Fels, mit dem größten Risiko, selbst beim kleinsten Fehler.
Die Leute fragen mich immer wieder, wie ich zum Free-Solo-Klettern kam. Aber wahrscheinlich glauben sie mir nicht, wenn ich ehrlich antworte. In Wirklichkeit war es nämlich so, dass ich bei meinen ersten Klettereien draußen zu schüchtern war, Fremde anzusprechen und sie zu fragen, ob sie mich sichern würden.
Zu klettern habe ich mit zehn begonnen, in der Kletterhalle meiner Heimatstadt Sacramento in Kalifornien, aber bis zum Alter von neunzehn Jahren war ich nur selten in Klettergärten. Ich war so kontaktscheu und unsicher, dass ich sogar Angst hatte, mit Fremden zu sprechen. Obwohl ich schon den Grad 5.13 schaffte, hätte ich nie den Mut aufgebracht, in einem Klettergebiet wie Lover’s Leap in der Nähe des Lake Tahoe andere Leute zu fragen, ob sie mich mit ans Seil nehmen würden.
Deshalb fing ich an, solo zu klettern. Meine erste Route war »Knapsack«, eine verhältnismäßig flache Platte im Grad 5.5 am Lover’s Leap. Dann stieg ich in eine wesentlich steilere Route mit drei Seillängen ein, die »Corrugation Corner«, die mit 5.7 bewertet war. Ich krallte mich dabei zehnmal mehr fest, als eigentlich nötig gewesen wäre, weil ich furchtbare Angst hatte und sehr schlecht kletterte.
Aber ich wurde rasch besser. Ich war schon immer einer, der etwas Zwanghaftes an sich hatte. Von Anfang an trug ich ein gebundenes Notizbuch mit mir herum, in dem ich jede Tour mit einer kurzen Bemerkung eintrug. Meine »Kletterbibel«, wie ich sie nannte, war mein kostbarster Besitz. In den Jahren 2005 und 2006 bewältigte ich eine Unzahl von Routen an Granitblöcken und -zacken im Joshua-Tree-Nationalpark, einer Wüste im Osten von Los Angeles. Ich entwickelte eine regelrechte Gier nach Solo-Klettereien. Bis zu fünfzig Seillängen machte ich an einem einzigen Tag, meist kurze Routen bis zum Grad 5. 10. Ein Beispiel eines Eintrags in meiner »Bibel«: »10/7/05. Achtzehn Routen – kein großer Tag. 5.7 bis 5. 10. Kam am linken Peyote-Riss nicht vom Boden. Seltsam.«
Schon bald war ich so weit, dass ich mich beim Solo-Klettern recht wohlfühlte. Ich machte eine Entdeckung: Wenn ich eine besondere Stärke hatte, dann war es eine mentale – die Fähigkeit, die Ruhe auch in Situationen zu bewahren, in denen man normalerweise nervös wird. Bis 2007 war ich schon einige Seillängen solo geklettert, deren Schwierigkeit bis 5.12 reichte. Ich hatte das Gefühl, für den nächsten Schritt bereit zu sein.
Trotzdem wäre es mir damals nie eingefallen, ein professioneller Kletterer zu werden oder auch nur Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen mit dem, was ich tat. Im September 2007 ging ich ins Yosemite Valley. Ich hatte mein Auge auf zwei legendäre Routen geworfen – die Nordwand des Rostrum, eines wunderschönen 240 Meter hohen Pfeilers, der mit 5.11c bewertet ist, und »Astroman« am Washington Column, eine Route, die mit 330 Meter Höhe und ebenfalls Grad 5.11c ein Prüfstein war.
1987 hatte Peter Croft die Kletterszene verblüfft, indem ihm beide Routen an einem einzigen Tag free solo gelangen. Zwanzig Jahre später hatte noch niemand diese Leistung wiederholt. »Astroman« ist die bedeutend schwierigere und ernstere der beiden Routen, sie ist sowohl körperlich anstrengender als auch unsicherer. Nur einer war »Astroman« seitdem free solo geklettert – Dean Potter im Jahr 2000. Vor Kurzem hatte sich Potter, der mit 43 Jahren immer noch extrem kletterte, darauf spezialisiert, schwierige Routen mit Basejumpen zu kombinieren. Er gehörte ebenfalls zu den einflussreichen Free-Solo-Kletterern, die ich mir zum Vorbild genommen hatte.
Am 19. September kletterte ich sowohl »Astroman« als auch den Rostrum free solo. Beide Routen hatte ich schon früher in Seilschaft begangen, aber deshalb konnte ich noch nicht sagen, dass ich sie »in der Tasche« hatte. An diesem Tag war ich froh, in beiden Routen niemanden anzutreffen. Ich hatte auch vorher niemandem gesagt, was ich mir vorgenommen hatte. Ich ging einfach hin und machte sie. Sie liefen wirklich gut – in beiden Routen hatte ich auf dem ganzen Weg das Gefühl, alles im Griff zu haben. In meiner »Bibel« notierte ich nur: »9/19/07. Astroman – 5.11c – solo. Rostrum – 5.11c – solo.« Nach »Astroman« fügte ich ein Smiley hinzu, aber sonst keine weitere Bemerkung.
An diesem Abend rief ich einen Freund an (es könnte Chris Weidner gewesen sein) und erzählte ihm, was ich gemacht hatte. Dadurch wurde die Sache bekannt. Ich gebe zu, dass das Doppel-Solo im Valley (wie die Kletterer das Tal von Yosemite nennen) eine gewisse Aufregung hervorrief, aber nur im harten Kern der Lokalmatadore. Ich selbst hielt die Tatsache, dass ich beide Routen genau wie Peter Croft an einem Tag geklettert war, für nicht besonders bedeutsam. Bedeutsam war die Selbstüberwindung, sie überhaupt free solo zu klettern. Dass es gelungen war, gab mir die Zuversicht, mir noch größere Solo-Begehungen vorzustellen.
Fünf Monate später, im Februar 2008, fuhr ich nach Indian Creek im südlichen Utah. Indian Creek ist ein Mekka kurzer, schöner Risse in solidem Wingate-Sandstein. Ich war dort gewaltig in Form und kletterte mit verschiedenen Partnern am Seil. Mir gelangen die schwierigsten Routen onsight, das heißt, ich kam, ohne sie zu kennen, auf Anhieb sturzfrei hinauf – Routen bis zu 5.13b oder c. Aber ich war so viel geklettert, dass ich mir in meinem linken Ellbogen eine üble Sehnenentzündung zugezogen hatte. Zuerst war mir nicht einmal klar, was nicht stimmte – ich glaubte, meinen Bizeps durch Überbeanspruchung verletzt zu haben. Aber am Creek war nach zwei oder drei Seillängen der Schmerz so intensiv, dass ich aufhören musste. Ein Tag Klettern, dann zwei Tage Pause. Zum Ausgleich machte ich Mountainbiketouren mit meinem Freund Cedar Wright. Aber es machte mich verrückt, nur so wenig klettern zu können.
Seltsamerweise stellte sich die Sehnenentzündung, indem sie zu meiner allgemeinen Angst beitrug, für den »Moonlight Buttress« im Endeffekt als etwas Positives heraus. Ein gewisses Ausgehungertsein ist nötig, um für etwas Großes, Waghalsiges motiviert zu sein. Am Creek war ich so fit und kletterte so gut, dennoch hungerte ich danach, mehr zu tun, denn ich musste die Zahl meiner Tage am Fels weit mehr einschränken, als ich wollte.
Der »Moonlight Buttress« war ein Projekt, von dem ich schon lange geträumt hatte, seit Bill Ramsey und ich ihn ein paar Jahre zuvor geklettert waren. Das war der Grund, warum ich mich in Zion wiederfand, wo ich am 30. und 31. März 2008 den ganzen Tag bei Regen in meinem Bus saß und mir alles durch den Kopf gehen ließ, was mir am nächsten Tag in dieser fantastischen Route möglicherweise zustoßen könnte.
Das viele Solo-Klettern der vergangenen Jahre hatte mich den Wert der Vorbereitung erkennen lassen. Aber noch nie hatte ich mich auf ein Free Solo so gewissenhaft vorbereitet wie auf »Moonlight«. Die Züge zwei Tage lang immer wieder toprope einzuüben, bis ich jede Sequenz im Gedächtnis parat hatte, war entscheidend, aber nicht weniger wichtig waren diese Tage des Sitzens und Nachdenkens. Mir zu vergegenwärtigen, wo ich jede Hand und jeden Fuß platzieren würde, über die ganze Länge der gewaltigen Route. Mir alles vor Augen zu führen, was passieren könnte … Tatsächlich erledigte ich die schwierige Arbeit dieser Free-Solo-Begehung in jenen letzten Tagen, bevor es losging. Als ich dann am Fels war, kam es nur noch auf die Ausführung an.
Die Feuchtigkeit und das Sandige des unteren Wandteils hatten mich etwas irritiert, und am Anfang war ich mir nicht sicher, ob ich wirklich in der richtigen Route war. Ich hatte nicht wirklich Angst, war nur zögerlich und unsicher. Im Rückblick denke ich, dass ich die Bedenken dem Projekt gegenüber, die ich während der beiden Tage hegte, an denen ich im Bus saß und mir alles vorstellte, auf den Beginn der Kletterei projizierte. Nun wurde ich durch pure Aufregung nach oben getrieben, die immer auch eine gewisse Ungeduld in sich trägt.
Die zweite Seillänge ist ein sehr sauber geschnittener Riss, und als ich auf diesen stieß, wusste ich, dass ich richtig war. Es gibt wirklich nur eine Linie zum Gipfel. Nach der zweiten Seillänge war der Fels abgetrocknet und das Sandige weitgehend verschwunden. Je höher ich stieg, desto mehr wuchs mein Vertrauen. Die 5.11c-Rechtsquerung in der dritten Seillänge lief wie ein Uhrwerk ab. Als ich zum Rocker-Blocker-Band kam, hatte ich das Gefühl: »Jetzt geht’s los!« Die Kletterzüge, die ich ausführte, fühlten sich perfekt automatisiert an.
Während ich vom Rocker Blocker aus das heikle Boulderproblem anging, hatte ich das Szenario, dass ich abrutsche und versuche, mich auf dem Band zu halten, im Hinterkopf. Aber meine Bewegungen waren präzise, und als ich den Zug nach oben gemacht und den entscheidenden Griff erwischt hatte, wusste ich, dass ich nicht fallen würde. Meine Zuversicht wurde noch größer.
Oberhalb des Rocker Blocker setzt die 55 Meter lange 5.12d-Verschneidung an, die Schlüsselpassage der ganzen Route. Die hohe Bewertung ist nicht das Resultat einer einzelnen, besonders schwierigen Stelle, sie ergibt sich aus dem kontinuierlichen und kraftraubenden Charakter der gesamten Seillänge. Hier zahlte sich meine Vorbereitung besonders aus. Ich begann die Verschneidung stemmend, setzte die Kanten meiner Schuhe auf die winzigen Runzeln im Sandstein auf beiden Seiten des zentralen Risses und bewegte mich gleichmäßig höher, von einer Unebenheit zur nächsten. Die Wand ist hier vollkommen senkrecht, man muss die Tritte deshalb präzise einschätzen. Aber ich erinnerte mich dank meiner Toprope-Begehungen an jeden von ihnen. Auch war die Wand hier durch ein kleines Dach weit oben vor dem Regen geschützt und, wie ich es erwartet hatte, absolut trocken.
Während ich mich die ersten 25 Meter der Verschneidung hochstemmte, konnte ich hin und wieder an kleinen Unebenheiten rasten. Aber dann musste ich von der Stemm- zur Piaztechnik wechseln. Ich packte die Kante des Risses mit beiden Händen, lehnte mich nach links zurück und lief mit den Füßen die entgegengesetzte Wand hoch, bis meine Schuhsohlen nur noch sechzig Zentimeter unter meiner unteren Hand waren. Piazen fühlt sich irgendwie ein bisschen unnatürlich an. Der Schlüssel zur Aufwärtsbewegung liegt in der Stabilität, die durch den Zug der Hände und den gleichzeitigen Gegendruck der Füße erreicht wird. Die Position ist etwa so, als würde man in einem Rennboot sitzen und aus Leibeskraft rudern. Man wechselt systematisch zwischen Hand- und Fußbewegungen ab, während man längs des Risses hochschleicht. Ja, das ist anstrengend, aber in sauberer Piazlage fühlt man sich stabil und sicher. Wenn allerdings die Kanten des Risses nicht scharf sind oder sich nach außen öffnen oder wenn die gegenüberliegende Wand, an die man die Füße drückt, zu glatt ist, dann ist das Piazen ziemlich Furcht einflößend. Man hat das Gefühl, mit einem ungewollten Salto rückwärts ins Leere katapultiert zu werden. Aber auch wenn man die Füße nicht hoch genug platziert, können sie abrutschen, und die Hände, die den Riss halten, werden wertlos. In jedem Fall geht es schnell nach unten.
Der Trick bei diesen letzten dreißig Metern in der Verschneidung ist zu verhindern, dass man völlig gepumpte Arme bekommt. Man kann nicht ewig piazen, denn der Zug auf die Arme wächst und wächst. Das ist ebendieses Leerpumpen. Wenn man zu leer ist, kann man sich nicht mehr festhalten. Wenn ich mit einem Seil geklettert wäre oder auch nur mit Gurt und ein bisschen Ausrüstung, so hätte ich mich immer irgendwo einhängen, eine Weile ausrasten und so die Kraft in meinen Armen wiedergewinnen können. Das ist natürlich kein guter Stil, aber immer noch besser, als hinunterzufallen. Aber ich kletterte free solo und hatte keine Wahl. Ich musste zum Ende der Verschneidung kommen, bevor die leeren Arme das Sagen hatten.
Inzwischen war ich richtig in Fahrt, deshalb trippelte ich die Verschneidung ebenso problemlos hinauf wie bei den Toprope-Proben. Ich kam dem kritischen Moment nicht einmal nahe. Mein einziges Zugeständnis an die Ausgesetztheit hier oben ohne Seil und Ausrüstung war, dass ich meine Füße ein wenig höher setzte als bei den beiden Übungsdurchläufen. Das bedeutete mehr Anstrengung für die Arme, fühlte sich aber ein bisschen sicherer an.
Die drei Seillängen nach der Schlüsselpassage sind 5.12a, 5.12a und 5.12b – verdammt schwer, aber durchaus im Rahmen meiner Fähigkeiten. Sie verlaufen entlang eines einzigartigen Fingerrisses. Hier erlebte ich die ganze Herrlichkeit des Free-Solo-Kletterns. Ich steckte die vorderen Fingerglieder in den Riss, verdrehte sie leicht, sodass sie perfekt klemmten, und fühlte mich super. Ich hatte nie besonders viel Haut im Riss – etwa zwei halbe Finger –, und meine Füße standen nicht auf Tritten, sie klebten nur an der Wand. Ich berührte kaum den Fels. Rund um mich war nur Luft. Mir war, als würde ich ins Leere treten, und trotzdem war es ein tolles Gefühl. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass ich nicht abstürzen würde, und sicher war es das, was mich nicht abstürzen ließ.
Und hier – obwohl ich nicht anhielt, um zu schauen und die Aussicht zu genießen – wurde mir plötzlich die Schönheit Zions bewusst. Die ganze Welt der Canyons in Rot und Grün – rot die Felsen, grün der Wald. Tief unten windet sich der Virgin River. Vom Verkehr war kein Laut zu hören hier oben. Nur Ruhe und Frieden.
Eine letzte Seillänge mit 5.10d, für sich genommen schon hart genug, führt zum Gipfel. Aber ich kletterte sie so problemlos wie jene unmittelbar vor ihr. All die vagen Gefühle des Zweifels, die ich am Anfang der Route hatte, waren verflogen.
Fast ehe es mir bewusst war, stand ich auf dem Gipfel. Ich kontrollierte die Zeit mit dem iPod. Eine Stunde und 23 Minuten. Es war ein Speed-Rekord und gleichzeitig die erste Free-Solo-Besteigung.
Als ich da oben stand und meine Schuhe auszog, war ich in Hochstimmung. Obwohl ich noch barfuß hinunterlaufen musste (Kletterschuhe sind so eng, dass es eine Qual ist, in ihnen abzusteigen), dann den großen Bogen zurückzuwandern und den Fluss zu durchwaten hatte, um meine Zustiegsschuhe und den Rucksack zu holen (ganz so einfach reitet man eben nicht in den Sonnenuntergang), war ich total aufgedreht. Ich war nie besser geklettert in meinem Leben als in diesen 83 Minuten.
Am 1. April 2008 war niemand Zeuge von Alex’ Begehung des »Moonlight Buttress«. Wie schon bei »Astroman« und dem Rostrum hatte Alex niemandem mitgeteilt, was er vorhatte, obwohl er Chris Weidner einmal anvertraut hatte, dass er die Free-Solo-Besteigung gern irgendwann einmal machen würde. Nun, nach erfolgter Tat, rief er Chris an und berichtete ihm über den ruhmreichen Tag. Chris erzählte es weiter, und die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer.
Weil die Besteigung am 1. April stattgefunden hatte, war sich ein beträchtlicher Teil der Kletterexperten zuerst nicht sicher, ob das Ganze nicht vielleicht ein Scherz oder gar ein Schwindel war. Aber innerhalb von Tagen hatte sich die allgemeine Meinung zugunsten von Alex’ Aufrichtigkeit eingependelt.
Auf der Website supertopo.com schalteten sich Kletterer ein, welche die Großartigkeit dieser Besteigung verstanden. »Holy living f#ck!«, schrieb einer. »Irreal«, bloggte ein anderer. »Schon beim Gedanken allein kriege ich eine Gänsehaut.« Es gab auch Kommentatoren, die das Solo als inspirierend begrüßten: »Unglaubliche Leistung, Alex. Diese Nachricht motivierte mich, meinen Weg härter zu pushen, als ich es sonst getan hätte.« Und diejenigen, die von Alex’ früheren Solos am Rostrum und in der »Astroman« wussten, zogen ihren Hut: »Das ist unglaublich … ich hätte gesagt: unmöglich, aber weil Alex’ Name dort steht … schlicht nur verrückt.« Und: »Gratulation zur Route – weiter so!«
Am 6. April schrieb Jeff Lowe, der mit Mike Weis 1971 die Erstbesteigung des »Moonlight Buttress« gemacht hatte, auf supertopo.com, dass er immer schon gewusst habe, dass die Route frei geklettert werden würde, und dass auch er dies versucht habe, bis dann Peter Croft und Johnny Woodward ihm 1992 den Preis weggeschnappt hatten. »Aber ich habe nie weit genug in die Kristallkugel hineingeschaut«, fügte Lowe hinzu, »um Alex’ visionäre Tat vorherzusehen … Großartig, Alex. Pass auf dich auf, aber ich weiß ja, dass du das tust.«
Mit dieser Laudatio eines Mitglieds des Götterhimmels der amerikanischen Kletterpioniere ging einher, dass zum ersten Mal auch die Medien, eingeschlossen die Regisseure von Sender Films, aufhorchten und Notiz von Alex nahmen. Ein neues Phänomen der Kletterszene hatte die Bühne betreten. Mit 22 Jahren hatte Alex Honnold soeben seine Laufbahn begonnen.
2 Meine ganz private Hölle
Nachdem ich Chris Weidner vom »Moonlight Buttress« erzählt hatte, hätte ich eigentlich wissen müssen, dass sich die Nachricht rasch verbreiten würde. Schließlich wohnt er in Boulder, mittendrin in der Kletterszene.
Aber diese Flut von Postings im Internet über die Besteigung hatte ich nicht erwartet. Ich ging online, um sie anzuschauen. Meine erste Reaktion: Überraschung. »Oh, wow, ich bin in den Medien! Das ist cool.« Jemand hatte sogar ein Foto von mir gepostet, auf dem ich klettere. »Das bin ich auf dem Foto!«, brüstete ich mich im Stillen.
Es gab natürlich auch eine ganze Anzahl von Leuten, die sich fragten, ob mein Free Solo am »Moonlight Buttress« nicht ein Aprilscherz war. Aber was ich der Klettergemeinschaft schon immer hoch angerechnet habe, ist, dass man nach so vielen meiner Besteigungen, die nicht durch Film oder Fotos dokumentiert oder von Zeugen bestätigt wurden, meinen Worten glaubte. Niemand im Internet warf mir im April 2008 vor, dass die Nachricht von meiner Besteigung nicht der Wahrheit entspräche. Jene, die das Free Solo am »Moonlight Buttress« als Schwindel hinstellten, tischten darüber selbst dicke Lügen auf – wohl um das leichtgläubige Publikum der Kletterforen zu verulken.
Ich hätte mir damals noch immer nicht vorstellen können, jemals ein gesponserter professioneller Kletterer zu werden. Wenn ich ein klein wenig bekannt würde, so hoffte ich, würde mir vielleicht eine Ausrüstungsfirma ein Paar Kletterschuhe schenken.
Die Sehnenentzündung in meinem linken Ellbogen hatte sich nicht gebessert. Das ganze Training der Bewegungssequenzen am »Moonlight Buttress« und die anschließende Free-Solo-Begehung hatten den Zustand wahrscheinlich nur schlechter gemacht.
Schließlich sah ich ein, dass ich mit dem Klettern für eine Weile Pause machen musste, damit mein Ellbogen komplett heilen konnte. So kam es, dass ich den Sommer in der Sierra Nevada verbrachte, wo ich lange Wanderungen und Überschreitungen von hohen Bergen wie zum Beispiel die »Evolution Traverse« durchführte. Dabei musste ich viel kraxeln, aber solange ich es in Tennisschuhen tat, sagte ich mir, dass es sich nicht um richtiges Klettern handelte. In dieser Zeit kam ich allmählich in Bombenform.
Neulich fragte mich ein Journalist, ob ich aufs Klettern auch für einen längeren Zeitraum verzichten könne. »Na klar«, antwortete ich.
»Könnten Sie also, sagen wir, einen Monat ohne Klettern leben?«, fragte er.
»Zum Teufel, nein!«, platzte ich heraus. »Einen Monat nicht! Ich dachte, Sie meinen drei Tage.«
So ist das nun einmal bei mir. Mit welchen Dingen ich mich im Lauf der Jahre auch immer befasst habe, nichts interessiert mich so wie das Klettern. Ich komme ohne es nicht aus, auch wenn ich es nun schon fast zwanzig Jahre lang auf die eine oder andere Weise betreibe.
Während dieses ganzen Sommers in der Sierra Nevada schwebte mir die Idee im Kopf herum, die Nordwestwand des Half Dome free solo zu klettern. Sie ist ein Megaklassiker, eine der kühnsten Felsfluchten aus purem Granit in ganz Nordamerika, und ich war schon immer davon bezaubert, wie sie über dem gesamten östlichen Yosemite Valley thront.
2008 war das Yosemite mein liebstes Klettergebiet auf der ganzen Welt. Manche Kletterer zieht es zu Türmen und Felsnadeln, andere zu komplizierten Graten. Was ich liebe, sind große, glatte Wände, und nirgendwo gibt es bessere als im Yosemite – insbesondere den El Capitan und den Half Dome. Wenn man am Fuß des El Cap steht und die mehr als 800 Meter hohe senkrechte Wand hinaufblickt, fehlen einem einfach nur die Worte. Zudem ist Granit meine bevorzugte Gesteinsart. Granit ist das, woraus Yosemite besteht – mit so glatten, mächtigen Wänden, wie es sie nirgendwo sonst in ganz Nordamerika gibt.