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NORMAN WOLF

Die Fische schlafen noch

NORMAN WOLF

Die Fische schlafen noch

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Wie ich meinen Papa an den Alkohol verlor und ihn auf der Straße wiederfand

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

info@mvg-verlag.de

Originalausgabe

2. Auflage 2019

© 2019 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Einige Orte, Daten und Namen wurden geändert, um die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten zu wahren.

Redaktion: Nadine Lipp

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch

Umschlagabbildung: shutterstock.com/Antonio Lirio

Illustrationen: Icons by freepik.com from www.flaticon.com, Hadrien from www.flaticon.com

Satz: Carsten Klein, Torgau

Druck: CPI books GmbH, Leck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7474-0077-7

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-413-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-414-3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

Für Papa.
Es ist nicht deine Schuld.

Inhalt

Prolog: Ich suche meinen Papa

1. TEIL

1 Du wirst mal Architekt

2 Der arme Mann und das Mädchen

3 So ist dein Papa eben

4 Ich bin da

5 Das beste Mixtape der Welt

6 Dich hat Papa lieber als mich

7 Ein bisschen wie das Leben

2. TEIL

1 Kommt Papa heute nach Hause?

2 Hilfe

3 Eine Geschichte habe ich noch

4 Hast du den Papa noch lieb?

5 Drei Tage

6 Alles ist gut

7 Wenn ich gehe, nehme ich dich mit

8 Sirenen

9 Dein Papa und ich

10 Gar nicht so gern am Leben

11 Tot

12 Kinder von der Eger

3. TEIL

1 Das Bild eines Toten

2 Fake

3 Den Papa kriegt nichts klein

4 Wenn er jetzt tot ist, hört alles endlich auf

5 Verzeihen

6 Natürlich, du Idiot

7 Du bist nicht mein Sohn

8 Der große und der kleine Wolf

9 Ein guter Mensch

Epilog: Das Leben ist kein Märchen

Danke

Prolog: Ich suche meinen Papa

25. Dezember 2017

»Ich suche meinen Papa«, tippe ich in mein Handy und frage mich einen Moment lang, ob »Papa« das richtige Wort für einen Menschen ist, den ich seit über zwölf Jahren nicht gesehen habe. Ich bin vierundzwanzig, das ist die Hälfte meines Lebens. Vielleicht wäre »Vater« passender, biologisch-neutraler und weniger kindlich-naiv.

Ich schaue mir das Foto immer wieder an: Ein graubärtiger, alter Mann in einer dicken Jacke sitzt in einer Bankfiliale und blickt unsicher in die Kamera. Es ist die Kamera eines Fremden, den er angesprochen und um Hilfe gebeten hat. Er möchte seine Söhne finden, soll er gesagt haben. Namen und Geburtstage, die wisse er noch, und vielleicht könne man da etwas machen, mit dem Handy. Und irgendjemand, der bestimmt nicht erwartet hatte, an diesem Abend den Wunsch eines Obdachlosen zu erfüllen, zückte das Handy, fand mein Facebook-Profil und schickte mir das Foto. Das Foto eines Mannes, der irgendwann, vor langer Zeit mein Vater gewesen war – und den ich seit Jahren für tot hielt.

Ein Jahr ist das mittlerweile her. Und seitdem ist nichts weiter passiert. Die Person, die meinem Vater in jener Nacht geholfen hat, brach schon bald den Kontakt zu mir ab. Und ich wusste nur: Er lebt. Auf der Straße, irgendwo in Hamburg. Wenige Monate später zog ich in die USA, um dort als Au-pair zu arbeiten. Ich sprach eine neue Sprache, knüpfte neue Freundschaften, lebte ein neues Leben. Doch die Gedanken an meinen Vater waren immer da.

Seit es kalt ist und schneit, sind sie schmerzhafter. Heute, an Weihnachten, malte ich mir aus, wie er am Straßenrand sitzt, friert, an seine Kinder denkt und betet. Und dann geschah etwas, das ich mir seit Jahren verboten hatte: Ich weinte um ihn. Mir wurde klar, dass ich etwas tun musste.

Ich lese noch einmal Korrektur und stelle sicher, dass sein Foto angehängt ist. Dann drücke ich auf »Senden«. Nach einigen Sekunden ist der Tweet online:

@deinTherapeut

Das hier fällt mir schwer, aber vielleicht kann Twitter helfen.

Ich suche meinen Papa.

Er ist obdachlos und soll in Hamburg leben. Sein körperlicher Zustand ist vermutlich äußerst schlecht. Das Foto ist circa ein Jahr alt. Ein Retweet würde mir alles bedeuten.

Danke!

25. Dezember 2017 (10:36 Uhr)

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Papa wollte mich finden. Jetzt finde ich ihn.

1. TEIL

1
Du wirst mal Architekt

13. Juni 1999

»Papa, ich glaube, die Fische schlafen noch.« Ich sehe auf meine Armbanduhr: zu dunkel, um etwas zu erkennen. »Wie spät?«

»Vier Uhr.« Papa flucht, als er die Klappstühle aufstellt. Die Angel steht bereits, daneben eine Kühlbox. Papa ist noch früher aufgestanden als ich, um Brote zu schmieren. »Morgens ist die beste Zeit zum Angeln. Da frühstücken die Fische und rechnen nicht damit, gefangen zu werden.« Er verschwindet hinter dem Auto und kommt mit ein paar Decken zurück. Wortlos drückt er mir eine davon in die Hand.

Ich setze mich, klemme mir die Decke links und rechts unter die Beine. Papa rückt die Angel zurecht, zieht einen Köder aus der Kühlbox und bringt ihn am Haken an. Ich beobachte ihn dabei.

Beobachten kann ich sowieso besser als Angeln. Ich bin gut in Memory, im Malen und Puzzeln. Papa hat zum Puzzeln keine Geduld. Er packt die Dinge lieber an. Als er das Dach des Nachbarn deckte, durfte ich von unserem Hof aus zusehen. Sein Kollege stand auf dem Gerüst und Papa warf ihm die Ziegel hoch – als wären sie aus Pappe.

»Wie bist du so stark geworden?«

Er sagt nichts. Stattdessen geht er einen Schritt zurück und holt weit aus. Ein lautes Rattern ertönt, als er die Angel auswirft. Ein bisschen Schnur rollt er auf, stellt die Rute ab und rückt sie abermals zurecht.

Ich betrachte meine Oberarme: Sie sind sehr dünn. »Irgendwann werde ich auch mal so stark.« Die Muskeln anzuspannen, macht keinen Unterschied. »Und dann arbeite ich auch als Dachdecker!«

Papa lacht, beugt sich zu mir und tippt mit dem Zeigefinger an meine Stirn. »Du hast viel zu viel im Kopf, um Dachdecker zu werden.« Sein Blick ist zuversichtlich. »Du wirst mal Architekt.«

»Was macht ein Architekt?«, frage ich sofort.

»Der sitzt in seinem Büro mit Klimaanlage, während die Bauarbeiter draußen in der Sonne schwitzen.« Papa geht ein paar Schritte, zieht ein Trinkpäckchen aus der Kühlbox, wirft es mir auf den Schoß und zündet sich eine Zigarette an.

Ich erinnere mich daran, wie dunkel seine Haut letzten Sommer war. Wie schwarz das Badewasser jeden Abend wurde. Und dass er ständig Rückenschmerzen hatte. »Okay, dann Architekt.«

Für ein paar Sekunden sagt niemand etwas.

Papa lässt sich in den Klappstuhl fallen, zieht an seiner Zigarette und bläst den Rauch zurück in die kühle Morgenluft. »Ich will, dass du es mal besser hast als dein Papa, hörst du?« Am anderen Ende des Sees wird der Himmel schon ein bisschen heller. »Du und dein Bruder, ihr seid mir das Wichtigste auf der Welt.«

Wir fangen an diesem Morgen keine Fische. Aber wen interessiert das schon.

2
Der arme Mann und das Mädchen

11. Dezember 1999

»Warte, ich bin gleich so weit«, sage ich und suche alle Kuscheltiere auf dem Bett zusammen, um sie in ihrer üblichen Reihenfolge links des Kissens hinzusetzen. Das Licht hat Mama zwar schon ausgemacht, doch das Nachtlicht in der Steckdose und der LED-Kerzenständer auf dem Fensterbrett erhellen den Raum. Wie jedes Jahr hat Mama pünktlich zum ersten Dezember das Haus geschmückt. Meine Fenster sind mit dünnem weißem Klebeband in vier Quadrate geteilt. In jedem hängt ein anderes Weihnachtsbild: zwei Schneemänner mit Wollmützen, das Christkind beim Einpacken von Geschenken, ein bunt leuchtender Baum, ein Kind auf einem Schlitten. Den falschen Schnee, der um die Bilder glitzert, habe ich selbst draufgesprüht. Draußen ist es zwar schon richtig kalt, auf echten Schnee warten wir trotzdem noch.

Am oberen Rand des Kissens sitzt Susi, die Teddybärmama mit den drei Babys in der Brusttasche. Darunter kommen die zwei anderen Bären, ein Mädchen und ein Junge. Ganz unten liegt Bugs Bunny, den ich von meiner Cousine Jenny bekommen habe und der vom Kuscheln schon etwas zerfleddert ist.

Ich bin sechs Jahre alt, es ist Samstag und ich durfte länger aufbleiben. Wir – das sind Mama, Papa, mein zwei Jahre älterer Bruder Steven und ich – haben Pizza bestellt und zum Nachtisch durfte ich das elfte Türchen meines Adventskalenders öffnen. Das zehnte Türchen auch noch, weil ich das gestern vergessen hatte, und das musste ich richtig lange suchen. Dann haben wir alle Karten gespielt. Papa hatte eine Glückssträhne und hat dauernd gewonnen. Einmal hielt Mama ihre Dame für einen Buben und benutzte sie als Joker mit einem dicken Grinsen im Gesicht und Papa sagte: »Also, hm, das ist aber ein sehr weiblicher Bube.« Wir mussten alle lachen und Mama am lautesten, weil sie das gar nicht bemerkt hatte. Sie konnte gar nicht mehr aufhören, lachte Tränen und steckte uns andere immer wieder an.

Während wir spielten, hörten wir Weihnachtslieder. Doch Papa hatte irgendwann die Nase voll und machte das Radio aus. Da lief gerade »Last Christmas« und Mama beschwerte sich, weil sie das am liebsten mochte. Papa legte stattdessen eine der Mix-CDs ein, die er in seiner Werkstatt selbst aufnimmt. Ich wäre so gern mal dabei, wenn er das macht, aber ich sei noch zu jung für das ganze Equipment, sagt er immer. Manchmal gefiel mir ein Song und ich sagte: »Das Lied ist voll schön.« Dann grinste er und nickte wissend.

Mama sitzt am Bettrand und schaut mich geduldig an. »Weißt du noch, wann du die Teddymama bekommen hast?«

»Klar«, sage ich, »zu meinem zweiten Geburtstag!« Ich zähle an den Fingern ab, verzähle mich und fange neu an. »Sie ist jetzt also schon vier Jahre alt.«

Ich lege mich hin und Mama breitet die Decke über mir aus, zieht sie bis zum Hals und steckt sie links und rechts unter meine Schultern. Eng und kuschelig, wie ich es mag. »Du hast die Susi ausgepackt, gegrinst über beide Ohren, hast sie am Ärmel geschnappt und bist einfach weggelaufen.« Als sie daran denkt, muss sie unwillkürlich lächeln. »Dabei hattest du noch gar nicht alles ausgepackt und Kuchen hatten wir auch noch keinen gegessen.«

»Mama, erzählst du mir noch eine Gutenachtgeschichte?«

Sie nickt. »Welche möchtest du denn hören?«

»Der arme Mann und das Mädchen!«, rufe ich freudig. Das ist meine Lieblingsgeschichte und Mama ist die Beste darin, sie zu erzählen.

»Na, dann rück mal ein Stückchen zur Seite.« Sie streift ihre Hausschuhe ab und legt sich neben mich auf die Bettdecke, ihren Kopf an meinen.

Ich schließe die Augen. Mama streift mit zwei Fingern von meinem Nasenbein über meine Stirn bis zum Haaransatz.

»Es war einmal ein armer alter Mann …« Wenn sie ausatmet, fühle ich warme Luft an meiner Stirn bis zu meiner Nasenspitze hinuntergleiten. »Er lebte im Wald unter großen Bäumen, die ihm Schutz bei schlechtem Wetter gaben. Sein einziges Hab und Gut waren die Kleider, die er trug, und eine warme Jacke, die jemand weggeworfen hatte. Er aß das, was er im Wald fand, und obwohl es nicht viel war, teilte er es mit den Tieren des Waldes, die seine einzigen Freunde waren.«

»Welche Tiere hatte er als Freunde?«, frage ich.

»Hm«, macht Mama. »Da war ein Eichhörnchen namens Rita, ein Waschbär mit dem Namen Hubert und …« Sie stockt. »Sag du mir, welches das dritte war.«

»Hm«, mache jetzt ich. »Wie wäre es mit einem Häschen, das Fridolin heißt?«

»Und ein Häschen namens Fridolin«, ergänzt Mama also und nickt. »Eines Tages streifte der alte Mann durch den Wald, um Essen zu besorgen. Da sah er plötzlich hinter einem Gebüsch etwas liegen.« Kurz ist sie still – für die Spannung. Das macht sie an der Stelle immer, obwohl ich die Geschichte schon kenne und genau weiß, was der alte Mann findet. »Als er näher kam, sah er, dass es ein kleines Mädchen war.«

»Was, echt?«, frage ich überrascht. Das mache ich an der Stelle immer, obwohl Mama genau weiß, dass ich die Geschichte schon kenne.

Mama nickt und mein Kopf wackelt mit. »Er hob das Mädchen auf und nahm es mit zu sich«, erzählt sie weiter. »Es schlief so fest, dass es nicht merkte, als der alte Mann es auf das weiche Moos legte und mit seiner Jacke zudeckte.« Sie streicht die Decke über mir glatt. Und noch einmal. »Als es später wach wurde und nicht mehr weinte, erfuhr er, dass es von seinen Eltern ausgesetzt worden war und schon seit Tagen im Wald herumirrte. Also nahm er das Mädchen in Obhut, beschützte es, teilte sein Essen mit ihm und gab ihm nachts die warme Jacke, damit es nicht fror.«

»Mama, würdest du das auch für mich machen?«, flüstere ich. »Mir nachts die warme Jacke geben?«

Sie gibt mir einen Kuss auf die Stirn. »Ich würde alles für dich machen, mein Schatz.«

Ein wohliges Gefühl entsteht in meiner Stirn, zieht durch meinen Oberkörper und breitet sich durch Arme und Beine bis in die Finger und Zehen aus. Ich glaube ihr. Letztens war mir ganz schlimm schlecht und ich dachte, dass ich mich übergeben muss, also hing ich über der Kloschüssel und habe geweint. Mama saß die ganze Zeit neben mir. Und als ich dahockte, weinte und sagte: »Das tut so weh, das tut so weh«, da hat Mama gesagt: »Ich wünschte, ich könnte dir das abnehmen.« Das ging natürlich nicht. Aber ein bisschen besser war es danach, weil ich wusste, dass Mama da ist und lieber selbst Bauchweh hätte, als dass ich Bauchweh haben muss.

»Irgendwann nachts erschien ihm eine gute Fee und sagte …« Sie räuspert sich und spricht mit hoher Stimme weiter: »Du bist so ein guter Mensch. Du hast drei Wünsche frei!«

Ich muss kichern.

»Er überlegte nicht lange und sagte Folgendes …« Wieder räuspert sie sich. Als sie weiterspricht, ist ihre Stimme deutlich tiefer als sonst: »Meine drei größten Wünsche wären ein kleines Haus, das uns Schutz bietet, ein Ofen, der uns wärmt, und so viel Essen, dass wir nie wieder hungrig einschlafen müssen.«

»Und dann, Mama?«, flüstere ich. »Was sagte die gute Fee zu den Wünschen?«

»Sie sagte gar nichts. Aber ehe sichs der alte Mann versah, stand da ein kleines Häuschen mit zwei kuscheligen Betten, einem Ofen, der sie wärmte, und einem Regal voll mit köstlichen Sachen zum Essen und Trinken, das sich immer wieder von selbst füllte.«

»Boah«, sage ich.

»Boah«, antwortet Mama. »Da war die Freude groß. So glücklich waren sie noch nie!«

»Halt, Mama!«, sage ich ein bisschen zu laut. »Ich will das Ende erzählen! Darf ich?«

»Na klar.«

Ich räuspere mich, wie sie es immer macht. »Der alte Mann und das Mädchen lebten noch viele Jahre glücklich und zufrieden in ihrem Häuschen im Wald.«

Mama will sich aufrichten, doch ich halte sie fest. »Eine Frage habe ich noch, Mama. Warum wünscht sich der arme Mann keine Million Mark?«

Sie streicht mir mit den Fingern durch die Haare bis ganz nach hinten in den Nacken. »Weil er keine Million Mark braucht. Menschen brauchen keine Million Mark. Sie müssen es nur warm haben. Sie brauchen genug zu essen und zu trinken und einen sicheren Ort zum Schlafen. Und sie müssen jemanden haben, der sie lieb hat.«

Ich nicke stumm. »Toll, dass ich das alles habe«, sage ich dann. »Und ich habe sogar ganz viele, die mich lieb haben. Der Papa hat mich lieb, der Opa hat mich lieb, der Steven hat mich lieb, obwohl wir uns ganz schön oft streiten. Und du hast mich natürlich auch lieb, Mama.«

Dann drückt Mama mich ganz fest an sich. Ich spüre ihren Atem jetzt in meinem Haar. »Weißt du, deine Mama hatte schon früh keine Mama mehr. Deine Oma ist gestorben, da war ich nur ein bisschen älter als du jetzt.«

Ich flüstere: »Aber Mama, du stirbst nicht, oder?« Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn Mama sterben würde, aber es geht nicht. Wer würde mich dann jeden Morgen wecken? Ich müsste allein Zähne putzen und mir selbst das Pausenbrot schmieren. Jemand muss doch am Hoftor stehen, wenn ich zur Schule losgehe, und winken, bis ich um die Ecke gebogen bin. Am Nachmittag, wenn Papa noch auf der Arbeit ist, würde niemand neben mir sitzen und Groschenromane lesen oder Kreuzworträtsel lösen, während ich Bilder für die Küchentür male. Keiner würde mir vom Einkaufen ein Überraschungsei mitbringen und sagen: »Ich habe ganz viele geschüttelt, und das hier klang am besten.« Und Mama wäre nicht mal da, um mir einen Gutenachtkuss zu geben.

»Nein, mein Schatz«, flüstert Mama. Sie atmet einmal kräftig durch meine Haare ein und wieder aus. »Ich lasse dich nicht allein. Das verspreche ich dir.«

»Weil, du musst ja auf mich aufpassen«, erkläre ich.

»Ich werde immer auf dich aufpassen.« Mama drückt mich noch ein bisschen fester an sich. Dann spüre ich etwas Nasses auf meiner Kopfhaut.

»Ich hab dich lieb, Mama.«

»Ich hab dich auch lieb. So furchtbar lieb.«

3
So ist dein Papa eben

29. August 2000

»Meine Beine tun weh«, sage ich leise.

Steven sieht kurz auf und widmet sich dann wieder seinem Gameboy: Pokémon, Rote Edition. »Der Größere bekommt den Mittelplatz, so ist das nun mal.« Mit dem Rücken lehnt er an der Tür, die Beine streckt er über die gesamte Rückbank bis auf meinen Sitz.

»Das ist unfair!« Diesmal bin ich laut. »Du bist zwei Jahre älter. Du wirst immer größer sein! Dafür kann ich doch nichts.« Seit zwei Stunden fahren wir jetzt. So lange sitze ich schon am rechten Rand, die Beine eingezwängt neben einer Kühlbox. Ich muss aufs Klo und die Luft ist stickig, aber ich darf das Fenster nicht aufmachen, weil wir über die Autobahn fahren.

»Ich habe längere Beine, ich brauche mehr Platz.« Er rutscht ein bisschen mit dem Hintern von links nach rechts, als mache er es sich gemütlich.

Im Urlaub haben wir uns kaum gestritten. Auch Mama fiel das auf. In Österreich gäbe es einfach mehr Platz, erklärte sie. Sie hatte recht. Wir kamen uns nicht so leicht in die Quere wie zu Hause. Und erst recht nicht so leicht wie auf der Rückbank eines Autos.

Wenn ich wütend auf Steven war, ging ich einfach aufs Feld zu den Heuballen oder ein Stück weiter, wo ein Bach floss, in dem wir manchmal spielten. Wollte ich nicht allein sein, besuchte ich die Kühe im Stall. Papa half sogar einmal dem Bauern, ein Kalb auf die Welt zu bringen. Mitten in der Nacht ist das passiert, ganz plötzlich.

Ganz plötzlich ertönt ein dumpfer Schlag. Papa und Mama schauen erschrocken in den Rückspiegel. Als ich mich umdrehe, sehe ich etwas fliegen. »Der Dachkoffer ist aufgegangen«, stellt Papa fest. »Unsere Sachen!«, ruft Mama und schlägt sich die Hände vor den Mund. »Schnell, Klaus, halt an!«

Papa wirft einen Blick in den Seitenspiegel, fährt von der Überholspur bis auf den Seitenstreifen und kommt dort zum Stehen. Er steigt aus, setzt einen Fuß auf den Rand des Fahrersitzes und zieht sich am Autodach hoch. »Verdammt!«, flucht er. »Bestimmt waren die Gurte nicht richtig zu.«

Auch ich steige aus. Meine Beine fühlen sich ein bisschen wackelig an, aber es tut gut, sie endlich auszustrecken. Vier Stunden noch, bis wir zu Hause sind. Am meisten freue ich mich darauf, Opa wiederzusehen. Bevor wir gefahren sind, habe ich ihm einen Gutenachtkuss für jede der zehn Nächte gegeben, die wir weg sein würden. Die sind jetzt aufgebraucht, also müssen wir dringend nach Hause.

Erst als ich ein paar Schritte vom Auto weglaufe, kann ich auf das Dach sehen. Papa steckt bis zu den Ellenbogen im Koffer und sieht die vom Fahrtwind durcheinandergeworfenen Klamotten durch, während Mama noch immer im Auto sitzt und auf die Hiobsbotschaft wartet.

»Anna, ich glaube, da fehlt nicht viel«, ruft Papa.

Mama schnauft laut. »Aber Normans gute Jacke habe ich fliegen sehen.« Sie steigt aus, geht ein paar Schritte und zündet sich eine Zigarette an. »Die hatten wir gerade erst für den Herbst gekauft. Der Norman braucht doch eine gute Regenjacke für den Herbst.«

Papa springt vom Fahrersitz, schlägt die Tür zu und läuft zur anderen Seite des Autos. Wortlos geht er an Mama vorbei, die gerade an ihrer Zigarette zieht.

»Wo willst du hin?«, fragt sie und bläst ihm den Rauch hinterher.

»Also zuerst gehe ich pinkeln.« Bereits im Gehen öffnet er seinen Hosenstall. »Und dann hole ich Norman die Jacke zurück.«

»Klaus, mach das nicht«, ruft Mama. Sie steht neben dem Warndreieck, das Papa aufgestellt hat, und stemmt die Hände in die Hüften. Ich stehe neben ihr und wir sehen Papa hinterher, wie er am Seitenstreifen entlanggeht. Nach vielleicht fünfzig Metern bleibt er stehen. Er dreht sich zu uns um: »Ich kann sie sehen! Zweite Spur!«

»Nein, Klaus! Das ist zu gefährlich!« Mama klingt nervös. Als bereue sie, die Jacke überhaupt erwähnt zu haben. Sie geht einen Schritt vor und doch wieder zurück. »Wir kaufen eine neue Jacke!«

»Alles im Griff!«, ruft Papa, diesmal ohne zurückzusehen. Er tritt näher an die Fahrbahn und betrachtet die heranfahrenden Autos, studiert sie regelrecht, geduldig und bewegungslos.

Ich muss an letzten Sommer denken, als eine Fledermaus durch die Balkontür in unser Wohnzimmer flog. Papa hatte sie genauso angesehen wie jetzt diese Autos. Er hatte ihre Flugbahn studiert, herausgefunden, dass sie immer die exakt selbe Schleife flog, und schließlich eine seiner Schallplatten gezückt, um sie auf Höhe des Sofas bewusstlos zu schlagen und zurück nach draußen zu tragen.

Als Papa auf die Autobahn rennt, hält Mama sich die Hände vor die Augen. Ich zucke zusammen, drücke mich an Mama, kann aber nicht wegsehen. Papa sprintet auf die zweite Spur und greift nach der Jacke – daneben. Mein Atem stockt. Ich sehe, wie sich hinter ihm Autos nähern, eins hupt und bremst. Er greift noch einmal nach der Jacke, erwischt sie diesmal, schlägt einen Haken und rennt, ohne zu gucken, über die erste Spur zurück auf den Seitenstreifen.

Der Autofahrer, der gehupt und gebremst hat, zeigt Papa im Vorbeifahren den Mittelfinger. Papa sieht es nicht. Er hält die Jacke in die Luft wie eine Trophäe, die er fast mit seinem Leben bezahlt hätte. »Anna!«, lacht er. »Du kannst die Augen wieder aufmachen.«

Mama nimmt die Hände vom Gesicht. Sie weint. »Du bist ein Idiot!«, ruft sie zurück. »Du hättest überfahren werden können! Eine neue Jacke können wir kaufen, einen neuen Vater für die Kinder nicht.«

Papa ist nun wieder bei uns angekommen, mit einem Lächeln übergibt er mir die Jacke. Sie ist furchtbar staubig, und als ich sie in den Händen halte, fühle ich mich ein bisschen, als sei ich an allem schuld. Wenn meine Jacke nicht aus dem Dachkoffer geflogen wäre, dann würde Mama jetzt nicht weinen.

»Aber es ist ja nichts passiert«, winkt Papa ab. »Und die Jacke haben wir wieder.« Er geht zum Auto, verschließt den Dachkoffer und zieht probehalber an den Gurten.

Ich gebe die Jacke an Mama weiter und sage mit zittriger Stimme: »Ich hatte richtig Angst gerade.«

Sie nimmt meine Hand. »Ich auch«, sagt sie und drückt einmal fest zu: »Ich wäre gern sauer auf ihn, so richtig stinkwütend.« Sie seufzt. »Aber so ist dein Papa eben. So war er schon, als ich ihn kennengelernt habe. So habe ich ihn geheiratet und ich bezweifle, dass er sich jemals ändern wird.«

Wir steigen zurück ins Auto. Steven sitzt noch immer an Ort und Stelle, die Beine auf der Rückbank ausgestreckt, und spielt Gameboy. Ich zwänge mich zurück an den rechten Rand, quetsche meine Beine neben die Kühlbox und schließe die Tür mit einem kräftigen Ruck.

Die restliche Fahrt über reden wir nicht viel. Der Dachkoffer bleibt zu. Mama hat meine Jacke auf dem Schoß liegen, hält sie mit beiden Händen fest und lässt sie, bis wir zu Hause ankommen, nicht los.

4
Ich bin da

27. Oktober 2001

»Können wir nach dem Spielplatz noch zur Eisdiele?« Wir schieben unsere Fahrräder über Kies und Schotter. Wenn man ein Stück am Main entlang- und aus dem Dorf herausfährt, kommt man schnell zu den Feldern. Genau hier, wo wir gerade laufen, war im August noch alles voller Mais. Inzwischen ist das Feld gepflügt und bereit für den Anbau im nächsten Jahr. Heute haben die Herbstferien angefangen, aber die Sonne scheint und Mama hat uns ohne Jacke nach draußen gelassen. »Ich weiß, der Sommer ist vorbei, aber ich hätte so Lust darauf.«

Opa lächelt, schüttelt aber den Kopf. »Wir haben noch Eiscreme zu Hause.« Wir wohnen alle im selben Haus. Es ist Opas Haus, hier hat er Mama und meine Tanten Heidi und Ilona großgezogen. Ganz allein, weil Mamas Mama gestorben ist, als Mama neun Jahre alt war. Meine Tanten sind irgendwann ausgezogen. Aber Mama hat Papa kennengelernt, der einzog, und dann kamen wir auf die Welt.

»Aber nicht in der Waffel!« Steven schaut Opa flehend an.

»Ich verstehe gar nicht, wieso man zum Eis eine Waffel haben will. Die ist doch nur hart. Eiscreme kann man einfach so lutschen, da muss man gar nicht kauen.«

»Ja, Opa, aber wir haben doch noch Zähne«, kontert Steven und stellvertretend für ihn schlage ich mir die Hand vor den Mund. Er kichert: »Ich wollte nicht gemein sein! Kriege ich trotzdem ein Eis?«

»Ich habe auch noch Zähne!« Opa klopft mit dem Zeigefinger auf sein Gebiss und lacht. »Zumindest tagsüber.« Und dann lachen wir alle.

Letzte Woche waren Opa, Steven und ich bei der Schiffsschleuse am anderen Ende des Dorfes. Wir sind jedes Wochenende mit dem Rad unterwegs, seit ich letzten Monat den Fahrradtest in der Schule bestanden und meinen Wimpel bekommen habe. Am Morgen davor war ich furchtbar aufgeregt gewesen, weil mir Radfahren schon immer ein bisschen Angst gemacht hat und ich noch nie sonderlich gut darin war. Meine Klasse und ich stiegen also in diesen Bus zum Testgelände und mein Bauch tat ganz schlimm weh. Um uns Glück zu wünschen, spielte der Busfahrer »Daylight In Your Eyes« von den No Angels, und das half ein bisschen, weil das gerade mein Lieblingslied ist. Geprüft wurden wir von zwei echten Polizisten, alle nacheinander. Als ich dran war, habe ich gezittert und bin deshalb ganz wackelig losgefahren, und einmal bin ich fast vom Rad gefallen, als ich am Stoppschild stehen bleiben musste. Am Ende habe ich nur knapp bestanden und die Polizisten meinten, dass ich in den nächsten Wochen ganz viel üben müsse.

»Seht ihr die Hagebutten dort drüben?« Opa stellt sein Rad ab. Er deutet auf ein paar Sträucher am Wegrand, die vor einer großen Kastanie stehen. Der Boden ist voller Laub und grün-brauner Schalen mit Spitzen. Die Sträucher sehen ein bisschen welk aus und haben ebenfalls Dornen.

»Hagebutten sind die mit dem Juckpulver drin, oder?«

»Ja, genau!« Ein Grinsen liegt auf seinem Gesicht, er tippelt von einem Fuß auf den anderen und kurz kommt es mir vor, als wären wir gleich alt. »Damals in der Volksschule haben wir die immer in den Händen zerdrückt und den Mädchen hinten ins T-Shirt gesteckt. Da haben die sich gekratzt und geschrien wie verrückt!«

Sofort greift Steven nach einer Hagebutte, um sie vom Strauch zu rupfen.

Opa hält seine Hände schützend vor die Pflanze. Sie sind groß, mit dicken Adern übersät und rau vom vielen Arbeiten im Garten. »Wenn du vom Strauch zupfst, halte immer die Pflanze fest, damit du sie nicht entwurzelst oder die Zweige beschädigst.« Er umfasst eine Frucht mit Zeigefinger und Daumen, hält den Strauch mit der anderen Hand fest und macht es ihm vor. »Im Herbst sind die Früchte noch fest.« Er knackt die Fruchtschale mit den Fingernägeln, entfernt das Innere und streckt Steven und mir jeweils eine Hälfte hin. »Die Härchen sind das, was so juckt.«

Ich nehme die halbe Hagebutte aus Opas Hand und esse sie. Sie schmeckt süß und auch ein bisschen sauer. Die Marmelade, die ich kenne, ist süßer. »Ich weiß nicht«, sage ich.

Steven beobachtet mein Gesicht genau und gibt seine Hälfte an Opa zurück, der sie sich in den Mund steckt, ein Stofftaschentuch aus seiner Hemdtasche zieht und damit seine Fingernägel säubert. Das Taschentuch und seinen Kamm hat Opa immer dabei. Hemd trägt er eigentlich jeden Tag, dazu Hosenträger und ordentlich geputzte Schuhe. Selbst wenn er im Garten arbeitet. »Wisst ihr überhaupt, was Hagebutten sind?«, fragt er und kaut dabei noch.

Ich zucke mit den Schultern. Keiner weiß so gut über Pflanzen Bescheid wie Opa. In seinem Wohnzimmer hat er ein ganzes Regal voller Pflanzenbücher. Aber er sieht nie hinein. Weil er alles schon weiß.

»Das sind die Früchte der Rosenpflanzen«, erklärt er.

»Rosen«, sage ich. Und eine Sekunde später: »Ich habe gerade Rosen gegessen?«

Ich stehe auf dem Klettergerüst. Vor mir führt eine silberne Metallstange nach unten in den Sand. Als mein Bruder daran herunterrutschte, sah das total einfach aus. Seit ich selbst davorstehe, die Füße am Abgrund, habe ich das Gefühl, in eine Schlucht zu blicken. Am Boden der Schlucht steht Opa und sieht zu mir hinauf. »Komm, Normi, einfach mit beiden Händen festhalten und rutschen wie ein Feuerwehrmann.«

»Norman, wollen wir auf die Wippe?«, ruft Steven ein paar Meter weiter. Seine Stimme klingt metallisch. Er sitzt in einer der Röhren, die durch den Hügel führen. Ich gehe da nie rein. Jugendliche treffen sich dort und schreiben gemeine Worte und Telefonnummern an die Wände.

»Ich traue mich nicht. Das ist so hoch!«, rufe ich zurück.

Opas Kopf ist auf der Höhe meiner Füße. Er umfasst meinen Knöchel mit seiner Hand. »Guck mal, das ist gar nicht hoch. Ich komme locker an deine Füße!«

»Nicht runterziehen!« Panisch versuche ich, Opas Hand von meinem Fuß zu schütteln.

»Norman!«, ruft Steven wieder. Er sitzt bereits auf der Wippe. Die andere Seite ragt einsam in die Luft.

»Ich traue mich nicht, habe ich gesagt!«, brülle ich und spüre, dass ich den Tränen nahe bin. »Ich kann doch nichts dafür, dass ich mich nicht traue!«

Steven verdreht die Augen. »Du bist so ein Angsthase.«

Er hat ja recht. Ich habe vor vielen Dingen Angst. Vorm Fahrradfahren hatte ich lange Angst. Und davor, von Mama getrennt zu sein. Vorm Schwimmen ohne Taucherbrille habe ich Angst. Vor den Monstern in Stevens Videospielen. Vor dem Monster, das sich in meinem Schrank versteckt. Und vor den Kindern in der Schule. Zumindest vor denen, die nicht in meine Klasse gehen.

»Nicht weinen, okay?«, sagt Opa. »Du musst ja nicht an der Stange runter. Vielleicht nächstes Mal, und heute nimmst du einfach die Rutsche.«

Ich ziehe die Nase hoch und wische mir die feuchten Augen mit dem Ärmel meines Pullovers trocken. »Ich weine ja gar nicht«, murmle ich, setze mich auf die sandigen Holzbalken und lasse die Beine vom Klettergerüst baumeln. Noch einmal sehe ich nach unten. »Wenn man sitzt, sieht es auch gar nicht mehr so hoch aus.«

Opa trommelt mit den Fingern auf meinen Knien. »Von oben sieht alles immer viel schlimmer aus. Willst du es doch versuchen? Komm!« Er breitet die Arme aus.

»Und wenn ich falle?«