1.

Erste Skizze

Kaarst, Sommer 2019. Als ich das Gefängnis nach zwei Jahren und drei Monaten im September 2016 zum ersten Mal wieder verlassen durfte und in den offenen Vollzug kam, sah ich auf dem Weg in die Stadt eine Aldi-Filiale. In dem einladenden Discounter kaufte ich mir einen Apfelkuchen und eine Flasche Wasser, setzte mich draußen auf eine Parkbank und aß mit großem Appetit. Der Kuchen schmeckte fast so gut wie vom Bäcker.

Bis heute kaufe ich regelmäßig bei der Supermarktkette ein. Weil ich Aldi ein paar Euro meiner Schuldenmillionen zurückzahlen will? Wohl kaum. Vor allem kaufe ich bei Aldi ein, weil die Zeit von Feinkosthäppchen und Sternerestaurants vorbei ist.

Ein paar Monate nach meiner Freilassung im Sommer 2018 hatte ich 100 Euro, um für die erste Vernissage des Vereins Culture without borders einzukaufen – Orangensaft, Sekt, Wein und Knabbereien. Der Einkaufswagen quoll über, ein paar Euro blieben sogar übrig. Ab und an werde ich bis heute in einer Filiale angesprochen. Ob ich nicht der Achenbach sei, der Aldi übers Ohr gehauen hat? Ich bin nicht stolz darauf, dann zu nicken. Und denke bis heute manchmal: »Ich habe dem damaligen Aldi-Chef Berthold Albrecht auch viel für sein Geld gegeben. Kunst und Oldtimer, die heute viel mehr wert sind als damals.«

Öfter aber denke ich: »Was ist da in dich gefahren? Wie konntest du nur?« Rechnungen nachträglich zu erhöhen war der größte Fehler meines Lebens. Auf dem Zenit meiner Laufbahn als Kunstberater habe ich mich strafbar gemacht, weil ich eingeknickt bin: Nur 5 Prozent Provision für Bilder zu verlangen war nicht kostendeckend. Das mangelnde Rückgrat beim Verhandeln wollte ich am Kopierer korrigieren. Die Einsicht, mich damit strafbar zu machen, kam erst später. Spätestens nach der Verurteilung, mit der ich fast alles verlor: Familie, Beruf, Vermögen, Reputation, Freiheit. Das Kainsmal des Betrügers trage ich nun, bis ich den Löffel abgebe.

Mit meinen Erinnerungen möchte ich aber auch die Farbschichten freilegen, die hinter dem Geständnis vor Gericht liegen, das mich zu sechs Jahren Haft verurteilte. Es sind Farben, die in keiner Verhandlung und keinem Zeitungsbericht zur Sprache kommen.

Es geht mir dabei um einen Akt der Selbstvergewisserung dessen, was ich in fast 40 Jahren auf dem Kunstmarkt gemacht habe. Was der Kunstmarkt mit mir gemacht hat. Über das, was ich geschafft und was ich zerstört habe, über die Art, wie ich zerstört wurde, über eine bigotte Szene und meine eigene Zerrissenheit. Den Lebemann, Menschenfänger, Macher, Romantiker und Narzissten kenne ich schon lange. Dahinter – das ist mir erst im Knast richtig klar geworden – stecken auch Ängste und Abgründe, in die ich vorher nie geschaut hatte. Wie wurde ich, wer ich war und heute bin? Um dem näherzukommen, habe ich in den Spiegel geschaut, nackt. Und mit Humor.

Denn meine Geschichte hat auch viele komische Elemente. Man brauchte sie gar nicht allzu sehr zu überzeichnen, um eine Satire daraus zu machen: Die Berliner Volksbühne hat das mit der Web-Serie Rheingold und Schauspielern wie Matthias Brandt, Bibiana Beglau und Joachim Król schon getan, ohne mein Zutun und auch ohne die Rechte einzuholen. Aber da es eher mehr als weniger gelungen ist, habe ich nichts dagegen.

Der Street-Art-Künstler Banksy hat im Auktionshaus Sotheby’s sein bekanntes Bild Girl with Balloon während einer Versteigerung schreddern lassen. Nach dem Streich verdoppelte sich der Preis für sein Werk. So irre geht es auf dem Kunstmarkt öfter zu: Ein mir bekannter Künstler kopierte seine eigenen Werke, wenn sie besonders gut liefen, Kuratoren belegten die Echtheit von Bildern, auch wenn sie sich nicht sicher sein konnten. Galeristen dealen bis heute mit zwielichtigen Oligarchen, Politiker und Unternehmer schmücken sich mit Kunst und der Freundschaft mit Künstlerfürsten, reiche Schnäppchenjäger wollen sich ein bisschen Kultur erkaufen – jeder will ein Stück von der Sahnetorte. Lecker ist sie nicht immer, sie schmeckt immer bitterer, nach Geld und fragwürdigem Lifestyle, ist aber groß und mächtig. Ich habe oft und viel davon gegessen.

Irgendwann habe ich nicht mehr gemerkt, wie sich Großzügigkeit in Größenwahn verwandelte, Leidenschaft in Manie. Schleichend und ohne groß darüber nachzudenken, wie ich mich veränderte, wurde ich zum Dealer-König, der die Regeln bestimmte und mit Sammlern an einer Autobahnraststätte oder auf einer gigantischen Jacht über Bilder im zweistelligen Millionenbereich verhandelte. Und das ganz normal fand.

Abertausende Kunstwerke sind durch meine Hände gegangen. Ich habe Ausstellungen und Projekte organisiert, Konzerne mit Kunst ausgestattet, Kooperationen von Unternehmen mit Museen vermittelt, Spendenaktionen organisiert, ständig Aufmerksamkeit und Anerkennung gesucht. Wofür habe ich das getan? Und: Hat mich das zu einem glücklichen Menschen gemacht? Unabhängig: Ja. Ich hatte Geld, Kunst, schicke Autos, schöne Frauen, flog Privatjet. Ein pralles Leben mit Tausenden Begegnungen und unglaublichen Geschichten.

Aber bei den Verhandlungen und Projekten ging es mir irgendwann wie einem Junkie, der den nächsten Schuss braucht. Noch eine Sammlung, noch eine Firma, noch ein Edelrestaurant. Bis ich zu viel nahm – im wahrsten Sinne.

In der Zelle habe ich auf einem Minifernseher gesehen, wie Schriftsteller und Journalisten aus der Türkei ins Gefängnis mussten, nur weil sie Präsident Erdoğan kritisierten. Ich habe mich dafür geschämt, meine Integrität aus so niederen Beweggründen verloren zu haben – und aus der Ohnmacht heraus den Gedanken gefasst: »Heute ist kein guter Tag zu sterben. Wenn du rauskommst, hilfst du Künstlern, die verfolgt wurden, im Gefängnis landeten, fliehen mussten, nur weil sie anders dachten, als in ihrem Land gewünscht. Du hilfst den Richtigen!«

Menschen zu unterstützen, die alles verloren haben, schafft mir eine andere Form von Zufriedenheit als die Vermittlung eines 6-Millionen-Picassos. Wenn ich Yahia, der die Cartoons für dieses Buch gezeichnet hat, helfe, seine Bilder auszustellen, habe ich heute das Gefühl: Das ist gut, das lohnt sich.

Um klarer zu sehen, habe ich oftmals das Gespräch gesucht. Angefangen mit einem Gefängnispfarrer, der in wöchentlichen Gesprächen in der JVA Essen mein Korrektiv war und mir einige Tage nach der Inhaftierung klar gemacht hat, dass es mehr als nur ein Missverständnis ist, dass man mich verhaftet hat; eine ähnliche Wirkung hatte die Künstlerin Anne Berlit, die mir im Gefängnis das Malen beigebracht hat. Die Kunst hat mich nicht nur vor dem Spießerleben meiner Eltern gerettet, sondern auch im Knast. Und sie tut es heute wieder.

Geholfen hat mir auch Günter Wallraff, der mir nach der Freilassung (und bis heute) seine Dachgeschosswohnung kostenlos zur Verfügung gestellt hat und ebenfalls immer wieder als Korrektiv dient – Süchtige brauchen solche Menschen, um nicht rückfällig zu werden. Gespräche und Briefe mit meiner Frau Dorothee, von der ich inzwischen geschieden bin, haben mich weitergebracht. Und Diskussionen mit meinen Kindern. Ihre Kritik und Enttäuschung haben gewirkt.

Nicht zu vergessen: der Zuspruch von Freunden. Menschen wie Dirk Niebergall und Dr. Bruno Albrecht, ohne die es den Verein Culture without borders nicht gäbe. Sogar meine allererste Freundin Ingeborg hat mich mehrfach in der JVA besucht. Nach der Inhaftierung habe ich gemerkt, wer ein Freund ist – und wer nicht.

Bis heute treffe ich mich regelmäßig mit zwei kunstbegeisterten Psychotherapeuten, mit denen ich familiäre Zusammenhänge ergründe: Welche Rolle meine Mutter gespielt hat, die ich als herzlos und irrational erlebt habe, welche mein Vater, von dem mir Verwandte sagten, dass er nicht mein leiblicher Vater sei. Warum fiel es mir schwer, in Beziehungen treu zu bleiben? Woher kam der Drang, immer helfen zu wollen? Und nur schwer Nein! sagen zu können? Was heißt es eigentlich, Narzisst zu sein – und welche Rolle spielte das für meine kriminellen Manipulationen? Im Knast war ich nicht umsonst umgeben von Narzissten. Dass Narzissten überdurchschnittlich oft straffällig werden, wusste ich schon als Student der Sozialpädagogik und Jahrespraktikant in der JVA Siegburg. Warum das so ist, habe ich 40 Jahre später am eigenen Leibe erfahren.

Als Kunstberater ging es mir in vielen Situationen wie Gerhard Richter mit seinen Bildern: »Verstehen kann ich meine Bilder fast nie«, hat er mal gesagt. Bloß wusste Gerhard bei Bildern immer, ob sie gut sind oder schlecht. Ich habe diese Klarheit für meine Entscheidungen irgendwann verloren.

Das Leben in der glitzernden Kunstszene habe ich trotzdem genossen. Die Kunst an sich, die Freundschaften mit Künstlern und Sammlern, die Partys, die Projekte, den Eros von Kreativität, Einfluss und Geld. Natürlich auch den Umgang mit Berthold und Babette Albrecht, dem reichsten Ehepaar des Landes. Berthold wurde irgendwann zu einem Vertrauten, ja Freund. Den ich betrogen habe.

Wir haben drei Tage vor seinem Tod das letzte Mal telefoniert. Es war zu spät, um ihm zu beichten, dass ich Rechnungen an ihn nachträglich erhöht hatte. Ich hätte ihm zumindest gern noch gesagt, dass ich mich schäbig verhalten habe, dass es mir leidtut.

Als Kunstberater habe ich oft Entscheidungen aus dem Bauch heraus getroffen. »Filou«, hat Gerhard Richter mich genannt. Spieler, Abenteurer, Schlitzohr, Gockel, Schlawiner, großes Kind, Zampano, Leichtfuß, sozialer Kapitalist, Narzisst, Anarchist, Pippi Langstrumpf und Menschenfischer nannten mich andere. Alles sicher nicht ganz falsch. Ich habe das Leben gern als Spiel gesehen. Habe den Reichen Zucker gegeben. Um die Puppen immer weiter tanzen zu lassen.

Am Anfang wollte ich von der Kunst leben können, es ging um meine Existenz. Als die gesichert war, wollte ich mehr – für die Kunst und auch für mich.

Dabei habe ich immer einen beträchtlichen Teil meiner Arbeit darauf verwendet, die Finanzierung von Ausstellungen zu sichern, bei denen mein Verdienst keine Rolle spielte. Zumindest einen Teil des Geldes habe ich mit sehr reichen Menschen verdient und einer immer eher klammen Galeristen- und Museumsszene zur Verfügung gestellt.

Geiz und Neid kannte ich nicht, als gierig habe ich mich selbst lange Zeit nicht eingeschätzt. Weil ich jedem Museum versucht habe zu helfen, mir es neben dem Geschäft immer auch um die Geltung der Kunst ging. So schön ich es fand, wenn ein Bild von Richter oder Picasso bei mir im Wohnzimmer hing, so wichtig fand ich es, dass die bedeutendsten Bilder öffentlich ausgestellt wurden.

Im Rückblick war ich sehr wohl gierig. Maßlos, großmannssüchtig.

Warum wurde ich so? Im Rückblick habe ich die Anerkennung, die ich suchte, eher selten erfahren. Für viele war ich immer nur der Kommerzielle, der Mann fürs Geld, der Händler mit den guten Kontakten und dem sicheren Gespür. Je erfolgreicher ich wurde, desto mehr Feinde hatte ich. Nicht dafür anerkannt zu werden, die Kunst zu lieben und zu fördern, hat mich wütend gemacht und hart.

Hier kommen wir zum schwierigen Teil meiner Erinnerungen: Mit der Kunstszene abzurechnen, durfte kein Motiv sein. Wohl aber eine schonungslose Beschreibung des Kunstmarktes, von mir, aber auch den Menschen, die ich kennengelernt habe, und der Art, wie die Geschäfte oft ablaufen.

Am lautesten haben mich seit meiner Verhaftung diejenigen verteufelt, die sich selbst für keinen Deal zu schade waren. Wer die Feuilletonberichterstattung über den Kunstmarkt ein bisschen verfolgt, kann oft von dem Unwohlsein lesen, das Künstler wie Museumschefs und Galeristen mit sich herumtragen: dem schlechten Gewissen, als Protagonisten und Nutznießer der Szene ein Symbol für den globalen Turbokapitalismus zu sein.

Umso wichtiger ist es, dass es Sündenböcke gibt. Ich bin einer – und das natürlich zu Recht. Weil ich dem Markt mit meinen »Collagen«, als die ich die fingierten Rechnungen anfangs bezeichnet habe, Schaden zugefügt habe. Mein Narzissmus hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Aber es gibt auch eine Kultur des Kunstmarkts, die Zynismus und Korruption begünstigt, die den Ehrlichen zum Dummen macht. Der Wert von Kunst ist willkürlich, es gibt nur wenige Regeln und Aufseher, keine Bilanzen und Ratings, die Werte festschreiben, kein geschütztes Berufsbild für Kunstberater, keine Preisbremse, oft auch keine ausgeprägte Zahlungsmoral der Käufer.

Ein Galerist hat ein wertvolles Bild, das ich bestellt hatte, weiterverkauft und sich dumm gestellt, ein anderer konnte sich an eine halbe Million, die ich ihm geliehen hatte, nicht mehr erinnern. Immer wieder haben Konzernbosse nach einer privaten Provision gefragt – beispielsweise in Form eines wertvollen Bildes zum Spottpreis. Ein erfolgreicher Unternehmer hat so nach und nach seine Sammlung aufgebaut. Ich habe Sammler, Galeristen, Künstler und Kuratoren kennengelernt, die mit Geld und Kunst Monopoly gespielt haben. Die – weil ich für ihre Museen oder Sammlungen Geld auftrieb – auch privat nach Finanzspritzen fragten. Die in Auktionen auf eigene Kunstwerke boten, um die Preise hochzutreiben. Immer wieder habe ich mich übervorteilt gefühlt – und immer öfter mitgespielt. Dem Vorstandschef billig ein Bild obendrauf gegeben. Das Geld nach dem Lagerfeld’schen Motto zum Fenster rausgeschmissen, damit es zur Tür wieder reinkommt.

Im Rückblick habe ich viel zu oft gesagt: »Gut, machen wir.« Statt: »Nein, so nicht.« Oft genug bin ich aufgebrochen und habe losgelegt, ohne einen richtigen Plan zu haben. Ich habe lediglich auf mein Bauchgefühl gehört: Das geht, da lässt sich was machen. Ohne Berater, ohne doppelten Boden, ohne Kompass, möglichst spielerisch und kreativ, manchmal naiv. Zusammen mit meiner Liebe zur Kunst hat mir dieser Spieltrieb die Türen zu den größten Künstlern der Gegenwart, den wichtigsten Sammlern und Museen, internationalen Konzernen und ihren Chefs geöffnet. Das Abenteuer war Versuchung und Verdammnis zugleich.

Irgendwann hatte ich den Bentley von Beuys, wollte aber den Mercedes von Krupp noch obendrein. Hatte 10 Millionen Umsatz und wollte 50. Flog erster Klasse, mein Kunde flog Privatjet, wollte ich auch. Es war wie im Rausch: Heute ein Gespräch mit einem Milliardär in Rio, morgen eine Verhandlung über eine Sammlung in Basel, übermorgen ein Picasso-Deal in Monaco. Dealer und Junkie.

Mein erstes Bild von Gerhard Richter habe ich Mitte der 70er-Jahre für 5000 Mark an einen Arzt aus Münster verkauft. Er hat es in 500er-Raten abgestottert. Die Kerze von Richter, die ich für 18 000 Mark gekauft habe, hing zwei Jahre lang in meinem Wohnzimmer. 1982 habe ich das Bild an einen guten Freund verkauft. Heute ist das Bild 30 Millionen Euro wert. Die explodierenden Preise haben mich damals geprägt. Leider ging es irgendwann nur noch um Wertentwicklung und Renditen.

Ich möchte dieses Leben nicht zurückhaben und auch nicht den Stoff, mit dem ich gedealt habe. Auf dem Bauernhof, den mir ein wohlhabender Unternehmer zur Verfügung stellt, um für den Verein Culture without borders mit geflüchteten Künstlern zu arbeiten, spüre ich eine Ruhe, die ich jahrzehntelang nicht erfahren habe. Diese Ruhe gibt mir eine Zufriedenheit, obwohl ich kein komplett anderer Mensch geworden bin: sicher demütiger, aber nicht demütig. Bescheidener, zwangsläufig, aber nicht die Bescheidenheit in Person. Noch immer lebensfroh und voller Ideen und Tatendrang.

Bis heute klopfen regelmäßig kunstinteressierte Menschen bei mir an. Selbstverständlich tun mir diese Anfragen gut – denn sie beweisen, dass man mir eine Chance zur Rehabilitierung geben will. Wenn ich helfe, achte ich darauf, dass die Projekte meiner Seele guttun und ich nicht wieder in altes Fahrwasser gerate.

Der Unterschied zu früher ist, dass ich inzwischen gelernt habe, Nein zu sagen. Groß, das weiß ich mittlerweile, muss nicht gleich teuer und mächtig sein. Einem syrischen Künstler wie Yahia, der seine Existenz verloren hat, ein Atelier zur Verfügung zu stellen und ihm zu helfen, seine Bilder auszustellen, macht mich glücklich. Wenn er sein erstes Werk für 2000 Euro verkauft oder durch die Karikaturen für dieses Buch ein bisschen bekannter wird, freue ich mich aufrichtig.

Ich habe mich lange in einer Schwarz-Weiß-Welt auf der grell leuchtenden Seite bewegt. Nach meiner Festnahme habe ich die Schattenseite kennengelernt. Schwarz und Weiß – das weiß ich längst – ist nur der Schein. In jedem von uns steckt ein Engel, ein Teufel und alles, was dazwischenliegt. Vor allem handeln meine Erinnerungen deswegen von den Grautönen, für die Gerhard Richter künstlerisch mit seinen Bildern eine Lanze gebrochen hat – und die es auf dem Markt eher schwer hatten. Grau steht für Schattierungen, die in der Welt von Instagram und Twitter niemand mehr sehen will. Für das Unbestimmte, Geheimnisvolle, Widersprüchliche, für das Abseitige und Traurige.

Mein Leben als Kunstberater und Kunstliebhaber, Romantiker und Geschäftsmann, Familienmensch und Fremdgeher, Narzisst und Sozialarbeiter, Kapitalist und Anarchist, Dealer und Junkie hat oft in Grauzonen gespielt. Es hat mehr Farbnuancen, als ich kenne.

2. DER MASSANZUG PASST NICHT MEHR

Als Freigänger in der alten Welt

Moers/Berlin, November 2017. Als Freigänger der JVA Moers-Kapellen musste ich nicht in die Kleiderkammer, um mir Klamotten für das exklusive Dinner am Abend in Berlin zu holen. Ich hatte ein eigenes Zimmer, 10 Quadratmeter vielleicht, hell, wohnlich, mit allem, was man braucht: Tisch, Stuhl, Bett, Minifernseher, selbst gemalte Bilder an der Wand, auch ein Kleiderschrank, in dem der sündhaft teure Maßanzug vor sich hin staubte, den ich bei meiner Verhaftung dreieinhalb Jahre zuvor getragen hatte.

Als Aldi-Betrüger und ehemaliger Millionär stand ich in der Knasthierarchie weit oben. Ich war Sportwart, Leiter eines Kurses in Kunstgeschichte, für einige junge Knackis auch Vaterfigur, hatte in dem Gefängnispfarrer und einer Künstlerin, die im Gefängnis Malkurse gab, Freunde gefunden – die Aussicht, in einem halben Jahr raus zu sein und draußen mein Leben neu organisieren zu müssen, fiel mir fast schwer. Einige der Flüchtlinge, mit denen ich als Freigänger in der Düsseldorfer Diakonie arbeitete, würde ich immerhin weiterhin sehen. Ich hatte schon begonnen, einen Verein für geflüchtete Künstler aufzubauen.

Nun also für 24 Stunden zurück in die Matrix – meine alte Welt. Der Springer-Verlag hatte mich zu einem Dinner zu Ehren von Jeff Koons eingeladen, der eine Ausgabe der Tageszeitung Die Welt gestaltet hatte. Koons und ich waren zu Geschäftspartnern geworden, nachdem ich 1992 auf Schloss Arolsen die Rieseninstallation Puppy für ihn realisiert hatte. Ein gelernter Broker, der zum teuersten Künstler der Gegenwart wird – was für ein Symbol. Koons faszinierte mich. 1994 startete ich zusammen mit den Kunsthändlern Max Hetzler, Anthoney d’Offay und Jeffrey Deitch die Produktion der Skulpturen aus seiner Celebration-Serie. Der Marktwert von Koons-Werken explodierte in der Folge.

Der Gedanke, Koons nach alldem, was passiert war, wiederzusehen, war schön. Ich mochte seinen Mut, das Banale in den Blick zu nehmen, die glatten Oberflächen seiner Skulpturen als Symbol unserer smartphoneglatten Gesellschaften, und auch seinen provokanten Versuch, die Pornografie als Kunstform zu etablieren – für die Foto- und Skulpturen-Serie Made in Heaven hatte er mit seiner damaligen Frau, der Pornodarstellerin Ilona Staller, in verschiedenen Stellungen und Maskierungen geschlafen.

Als ich den Maßanzug überstreifte, flatterten Hose und Ärmel. Im Gefängnis in Essen fuhr ich fast täglich auf dem Hometrainer, Seite an Seite mit Ex-Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff, Kleinkriminellen, Mördern und einem Rocker, der sich bei mir ausheulte, weil er seine fünf Kinder an Weihnachten nicht sehen durfte.

Mein altes Leben passte mir offenbar nicht mehr.

Um 8 Uhr verließ ich die JVA mit leichtem Gepäck. Gierig sog ich die feinstaubgeschwängerte Düsseldorfer Stadtluft ein. Die zweite Klasse des ICE war erfüllt von einer Note aus Käsebroten, Schweiß und überreifen Bananen. Gesichter starrten in Handydisplays und I-Pads, ein Baby schrie; ich ging durch in die erste Klasse, die der Gastgeber für mich gebucht hatte.

In der Innentasche des Sakkos harrte noch die Visitenkarte eines brasilianischen Milliardärs aus, mit dem ich ein paar Tage vor der Verhaftung über ein Architekturdorf für 250 Millionen Dollar in der Nähe vom Campo Bahia der deutschen Nationalelf gesprochen hatte. Die Fahnder hatten wohl nichts damit anzufangen gewusst. Ich riss die Karte in Fetzen und dachte an das Treffen in dieser riesigen Villa am Meer.

Wiesen, Felder, Autobahnen, Industriegebiete flogen vorbei. Düsseldorf, Dortmund, Bielefeld, Gütersloh, Hannover, Wolfsburg. Erinnerungen.

Die Düsseldorfer Kunstszene tauchte auf, die kleine Galerie im Rotlichtviertel, die ZERO-Gruppe, Beuys, Richter, mein erstes verkauftes Werk, ein Feuerbild von Otto Piene, der Transport eines Schwammreliefs von Yves Klein zum Chanel-Chef nach Paris, im Kofferraum meines alten Kombis; Trinken mit Künstlern und Freunden im »Ratinger Hof« und der »Uel«, Tanzen im »Creamcheese«; der Anfang der Kunstberatung, Konzepte für Banken und Versicherungen mit Bildern von Gerhard Richter, Günther Uecker, Tony Cragg, Heinz Mack und vielen anderen.

Der ICE fuhr durch Dortmund. Die Versicherung, der ich wertvolle Fotokunst verkauft hatte. Bielefeld. Ein Frühstück mit dem Unternehmer Rudolf-August Oetker, der mir 1986 klarmachen wollte, dass Gerhard Richter kein guter Künstler sei und er ihn nicht finanzieren wolle.

Hannover. Bilder für die Zentralen mehrerer Unternehmen. Die Frage eines Managers nach einer Aufmerksamkeit für seine Frau obendrauf. Wolfsburg Hauptbahnhof. Meine Freunde von Think Blue! Die große Welttournee von VW als Ausstellungskonzept, um das Nachhaltigkeitsbewusstsein des Autobauers künstlerisch zu unterlegen. Beim Eröffnungsabend von Think Blue im New Yorker MoMa war VW-Boss Martin Winterkorn mit der Schauspielerin Lucy Liu im 1-Liter-Auto vorgefahren, Madonna, Yoko Ono, die Rothschilds, Rockefellers, Marina Abramović und Michael Bloomberg gaben sich die Klinke in die Hand. Die Welt war für uns alle noch in Ordnung.

3,20 Euro sollte der Cappuccino im Bordbistro kosten, 6,90 Euro das Frühstück – eigentlich zu viel bei 130 Euro Monatsverdienst im Knast.

Es war ungewohnt, so lange aus dem Fenster zu gucken, so viel monotones Land, Gursky-Land. Der Cappuccino schmeckte besser als der dünne Knastkaffee. Die Fahrt von Düsseldorf nach Wolfsburg kam mir kurz vor. Wie größenwahnsinnig musste ich gewesen sein, dass ich dafür früher den Privatjet genommen hatte!

Als ich in Berlin Hauptbahnhof das Abteil verließ, spürte ich die Kälte des Winters. Die Hauptstadt kam mir größer vor als vor vier Jahren, lauter und unübersichtlicher.

War es richtig, als Freigänger auf eine elitäre Kunstparty zu gehen? Narzisstisch war es ganz bestimmt. Ich wollte wissen, wie die Kunstgesellschaft heute auf mich reagierte – bis dahin hatte ich jede Ausstellungseinladung ignoriert. Vielleicht war es auch Trotz. Im Nachhinein ganz sicher auch Masochismus.

Im Springer-Hochhaus warteten die Gäste auf Jeff Koons. Unternehmer, Banker, Verleger, Galeristen, Sammler. Die Kunstszene ist eine kleine Welt, die von außen niemand durchschaut. Den inneren Zirkel bilden Mitglieder einer ausgewählten Kaste. Wenn man einmal in dem Zirkel verkehrt, der aus den wichtigsten Künstlern, Galeristen, Museumschefs, Sammlern, Bankern und Kunsthändlern besteht, verkehrt man dort ein Leben lang. Es sei denn, man hat kein Geld mehr oder stört den Betrieb – oder landet wie ich im Gefängnis.

Als ich den vollen Aufzug zur 19. Etage nahm, wurde mir kalt. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, der Einladung gefolgt zu sein. Schuld eingestanden und fast verbüßt, alles auf null? Wie naiv, so etwas zu hoffen. Menschen, die jahrelang damit geprahlt hatten, mich zu kennen, stierten an mir vorbei. Ein alter Sammler, der mich oft angerufen und nach neuen Werken gefragt hatte, schaute durch mich hindurch. Ein sehr bekannter Filmregisseur wendete sich fast verschreckt ab. Es war das Szenario eines klischeeüberfrachteten Blockbusters: der Auftritt des Bösen, der das System beschmutzt und entblößt hat, in der feinen Gesellschaft.

So geächtet zu werden, hatte ich nicht erwartet. Ich fühlte mich wie ein Aussätziger, bestenfalls wie ein Schreckgespenst. Ich dachte an das Affenkostüm, das ich in meiner Zeit als Chef der »Monkey’s«-Restaurants auf einem Düsseldorfer Karnevalswagen getragen hatte. Jetzt hier als kostümierter Affe herumlaufen und die Freiheit des Verachteten auskosten, wie schön wäre das!

Aber nach Späßen war mir nicht zumute. Die Freiheit des Verachteten spürte ich nicht. Nur die Verunsicherung. Ich wollte mich verstecken. Mein Herz pochte, der Schweiß rann. Ich suchte Schutz in einer Ecke abseits des Getümmels, wie ein gehetztes Tier.

Im Festsaal schien alles wie immer. Alle redeten über Kunst, beflissen. Besonders die Reichen sprechen immer gern über Kunst, wie die Künstler immer gern über Geld sprechen, zumindest die, die keins haben. Die Exaltierten trugen cremefarbene Anzüge, die Altreichen dezenten Schmuck, die Neureichen auffällige Klunker, teures Standardparfum fast alle. Die Menschen standen in Trauben zusammen und glotzten unverhohlen zu Koons, der mit seinem fitnessgestählten Astralkörper und dem stechenden Blick wie ein postmoderner Gott aussah. In diesem Moment wäre früher die Zeit für ein warmes Bad in der Menge gewesen. Wie hatte ich diese Bäder geliebt! Jetzt hätte ich in diesem Bad erfrieren können.

Mir war schlecht. Die Menschen stierten aus ihren makellosen Gesichtern, weiße Zahnleisten grinsten ins Leere, ich sah nur noch Rücken, durchgedrückte und krumme, dicke und dünne, und stellte mir vor, dass die Gäste nackt vor mir stehen und gewichtige Gespräche führen. Nackt und maskiert. Oder mit Bodypaintings, zu Raubtieren, Lämmern, Affen geschminkt.

Als ich mir ausmalte, wie das Happening Fahrt aufnimmt, kam ein alter Bekannter näher. Ein Galerist, den ich Ende der 80er-Jahre unterstützt hatte. »Schön, dich wiederzusehen, Helge!«, sagte er grinsend. Ich mühte mich zurückzulächeln. Mir war aber flau. Endlich begann das Dinner. Die Gäste eilten in den Saal.

Ich blieb in meiner Ecke und wartete, bis alle verschwunden waren. Statt zum Essen ging ich in die Bar und gesellte mich zu ein paar ehrenwerten Alkoholikern. Bestellte einen Weißwein und hörte, wie Gastgeber Cornelius Tittel übers Mikrofon die Gäste begrüßte. Euphorischer Applaus, als er Koons willkommen hieß, beschämtes Hüsteln und nervöses Gackern, als er »einen guten alten Freund aus Düsseldorf, Helge Achenbach, von dem ihr alle noch viel hören werdet!«, begrüßte.

In diesem Moment wollte ich eigentlich gehen, obwohl das doch sehr nett gemeint war – »ein guter alter Freund!«. Ich blieb, wie festgetackert; ich trank noch ein Glas, bebend, seltsam leer, taumelnd und stocknüchtern, hoffentlich bald betäubt genug, um zu vergessen.

Nach Stunden – oder Sekunden? – legte mir jemand die Hand auf die Schulter. »Helge, warum kommst du nicht rüber? Komm, wir trinken einen! Du musst mir übrigens helfen, wir müssen mal reden, ich möchte meine Sammlung verkaufen, vielleicht fällt dir etwas ein. Du hattest doch immer gute Ideen.« Helfen? Ich war überrascht und ein bisschen gerührt. »Klar kann ich dir helfen, wir können irgendwann reden. Ich werde mir etwas überlegen.« Ich klang wie ein Echo.

Nach dem Gespräch traute ich mich, in den großen Saal zu gehen. Der Gastgeber nahm mich in den Arm, andere Bekannte begrüßten mich, es ging etwas besser – bis der Sammler, der mich eingangs übersehen hatte, mit ausgestreckter Eisenhand neben mir stand. Meine Stimme war jetzt kein Echo mehr, sie kam aus meinem Mund. Leise sagte ich zu ihm: »Früher sind Sie mir nachgelaufen wie ein Hündchen, wollten immer wissen, welches die wichtigeren Bilder sind. Sprechen Sie mich einfach nicht mehr an. Ich bin für Sie ein Verbrecher. Hören Sie auf zu heucheln. Lassen Sie dieses lächerliche Spiel.«

Leider hatte ich kein Affenkostüm dabei. Ihm als Affe gegenüberzustehen und mir grimassierend die Achseln zu kraulen, hätte ich jetzt als angemessen empfunden. Der Sammler, einflussreich und sehr bekannt in der Wirtschaftskaste, wendete sich peinlich berührt ab. Gott sei Dank.

Irgendwann traf ich auf Koons. Er umarmte mich und sagte: »Hey, Helge, schön dich zu sehen. Ich werde nie vergessen, wie du meine erste Puppy-Skulptur für die documenta organisiert hast.« Er wirkte entspannt und locker, wie immer. Kein Wort über meine Geschichte. Seine Worte und die Umarmung taten gut.

Beim Rausgehen ging es mir etwas besser, ich konnte gelassener ein paar Sammler begrüßen, die ich seit Langem kannte. Höfliche Leute, die fragten, ob wir bei Gelegenheit sprechen könnten, in Ruhe natürlich, über Kunst.

Als ich um kurz vor 23 Uhr die Festgemeinschaft verließ, fühlte ich mich wie nach einem Boxkampf, zu dem ich unvorbereitet angetreten war, viele Schläge kassiert hatte, aber nicht K. o. gegangen war. Eine Niederlage in einem Kampf, den ich nicht gewinnen konnte. Aber ich würde mich auch künftig nicht ausknocken lassen, egal was da noch kommen sollte.

Statt ins Hotel zu fahren, nahm ich den Nachtzug nach Düsseldorf. Um 7 Uhr trat ich meinen Dienst bei der Diakonie an, wo ich tagsüber mit jungen Flüchtlingen arbeitete – einen Tag früher als geplant und mit dem Gefängnis abgesprochen.

Um 19 Uhr fiel die Tür meines kleinen Zimmers ins Schloss. Ich verstaute den Maßanzug im Schrank, legte mich aufs Bett und starrte an die Decke. Waren die vergangenen 24 Stunden ein Traum? Oder waren sie wirklich passiert? In wie vielen Situationen meines Lebens hatte ich mir diese Frage gestellt.

3. DIE WOHNUNG UNTER DEM KANINCHENZÜCHTER

Züchtigung, erste Küsse, Traumata

Klafeld-Geisweid, 1963. Klafeld-Geisweid ist ein Ort, den die Welt zu Unrecht nicht kennt. Wikipedia immerhin weiß, dass der berühmte Hühnerforscher Erich Baeumer aus Geisweid kommt, der Flugzeugkonstrukteur Erich Schatzki und der Musikproduzent Dieter Falk. In Klafeld, 1963 umbenannt in Geisweid, gab es zwei große Hüttenwerke. Im Gedächtnis geblieben sind mir arbeitsame, gottesfürchtige Bewohner, mit der Nagelschere geschnittener Rasen, Zucht und Ordnung, Ingeborg und Sybille.

Mein Großvater, Karl Achenbach, hatte einen gut gehenden Handel für Kohle, Öl und Baustoffe, seinen ältesten Sohn Kurt machte er zum Juniorchef. Für seinen jüngsten Sohn, meinen Vater Walter, war kein Platz mehr im Unternehmen. Er arbeitete bei der Deutschen Bahn, als kleiner Beamter.

Ich kam erst sechs Jahre nach der Hochzeit meiner Eltern zur Welt – ungewöhnlich für die Zeit. Ein zweites Kind kam nie infrage. Wir wohnten in einer Wohnung mit Resopaltischen, schweren Teppichen und deutscher Eiche, ich hatte ein eigenes Zimmer in der Mansarde, mein Reich, in das ich mich verkroch, wenn es mal wieder Ärger gab.

Durch den Garten floss der Birlenbach, an dem ich im Sommer Staudämme baute und Steine warf – und der dem sechsjährigen Helge irgendwann im Frühjahr seinen nagelneuen Ball klaute und mit sich riss. Meine Spielkameraden und ich liefen hinterher, holten schließlich die Räder und fuhren kilometerweit stromabwärts, aber es war Hochwasser, der Bach war zu einem Fluss angeschwollen, zu schnell und zu wild. Ich war traurig und wütend – auch, weil ich den Ball geschenkt bekommen hatte und wusste, dass das Ärger gibt, von der Mutter vielleicht mal wieder Schläge mit dem Klöppel.

Ein weiteres kindliches Trauma hat mit Kaninchen zu tun. In der Wohnung über uns wohnte ein Züchter. Manchmal durfte ich zu ihm hoch und seine Tiere streicheln. Irgendwann kam meine Mutter mit einem Tier ohne Haut herunter, das ich nicht gleich identifizieren konnte, und ich fragte nach, was das denn sei. Das sei ein Kaninchen unseres netten Nachbarn, das gebe es als Sonntagsbraten, sagte meine Mutter. Ich weinte und protestierte. Man dürfe doch keine Kaninchen essen, da könne man ja gleich Menschen essen! Aber es half nichts: Am Sonntag musste ich mitessen und würgte voller Wut und Scham ein paar Bissen runter. Auch den Züchter mochte ich danach nicht mehr.

Meine Mutter ließ mich früh wissen, dass sie keinen Widerspruch duldete. Sie, die Tochter eines Gerichtsvollziehers, erzog mich so, wie wohl nicht wenige Kinder in den 50er-Jahren erzogen wurden: wenig Lob, viel Tadel, und wenn nichts half, holte sie den Klöppel hervor. Oft erschien sie mir hart, im Rückblick: verhärtet und nicht im Reinen mit sich selbst. Wenn sie mich anherrschte, meinte sie damit wahrscheinlich eigentlich sich selbst. Wie liebevoll und sanft Mütter sein können, erlebte ich neidisch bei einigen Schulkameraden. Geborgenheit und Sicherheit vermittelte mir eher mein Vater.

Vordergründig verlief das Leben in Klafeld harmonisch, fast idyllisch. Dass Idylle und Grauen oft Nachbarn sind, ahnte ich nur. In der Nachbarschaft gab es eine Schreinerei und einen Lkw-Betrieb, viele Menschen arbeiteten in den Stahlwerken, Arbeitslose gab es kaum. Sonntags ging man in die Kirche. Wenn Geld da war, gab es nach dem Kirchgang einen Braten, zum Beispiel Kaninchen. Nach der Schule spielte ich mit den Nachbarskindern am Bach und in den Feldern.

Früh fühlte ich mich zu den Mädchen hingezogen. Mit sechs oder sieben verliebte ich mich unsterblich in die Nachbarstochter. Sie hieß Ingeborg. Wir erkundeten einander mithilfe von Doktorspielen, pflückten Gänseblümchen, spielten mit den Blüten »Du liebst mich, du liebst mich nicht« und versprachen uns, dass wir später heiraten würden. Vielleicht hätten wir es getan, aber mein Vater wurde irgendwann nach Siegen versetzt und wir zogen um. Auch meine erste richtige Freundin hieß Ingeborg. Als wir von Düsseldorf zu einem Verwandtenbesuch in Siegen fuhren, spazierten Ingeborg II. und ich zu einem Jagdhochsitz, der dort schon stand, als ich in der Volksschule war. Früher aßen wir dort Picknick und hatten Angst, dass der Jäger kommt, jetzt war es ein wunderbarer Platz zum Vögeln.