Carlie Sorosiak

If Birds Fly Back

Über die Liebe
unter Berücksichtigung
allgemeiner Gesetzmäßigkeiten

Aus dem Englischen
von Ulrike Köbele

image

Carlie Sorosiak
wurde in North Carolina geboren und studierte englische Literatur
und kreatives Schreiben in Oxford und London. Zu ihren Lebenszielen
gehört, alle sieben Kontinente zu bereisen. Außerdem ist sie Fan der
Gilmore Girls und verbringt gerne ganze Tage in Museen. Momentan
reist zwischen den USA und Großbritannien hin und her,
wo sie lebt und arbeitet. »If Birds Fly Back« ist ihr Debütroman,
der in mehrere Sprachen übersetzt wurde.

Für meine Eltern, die gesagt haben,
ich könne alles machen

image

1. Auflage 2017
Copyright © Carlie Sorosiak 2017
First published 2017 by Macmillan Children’s Books, an imprint of
Pan Macmillan, a division of Macmillan Publishers International Limited
Für die deutsche Ausgabe: © 2017 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Ulrike Köbele
Umschlaggestaltung: Carla Nagel, unter Verwendung von Bildern
von © Mark Owen/Trevillion Images, © Nicola Smith/Trevillion Images
und © Independent birds/Shutterstock.com
ISBN 978-3-401-80691-4

www.arena-verlag.de
www.twitter.com/arenaverlag
www.faceboook.com/arenaverlagfans

Linny

1.

Wenn du erst mal genügend Filme gesehen hast, erkennst du praktisch sofort, dass sich gleich etwas Wichtiges ereignen wird. Klassische Musik wird zu bedeutungsschwangerem Getöse. Eine Darstellerin beißt sich auf die Unterlippe und blickt vielsagend in den Sonnenuntergang. Alles passiert in Zeitlupe. Hin und wieder schwimmt ein Schwan durchs Bild.

Und im wahren Leben? Gibt es keine Schwäne. Nur so ein kribbeliges Gefühl, das sich im Bauch ausbreitet und von dort langsam in die Hände steigt, bis die Finger ganz taub werden und den Dienst versagen. Genau das passiert gerade.

Ich blinzele und blinzele gleich noch mal, aber er ist immer noch da. Álvaro Herrera. Einer der rätselhaftesten Schriftsteller in der Geschichte des Kinos. Sein Roman Mitternacht in Miami war Vorlage für meinen allerliebsten Lieblings-Kultfilm. Noch vor der Rocky Horror Picture Show, auch wenn das vielleicht schwer zu glauben ist. Sogar noch vor dieser abgedrehten Biografie über einen Mann, der sich nur mit einem Löffel durch Berge gräbt.

Doch ich starre Álvaro nicht an, weil er berühmt ist. Ich starre ihn an, weil er eigentlich tot sein sollte.

Das letzte Mal, dass ihn jemand gesehen hat, war auf einer Party im Art-déco-Viertel von Miami. Und dann, am nächsten Tag – puff! Kein Álvaro weit und breit. Er erschien zu keiner Filmpremiere mehr und auch zu keinen Verabredungen mit Freunden. Drei Jahre blieb er verschwunden, kein Wunder also, dass die Leute irgendwann das Schlimmste annahmen.

Und genau aus diesem Grund glaube ich auch erst, dass ich halluziniere, als er auf zittrigen Beinen vor mir auf dem Parkplatz steht, knapp einen Meter siebzig hoch und mit einem beträchtlichen Bauch. Der Álvaro von heute sieht immer noch aus wie der Álvaro auf dem Foto hinten auf seinem Buch: die gleiche gebräunte Haut, das gleiche strahlende Lächeln, das gleiche schwarze Haar, das ihm wie ein Krähenflügel in die Stirn fällt, nur dass es inzwischen vermutlich gefärbt sein dürfte, immerhin ist er schon … keine Ahnung. Zweiundachtzig? Alt genug jedenfalls, dass er die gleichen weißen orthopädischen Schuhe trägt, die mein Grandpa immer anhatte.

Hinter ihm parkt eine schwarze Limousine und er klopft mit den Fingerknöcheln zweimal gegen den Kofferraum.

Das ist die perfekte Einstellung. Ich erkenne das daran, dass meine Schultern kribbeln (eine Art sechster Sinn, wenn man so will). Wenn ich ganz leicht nach links schwenken würde, könnte ich alles auf einmal aufs Bild bekommen: das Licht, das in schrägem Winkel durch die Blätter der Palmen fällt, das Muschelrosa des Appartementhauses auf der anderen Straßenseite, den vermeintlich toten Filmstar, der gegen den mysteriösen schwarzen Wagen klopft. Jedes noch so kleine Detail ist stimmig, faszinierend, bedeutungsvoll. Die meisten Leute glauben, dass es das große Ganze ist, was beim Film zählt – die Gesamtwirkung. Aber in Wahrheit steckt alles in den winzigen Einzelheiten: dem Funkeln auf der Windschutzscheibe, den Vögeln, die in der Ferne am Himmel kreisen, dem perfekten Rosaton. Dazu irgendeine schnelle Gitarrenmusik, et voilà – fertig wäre der Einstieg zu einer hammermäßigen Doku, die ich zusammen mit meiner Bewerbung an der UCLA einreichen könnte.

Ich sollte auf der Stelle meine Videokamera aus dem Rucksack holen, um das Knirschen der Schritte einzufangen, während Álvaro langsam wie ein Schatten auf den Bürgersteig gleitet. Allerdings habe ich festgestellt, dass es kein wirksameres Mittel gibt, andere Menschen zu verscheuchen, als ihnen unvermittelt eine Kamera ins Gesicht zu halten. (Manchmal schmeißen sie auch mit neonblauem Wassereis nach dir. Auch nicht besser.)

Und ich kann es mir nicht leisten, Álvaro Herrera zu verscheuchen. Nicht jetzt, wo er gerade dabei ist, mein Leben zu verändern.

Dreieinhalb Meter von mir entfernt rudert Álvaro mit dem Arm, als versuche er, nach einem unsichtbaren Gehstock zu greifen. Selbst von hier aus kann ich sein großzügig aufgetragenes Aftershave riechen. Auf dem Banner über uns prangt der Schriftzug »NICHT MEHR DIE JÜNGSTEN, ABER NOCH LANGE NICHT ALT!«. Darunter steht in kleineren Buchstaben: »Wir heißen unsere neuen Bewohner und Ehrenamtler herzlich willkommen.« Er zeigt darauf und sagt zu mir (zu mir!): »Este lugar esta hecha una mierda.«

»Wohl wahr«, sage ich, denn der Laden ist echt Mist. Die Silver-Springs-Seniorenresidenz, ein monströser Betonklotz, der eingezwängt zwischen schicken Appartementblocks am Miami Beach steht, ist nicht gerade ein Luxushotel. Hier und da findet sich noch ein Hauch von Art déco, ein paar Marmorfliesen und bunte, geometrisch angeordnete Mosaike, aber sonst ist nicht mehr viel von der einstigen Schönheit des Gebäudes übrig. Ein Ort, dem man die Seele ausgesaugt hat, hätte Grace wohl gesagt.

Aus Álvaros Mund kommt ein Schwall spanischer Wörter. Ich hebe die Hände, um ihn zu bremsen, und teile ihm mit, dass meine Fremdsprachenkenntnisse nur así-así sind. So la-la. Wegen meiner Hautfarbe und meiner langen dunklen Locken, die sich bei der Luftfeuchtigkeit hier wie irre kräuseln, glaubt alle Welt immer gleich, ich hätte kubanische oder kolumbianische oder puerto-ricanische Wurzeln. Mindestens ein Mal die Woche muss ich meinen gesamten Stammbaum runterbeten, wenn mal wieder irgendjemand Wildfremdes im Supermarkt auf Spanisch auf mich einquatscht. Manchmal kann das echt nerven. Zumal hier, wo selbst die Tankstellen Tacos verkaufen, nicht jeder etwas damit anfangen kann, wenn ich erkläre: »Mein Grandpa war aus Nigeria.«

»Ah, lo siento«, erwidert Álvaro. Wegen der Sonne muss er die Augen zusammenkneifen, wodurch sie halb hinter seinen wollmammutartigen Augenbrauen verschwinden. Dann erkundigt er sich aus irgendeinem Grund nach meinem Namen.

»Marilyn«, antworte ich und strecke die Hand aus, als wäre ich bei einem Vorstellungsgespräch. »Also, Linny.«

Meine Eltern haben mir den Namen in einem Anfall von Sentimentalität verpasst, in Erinnerung an vergangene Weihnachtsfeste, als Uroma Marilyn noch gesund und munter war. Bloß ist er für eine Sechzehnjährige wirklich alles andere als cool. Und das liegt nicht mal daran, dass alle immer sofort an Marilyn Monroe denken. (Okay, alle bis auf meine Eltern; warum sonst hätten sie mir den Namen eines weißen Sexsymbols geben sollen?) Nein, unterm Strich ist »Marilyn« einfach ein Name für ältere Damen mit Schmetterlingsbrillen, für Frauen, die gerne in den Country Club gehen und Sparbriefe kaufen. In die Silver-Springs-Seniorenresidenz – da, wo ich heute meinen Dienst als ehrenamtliche Betreuerin anfange –, da passt »Marilyn« hin.

Mir ist Linny lieber.

»Marilyn Alsolinny«, wiederholt er, als versuche er, die Worte zu schmecken. Die Art, wie sich seine Zunge um die Silben rollt, ist einfach wunderschön. Es klingt wie eine ganz neue Sprache.

»Einfach nur Linny«, sage ich.

Er schüttelt mir die Hand, seine Haut fühlt sich an wie eine Lage Papierhandtücher. »Sag mal. Musst du nicht in der Schule sein jetzt?«

»Äh, es ist Juni … Sommerferien«, erwidere ich.

Er lässt die Worte eine Weile in der Luft hängen und sieht sich um, als wolle er sich vergewissern, dass wirklich Sommer ist. »Sí«, meint er schließlich, »das ist wahr.«

Von Nahem erkenne ich eine frisch genähte blitzförmige Narbe über seinem linken Auge. (Wo hat er die bloß her?) Der Rest seines Gesichts sieht wie zähflüssig aus, als würde es langsam, aber sicher von seinem Schädel rutschen, und die Haut an seinen Armen hängt so schlaff herunter, dass er vermutlich nur ein-, zweimal damit schlagen müsste, um davonzufliegen. Er trägt ein Hemd mit Flamingos darauf. Es ist bis fast zum Bauchnabel aufgeknöpft und gibt einen unangenehm intimen Blick auf seine beachtliche Bräune und einen Wald schwarzer Brusthaare frei. Ich frage mich, ob er die wohl auch färbt.

Und dann frage ich mich, warum ich gerade allen Ernstes über Brusthaare nachdenke. Aber es sind einfach so … viele.

Konzentrier dich, Linny. Konzentrier dich! »Sie sind Álvaro Herrera«, sage ich.

Er lacht. »Sí.«

»Und Sie werden jetzt hier wohnen?«

»Desafortunadamente.«

»Ja, leider. Aber ich wüsste gerne, warum Sie zurückgekommen sind.«

Er lägt den Kopf schief, zieht einen Zigarillo aus seiner Brusttasche und angelt nach Streichhölzern. »Du stellst viele Fragen.«

»Oh. Tut mir leid, ja. Sorry. Es ist nur …« Nur was? Wie soll ich ihm das bloß erklären?

Ein Chauffeur steigt aus dem geheimnisvollen Wagen, wuchtet einen Koffer aus dem Kofferraum und kommt auf uns zu. Er hält Álvaro einen Arm hin. »Nach Ihnen, Sir«, sagt er.

Álvaro winkt mir zum Abschied, aber ich folge ihnen. Natürlich folge ich ihnen.

Denn die Sache ist die: Vor fünf Monaten ist meine achtzehn Jahre alte Schwester Grace aus ihrem Schlafzimmerfenster geklettert und ich habe sie seither nicht mehr gesehen. (Damals gab es übrigens auch keine Schwäne; sie ist einfach eines Nachts heimlich, still und leise verschwunden, als hätte sich ein Riss im Himmel aufgetan und sie verschluckt.) Seitdem komme ich mir vor wie ein aussortiertes Möbelstück, das jemand für den Sperrmüll an den Straßenrand gestellt hat. Ich habe alles Mögliche versucht, um sie zurückzuholen: Ich rief in den Städten, in denen ich sie vermutete, in sämtlichen Motels an, ich überprüfte ihre Kreditkartenabrechnungen, lud Fotos von ihr auf Websites für vermisste Personen hoch und kontrollierte regelmäßig, ob sie ihr Handy wieder eingeschaltet hatte. Drei Tage lang ging die Polizei in Grace’ Zimmer ein und aus. Meine Eltern klammerten sich aneinander. Wir sind nicht besonders gläubig, aber damals haben wir gebetet.

Doch nichts geschah.

Also fing ich an, eine Art Tagebuch über all die Leute zu führen, die verschwunden und zurückgekehrt waren. Zu behaupten, ich sei besessen, ist in etwa dasselbe, wie zu sagen, Martin Scorsese sei ein ganz passabler Regisseur (sprich: die Untertreibung des Jahrhunderts). Ich verbringe einen beträchtlichen Teil meiner Zeit damit, das Internet nach Geschichten über Menschen zu durchstöbern, die auf mysteriöse Weise zurückgekommen sind. Andere Leute haben Hobbys wie Beachvolleyball oder Krocket – ich habe Filme und mein Tagebuch der Wiederkehr. Ich habe mir überlegt: Wenn ich herausfinden kann, warum manche Menschen zurückkehren, dann fällt mir vielleicht auch ein, wie ich Grace nach Hause holen kann. Bis gerade eben habe ich allerdings noch nie miterlebt, wie jemand wiederaufgetaucht ist. Für mich ist Álvaros Erscheinen mehr als nur ein Wunder. Es ist mein Wunder, denn wenn er in diese Welt zurückkehren kann, kann meine Schwester es auch.

Und sie wird es auch. Da bin ich mir sicher, so sicher, wie ich mir noch bei nichts anderem war.

Als wir in der Grundschule waren, lag im Zimmer unserer Freundin Cass ein riesiger Teppich mit einer Weltkarte auf dem Boden. Jeden Tag nach der Schule nahmen wir drei uns bei den Händen, schlossen die Augen und drehten uns auf dem Teppich im Kreis. Wir schworen uns, dass wir irgendwann zusammen dorthin reisen würden, wo unsere Füße stehen bleiben würden, wo auch immer das sein mochte. Turkmenistan, der Tschad, ein Punkt irgendwo mitten im Indischen Ozean – ganz egal. Unmittelbar bevor wir anfingen, uns zu drehen, drückte Grace meine Hand immer extrafest, um sicherzustellen, dass sie nicht ohne mich davonfliegen würde.

Daher weiß ich, dass sie zurückkommen wird.

In der Lobby der Silver-Springs-Seniorenresidenz stellt der Chauffeur das Gepäck mit einem höflichen »Hier wären wir, Señor« ab und Álvaro drückt ihm einen Fünfzigdollarschein in die Hand.

Álvaro geht zu der Pflegekraft hinter dem Empfangstresen und verkündet: »¡Estoy aquí!«

Ein violettes Namensschild auf dem üppigen Busen der Pflegekraft weist sie als »Marla« aus und verkündet, dass sie »Immer Für Sie Da« ist. Ihr Gesichtsausdruck, der an eine schlecht gelaunte Schildkröte erinnert, lässt anderes vermuten. Ein extragroßer Frühstücksburrito liegt angebissen neben ihrer Tastatur. »Schätzchen«, sagt sie. »Ach herrje, Schätzchen. Burrito und hola sind die einzigen spanischen Wörter, die ich kenne. Versuchen wir es doch noch mal auf Englisch.«

»Hier bin ich«, wiederholt er.

Marla antwortet: »In Ordnung, Schätzchen. Ich hole nur schnell Ihr Willkommenspaket und was Sie sonst noch brauchen und dann können wir …«

Doch Álvaro hat sich bereits abgewandt und schlurft davon. Sein Gepäck bleibt wie bestellt und nicht abgeholt in der Lobby zurück. Eine Schwesternhelferin läuft ihm nach und ruft: »Señor Herrera! SEÑOR HERRERA!«

Marla rollt ihren Stuhl zurück, wodurch ihre Figur, die in etwa einem Gymnastikball ähnelt, noch deutlicher zutage tritt, und wirft mir über den Tresen hinweg einen Blick zu. Ihre Finger glänzen vor Burritofett und sie leckt sie einen nach dem anderen ab, während sie mich fragt: »Kann … ich … dir … helfen?«

Oh, richtig. Ich bin ja auch noch da. Und wirke wahrscheinlich ziemlich suspekt, wie ich hier in der Gegend rumstehe. Nervös zupfe ich an meinem weißen T-Shirt. »Äh, ja, bitte. Ich bin eine von den neuen Ehrenamtlichen. Linny Carson.«

»Ah!«, erwidert sie etwas freundlicher. »Eine von diesen Highschool-Weltverbesserern. Ist es schon wieder so weit? Nicht zu glauben, wie die Zeit vergeht!« Sie schnappt sich ein Klemmbrett und überfliegt eine Liste. »Ich hab hier eine Marilyn Carson. Bist du das, Schätzchen?«

Ich nicke zögerlich, während ich mir gleichzeitig fast den Hals verrenke, um Álvaro hinterherzusehen. Ist er nach rechts abgebogen oder nach links?

»Neben euch fleißigen Bienchen muss ich mich glatt schämen!«, ruft Marla. »Als ich in eurem Alter war, hingen wir zu Hause in Georgia immer nur am Strand rum.« Sie bedeutet mir, meinen Rucksack hinter dem Empfangstresen abzustellen, und dann, ihr zu folgen. Ich trotte hinter ihren wackelnden Pobacken her.

Der Grundriss des Silver Springs erinnert an einen Oktopus – es gibt einen riesigen Mittelteil, von dem aus Flure wie Tentakel in alle Richtungen abzweigen. Die Gänge sind eng, klaustrophobisch und verwirrend. Die ganze Zeit hoffe ich, dass wir hinter der nächsten Ecke auf Álvaro Herrera treffen werden, der sich verlaufen hat und uns auf Spanisch nach einer Karte fragt, aber wir begegnen auf dem gesamten Weg nur vier oder fünf Bewohnern. Wie aufs Stichwort erklärt Marla: »Die meisten sitzen draußen am Pool und brutzeln in der Sonne. An Tagen wie heute bringen wir sie immer raus. Sollen ja schließlich auch ein bisschen Sonnenschein abkriegen!« Sie zieht am Ausschnitt ihres Oberteils. »Diese Arbeitsklamotten sind kein bisschen atmungsaktiv! Ich schwitz mich kaputt. Schwitzt du auch so?«

Zwischen meinen Brüsten bahnt sich ein nicht enden wollendes Rinnsal seinen Weg. Die sommerlichen Temperaturen haben mal wieder ein Niveau erreicht, bei dem die Vorstellung, in einer Nudistenkolonie zu leben, einen gewissen Reiz bekommt. Das hier ist Florida, würde ich ihr am liebsten antworten. Hier schwitzen alle.

Ein Schwall sengend heißer Luft schlägt uns entgegen, als wir in den Innenhof treten. Mindestens hundert Bewohner sitzen auf der Betonfläche verstreut herum. Schon mal Der Gefangene von Alcatraz gesehen? Irgendwie erinnert mich das Silver Springs an einen Gefängnisfilm. Es gibt einen Pool, aber niemand schwimmt darin. An der hinteren Mauer befindet sich ein verblasstes Wandgemälde, das den Ozean zeigt und bei dessen Anblick ich mich unwillkürlich frage, wann die Leute hier wohl zum letzten Mal den echten Strand gesehen haben. Dabei liegt er gerade mal zwei Blocks entfernt.

Marla sagt, dass ich mich die nächsten drei Stunden bei allen hier im Innenhof vorstellen und mich schon mal »ein bisschen mit ihnen anfreunden« soll. Sie drückt mir einen Aufkleber mit der Aufschrift ICH BIN EHRENAMTLER in die Hand und ergänzt: »Mein Burrito wird kalt. Kommst du hier klar?«

Gute Frage. Ich nicke vage, doch alles, woran ich denken kann, sind die Bewohner, die hier im Hof liegen und tief und fest schlafen, während die Sonne sie langsam mumifiziert. Sie sind einfach zurückgelassen worden, genau wie ich. Ihre Kinder – vielleicht auch ihre Enkel oder Ehepartner – haben sie hier abgeladen und sich aus dem Staub gemacht.

In Filmen liebe ich diese Art von Drama (komplizierte Verwicklungen, vermeintlich unüberwindbare Hindernisse, schwierige Beziehungen), aber im wahren Leben finde ich das alles andere als toll. Was ich allerdings auch erst begriffen habe, als das Drama sich in unsere Familie geschlichen, uns auf die Schultern geklopft und uns eine große Portion Trauer in den Schoß gekippt hat.

Hey, Moment mal.

Die Zurückgelassenen. Das wäre doch eigentlich ein ziemlich cooler Titel für mein Drehbuch, das ich vor ein paar Monaten zu schreiben angefangen habe. Das Drehbuch ist meine Art zu verarbeiten, was mit meiner Familie passiert ist, mit Grace und mit mir. Okay, das klingt jetzt vielleicht ein bisschen kitschig, aber seit meine Schwester verschwunden ist, läuft mein Leben praktisch in Schwarz-Weiß. Wie so ein guter, alter Filmklassiker, nur ohne die schönen Szenen. Wäre mein Leben ein Fernsehsender, würden rund um die Uhr nur traurige Filme laufen.

Ich bin überzeugt, dass Grace alle Farben mitgenommen hat, als sie verschwunden ist.

Ich bin überzeugt, dass Álvaro mir helfen kann, die Farbe zurück in mein Leben zu bringen.

Einstieg:

GRACE’ ZIMMER – SPÄTABENDS

Der Raum ist hell und auffallend bunt: leuchtende Grün-, Gelb- und Blautöne.

Am Himmel ist der Vollmond zu sehen, als GRACE mit umgehängter Gitarre das Fenster öffnet und hinausklettert. Sie stellt eine Blechdose aufs Fensterbrett, an der ein langer Faden befestigt ist. In der Hand hält sie eine weitere Dose. Als sie runterspringt, breiten sich über ihrem Sommerkleid gelbe Flügel aus.

Im nächsten Moment ist sie verschwunden.

Sämtliche Farben im Raum verblassen, bis alles nur noch schwarz-weiß ist.

Unbestimmte Zeit später tritt LINNY ins Bild. Wie hypnotisiert hebt sie die Blechdose auf und flüstert hinein.

LINNY

Wo bist du?

(Pause)

Grace? Wo bist du?

Nach einer weiteren Pause ist GRACE’ Stimme zu hören.

GRACE

Weißt du noch, wie Mom uns früher immer aus Wo die Wilden Kerle wohnen vorgelesen hat?

LINNY

Ja?

GRACE

So ist es kein bisschen.

LINNY

Oh.

GRACE

Hey, Kopf hoch.

LINNY

Ich kann nicht. Es ist, als würdest du hundert Mal am Tag verschwinden.

GRACE

Wie meinst du das?

LINNY

Ich putze mir die Zähne oder wasche meine Wäsche oder lackiere mir die Fußnägel und plötzlich explodiert in meiner Brust eine Erinnerung an dich, so heftig und plötzlich wie ein Feuerwerkskörper.

GRACE

(mitfühlend)

Klingt schmerzhaft.

LINNY

Ist es auch. Zum Beispiel muss ich daran denken, wie du früher sämtliche Töpfe und Pfannen aus den Küchenschränken geräumt hast, um dir daraus ein Schlagzeug zu basteln, während ich mit Kreide auf dem Gehweg ein Publikum für dich gemalt habe – pinke und grüne Kringel, die jeder für einen deiner Fans standen. Oder wie du damals, als ich sechs war und du acht, angefangen hast, dir im Ballettunterricht das Hinterteil deines Trikots zwischen die Pobacken zu klemmen. Du hast den Stoff so hoch gezogen, wie du nur konntest, und bist dann zum Spiegel gewatschelt und wolltest, dass ich es auch mache. Ich möchte mit dir darüber lachen – und dann trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag, so fest, dass mir fast das Herz stehen bleibt. Jedes Mal wieder. Denn du liegst nicht im Garten in der Hängematte und balancierst ein Buch wie In die Wildnis auf den Knien. Du sitzt nicht im Proberaum der Schule am Klavier und gibst mit deinem musikalischen Talent an, während sich eine Schar von Jungs um dich drängt, um einen Hauch von deiner Grüner-Apfel-Bodylotion zu erhaschen. Und offensichtlich planst du gerade auch keine ausgedehnten Reisen nach irgendwo mitten im Indischen Ozean mit mir oder klopfst an die Wand zwischen unseren Zimmern, weil es zwar schon zwei Uhr nachts ist, du aber viel zu aufgedreht bist, um zu schlafen.

(Pause)

Grace?

LINNY lässt die Dose sinken, steckt den Kopf aus dem Fenster und sieht hinauf in den Himmel.

LINNY

(wütend)

Grace?

Die Szene bricht ab und läuft rückwärts bis zum Anfang zurück.

Sebastian

2.

»Natürlich ist dunkle Materie unsichtbar. Aber dadurch ist sie nicht weniger real.« Aus Astrophysische Kuriositäten auf einen Blick von Professor Boris P. Mangum, S. 8

Siebzehn Jahre lang habe ich mir Geschichten über meinen Vater ausgedacht. Der Kerl ist abgehauen, bevor ich auf die Welt kam – das ist alles, was ich über ihn weiß. Dass er gegangen ist.

Also dachte ich: Vielleicht ist er ein Physiker.

Oder ein Thunfischfischer wie im Discovery Channel.

Oder ein Archäologe, der in einer anderen Dimension gefangen ist.

Folgende Formel habe ich an den Rand meines Lieblingsbuchs gekritzelt:

THEORIE ÜBER ABWESENDE VÄTER #1:
Unsichtbarkeit erfordert Vorstellungskraft.

x + y = z, wobei x = Hinweise, y = Geschichten und z = wer er ist

Mom hat meine Vermutungen weder bestätigt noch ihnen widersprochen. Sie sagte immer so was wie: »Sebastian, kann das warten?«

»Sebastian, nicht beim Essen, mi amor.«

»Sebastian, wir reden später darüber.«

Also fing ich an, mir meinen Dad aus einer Reihe von Möglichkeiten zusammenzusetzen. Ich sammelte Hinweise. Fakten. Wie zum Beispiel die unbeschriebene Postkarte aus Italien auf Moms Nachttisch, die ganz klar darauf hindeutete, dass mein Dad ein venezianischer Gondoliere war. Oder der Baseball hinten in ihrem Schrank, der praktisch bewies, dass mein Vater Profisportler war.

Aus den Hinweisen wurden Geschichten. Ich kam zu dem Schluss, dass mein Vater nicht weniger real war, nur weil ich ihn nicht sehen konnte. Er war so real wie mein Stiefvater Paul, der (zufälligerweise) nicht in der Lage ist, einen Baseball mit hundertvierzig Kilometern pro Stunde zu werfen.

Jetzt ist es halb elf Uhr morgens und ich lümmele in unserem zurückkippbaren Sessel im Wohnzimmer und kaue auf einer Scheibe Toast mit Erdnussbutter herum. Paul biegt in seinem schwarzen Anzug um die Ecke. Bleibt stehen und sieht mich überrascht an. »Sag bloß, du hast es dir anders überlegt, Kumpel.«

Ich massiere den schmalen Streifen über meiner Oberlippe. »Ich – äh – das sind nur ein paar Stoppeln.«

Paul ist Hubschrauberpilot und ein großer Freund von Schnurrbärten. Ich glaube, ich habe ihn noch nie so enttäuscht gesehen wie letzte Woche, als ich ihm sagte, dass ich mir keinen Schnurrbart wachsen lassen wollte. Er hat eine richtige Bürste unter der Nase und sieht aus, als wäre er jederzeit bereit für eine Runde Rodeo.

»Ach so«, meint Paul und wirkt enttäuscht. »Na ja, wenn du es dir doch mal anders überlegst, kannst du dir gerne mein Pflegeset ausleihen.«

Der Typ hat ein Pflegeset für Schnurrbärte.

Ich bete nur, dass mein richtiger Vater nicht auch so ein Teil besitzt.

Ich recke den Daumen in die Höhe und wende mich wieder meinem Toast zu. Es ist nicht so, dass Paul ein schlechter Kerl wäre. Er hat bloß diesen Blick drauf, den er speziell für mich reserviert hat. Als wäre er ein Biologe, der versucht, eine außerirdische Lebensform zu klassifizieren. Er kneift dann immer die Augen zusammen und man kann ihm seine Gedanken förmlich vom Gesicht ablesen: Wo kommst du her und was zur Hölle sollen wir mit dir anstellen? Im Gegensatz zu mir ist Paul kräftig und muskulös und hat ein Faible für alle möglichen Kampfsportarten. Mein bester Freund Micah und ich erzählen einander oft Chuck-Norris-Witze, in denen wir Chuck Norris durch Paul ersetzen.

Während ich in der einen Hand den Teller mit meinem Toast balanciere, ziehe ich mit der anderen mein Handy aus der Tasche (dabei die Balance zu halten, ist eine Kunst) und schreibe Micah: Wenn Paul Liegestütze macht, drückt er sich nicht nach oben, er drückt die Erde nach unten.

Die Antwort kommt prompt: Paul ist der einzige Mensch, der es schafft, ein Tennismatch gegen eine Mauer zu gewinnen.

Ha. Der war gut.

Ich höre, wie Paul den Motor seines BMW in der Einfahrt aufheulen lässt – und gleich darauf mit quietschenden Reifen davonfährt. Ich schalte den Fernseher an. Auf dem Naturwissenschaftssender erzählt Morgan Freeman mit seiner sonoren Märchenonkelstimme etwas über Wurmlöcher. Im Flur baut mein fünf Jahre alter Halbbruder Luís seine Spielzeugsoldaten auf. Sieben von denen lagen heute Morgen beim Aufwachen in meinem Bett, wo sie über Nacht auf meinem ganzen Körper Abdrücke hinterlassen haben. Am Hintern. An meinem Ellenbogen. Links am Hals. Außerdem hatte ich Knete im Haar. Anscheinend schlafe ich den tiefsten Tiefschlaf aller Zeiten.

Luís brüllt wie ein Löwe und schlägt nach seinen Soldaten. Sie fliegen in alle Richtungen davon und knallen gegen die Wand.

In letzter Zeit ermahnt mich Mom immer, wenn ich mich mit Micah treffe, dass ich wertvolle Geschwisterzeit mit Luís verpasse. »Wenn du erst mal auf dem College bist, kriegen wir dich doch kaum noch zu Gesicht.« Was sie nicht weiß: Man kann jemanden von ganzem Herzen lieben und trotzdem hassen. Dass ich im Herbst auf die Cal Tech gehen werde, fühlt sich an, als würde mir jemand einen Platz in einem Rettungsboot anbieten.

Vielleicht bin ich immer noch wütend, weil ich der Letzte war, der davon erfahren hat. Paul hat meine Mom vor sechs Jahren geheiratet, unmittelbar bevor sie schwanger wurde. Der Hochzeitstermin stand eines Tages in unserem Familienplaner, ohne dass Mom ihre Heiratspläne bis dahin überhaupt nur erwähnt hatte, und das mit Luís bekam ich zufällig mit, als Mom der Kassiererin im Fiesta Mart von ihm erzählt hat. So fand ich heraus, dass ich einen kleinen Bruder bekommen würde. Durch eine mitgehörte Unterhaltung im Supermarkt. Als Mom und Paul mit Luís aus dem Krankenhaus kamen, wirkten sie so – ich weiß auch nicht. Vollständig? Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass mir diese Art von Liebe fehlte, bis ich sie auf einmal direkt vor der Nase hatte. Luís mit seinen beiden Eltern. Luís mit seinem Dad.

Plötzlich verspüre ich das dringende Bedürfnis, auf irgendetwas einzuschlagen.

Das Telefon klingelt und Mom ruft: »¡Lo consequiré!« Und dann noch mal auf Englisch: »Ich geh ran!« Ich hasse es, wenn sie das macht. Vor Paul haben wir hier im Haus nur Spanisch gesprochen. Freitags gab es ropa vieja zum Abendessen. Und dann rollten wir alle Teppiche im Wohnzimmer beiseite, damit Mom mir Salsa beibringen konnte.

In der Küche: Moms Stimme. Sie lacht nicht. Normalerweise lacht sie am Telefon immer – selbst wenn mal wieder ein Verkäufer dran ist, der versucht, ihr irgendwelchen Quatsch anzudrehen. Vielleicht ist es ihr Chef, der wissen will, ob sie im Diner noch eine Schicht übernimmt. Eine Schranktür knallt zu.

Luís hat sein gesamtes Regiment dem Erdboden gleichgemacht und richtet seine Aufmerksamkeit nun auf den Fernseher.

NICHT umschalten. Morgan Freeman schaltet man nicht weg!

Gerade als Luís anfängt, auf der Fernbedienung herumzudrücken, kommt Mom ins Wohnzimmer. Sie hält immer noch das Telefon in der Hand. Ihr Gesicht ist nass. Ihre Stimme erinnert mich an einen sterbenden Dinosaurier. »Luís« – ersticktes Räuspern – »ich muss mal mit Sebastian reden. Allein.« Als mein kleiner Bruder sich nicht rührt, schreit sie: »Luís, ándale, ándale!« Und dann verliert sie noch mehr die Fassung, weil ihr einfällt, dass er die Sprache nicht versteht. Schließlich kapiert er doch, was Sache ist – der Ausdruck auf ihrem Gesicht sagt mehr als tausend Worte –, und verkrümelt sich.

Währenddessen hängt mein Herz irgendwo auf Höhe meiner Kniekehlen.

»Äh, was gibt’s«, frage ich nervös und stecke mir das letzte Stück Erdnussbuttertoast in den Mund.

Ihre dunklen Locken stehen in alle Richtungen ab. Sie wirkt verwirrt und reibt sich die Augen. »Du kennst doch den Mann, der dieses Buch über Miami geschrieben hat?«

Geht’s ein bisschen genauer?, will ich fragen. Aber mir klebt ein dicker Batzen Erdnussbutter am Gaumen. Daher klingt das, was aus meinem Mund kommt, eher wie: »Gag’ch an bigch gegggg?«, gefolgt von einer Reihe seltsamer Grunzlaute, weil ich versuche, besagte Erdnussbutter irgendwie von besagtem Gaumen zu lösen.

Dann lässt sie die Bombe platzen. Hiroshimamäßig.

»Álvaro Herrera. Er ist dein Vater. Oh Gott. Oh Gott.«

Ich schnappe nach Luft. Dadurch rutscht mir der Erdnussbutterklumpen in den Hals und bleibt dort stecken. Ich weiß nicht mal, wer Álvaro Herrera überhaupt ist, aber ich kann nicht glauben, dass sie endlich mit der Sprache rausrückt. Und noch weniger kann ich glauben, dass ich gerade ersticke!

»Sebastian?«, sagt Mom. »Sebastian!«

Ich stürze nach vorne, raus aus dem Sessel, und falle auf alle viere. Mom haut mir mit der Hand auf den Rücken – sechs Mal, wenn ich richtig mitgezählt habe –, bis ich einen Brocken Toast auf den nagelneuen Teppichboden huste. Er hat in etwa die Form von Michigan.

»Oh mein Gott«, krächzt Mom und sinkt neben mir auf die Knie. »Oh mein Gott, Sebastian.«

Mein Hals ist ziemlich gereizt, aber das hält mich nicht vom Sprechen ab. »Wer … ist … er?«

Sie schlägt die Hände vors Gesicht. »Du kennst ihn nicht?«

Ich schüttele den Kopf. Hier drin ist es auf einmal so warm.

»Er ist ein – na ja, ein Schriftsteller. Mitternacht in Miami. Von dem Film hast du vielleicht schon mal gehört. Er hat die Romanvorlage geschrieben.«

Ich fahre hoch. »Der Typ? Ist der nicht tot?«

»Er lebt noch, Sebastian.«

»Warte. Wer war das gerade am Telefon?«

»Deine Tante Ana. Sie arbeitet in der Geriatrie, weißt du noch? Über ihre Verbindungen zu den Altersheimen hat sie irgendwie erfahren, dass er wieder da ist, und ich …« Sie holt tief Luft. »Jemand hat ihn in Miami gesehen.«

»In einem Altersheim? Wie alt ist der Typ? Weißt du, was – ist mir egal. Ich fliege nach Miami.«

»Ganz sicher nicht!«

Verwirrt runzle ich die Stirn. »Was?«

»Ich sagte: Ganz. Sicher. Nicht!« Sie sieht zur Zimmertür. Auf dem Flur steht Luís und linst herein. Wir müssen einen ziemlichen Anblick abgeben, wie wir da auf dem Teppich knien, Mom kurz vorm Heulen und ich zusammengekrümmt wie ein verängstigtes Äffchen.

»Warum hast du es mir denn dann verflucht noch mal erzählt?«, frage ich.

»Sebastian! Achte auf deine Wortwahl.«

»Na schön. Warum hast du es mir denn dann vermaledeit noch mal erzählt?«

»Darum!« Sie wirft die Hände in die Luft. »Weil ich Angst hatte, dass du mich noch mal nach ihm fragst und ich … Ich bin in Panik geraten, okay?« Sie deutet auf den Fernseher. »Was, wenn es in den Nachrichten kommt? Was, wenn ich morgen hier reingekommen wäre und du ihn im Fernsehen gesehen hättest und ich dich hätte anlügen müssen?«

Meine Stimme klingt plötzlich schärfer als beabsichtigt. »Inwiefern ist das anders als das, was du mein ganzes Leben schon gemacht hast?« Wäre ich mal wieder der Letzte gewesen, der davon erfahren hätte?

»Hey. Das ist nicht fair. Ich habe das nur getan, um dich zu beschützen.«

»Wovor?« Ich zeige auf den Fernseher, als würde Álvaro Herrera jeden Moment herausspringen. »Vor einem Kerl in einem Altersheim, dem ich noch nie begegnet bin?«

»Sí!«, schreit sie. »¡Exactamente! Ganz genau! Er hat mich verlassen, Sebastian. Verstehst du?«

»Nein! Ich verstehe überhaupt nichts. Wie denn auch, wenn du mir nie was erzählst?«

Sie beißt die Zähne zusammen. »Also schön. Wir haben uns bei einem Filmfestival kennengelernt, bevor ich nach Kalifornien gezogen bin. Ich habe gerade versucht, meine Schauspielkarriere in die Gänge zu bringen, und Álvaro – er hat meinen ersten Film gesehen. Es war nur eine kleine Rolle, aber er meinte, ich sei gut gewesen, und dann führte eins zum anderen. Vier Monate später hat er mir einen Antrag gemacht. Er hatte einen Ring, Sebastian – Pläne für die Hochzeit, das volle Programm. Und dann ist er einfach gegangen. Ich war mit dir schwanger, aber er … er hat es nie erfahren. Nachdem er mich verlassen hatte, fand ich, er hätte nicht das Recht dazu.«

Das ist furchtbar. Einfach nur furchtbar. Trotzdem …

»Es tut mir leid«, sage ich leise und stehe auf. »Es tut mir wirklich leid, was da passiert ist. Aber nur, weil er dich verlassen hat« – sorgfältig wähle ich die Worte – »heißt das nicht, dass ich ihn nicht kennenlernen darf. Vielleicht hat er sich ja geändert.«

Mom klingt so müde. »Die Menschen ändern sich nicht.« In der Theorie gibt es für alles eine Erklärung. Deswegen liebe ich Physik. Wenn man wissen will, warum eine Ananas und ein Schinken-Käse-Baguette gleich schnell nach unten fallen, wenn man sie vom Dach eines Gebäudes wirft, hat die Physik darauf eine logische Antwort. Außerdem gibt es haufenweise Theorien mit herrlich bescheuerten Namen. Zum Beispiel den »Satz vom gekämmten Igel«. Kein Witz.

Allein letztes Jahr habe ich Astrophysische Kuriositäten auf einen Blick von Dr. Boris P. Mangum ganze sieben Mal gelesen. Ich schreibe meine eigenen Theorien an den Rand. Über physikalische Phänomene, aber auch über all die Rätsel in meinem eigenen Leben.

Mein Gedanke war: Wenn ich eine Erklärung für die Mysterien des Universums finden kann, dann finde ich doch wohl erst recht eine Lösung für das Rätsel um meinen Dad.

Und: Für alles auf der Welt sollte es eine rationale Erklärung und sinnvolle Ordnung geben.

Sollte ist hierbei das entscheidende Wort.

Einen Thunfischfischer hätte ich verstanden. Ich hätte auch verstanden, wenn mein Vater in einer anderen Dimension festgesessen hätte. Einen zweiundachtzigjährigen vermeintlich toten Kultfilmstar hatte ich dagegen nicht mal auf dem Schirm.

THEORIE ÜBER ABWESENDE VÄTER #2:
Das Ende der Unsichtbarkeit steht in direktem Zusammenhang mit dem Beginn der Komplikationen.

Den ganzen Morgen sitze ich in meinem Zimmer und google Álvaro Herrera. Ich stoße auf eine Website namens findalvaro.com, wo jemand vor drei Stunden einen neuen Eintrag hinterlassen hat: Silver Springs, Miami, FL. Ich schwöre, das ist er. Darunter stehen bereits fünfundzwanzig Kommentare, die sich alle mit: Echt jetzt? Mach ein Foto! zusammenfassen lassen.

Als ich »Álvaro Herrera« in der Bildersuche eingebe, erhalte ich dreißigtausend Treffer.

Álvaro auf dem Hollywood Boulevard.

Álvaro in Havanna.

Álvaro am Set von Mitternacht in Miami.

Ich überfliege einige der dazugehörigen Artikel. Darin steht, dass er keine Kinder hat. (Falsch. Bin ich das einzige?) Dass Warner Bros. seinen Roman Mitternacht in Miami 1962 verfilmt hat. Darin geht es um einen Barkeeper namens Eduardo Padilla, der in einen Spionagering verwickelt wird. Man sieht darin den Ansatz einer weiblichen Brust, aber mehr nicht an nackter Haut. Álvaro hat einen kleinen Gastauftritt.

Wie es scheint, interessieren sich vor allem Leute für Álvaro, die auch eine gewisse Besessenheit für Bigfoot, Bat Boy und Elvis an den Tag legen. Berühmt ist er zwar. Aber vor allem bei Verschwörungstheoretikern, Hardcore-Filmfreaks, Fans der kubanischen Literatur und innerhalb der lateinamerikanischen Community. Ich schätze, fünfundneunzig Prozent der Bevölkerung würden ihn nicht unbedingt erkennen. Und diejenigen, die ihn erkennen, wollen ihn vermutlich gleich zum Abendessen einladen. Eine Milliarde Fotos schießen. Seine Unterwäsche klauen oder so was.

Nach dem fünfzehnten Artikel steht meine Entscheidung fest. Ach was, eigentlich stand die schon fest, als Mom mit seinem Namen rausgerückt ist.

(Das ist übrigens Teil meines Problems. Ich mache immer alles viel zu schnell. Ganz ehrlich, in meinem System gibt es nur einen Knopf: Los. Irgendwer muss vergessen haben, die Bremsen zu installieren.)

Ich rufe die Homepage der Silver-Springs-Seniorenresidenz auf. Als Erstes ist ein Foto von einem in Weiß und verblichenem Blau gestrichenen Gebäude zu sehen, das von Palmen umringt ist. Ein bescheuerter sprechender Flamingo flattert ins Bild und bietet mir einen virtuellen Rundgang an. (Ich wünschte, das wäre ein Witz. Aber so was kann man sich nicht ausdenken.) Ich folge dem Flamingo also auf die Seite für ehrenamtliche Helfer und fülle ein Formular aus. Bähm! Zwölf Minuten später erhalte ich eine E-Mail, die mir mitteilt, dass meine Bewerbung erfolgreich war. Ich kann morgen anfangen.

Nächster Schritt: Flugtickets.

Das ist der schwierigste Teil, weil ich nämlich vollkommen pleite bin. So pleite, dass ich nicht mal mehr Kleingeld in der Sofaritze finden würde. Es gibt nur eine Lösung: Ich muss meine Sammlung chinesischer Fossilien im Internet verkaufen. Ich gebe jedem einzeln einen Abschiedskuss, bevor ich sie verpacke und an den Höchstbietenden verschicke. Dann kaufe ich mir für tausend Dollar ein Last-Minute-Flugticket von Los Angeles nach Miami, ohne Rückflug. In sieben Stunden geht es los.

Mein Magen schlägt einen Purzelbaum.

Wenn ich gelandet bin, werde ich Tante Ana anrufen. Ich habe sie schon unzählige Male getroffen: jedes Jahr zu Weihnachten und ein paar Mal auch an Ostern. Sie ist cool. Hoffentlich so cool, dass ich die nächsten Wochen bei ihr auf dem Sofa schlafen kann.

Mom klopft immer wieder an meine Tür. Sie kommt nie unangekündigt rein, seit … seit der einen Sache damals. Ich setze meine Kopfhörer auf – ich besitze Astrophysische Kuriositäten auf einen Blick auch als Hörbuch – und beginne eine Runde Wer-zuerst-wegsieht mit dem Poster über meinem Bett. Die X-Men starren zurück.

Währenddessen gehe ich in Gedanken wieder und wieder meinen Plan durch.

Schritt 1: von L. A. nach Miami fliegen

Schritt 2: mit Álvaro Herrera reden

Schritt 3: die Scherben meines Lebens kitten

Dr. Mangum sagt gerade: »Eine Supernova ist so hell, dass sie eine ganze Galaxie überstrahlen kann, und sei es nur für einen kurzen Moment. Die Wissenschaft weiß bis heute nicht, was im Einzelnen dafür sorgt, dass ein Stern explodiert.«

Ins Buch schreibe ich:

DAS STERNE-SIND-WIE-GEHEIMNISSE-PRINZIP: Beiden geht irgendwann der Brennstoff aus. Kann sein, dass jahrelang nichts passiert. Aber es braucht nur einen winzigen Auslöser.
Und dann, eines Tages, explodieren sie.

Linny

3.

WER: Geraldo Lopez, Moderator der beliebten mexikanischen Gameshow Arriba!
WANN: 2012, kurz nach der abendlichen Ausstrahlung seiner Sendung
WARUM: Er verschwand für sechs Tage, und als er schließlich ans Set zurückkehrte, sagte er bloß: »Der Hauptpreis letzte Woche war ein Urlaub auf Hawaii und ich dachte, wenn die das können, warum dann nicht auch ich?«

ANMERKUNGEN: Vielleicht macht Grace ja auch nur einen verlängerten Urlaub? Vielleicht kommt sie in ein paar Tagen ganz von selbst zurück – mit einem dicken Sonnenbrand vom Strand?

Für den Rest meiner Schicht bekomme ich Álvaro nicht mehr zu Gesicht, aber ich bin fest entschlossen, ihm ein paar Antworten zu entlocken, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.

Als ich auf dem Parkplatz vor dem Silver Springs stehe, vibriert mein Handy. Eine Nachricht von Ray: Hoffe, du hast es mit den alten Leuten nicht allzu doll krachen lassen. Dann folgt ein Selfie von ihm und Cass, wie sie am Strand chillen. Mit ihrer riesigen Sonnenbrille sieht Cass aus wie eine Gottesanbeterin, aber ihr Badeanzug ist absolut typisch für sie: knallpink, mit Fransen und glitzernden Strasssteinen. Ray steckt in orangefarbenen Badeshorts, die so ziemlich den gleichen Farbton haben wie sein feuerrotes Haar.

Ich betrachte das Foto einen Moment und will gerade eine Antwort tippen, da fällt mir ein, dass ich ihnen meine unfassbar unglaublichen Neuigkeiten wohl lieber von Angesicht zu Angesicht erzählen sollte, also schließe ich mein Fahrrad auf und rase zu Cass’ Lieblingsstelle am Strand – drüben beim Hilton, ganz in der Nähe des Eisverkäufers, der seiner Tätigkeit ausschließlich mit nacktem Oberkörper nachgeht, um sein gestähltes Sixpack voll zur Geltung zu bringen. Ich stelle mein Rad zwischen zwei roten Cabrios ab, schlüpfe aus meinen Chucks und renne mit Trippelschritten durch den glühend heißen Sand.

Als er mich sieht, ruft Ray: »Was geht, Marilyn!«, und ich springe so schnell wie möglich zu ihm aufs Handtuch. Obwohl wir uns erst seit viereinhalb Monaten kennen, lässt er sofort seinen Kopf in meinen Schoß plumpsen und vergräbt sein Gesicht in meinem T-Shirt, als sei er ein Streifenhörnchen oder so was.

»Ray.« Cass gibt ihm einen Klaps auf den Po. »Aus, Junge.«

Ich verstehe ihre Beziehung nicht so ganz. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ray nicht auf Mädchen steht – immerhin hat er einen festen Freund –, aber trotzdem ist es, als würden Cass und er ständig miteinander flirten. Jedes Mal, wenn jemand fragt, ob sie zusammen sind, kneift Cass Ray in die Backe (also, die Wange, meine ich) und antwortet: »Oh ja, wir sind total verliebt.« Sie haben sich in Dylans Candy Bar kennengelernt, diesem ultrahippen Süßigkeitenladen, wo sie ganze siebzehn Tage zusammen gearbeitet haben, bevor das Schicksal ihren Jobs ein frühzeitiges Ende bereitet hat. (Gigantische Lollys. Ein versehentlich verursachtes Feuer. Muss ich mehr sagen?) Ray ist erst nach Grace’ Verschwinden zu uns gestoßen und trotzdem kommt es mir immer noch extrem seltsam vor, dass er sie nur durch unsere Erzählungen kennt.

Aber ich vergöttere ihn. Cass und er sind meine einzigen Freunde, die mich nicht mit diesem speziellen Blick ansehen – einer Mischung aus Ach, du armes, kleines Mädchen ohne Schwester und Deine Familie muss ja echt kaputt sein, wenn Grace einfach so verschwindet. Man erkennt diese Blicke an den hochgezogenen Augenbrauen und den leicht gespitzten Lippen. Das Verrückte ist, dass ich mich manchmal selbst dabei erwische, wie ich mir im Spiegel diesen Blick zuwerfe. Weil die ganze Situation nämlich echt zum Kotzen ist und keiner das besser weiß als ich.

Ich hole meine Kamera heraus und schalte sie ein, damit ich filmen kann, wie Cass und Ray auf meine Álvaro-Neuigkeiten reagieren. Ich rufe: »Klappe, die erste.«

Cass ist damit beschäftigt, ihre endlos langen Beine mit Bräunungsöl einzusprühen, weil das den Jungs gefällt. Als würde nicht sowieso schon jeder Typ im Umkreis von fünfundsiebzig Kilometern auf sie reagieren wie eine Motte aufs Licht. In regelmäßigen Abständen legt ihr der nächste Typ besitzergreifend den Arm um die Schulter und sie präsentiert ihre neuesten Eroberungen auf dem Schulflur wie Jagdtrophäen – wie Waschbären, die sie mit ihrem Luftgewehr erlegt hat. Letzten Monat habe ich einen kurzen Film darüber gedreht, wie sie sich für ein Date zurechtgemacht hat. Das Licht war unterirdisch, aber mit ihrem funkelnden Eyeliner und der blonden Mähne leuchtet sie praktisch von selbst. Wenn hier jemand Marilyn Monroe ähnelt, dann ist sie das, nicht ich. (Nicht, dass ich keine Kurven hätte. Ganz im Gegenteil. Ich stehe nur lieber hinter der Kamera als davor. So kann ich all die Dinge einfangen, die sonst keiner sieht: all die scheinbar unwichtigen Details, die sich am Ende zu etwas Großem und Wunderbarem zusammenfügen. Das ist es, was ich an Filmen liebe: dass sie genauso tief in einem versinken, wie man in ihnen versinkt.)

Als Cass »Klappe, die erste« hört, setzt sie sich gerader hin. Genauso Ray: Er hebt den Kopf aus meinem Schoß, schiebt eine Schulter vor und wirft sich in eine übertriebene Modelpose. »Welche Rolle spielen wir?«, fragt er.

Cass schlägt vor: »Wie wäre es, wenn wir … Kriminelle sind?«

»Sexy Kriminelle«, ergänzt Ray.

»Au ja! Und wir sind auf der Flucht, weil wir buchstäblich zu sexy für diese Welt sind.«

»Ab sofort höre ich nur noch auf den Namen Fabio. Oder Roter Falke!« Er flattert tatsächlich mit den Armen. Die ersten Passanten drehen sich bereits nach uns um. Ein älterer Mann und seine deutlich jüngere Frau bleiben sogar stehen.

Ich klatsche mit der Hand auf meinen Oberschenkel. »Leute. Hier spielt die Musik. Fragt mich, wie es im Silver Springs war.«

»Sorry.« Ray lässt die Flügel hängen. »Also, wie schlimm war es? Auf einer Skala von eins bis Ich-werde-gleich-von-Geiern-gefressen?«

»Um ehrlich zu sein«, platze ich heraus, »war es überhaupt nicht schlimm. Ich …«

»Also gab es Götterspeise?«

»Was?«

»Na ja, ich dachte, du hast vielleicht Götterspeise bis zum Abwinken bekommen oder so.«

»Nein, ich …«

»Weil ich nämlich, als ich das letzte Mal meine Nan besucht hab, Götterspeise ohne Ende bekommen habe. Und dann hat sie mich beim Canasta abgezockt …«

Ich schneide ihm das Wort ab. Das hier ist wichtiger als Nachtisch. Ich wechsle auf Nahaufnahme. »Ray. Ich habe Álvaro Herrera gesehen.«

Ich erwarte, dass Cass das Bräunungsöl aus der Hand rutscht und Ray die Kinnlade herunterfällt. Nichts davon passiert.

»Und …«, fragt Cass. »Das ist … wer?«

Betont langsam und deutlich wiederhole ich: »Ál-va-ro Her-re-ra.« Vielleicht kapieren sie es ja jetzt.

»Nö«, sagt Ray. »Immer noch keine Ahnung, von wem du sprichst.«

»Ach, kommt schon«, seufze ich und schalte die Kamera aus. »Ist das euer Ernst?«

»Sekunde, Sekunde«, meldet sich Cass zu Wort. »Hast du mir nicht mal von ihm erzählt? Das war doch dieser berühmte Schriftsteller. Wie hieß diese Website noch mal? Findalvaro.com? Wenn man da ein Video von ihm hinschickt, kriegt man einen Tausender.«

»Vielen Dank.« Ich boxe Ray sanft gegen die Schulter. »Wenigstens eine von euch hat aufgepasst.«

Cass geht dazwischen. »Und, hast du ein Video, Kameramädchen?«

Das ist einer ihrer Spitznamen für mich. Ein Teil von mir mag ihn echt gerne, weil ich weiß, dass er nett gemeint ist. Der andere Teil von mir kann ihn nicht ausstehen, weil ich finde, dass er irgendwie nach einer Tierdoku über bedrohte Arten klingt. Dort, das scheue Kameramädchen in seiner natürlichen Umgebung!

Ich schüttele den Kopf, ziehe eine meiner Locken glatt und klemme sie mir zwischen die Lippen.

»Och«, stöhnt Cass. »Warum nicht? Weißt du, wie viele Croissants wir uns dafür bei Pie in the Sky kaufen könnten?«

»Äh, ja«, räume ich ein. »Wir könnten den Boden eines Swimmingpools damit auslegen.«

»Und wo ist dann dein Video?«

Meine gesamte Highschoolzeit schon trage ich meinen Camcorder überall mit mir herum. Ich sammle Bilder wie Elstern glitzernde Gegenstände. Wie soll ich ihr erklären, dass Álvaro gesehen zu haben, mir mehr bedeutet als alle diese Bilder zusammen? Dass es dabei um meine Schwester geht? Immer wenn ich in eine Situation wie diese gerate, stelle ich mir Brad Pitt in Fight Club vor, nur dass er in meinem Kopf sagt: »Die erste Regel bei Grace’ Verschwinden lautet: Ihr verliert kein Wort über Grace’ Verschwinden.«

Ich greife zu einer Notlüge: »Ich – äh – habe die Kamera nicht schnell genug rausgekriegt.«

»Aber er ist definitiv noch am Leben?«, fragt Cass.

»Oder er ist definitiv ein Geist, der unter den Lebenden wandelt.«

»Jetzt werd nicht unheimlich.«

»Wenn das so ist«, verkündet Ray, »treffen wir uns morgen früh vorm Eingang.«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Nicht euer Ernst.«

Ray lächelt breit. »Wenn es um Prominente geht, machen wir keine Witze.«

Gegen fünf mache ich mich auf den Weg nach Hause. Bevor ich aufs Rad steige, werfe ich einen Blick auf mein Handy: acht panische Nachrichten, alle von Momund-Dad.

Wo steckst du?

Bitte ruf an, sobald du kannst.

Linny, du weißt, du solltest längst zu Hause sein.

Linny. Ruf mich innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten an.

Ab da spitzt sich der Ton immer weiter zu.

In den Wochen nach Grace’ Verschwinden verschmolzen meine Eltern mehr und mehr zu ein und derselben Person, so als könnten sie durch vollkommene Einigkeit die Familie zusammenhalten. Deswegen nenne ich sie nur noch MomundDad. Ihre Gesichter werden einander immer ähnlicher: straff gespannte Haut, ein aufgesetztes Lächeln, glänzende Wangenknochen. Moms Hautfarbe ist fünf Nuancen dunkler als die von Dad, aber wenn man die Augen zusammenkneift, verschwimmen die Farbunterschiede. Schon bevor Grace verschwunden ist, waren unsere Eltern darauf aus, alles möglichst einheitlich zu halten. Ein Beispiel: Die meisten Häuser in unserer Nachbarschaft sind in demselben dezenten Blauton gestrichen und ihnen gefällt das. Delfineierblau heißt die Farbe übrigens. »Jetzt mal im Ernst«, sagte Grace dazu, »was zur Hölle ist ein Delfinei?«

sauber