Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorinnen
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. Kapitel 1: Psychologische Grundlagen von Verschwörungsdenken
  8. Kapitel 2: Faktencheck: Der Glaube an Verschwörungserzählungen
  9. Kapitel 3: »Haben die alle den Verstand verloren?« – Warum Verschwörungsgläubige uns ähnlicher sind, als wir denken
  10. Kapitel 4: Verschwörungsglaube und Politik: Von der Wahlverschwörung bis zur »Lügenpresse«
  11. Kapitel 5: Wenn Klimamythen die Zukunft der Welt bedrohen
  12. Kapitel 6: Freimaurer, Illuminaten und Spionageadler: Warum Juden und Israel so oft im Fokus stehen
  13. Kapitel 7: Flache Erde und Echsenmenschen auf YouTube & Co. – Spaßfaktor oder Radikalisierungsbeschleuniger?
  14. Kapitel 8: Zwischen Holocaust-Leugnung, Weltuntergangsfantasien und Größenwahn: Verschwörungsideologien in der extremen Rechten
  15. Kapitel 9: Impfgegner, Krebsmythen und die Aids-Verschwörung – Verschwörungsdenken im Gesundheitsbereich
  16. Kapitel 10: Im Einklang mit der Natur: Esoterik als Motor für Verschwörungserzählungen
  17. Kapitel 11: Wir sind die Guten? Verschwörungsmythen in linken Kreisen
  18. Kapitel 12: Cui bono? Geldmaschinerie Verschwörungsglaube
  19. Kapitel 13: »Corona? Eine Erfindung der Pharmaindustrie!« – Verschwörungsglaube im Ausnahmezustand
  20. Kapitel 14: Papa glaubt an Chemtrails? Tipps und Strategien zum Umgang mit Verschwörungsgläubigen
  21. Fazit
  22. Dank
  23. Quellenverzeichnis

Über dieses Buch

EINFACHE WAHRHEITEN FÜR EINE KOMPLIZIERTE WELT

Corona ist eine Erfindung der Pharmaindustrie! Menschen, die daran erkranken, müssen so für ihre Sünden büßen! Oder: Der Virus wurde in chinesischen Geheimlaboren gezüchtet!

Verschwörungstheorien verbreiten sich im Netz wie Lauffeuer und sind schon lange kein Randphänomen mehr. Katharina Nocun und Pia Lamberty beschreiben, wie sich Menschen aus der Mitte der Gesellschaft durch Verschwörungstheorien radikalisieren und die Demokratie als Ganzes ablehnen.

Welche Rolle spielen neue Medien in diesem Prozess? Wie schnell wird jeder von uns zu einem Verschwörungstheoretiker? Und wie können wir verdrehte Fakten aufdecken und uns vor Meinungsmache schützen?

Über die Autorinnen

KATHARINA NOCUN

Katharina Nocun ist Bürgerrechtlerin, Netzaktivistin und studierte Ökonomin. Sie leitet bundesweit politische Kampagnen, u. a. für die Bürgerbewegung Campact e. V., Mehr Demokratie e. V. und den Verbraucherzentrale Bundesverband. Ihr erstes Buch »Die Daten, die ich rief« wurde in zahlreichen namhaften Medien aufgegriffen (HANDELSBLATT, SPIEGEL-Online, Zeit-Online, Focus)

PIA LAMBERTY

Pia Lamberty ist Psychologin und Expertin im Bereich Verschwörungsideologien. Ihre Forschung führte sie an die Universitäten in Köln, Mainz und Beer Sheva (Israel). Darüber hinaus ist sie Mitglied im internationalen Fachnetzwerk »Comparative Analysis of Conspiracy Theories«. Interviews und Berichte über ihre Forschung sind in zahlreichen nationalen und internationalen Medien erschienen (u. a. Tagesschau, Report München, BILD, SWR, WDR, FOCUS, SonntagsZeitung, Vice).

KATHARINA NOCUN
PIA LAMBERTY

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WIE
VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN
UNSER DENKEN
BESTIMMEN

Unseren Familien

Kapitel 1: Psychologische Grundlagen von Verschwörungsdenken

Haben Sie schon Pläne für den diesjährigen Jahresurlaub? Soll es vielleicht etwas Besonderes sein statt der üblichen Standardziele Sylt, Spanien oder Rom? Wie wäre es mit einer Kreuzfahrt? Sieben Tage, zu den spektakulärsten Zielen auf diesem Planeten – mit Sauna, Wellnessprogramm und großartigem Essen. Sogar für Vegetarier und Veganer geeignet. Inklusive Workshops und Seminare, Freizeitangebot und Kinderprogramm. Und das für schlappe 3.000 US-Dollar! Pro Person, versteht sich.

Was das mit Verschwörungserzählungen zu tun hat? In diesem Fall eine ganze Menge: Wir sprechen von der ConspiraSea – einer Kreuzfahrt speziell für Menschen, die die Mondlandung für eine Lüge halten oder glauben, dass die Welt von Reptilienmenschen beherrscht wird. Der Veranstalter Divine Travels verspricht den Reisenden ein »unvergessliches, überwältigendes spirituelles Erlebnis«, bei dem Verschwörungsideologen alles über den Klimawandel, HIV, die Weltbank, Korruption, die Star-Wars-Agenda oder die Fukushima-Katastrophe lernen können. Kombiniert wird das Ganze mit Yoga, ökologisch einwandfreiem Essen und UFO-Beobachtungen. Ziel der Reise ist es, die eigene »Macht von korrupten und gierigen Institutionen zurückzuerobern, wahre Selbstautorität zu erlangen und das wahre Selbst hinter den Masken zu erkennen«. Sieben Tage, an denen knapp 3.000 Menschen sich ausschließlich damit beschäftigen, wo die Regierung sie belogen hat und welche geheimen Machenschaften die Pharmaindustrie verbirgt. Sieben Tage, nach denen die knapp 3.000 Teilnehmer noch mehr davon überzeugt sein werden, dass Impfungen zu Autismus führen. Und das in Zeiten, in denen die WHO Impfgegner als globale Bedrohung bezeichnet und die Zahl der Masernerkrankungen weltweit um 30 Prozent gestiegen ist. Sieben Tage, in denen ebendiese Menschen sich in ihrer Meinung radikalisieren und ihr verschwörungsideologisches Weltbild festigen werden.1

Das alles klingt erst einmal ganz schön verrückt. Wer ist schon bereit, 3.000 US-Dollar zu berappen, um sich anzuhören, wer Sex mit Aliens hatte oder warum Wassermoleküle den Namen Hitler nicht mögen? Wenn man diese Dinge hört, fragt man sich unweigerlich, wer an Verschwörungserzählungen glaubt. Was sind das für Menschen? Hängt diese Tendenz mit mangelnder Bildung zusammen? Sind Aluhutträger allesamt paranoid? Welche Rolle spielen soziale Medien bei der Verbreitung von Flache-Erde-Idee & Co.? Diesen Fragen und noch viel mehr wollen wir in diesem Buch nachgehen.

Allerdings müssen wir warnen: Auch in Bezug auf Verschwörungserzählungen kursieren viele Fake News beziehungsweise Fehlmeinungen. Menschen behaupten, dass der Glaube an Verschwörungserzählungen zugenommen habe. Und dass das alles nur an den sozialen Medien liege – ohne dies belegen zu können. Oft heißt es, dass Verschwörungsideologen wahlweise dumm, paranoid oder einfach wahnsinnig seien. Wir sind davon überzeugt: Wer sich kritisch mit Verschwörungserzählungen, Fake News oder sogenannten alternativen Fakten auseinandersetzt, sollte seine Meinung auf eine wissenschaftlich fundierte Grundlage stellen. Tatsächlich gibt es mittlerweile zahlreiche wissenschaftliche Studien, die sich mit dem Phänomen Verschwörungsglauben beschäftigen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse haben allerdings bisher kaum Eingang in die öffentliche Debatte gefunden. Aus diesem Grund eröffnen wir dieses Buch mit einem Kapitel, in dem die wichtigsten psychologischen Hintergründe zu dem Thema anhand neuester Forschungsergebnisse vorgestellt und genauer beleuchtet werden.

Wir glauben, dass es wichtig ist, das eigene Weltbild mit der gleichen Sorgfalt zu prüfen, wie man es von anderen verlangt. Daher starten wir mit ein wenig Selbstreflexion. Mithilfe eines kurzen Tests können Sie herausfinden, wie es um Ihre eigene Verschwörungsmentalität bestellt ist.

Wie ist es um Ihre persönliche Verschwörungsmentalität bestellt?

An dieser Stelle können Sie sich einen Überblick darüber verschaffen, wie es um Ihre ganz persönliche Tendenz, an Verschwörungen zu glauben, bestellt ist. Bewerten Sie dazu die folgenden Aussagen. Anschließend geht es dann weiter zur Auswertung.

Aussage 1: Die meisten Menschen erkennen nicht, in welchem Ausmaß unser Leben durch geheim ausgeheckte Verschwörungen bestimmt wird.

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Stimme überhaupt nicht zu (1 Punkt)
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Stimme nicht zu (2 Punkte)
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Stimme teilweise nicht zu (3 Punkte)
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Teils, teils (4 Punkte)
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Stimme teilweise zu (5 Punkte)
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Stimme zu (6 Punkte)
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Stimme voll und ganz zu (7 Punkte)

Aussage 2: Es gibt geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben.

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Stimme voll und ganz zu (7 Punkte)

Aussage 3: Die verschiedenen in den Medien zirkulierenden Verschwörungserzählungen halte ich für ausgemachten Blödsinn.

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Aussage 4: Es gibt keinen vernünftigen Grund, Regierungen, Geheimdiensten oder Medien zu misstrauen.

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Aussage 5: Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte.

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Stimme voll und ganz zu (7 Punkte)

Auswertung

Die Verschwörungsmentalität, also die generelle Tendenz, an Verschwörungserzählungen zu glauben, wurde ausgiebig in der psychologischen Forschung untersucht. Das erste Mal wurde sie 1987 von dem Psychologen Serge Moscovici beschrieben2 und dann im Jahr 2014 von den Psychologen Roland Imhoff und Martin Bruder für die Forschung anwendbar gemacht.3 Die Aussagen (oder Items, wie man in der Psychologie sagt), die Sie hier bewertet haben, wurden beispielsweise in repräsentativen Studien wie den Leipziger Mitte-Studien eingesetzt, die die Verbreitung von Vorurteilen in der deutschen Bevölkerung erfragen. Sie wurden extra für Befragungen in der deutschen Bevölkerung entwickelt und werden auch genauso für Umfragen verwendet. An dieser Stelle ist es wichtig, vorab anzumerken, dass die Skala nicht nach dem Prinzip arbeitet, eine komplette Ablehnung der Aussagen gelte als rational. Die Verschwörungsmentalität misst vielmehr ein generelles Misstrauen gegenüber »denen da oben«. Eine Person mit null Punkten vertraut mächtigen Gruppen oder Organisationen ohne Wenn und Aber, während eine Person mit der Höchstpunktzahl hinter einflussreichen Gruppen systematisch böse Machenschaften vermutet. Eine gesunde Skepsis liegt also vermutlich in der Mitte. Der Test verdeutlicht eine wichtige Erkenntnis der Wissenschaft: So gut wie jeder Mensch bringt die Veranlagung dafür mit, an Verschwörungserzählungen zu glauben. In einem gewissen Rahmen ist das absolut normal. Wie so oft macht auch hier erst die Dosis das Gift.

Nachdem Sie die fünf Fragen beantwortet haben, zählen Sie nun Ihre Punkte zusammen. Sie erfahren dann, wie stark Ihre Verschwörungsmentalität ausgeprägt ist.

0–16 Punkte:

Sie gehören zu dem Teil der Bevölkerung, der Verschwörungserzählungen am wenigsten zustimmt. Sie haben vermutlich ein hohes Vertrauen in den Staat und seine Institutionen, wählen wahrscheinlich eher eine der klassischen »Volksparteien« und lassen Ihr Kind vermutlich impfen. Sie gehen davon aus, dass die Geheimdienste einen guten Job machen und man ihnen deswegen auch bedingungslos vertrauen kann.

16–23 Punkte:

Sie liegen in Bezug auf Ihre Verschwörungsmentalität genau in der Mitte der Bevölkerung. Vermutlich sind Sie weder vollkommen vertrauensselig gegenüber den staatlichen Institutionen, noch lehnen Sie diese vollkommen ab. Sie wählen tendenziell eher Parteien der Mitte der Gesellschaft, vertrauen der medizinischen Forschung, denken aber dennoch, dass die Pharmaindustrie nicht nur Gutes im Schilde führt.

23–35 Punkte:

Sie gehören zu dem Teil der Bevölkerung mit der am stärksten ausgeprägten Verschwörungsmentalität. Basierend auf Ihrem Testergebnis gehen wir davon aus, dass Sie dem Staat eher skeptisch gegenüberstehen. Wenn Sie wählen gehen, dann entweder ungültig oder eine Partei, die in Opposition zu den sogenannten »Volksparteien« steht. Es ist auch wahrscheinlicher, dass Sie den Medien grundsätzlich misstrauen.

Verschwörungserzählungen: Der Versuch einer Definition

Lassen Sie uns zunächst noch einmal einen Schritt zurückgehen und bei der zentralen Frage beginnen: Was genau ist eine Verschwörungserzählung? Wer den Begriff hört, kann sich vermutlich direkt etwas darunter vorstellen: »9/11 was an inside job«, »Die Illuminaten beherrschen die Welt« und »Prinzessin Diana lebt«. Die genaue Definition, was eine Verschwörungserzählung ausmacht, ist aber in Wissenschaftskreisen tatsächlich umstritten – genauso wie die zu verwendenden Begriffe. Aus diesem Grund betreiben wir an dieser Stelle zunächst ein wenig Wortklauberei und betrachten die Begriffsbestimmung näher.

Eine häufig verwendete Definition besagt, dass eine Verschwörungserzählung daran zu erkennen sei, dass es einen Plan dafür gebe, Ereignisse im Geheimen zu beeinflussen. Auch wenn dies auf den ersten Blick plausibel erscheinen mag, fehlen doch wichtige Komponenten. Mit dieser Definition könnte man nämlich fast jede Geburtstags-Überraschungsfeier zur Verschwörungserzählung uminterpretieren (und hätte so schon ein super Thema für eine Mottoparty). Was hier in der Definition noch fehlt, ist die Wichtigkeit eines Ereignisses. Die Größenordnung von Geschehnissen spielt schließlich eine wichtige Rolle, wenn wir von Verschwörungserzählungen sprechen. Psychologen konnten zeigen, dass Verschwörungserzählungen eher bei Ereignissen in Erscheinung treten, die als kollektiv bedrohlich gelten. Damit lässt sich gut erklären, warum sich um den Postboten im Dorf weniger Verschwörungserzählungen ranken als um einen Putschversuch.4 Die Psychologen Robyn LeBoeuf und Michael Norton kamen im Rahmen ihrer Forschung zu dem Ergebnis, dass ein Ereignis als groß und wirkungsvoll wahrgenommen werden muss, um zu einem bevorzugten Ziel von Verschwörungserzählungen zu werden. Gesellschaftliche Ereignisse wie Wahlen oder terroristische Anschläge und auch Epidemien werden daher eher zum Gegenstand von Verschwörungserzählungen als die Einschulung der eigenen Tochter.5 Es lässt sich beobachten, dass quasi nach jedem größeren gesellschaftlichen Ereignis in Windeseile Verschwörungserzählungen entstehen. Am 1. Januar 2020 starben im Krefelder Zoo 30 Affen und viele weitere Tiere, weil eine sogenannte Himmelslaterne ein Feuer entfacht hatte.6 Schon kurze Zeit nach der schrecklichen Tragödie kursierten im Internet diverse »alternative Wahrheiten« und Spekulationen über den »wahren Tathergang« – obwohl sich bereits eine Mutter mit ihren beiden Töchtern freiwillig der Polizei gestellt hatte. Auch als 2019 und 2020 in Australien großflächig Buschfeuer wüteten, tauchten alsbald diverse Verschwörungserzählungen auf, nach denen es sich um ein Komplott des Staates handeln würde.7 Dabei läge es viel näher, einen Zusammenhang zwischen den Bränden und dem ungewöhnlich heißen Wetter aufgrund des Klimawandels zu ziehen. Nachdem im Dezember 2019 in China erstmals das Coronavirus SARS-CoV-2 auftrat, wurde auf einigen dubiosen Webseiten spekuliert, dass das chinesische Militär das Virus in Laboren hergestellt und dann verbreitet hätte. Andere waren der Meinung, dass der US-amerikanische Unternehmer Bill Gates hinter dem Virus stecken würde, oder machten 5G-Strahlen für den Ausbruch der Krankheit verantwortlich.8 Und all das, obwohl Wissenschaftler seit Jahrzehnten davor warnen, dass Virenarten, die von Tieren auf den Menschen übergehen, Pandemien auslösen können.

Aber zurück zur Definition. Ein weiterer Aspekt, welcher in der oben vorgestellten Definition fehlt, ist die zugesprochene Niedertracht der Akteure. Verschwörungserzählungen gehen in der Regel davon aus, dass sich eine Gruppe mit der festen Absicht verschworen hat, anderen Menschen oder der Gesellschaft direkten Schaden zuzufügen, und zwar im Geheimen. Die eingangs vorgestellte Definition lässt zudem außen vor, dass den Akteuren hinter einer Verschwörung eine gewisse Macht zugesprochen werden muss, dank der sie die Verschwörung erfolgreich durchführen können. Selbst wenn das nervige Nachbarskind in perfider Weise plant, durch Wettermanipulation die Welt zu beherrschen, wäre es vermutlich nicht dazu in der Lage, einen solchen Plan erfolgreich durchzuführen. Aus diesem Grund drehen sich Verschwörungserzählungen bevorzugt um mächtige Staatsmänner und -frauen, Bankiers, Millionäre oder Geheimbünde. Wichtig ist hierbei jedoch, dass es nicht notwendigerweise zutreffen muss, dass die Gruppe tatsächlich so mächtig ist, wie Verschwörungsideologen meinen. In der Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele für Verschwörungserzählungen, bei denen stark benachteiligte und überhaupt nicht mächtige Gruppen ins Fadenkreuz gerieten, etwa bei den antisemitischen Pogromen des Mittelalters.

Wenn wir all diese Faktoren berücksichtigen, wird klar, warum eine derart vereinfachte Definition wie die eingangs vorgestellte das Phänomen nicht richtig erfassen kann. Basierend auf diesen Erkenntnissen, würden wir eine Verschwörungserzählung daher wie folgt definieren:

Eine Verschwörungserzählung ist eine Annahme darüber, dass als mächtig wahrgenommene Einzelpersonen oder eine Gruppe von Menschen wichtige Ereignisse in der Welt beeinflussen und damit der Bevölkerung gezielt schaden, während sie diese über ihre Ziele im Dunkeln lassen.

Allerdings bleiben auch bei dieser Definition noch Punkte offen. In der Wissenschaft wird darüber diskutiert, ob eine Verschwörungserzählung lediglich eine alternative Erklärung zu gängigen Ansichten darstellt. Während Verschwörungserzählungen um den Anschlag auf die Türme des World Trade Centers am 11. September 2001 noch als alternative Erklärungen bezeichnet werden könnten, würde diese Herangehensweise jedoch bei anderen Themen Probleme bereiten. Verschwörungserzählungen sind schließlich nicht immer die »alternative Erklärung« und nicht immer eine Minderheitenmeinung. In verschiedenen Epochen und Staaten waren und sind sie die gängige Mehrheitsmeinung. Zur Zeit der NS-Terrorherrschaft waren antisemitische Verschwörungserzählungen tief im staatlichen System verankert. Sie befeuerten den grassierenden Antisemitismus, der in dem systematisch geplanten Massenmord an Millionen von Menschen mündete. Auch heute noch finden sich Beispiele dafür, dass Verschwörungserzählungen von Regierungen verbreitet werden. Darüber hinaus drängt sich die Frage auf: Für wen oder was stellt die Verschwörungserzählung eine Alternative dar? Für die Mehrheit der Befragten? Und was ist genau eine Mehrheitsmeinung? Wenn sich mehr als 50 Prozent auf eine Erklärung einigen? Letzteres würde bedeuten: Wenn 46 Prozent der Bevölkerung glauben, dass 9/11 von der US-Regierung geplant war, dann wäre es eine Verschwörungserzählung. Wenn ein Jahr später bereits 55 Prozent daran glauben würden, dann nicht mehr. Das Beispiel verdeutlicht, dass derartige Betrachtungen wenig zielführend sind.

Selbst wenn wir annehmen, dass es darum ginge, eine Alternative zu Regierungsmeinungen zu präsentieren, bleibt ein solcher Ansatz problematisch. Dann wäre der Glaube, dass die sogenannten Protokolle der Weisen von Zion echt sind, in der heutigen Bundesrepublik eine Verschwörungserzählung, nicht aber im Falle von Nazi-Deutschland. Zu dieser Zeit waren die Protokolle der Weisen von Zion sogar Teil des offiziellen Lehrplans an deutschen Schulen. Bei dem 1903 erstmals veröffentlichten Text handelt es sich um eine antisemitische Hetzschrift, die bis heute zu den am weitesten verbreiteten und wirkungsvollsten Verschwörungserzählungen zählt. In dem Pamphlet wird behauptet, es handele sich bei dem Text um Protokolle einer geheimen Versammlung von Juden – den »Weisen von Zion« –, die planten, die Weltherrschaft zu übernehmen.9 Bereits 1921 veröffentlichte die Londoner Tageszeitung The Times eine Artikelserie, in der die »Protokolle« als Fälschung entlarvt wurden.10 Dennoch nutzen Antisemiten und Verschwörungsideologen weltweit die Texte bis heute als Propagandainstrument.11 Die islamistische Terrororganisation Hamas bezieht sich in ihrer Gründungsurkunde auf das Pamphlet. Beispiele wie diese verdeutlichen, wie problematisch es wäre, bei Verschwörungserzählungen von alternativen Erklärungen zu sprechen.

Alternative Erklärungen und alternative Fakten sind dabei übrigens nicht das Gleiche. Eine alternative Erklärung meint eine Erklärung für ein Ereignis, die nicht dem Mainstream entspricht. Der Begriff alternative Fakten geht hingegen zurück auf Kellyanne Conway, Beraterin des US-Präsidenten Donald Trump. In einer TV-Sendung wurde sie gefragt, warum das Weiße Haus behauptet habe, dass während der Amtseinführung von Trump mehr Menschen anwesend gewesen seien als bei seinem Vorgänger Barack Obama – schließlich belegten Bilder, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Conways Erklärung dazu: »Sean Spicer, unser Pressesprecher, hat dazu alternative Fakten dargestellt.«12 Der Begriff alternative Fakten hat es sogar geschafft, Unwort des Jahres 2017 zu werden, denn – so die Begründung – »mit diesem Ausdruck werden Falschbehauptungen salonfähig gemacht und mit Tatsachenbehauptungen auf eine Stufe gehoben«.13 Man könnte also sagen: Alternative Fakten sind mindestens falsch, wenn nicht sogar gezielte Lügen, während sich der Begriff der alternativen Erklärungen auf das Verhältnis zur Mehrheitsmeinung bezieht und noch nichts über den Wahrheitswert aussagt.

Verschwörungstheorie oder Verschwörungserzählung?

Bei Debatten um Verschwörungserzählungen werden häufig verschiedene Begriffe durcheinandergeworfen: Verschwörungserzählungen, Verschwörungsmythos, Verschwörungsglauben, Verschwörungsideologie oder die Verschwörungsmentalität. Der gängige Begriff der Verschwörungstheorie ist in letzter Zeit immer mehr kritisiert worden, da man hierbei nicht von Theorien im wissenschaftlichen Sinn sprechen kann. Eine Theorie ist eine wissenschaftlich nachprüfbare Annahme über die Welt. Wenn sich diese als falsch herausstellt, wird sie auch wieder verworfen. Die Verschwörungserzählung zeichnet sich aber eben genau dadurch aus, dass sie sich der Nachprüfbarkeit entzieht. Egal wie viele Gegenbeweise es gibt, der Verschwörungsideologe beharrt auf seiner Meinung. Kritikwürdig ist außerdem, dass bei Nutzung des Theoriebegriffs jede noch so verrückte Idee als Theorie aufgewertet werden würde. Auch wir vermeiden daher den Begriff der Verschwörungstheorie in diesem Buch. Damit man versteht, wovon wir sprechen, definieren wir nun unser Begriffsverständnis ein wenig genauer.

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Ein Mythos ist eine Erzählung oder Überlieferung, die häufig tief in der jeweiligen Gesellschaft verankert ist. Er beschreibt somit, wie Menschen die Welt um sich herum deuten und verstehen. Bei einem Mythos wird an den Glauben der Zuhörer appelliert, nachprüfbare Wahrheiten oder vernünftige Argumente spielen hier eher eine untergeordnete Rolle. Im Gegensatz zu einer Theorie hat der (politische) Mythos ein kollektiv identitätsstiftendes Potenzial. Das Geschehene wird weniger über empirisch nachprüfbare Fakten vermittelt als über Stereotype und emotionalisierende Darstellungen.14

Ein Verschwörungsmythos meint daher weniger die konkrete Annahme, dass beispielsweise Hitler auf der dunklen Seite des Mondes leben würde. Vielmehr geht es um das grundlegende Narrativ, das einzelne Verschwörungserzählungen vereint. Der (falsche) Mythos einer jüdischen Weltverschwörung wäre so ein Beispiel.

Eine Verschwörungserzählung dagegen bezeichnet die konkrete Annahme über Dinge, die in der Welt geschehen. Einige Beispiele: Angela Merkel ist nur eine Marionette von superreichen jüdischen Familien wie den Rothschilds, die im Geheimen die Fäden ziehen. Israel hat die Katastrophe in Fukushima zu verantworten. Jüdische Onkologen nutzen Chemotherapie, um Nichtjuden auszurotten. All diese sehr unterschiedlichen Verschwörungserzählungen beziehen sich im Kern auf denselben Verschwörungsmythos einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung. Wir verwenden den Begriff des Mythos daher als eine Art Überkategorie für Verschwörungserzählungen.

Die Begriffe Verschwörungsideologie oder Verschwörungsmentalität bezeichnen dagegen die individuelle Tendenz, an Verschwörungserzählungen zu glauben – unabhängig von der konkreten Verschwörungserzählung. Es geht hierbei also nicht darum, ob ein Einzelner glaubt, dass »Elvis lebt und die Regierung das verheimlicht«, sondern darum, wie stark seine generelle Neigung ausgeprägt ist, an Verschwörungserzählungen zu glauben. Es geht darum, ob Menschen grundsätzlich überall dunkle Machenschaften am Werk sehen.15 Psychologen verstehen dieses Weltbild als eine stabile Persönlichkeitseigenschaft, als eine Art, die Welt zu interpretieren. Das heißt, dies ist ein grundlegendes Merkmal einer Person, das sich zwar im Laufe der Zeit (beispielsweise durch einschneidende Ereignisse) ändern kann, aber grundsätzlich relativ veränderungsresistent ist. Was das bedeutet, zeigt folgendes Beispiel: Eine Person ist überhaupt nicht ordentlich, lernt aber durch verschiedene Umstände im Job, dass es wichtig ist, darauf zu achten. Dennoch wird es für diese Person vermutlich stets anstrengender sein als für andere, Ordnung zu bewahren. Ähnliches gilt auch für die Veränderungsresistenz der Verschwörungsmentalität.

Psychologische Grundlagen

Die erste Annäherung an den psychologischen Hintergrund von Verschwörungsdenken wurde 1994 von dem US-amerikanischen Soziologen Ted Goertzel veröffentlicht. Goertzel stellte in seiner Pionierarbeit eine wichtige These auf: Beim Glauben an Verschwörungserzählungen handele es sich um ein kohärentes Weltbild – die Verschwörungsmentalität. Konkret heißt das: Wer an eine Verschwörungserzählung glaubt, stimmt auch meistens weiteren Erklärungen dieser Art zu. Wenn man also auf einen Menschen trifft, der meint, dass es sich bei den Anschlägen vom 11. September 2001 um einen »Inside Job«, also um ein geheimes Komplott der US-Regierung gehandelt habe, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass dieser Mensch ebenfalls davon überzeugt ist, dass das Attentat auf John F. Kennedy nicht das Werk eines Einzeltäters, sondern die Folge einer Verschwörung der US-Regierung war. Diese Annahme trifft sogar auf Verschwörungserzählungen zu, die sich gegenseitig logisch ausschließen. Ein Forschungsteam aus Großbritannien konnte 2012 zeigen: Wer glaubt, Prinzessin Diana sei vom britischen Geheimdienst umgebracht worden, geht paradoxerweise auch eher davon aus, dass sie noch lebt. Hier zeigt sich ein wichtiges Glaubenssystem von Verschwörungsideologen: Man glaubt zwar zu wissen, dass die »offizielle Version« falsch ist, was genau in Wirklichkeit passiert ist, kann man aber auch nicht sagen.16

Verschwörungserzählungen sind verbreiteter, als viele Menschen intuitiv erwarten würden. Viele denken erst einmal an skurrile Phänomene wie den verschrobenen Aluhutträger oder kleine eingeschworene Zirkel, die sich in skurrilen Facebook-Gruppen konspirativ zu UFO-Sichtungen verabreden. In Deutschland glaubt laut einer repräsentativen Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2019 aber mehr als ein Drittel der Bevölkerung, dass »Politiker und andere Führungspersönlichkeiten nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte« seien.17 Zahlen wie diese machen deutlich: Für Millionen Menschen sind Verschwörungserzählungen entscheidend dafür, wie sie die Welt sehen. Natürlich gibt es auch Verschwörungserzählungen, bei denen die Zustimmung geringer ist: »Nur« 7 Prozent der Deutschen sind davon überzeugt, dass Ebola kein natürliches Virus sei, sondern das Resultat eines US-Biowaffenprojekts. 6 Prozent, also fast fünf Millionen Deutsche, glauben, dass der Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo im Jahr 2015 eine Geheimoperation des französischen Geheimdienstes gewesen sei.18

Der Glaube an Verschwörungserzählungen ist in vielen Ländern verbreitet: In Mexiko gingen laut einer Studie aus dem Jahr 2008 rund 30 Prozent der Bevölkerung davon aus, dass die US-Regierung hinter den Anschlägen auf das World Trade Center stecken würde, und in Ägypten hielten 11 Prozent Israel für den heimlichen Drahtzieher.19 Eine repräsentative Umfrage in Frankreich zeigte, dass acht von zehn der befragten Personen an eine der großen Verschwörungserzählungen glaubten, wie etwa eine Fälschung der Mondlandung durch die USA oder Gerüchte zu den »wahren« Umständen des Todes von Prinzessin Diana. Zu den Verschwörungserzählungen mit der meisten Zustimmung zählte eine besonders steile Behauptung: Das französische Ministerium für Gesundheit habe sich angeblich mit pharmazeutischen Firmen verschworen, um die angeblichen gesundheitlichen Risiken von Impfungen zu verschleiern.20 Sogar fast jeder zweite US-Amerikaner stimmt mindestens einer Verschwörungserzählung zu.21 Studien zeigen jedoch, dass sich die Zustimmung zu den einzelnen Erzählungen innerhalb der politischen Orientierung unterscheidet. Das wird bei der Debatte um den Klimawandel besonders deutlich: Rund 60 Prozent der Befragten mit einer republikanischen Einstellung hielten laut einer Studie aus dem Jahr 2013 die Debatte um den Klimawandel für eine Verschwörung, wohingegen 80 Prozent der eher den Demokraten zugeneigten Studienteilnehmer dieser Aussage widersprachen.22

Auch wenn es im Zuge medialer Berichterstattung manchmal so erscheint: Verschwörungserzählungen sind an sich nichts Neues. Die Grundannahme, dass Geschichte nicht zufällig geschieht, sondern gelenkt wird, war schon immer weit verbreitet. Im achtzehnten Jahrhundert kursierte das Gerücht, dass der Komponist Wolfgang Amadeus Mozart angeblich von Freimaurern ermordet worden sei. Und im neunzehnten Jahrhundert glaubten Menschen, dass es sich bei den geheimnisvollen Bewohnern des Schlosses Eishausen um die Tochter des hingerichteten französischen Königs Ludwig XVI. handeln müsse. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurde dann in den USA eine Verschwörungserzählung populär, der zufolge der Papst eine päpstliche Armee in Amerika installieren wolle, um in der amerikanischen Stadt Cincinnati einen neuen Vatikan zu gründen. Hierzu muss man wissen: Zu dieser Zeit grassierten in den USA starke Vorurteile gegen katholische Einwanderer. Verbreitet wurde das Gerücht unter anderem von der sogenannten Know-Nothing-Bewegung, die sogar mit einer eigenen Partei zur Wahl antrat.

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts kam es dann in Deutschland und anderen europäischen Ländern zu einem rasanten Anstieg der Verbreitung von insbesondere antisemitischen Verschwörungserzählungen, die letztendlich den Holocaust erst möglich machten. Aber auch nach Ende der nationalsozialistischen Terrorherrschaft waren Verschwörungserzählungen weiterhin weit verbreitet. Und zwar weltweit. In zahlreichen Onlineforen und YouTube-Videos werden allerhand heftige Thesen verbreitet: Teilnehmer der Bilderberg-Konferenz planen angeblich eine Weltdiktatur, und das US-Forschungsprojekt HAARP (High Frequency Active Auroral Research Program) solle für Gedankenmanipulation und zur künstlichen Herbeiführung von Naturkatastrophen eingesetzt werden (dabei wurde dort nur physikalische Grundlagenforschung betrieben). Angeblich soll HIV von US-Behörden entwickelt und verbreitet worden sein, um die Bevölkerung Afrikas zu dezimieren. Andere Verschwörungserzählungen handeln davon, dass die United States Air Force und das US-Verteidigungsministerium das Sperrgebiet Area 51 dazu nutzen würden, um mit außerirdischen Lebensformen zu kommunizieren. Der Vatikan soll außerdem angeblich im Besitz einer Zeitmaschine sein.

Welche Bedeutung spielen also Verschwörungserzählungen für unsere Gesellschaft heute? Warum neigen manche Menschen eher dazu, überall Verschwörungen zu wittern? Welche Faktoren sind entscheidend dafür, dass Menschen an Verschwörungserzählungen glauben?

Wagen wir ein kleines Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, Sie nehmen an einer Studie in einem psychologischen Institut teil. Sie sitzen im Labor und werden im Rahmen eines Experiments darum gebeten, ein Spiel zu spielen. Die erste Runde beginnt. Sie geben sich redlich Mühe, aber egal, wie sehr Sie sich auch anstrengen – Sie haben das Gefühl, dass Sie keinen Einfluss darauf haben, ob Sie gewinnen oder verlieren werden. Alles scheint zufällig. Sie merken, dass Sie sich mehr und mehr gestresst fühlen, weil Sie nicht genau wissen, was Sie tun sollen.

Nachdem Sie mit dem Spiel fertig sind, bittet Sie der Experimentleiter darum, noch kurz dazubleiben und einige Fragen zu beantworten. Sie sollen sich nun vorstellen, einer der Top-IT-Administratoren in einer Firma zu sein:

Neben verschiedenen anderen Aufgaben sind Sie auch für die Zeiterfassung der Mitarbeiter sowie für die Überwachung der E-Mail- und Internetnutzung verantwortlich. Außerdem steht bei Ihnen bald eine Beförderung an. Am Tag vor dem geplanten Treffen mit Ihrem Vorgesetzten stellen Sie plötzlich fest, dass die Anzahl an E-Mails, die zwischen Ihrem Chef und dem Kollegen (der neben Ihnen sitzt) versendet wurden, sprunghaft angestiegen ist. Beim entscheidenden Treffen mit Ihrem Vorgesetzten teilt dieser Ihnen dann aus heiterem Himmel mit, dass Sie doch keine Beförderung erhalten werden. Glauben Sie daran, dass Ihr Kollege etwas damit zu tun hat?23

Dieses Experiment wurde 2008 von den Psychologen Jennifer Whitson und Adam Galinsky so durchgeführt. Das eingangs beschriebene Spiel sollte dazu dienen, bei den Versuchsteilnehmern ein Gefühl der Unsicherheit und Machtlosigkeit heraufzubeschwören. Diese Gefühle werden in der Psychologie unter dem Begriff Kontrollverlust zusammengefasst. Eine der beiden Gruppen spielte das Spiel im Rahmen des Experiments und bekam völlig zufällig Rückmeldung zu ihren Spielergebnissen. Die Versuchspersonen hatten keine Ahnung, wann sie etwas richtig machten und wann nicht. Das sollte wie erwähnt ein Gefühl von Kontrollverlust hervorrufen. Die sogenannte Kontrollgruppe spielte das gleiche Spiel, ohne irgendwelche Informationen zum Ergebnis zu bekommen. Anschließend wurde beobachtet, ob Menschen angesichts eines gefühlten Kontrollverlusts eher dazu neigen, eine Verschwörung gegen sie zu wittern. Laut den Ergebnissen der Studie scheint dies tatsächlich der Fall zu sein.

Der Begriff Kontrollverlust klingt auf den ersten Blick vielleicht ein wenig abstrakt, tatsächlich hat er aber viel mit unserem Alltag zu tun. Das grundsätzliche Gefühl, die Kontrolle über eine Situation zu haben, spielt eine wichtige Rolle für das menschliche Wohlbefinden. Es hat sich sogar gezeigt, dass Menschen bei Elektroschocks weniger Schmerz empfinden, wenn sie das Gefühl haben, die Kontrolle über die Situation zu haben. Kontrollverlust erlebt man in verschiedensten Situationen: Wenn man plötzlich seine Arbeit verliert, der Partner einen ohne Vorwarnung verlässt, man im Flugzeug sitzt oder es einen Terroranschlag gibt, dem man sich hilflos ausgeliefert fühlt. In solchen Situationen versuchen Menschen unterbewusst, als Ausgleich für den empfundenen Kontrollverlust ein Gefühl der Kontrolle durch psychologische Mechanismen herzustellen. Der Glaube an Verschwörungserzählungen stellt genau so einen Mechanismus dar. Mitglieder aus dem rechtsextremen Reichsbürgerspektrum berichten beispielsweise immer wieder, dass einschneidende Lebensereignisse, in denen sie einen Kontrollverlust verspürt hätten, Auslöser dafür gewesen seien, sich mit Verschwörungserzählungen zu befassen.24 Das bedeutet natürlich nicht, dass jeder Mensch, der den Arbeitsplatz verliert oder von seinem Partner verlassen wird, automatisch glaubt, dass Deutschland insgeheim eine Firma sei, die von dunklen Mächten gelenkt werde, wie es Reichsbürger tun. Erfahrungsberichte wie diese machen jedoch deutlich, dass der Glaube an Verschwörungserzählungen dem Einzelnen durchaus Rückhalt nach Rückschlägen geben kann, weil derartige Geschichten eine wahrgenommene Ordnung in eine vermeintlich chaotische Welt bringen.

Der Ansatz, dass der Glaube an Verschwörungserzählungen durch Kontrollverlust begünstigt werde, ist aber nur eine mögliche Erklärung. Eine andere wissenschaftliche These beschreibt den Glauben an Verschwörungserzählungen mehr als Mittel zum Zweck. Dadurch, dass ein Mensch an etwas glaubt, das gängigen Erklärungsmustern widerspricht, kann er auch sein Bedürfnis danach befriedigen, sich einzigartig zu fühlen und sich von der Masse abzuheben. Zwei internationale Forschungsteams sind unabhängig voneinander zu dem Ergebnis gekommen, dass der Glaube an Verschwörungserzählungen mit dem tief verankerten Wunsch nach Einzigartigkeit zusammenhängt.25 Dies zeigt sich auch in verschiedenen Internetforen: Einige Verschwörungsideologen meinen, dass entweder die Behörden, die Illuminaten oder große Konzerne durch versteckte Düsen an Flugzeugen giftige Chemikalien wie Aluminium- und Bariumverbindungen über dem Land versprühen. Dies soll wahlweise dazu dienen, die Menschen unfruchtbar, gewalttätig oder besonders gefügig zu machen oder das Wetter zu beeinflussen. Menschen, die nicht an eine derartige Wettermanipulation durch sogenannte Chemtrails glauben, werden online gerne als Schlafschafe diffamiert. Das antifeministische Hetzportal WikiMANNia beschreibt ein Schlafschaf als »dumm, aber glücklich«. Sie seien nur »dumme Bürger, die aber glücklich mit ihrer Situation und der gesellschaftlich-politischen Lage« seien. Außerdem hätte das »politische Schlagwort Schlafschaf (hat) eine gewisse Nähe zu duldsames Opfer [sic!] und Duckmäuser.«

Im Rahmen einer Studie aus den USA, die den Zusammenhang von Einzigartigkeitsgefühlen und Verschwörungsglauben beleuchtete, wurde den Teilnehmenden eine fiktive Verschwörungserzählung präsentiert. Diese besagte, dass überall in Deutschland Rauchmelder installiert worden seien, die Schallwellen abgeben und dadurch Übelkeit, Magenbeschwerden und Depressionen hervorrufen würden. All das habe angeblich ein pensionierter Ingenieur aufgedeckt. Die deutsche Regierung würde hingegen einen Zusammenhang zwischen den Beschwerden und dem Vorhandensein von Rauchmeldern leugnen. Der einen Hälfte der Studienteilnehmer wurde ein Text vorgelegt, der besagte, dass 81 Prozent der Deutschen an die Theorie des Ingenieurs glaubten. Dem Rest wurde ein Text zu lesen gegeben, laut dem 81 Prozent der Deutschen die Theorie anzweifelten.26 Das Ergebnis der Studie war äußerst aufschlussreich. Menschen mit ausgeprägter Verschwörungsmentalität glaubten die Erzählung eher, wenn sie als unpopulär dargestellt wurde. Das ist insofern überraschend, da Menschen generell eher die Tendenz haben, intuitiv der Mehrheitsmeinung zu vertrauen.

Es lässt sich also sagen, dass es zwei Hauptgründe gibt, warum Menschen an Verschwörungserzählungen glauben: Sie kompensieren so einen erlebten Kontrollverlust, beispielsweise, wenn sie den Job verlieren oder das Gefühl haben, politisch unsichere Zeiten zu erleben. Darüber hinaus können Verschwörungserzählungen aber auch Mittel zum Zweck sein. Für Menschen, die sich gerne besonders und einzigartig fühlen wollen und auch bewusst »gegen den Strom schwimmen« möchten, sind solche Ideen besonders attraktiv. Allerdings gibt es natürlich noch viele weitere Faktoren, die hier eine Rolle spielen können. Studien haben gezeigt, dass Langeweile ein weiterer möglicher Grund dafür sein kann, warum Menschen an Verschwörungserzählungen glauben.27 Wer zu Hause nur vor dem Fernseher sitzt und nicht so recht weiß, was er mit sich anfangen soll, kann abstrusen Verschwörungserzählungen mehr abgewinnen, da sie ein wenig Farbe in den tristen Alltag bringen. Auch gibt es erste Hinweise darauf, dass frühkindliche Bindungserfahrungen eine Rolle spielen können. Wer eine unsichere Bindung zu seinen Eltern hatte, glaubt später eher an Verschwörungen. Während Studien auf einen Zusammenhang zwischen Verschwörungsglauben und Narzissmus28 hindeuten, ließ sich allerdings kein solcher Zusammenhang bei Persönlichkeitseigenschaften wie etwa Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit oder Neurotizismus feststellen. Auch Alter, Bildung und Geschlecht spielen kaum eine Rolle. Den typischen Verschwörungsideologen gibt es also nicht. Wir alle tragen in uns Eigenschaften, die den Glauben an Verschwörungserzählungen begünstigen – auch wenn wir dies oft nicht wahrhaben wollen.