Über dieses Buch
Für Agatha Raisin ist es an der Zeit, ihre Tätigkeit als Amateur-Detektivin zur Profession zu machen, und sie eröffnet ihr eigenes Detektivbüro. Ihre neue Nachbarin Emma Comfrey bewirbt sich bei ihr als Sekretärin und wird, aufgrund ihres Durchsetzungsvermögens und detektivischen Geschicks, kurzerhand eingestellt. Der erste Fall des Detektivbüros ist eine vermisste Katze. Immerhin ein Anfang, aber mit viel Luft nach oben. Als dann eine junge Frau, die eine Todesdrohung erhalten hat, beschützt werden soll, ist Agatha endlich voll in ihrem Element. Damit nehmen allerdings auch so einige Verhängnisse ihren Lauf, die dafür sorgen, dass Agatha nicht nur in ein Fadenkreuz gerät …
Über die Autorin
M.C. Beaton ist eines der zahlreichen Pseudonyme der schottischen Autorin Marion Chesney. Nachdem sie lange Zeit als Theaterkritikerin und Journalistin für verschiedene britische Zeitungen tätig war, beschloss sie, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Mit ihren Krimi-Reihen um den schottischen Dorfpolizisten Hamish Macbeth und die englische Detektivin Agatha Raisin feiert sie bis heute große Erfolge in über 15 Ländern. M.C. Beaton lebt und arbeitet in einem Cottage in den Cotswolds.
M.C. BEATON
Agatha Raisin
und der tote Auftragskiller
Kriminalroman
Aus dem Englischen von
Sabine Schilasky
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 1993 by Marion Chesney
Titel der englischen Originalausgabe:
»Agatha Raisin and the Deadly Dance«
Originalverlag: Grand Central Publishing, Hachette Book Group
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anke Pregler, Rösrath
Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau
Unter Verwendung eines Motivs von © Arndt Drechsler, Leipzig
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-8796-4
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Richard Rasdall aus Stow-on-the-Wold,
seine Frau Lyn und ihre Kinder
Luke, Samuel und Bethany.
Vielen Dank an Richard,
dass er Denken freier gemacht hat!
Was Agatha Raisin letztlich bewegte, ihre eigene Detektei zu eröffnen, war jenes Ereignis, das sie »den Paris-Vorfall« getauft hatte.
Die sommerliche Trägheit, die Carsely in den Cotswolds lähmte, hatte die rastlose Agatha dazu gebracht, sich eine Woche Urlaub in Paris zu gönnen.
Sie war eine vermögende Frau, doch wie alle reichen Menschen neigte auch sie hin und wieder zu Phasen übertriebener Sparsamkeit. Also buchte sie sich ein Zimmer in einem kleinen Hotel nahe Saint-Germain-des-Prés im Quartier Latin. Agatha war schon in Paris gewesen und hatte sich dort alle Sehenswürdigkeiten angesehen, weshalb sie diesmal nur in Cafés sitzen und die Leute beobachten oder lange Spaziergänge entlang der Seine machen wollte.
Leider wurde es nach den ersten zwei Tagen in Paris sogar noch heißer als in Carsely, und in ihrem Hotel gab es keine Klimaanlage. Bei Temperaturen um vierzig Grad warf Agatha sich auf ihren klammen Laken hin und her und stellte fest, dass Paris niemals schlief. Gegenüber vom Hotel waren zwei Restaurants mit Tischen draußen, und bis ein Uhr nachts kamen die Akkordeonspieler, um den Gästen Geld abzuknöpfen. Während Agatha einer weiteren Darbietung von La Vie en Rose lauschte, stellte sie sich vor, eine Handgranate aus dem Fenster zu werfen. Und dann waren da noch der dröhnende Verkehr und das Gebrüll der Touristen, die ihre Trinkfestigkeit überschätzt hatten.
Trotzdem beschloss sie, so viel wie möglich von Paris zu sehen. Die Metro war billig und fuhr überallhin.
Am vierten Tag stieg sie die Treppe zur Metrostation Maubert-Mutualité hinunter, setzte sich auf einen der harten Plastikstühle auf dem Bahnsteig und nahm ihren U-Bahn-Plan hervor. Sie wollte zu W.H. Smith in der Rue de Rivoli und sich einige englische Bücher kaufen.
Als sie die Bahn kommen hörte, steckte sie den Plan wieder ein und öffnete eine der Türen mit diesem silbernen Griff, der sie anfangs so verwirrt hatte. Beim Einsteigen bemerkte sie, dass jemand dicht hinter ihr war, und spürte ein leichtes Vibrieren am Schulterriemen ihrer Handtasche.
Sie blickte nach unten und sah, dass die Tasche geöffnet war und ihr Portemonnaie fehlte.
Erbost starrte Agatha den Mann an, der sich hinter sie gedrängt hatte. Er war mittelgroß und weiß, hatte schwarzes Haar und trug ein blaues Hemd und blaue Jeans.
»Hey, Sie!«, sagte Agatha und stürzte sich auf ihn. Er sprang aus dem Wagen und in den nächsten. Agatha folgte ihm. Als sie ihn gerade packen wollte und sich die Bahn in Bewegung setzte, riss er die Türen auf und entkam auf den Bahnsteig. Agatha, der die Kraft fehlte, es ihm gleichzutun, blieb wütend in der Metro zurück und musste bis zur nächsten Station fahren.
Sie gab dem Pariser Friseur die Schuld. Er hatte behauptet, dass es in Maubert keine Kriminalität gebe, weil sie dort solch ein riesiges Kommissariat hätten. Also nahm sie die Metro zurück nach Maubert, rannte die Rolltreppe hinauf und fragte nach dem Weg zur Polizei. Man sagte ihr, dass sie sich gleich um die Ecke befinde.
Es handelte sich um einen hässlichen modernen Bau mit steilen Stufen, die zum Eingang führten. Schweißtriefend und schlecht gelaunt betrat Agatha die Eingangshalle. Dort saß eine sehr schöne junge Frau mit langen dunklen Haaren hinter Panzerglas.
Agatha erzählte ihr von dem Taschendiebstahl und erwartete, sofort zu irgendeinem Detective gebracht zu werden. Stattdessen begann die junge Frau, sie zu befragen. Angesäuert dachte Agatha, dass diese so junge und attraktive Frau lieber jemandem Platz machen sollte, der mehr Autorität ausstrahlte.
Sie hatte insofern Glück gehabt, als lediglich sechzig Euro in ihrem Portemonnaie gewesen waren und sie ihre Kreditkarten im Hotelsafe gelassen hatte. Ihr Pass befand sich ohnedies in einem anderen Seitenfach ihrer Handtasche.
Nachdem sie befragt worden war und ihren Pass abgegeben hatte, wurde sie gebeten, sich hinzusetzen und zu warten.
»Warum haben Sie hier keine Klimaanlage?«, murrte sie, doch die schöne junge Frau lächelte nur gütig.
Schließlich erschien ein großer Polizist und brachte sie in einen kleineren Raum. Dort setzte er sich an einen Schreibtisch und bedeutete ihr, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Er sah aus wie eine Illustration von Don Quijote de La Mancha. Wieder beschrieb sie den Taschendieb detailliert und endete mit: »In Paris wimmelt es von Gendarmen. Warum gehen die nicht mal runter in die Metro und fangen Diebe?«
»Das tun wir täglich«, antwortete er ruhig und in fehlerfreiem Englisch.
»Ich bin übrigens selbst Detektivin«, sagte Agatha.
»Ach ja?« Don Quijote zeigte einen Funken Interesse. »Und bei welcher Polizeistelle in England arbeiten Sie?«
»Bei keiner. Ich meine, ich eröffne meine eigene Detektei.«
Das Interesse erlosch. »Warten Sie hier«, sagte der Mann.
Hinter seinem Schreibtisch hing ein Spiegel. Agatha stand auf und sah hinein. Ihr Gesicht war gerötet vor Hitze, und ihr sonst schimmerndes braunes Haar hing stumpf und schlaff herunter.
Agatha setzte sich wieder, als er mit einem getippten Schreiben zurückkehrte, das sie unterzeichnen sollte. Alles auf Französisch.
»Das ist für Ihre Versicherung. Da steht, wenn wir ihn schnappen, droht ihm eine Haftstrafe, und er muss ein Bußgeld von dreitausend Euro zahlen. Und sollten wir Ihr Portemonnaie finden, wird es an die britische Botschaft geschickt. Unterschreiben Sie hier.«
Agatha unterschrieb.
»Das wäre dann alles.«
»Moment mal, was ist mit Fahndungsfotos?«
»Wie bitte?«
»Mit Fotos von Kriminellen. Ich würde den jederzeit wiedererkennen.«
»Heute Morgen wurden schon drei weitere Leute von demselben Mann bestohlen. Und die sind Franzosen. Wir benötigen Ihre Hilfe also nicht.«
Empört stand Agatha auf. »Da arbeite ich deutlich besser als Sie.«
Er schenkte ihr ein mattes, desinteressiertes Lächeln. »Dann wünsche ich Ihnen viel Glück.«
Agatha ging direkt zum Hotel zurück und checkte aus. Sie würde nach Hause fahren und ihre Detektei gründen. Mit dem Gedanken spielte sie bereits seit Wochen, doch der Diebstahl ihres Portemonnaies hatte ihr ein Gefühl von Kontrollverlust beschert, und das gefiel ihr nicht. Agatha Raisin hatte gern alles unter Kontrolle.
Am Flughafen Charles de Gaulle wollte sie zu ihrem Gate gehen, als sie auf eine Menschenmenge stieß, die von der Polizei zurückgehalten wurde. »Was ist los?«, fragte sie den Mann neben sich.
»Sie haben einen herrenlosen Koffer gefunden.«
Agatha wartete wütend. Dann hörte sie einen gewaltigen Knall. Den Gesprächen um sie herum entnahm sie, dass man das Gepäckstück, oder was es auch war, mit einer kontrollierten Explosion gesprengt hatte. In Heathrow oder anderen Flughäfen würde man die Besitzer per Durchsage auffordern, ihr Gepäckstück abzuholen, doch in Frankreich schien man lieber direkt zur Tat zu schreiten und die Sachen in die Luft zu jagen.
Als Agatha von Heathrow nach Hause fuhr, brauten sich dunkle Wolken zusammen, und bis sie auf die Straße nach Carsely bog, ging ein fulminantes Gewitter herunter.
Agathas zwei Kater, Hodge und Boswell, kamen sie begrüßen, als sie die Haustür aufschloss. Ihre Putzhilfe, Doris Simpson, schaute täglich vorbei, um die beiden zu füttern und in den Garten zu lassen, solange Agatha weg war.
Agatha ließ ihren Koffer im Flur stehen, ging in die Küche und öffnete die Gartentür. Regen troff vom Reetdach, aber die Luft war angenehm kühl und frisch. Da sie sich sorgte, sie könnte ihr Vorhaben, eine eigene Detektei zu eröffnen, wieder unbegrenzt aufschieben, beschloss sie, ihre Freundin Mrs. Bloxby zu besuchen.
Zehn Minuten später läutete sie an der Pfarrhaustür und hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht vorher angerufen hatte.
Doch Mrs. Bloxby, die Vikarsfrau, öffnete und strahlte sogleich. »Mrs. Raisin, wie schön! Kommen Sie herein. Warum sind Sie früher zurückgekehrt?«
»Ich bin ausgeraubt worden«, antwortete Agatha und erzählte von ihrem Abenteuer.
»Nun, das war ein Taschendiebstahl«, korrigierte Mrs. Bloxby freundlich. »Es passt gar nicht zu Ihnen, sich davon Paris vermiesen zu lassen. Ich dachte, Sie lieben Paris.«
»Tue ich auch, meistens«, erklärte Agatha mürrisch. »Es waren hauptsächlich die Hitze und der Schlafmangel. Und dann hat mich die Polizei auch noch einfach so abgewimmelt! Das Problem ist, dass es die ganze Zeit über irgendwelche Demonstrationen zu bewachen gibt. Da bleiben keine Kapazitäten mehr für Sonstiges.«
»Das können Sie nicht wissen.«
»Wie dem auch sei, es hat mich bestärkt, meine eigene Detektei zu gründen. Sie halten das doch für eine gute Idee, nicht wahr?«
»Oh ja«, stimmte Mrs. Bloxby zu. Auch wenn sie dachte, dass die Arbeit eintönig und schäbig sein würde, wäre ihre Freundin wenigstens beschäftigt, sodass sie sich nicht wieder verlieben und verletzt werden könnte. Agatha war süchtig danach, sich zu verlieben.
»Ich denke schon eine Weile darüber nach, eine Detektei aufzumachen«, sagte Agatha. »Ich finde, dass ich irgendeinen offiziellen Status brauche. Und ich bin eine gute Geschäftsfrau, also bekomme ich das sicher hin. Die Polizei ist dieser Tage völlig überlastet, und auf dem Land schließen sie eine Wache nach der anderen. Niemand hat Zeit, sich um kleine Einbrüche, ausgerissene Teenager oder verschwundene Ehefrauen und Ehemänner zu kümmern.«
»Und wenn es nichts wird?«, fragte die Vikarsfrau.
Agatha grinste. »Dann schreibe ich alles von der Steuer ab. Hat schon jemand James’ Cottage gekauft?«
Besagtes Cottage gehörte seit Jahren nicht mehr ihrem Exmann James Lacey, doch Agatha träumte nach wie vor davon, dass er eines Tages ins Dorf zurückkehrte. Für sie würde das Cottage direkt neben ihrem immer das von James Lacey bleiben, woran selbst der Umstand nichts änderte, dass sie sich auch in zwei der nachfolgenden Besitzer verliebt hatte.
»Ja, es ist tatsächlich verkauft. An eine Mrs. Emma Comfrey, pensionierte Beamtin. Sie sollten sich ihr vorstellen.«
»Vielleicht. Aber erst mal habe ich viel zu tun. Morgen fahre ich zu dem Maklerbüro in Mircester und sehe mir an, was sie an Büroräumen zu bieten haben.«
Mrs. Bloxby wunderte sich nicht, dass Agathas Interesse an der neuen Nachbarschaft in dem Moment verpufft war, in dem sie erfuhr, dass es sich um eine Frau und noch dazu eine Pensionärin handelte.
Es kostete sehr viel mehr Geld, eine Detektei zu gründen, als Agatha sich je hätte träumen lassen. Da sie mit Filmen im Stil von Raymond Chandler aufgewachsen war, dachte sie, man setzte sich in ein Büro und wartete, bis die schöne Frau mit den dicken Schulterpolstern hereinstolziert kam – oder so ähnlich.
Im Internet fand sie bald heraus, dass Detekteien inzwischen eine Vielzahl von Diensten anbieten mussten, nebst jeder Menge moderner Technik. Es wurde mit Wanzen und Wanzen-Aufspürgeräten, fotografischen und Videobeweisen sowie verdeckter und elektronischer Überwachung gearbeitet.
Dann bräuchte Agatha jemanden, der am Telefon saß, wenn sie nicht im Büro war. Natürlich war ihr klar, dass Ein-Frau-Unternehmen nur in Romanen vorkamen. Sie müsste einiges in fähige Mitarbeiter investieren, um Profit zu machen.
Sobald sie ein Büro im Zentrum von Mircester gefunden hatte, setzte sie Anzeigen in die Regionalzeitungen. Für die Foto- und Videobeweise engagierte sie einen Zeitungsfotografen im Ruhestand, Sammy Allen, und vereinbarte mit ihm, dass er freiberuflich für sie arbeiten würde. Und sie sicherte sich die Dienste eines berenteten Polizeitechnikers, Douglas Ballantine, der sich zu den gleichen Konditionen der elektronischen Sachen annehmen würde.
Im Büro wollte sie allerdings jemanden haben, der intelligent war und auch mit ermitteln könnte.
Und sie begann zu verzweifeln. Sämtliche Bewerber waren sehr jung und hatten ausnahmslos diverse Tattoos und Piercings.
Agatha fragte sich bereits, ob sie versuchen sollte, die Büroarbeit selbst zu übernehmen, als an die Tür geklopft wurde. Letztere hatte keine Milchglasscheibe, was Agatha passender gefunden hätte, entsprach es doch eher ihrer altmodischen Vorstellung von einem Detektivbüro.
»Herein«, rief sie und überlegte, ob das ihr erster Klient sein könnte.
Eine sehr große, dünne Frau trat ein. Sie hatte dichtes graues, kurz geschnittenes Haar, ein langes, schmales Gesicht, wache braune Augen und sehr große, kräftige Zähne. Auch ihre Hände und Füße waren überaus groß. Die Füße steckten in klobigen Wanderschuhen, und an ihren Fingern befand sich keinerlei Schmuck. Sie trug ein Tweedkostüm, das sie dem Aussehen nach schon seit Jahren besitzen musste.
»Bitte, setzen Sie sich«, sagte Agatha. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Tee? Kaffee?«
»Kaffee, gern. Zwei Stück Zucker, keine Milch.«
Agatha ging zu ihrer neuen Kaffeemaschine, schenkte einen Becher ein, gab zwei Zuckerwürfel hinzu und stellte ihn vor die Frau, von der sie hoffte, dass sie ihre erste Klientin wäre.
Agatha selbst war Anfang fünfzig und hatte sich gut gehalten. Sie hatte kurzes, schimmerndes braunes Haar, einen hübschen Mund und kleine Bärenaugen, die misstrauisch in die Welt blickten. Ihre Figur war ein wenig mollig, aber sie hatte tolle Beine.
»Ich bin Mrs. Emma Comfrey.«
Für einen Moment fragte Agatha sich, wo sie den Namen schon mal gehört hatte, und dann fiel ihr ein, dass Mrs. Comfrey ihre neue Nachbarin war.
Sie hatte grundsätzlich Mühe, spontan zu lächeln, doch sie bleckte die Zähne hinreichend freundlich, wie sie glaubte. »Und was ist Ihr Problem?«
»Ich habe Ihre Anzeige in der Zeitung gesehen, dass Sie eine Sekretärin suchen. Ich bewerbe mich auf die Stelle.«
Mrs. Comfreys Stimme war klar, und sie hatte die prononcierte Aussprache der Oberklasse. Agathas Arbeiterseele versetzte das einen kleinen Stich, und sie antwortete schroff: »Von einer Sekretärin erwarte ich, dass sie notfalls auch mit ermittelt. Dafür brauche ich eine junge, aktive Frau.«
Dabei musterte sie Mrs. Comfrey unverhohlen.
»Offensichtlich bin ich nicht jung«, entgegnete Mrs. Comfrey, »aber ich bin aktiv, kenne mich mit Computern aus und habe ein angenehmes Telefonverhalten, was, wie Sie feststellen werden, nicht unwichtig ist.«
»Wie alt sind Sie?«
»Siebenundsechzig.«
»Gütiger Himmel!«
»Aber ich bin sehr intelligent«, sagte Mrs. Comfrey.
Agatha seufzte und wollte sie schon zum Teufel jagen, als es zaghaft klopfte.
»Herein«, rief Agatha.
Eine ängstlich dreinblickende Frau trat ein. »Ich brauche einen Detektiv«, sagte sie.
Mrs. Comfrey nahm ihren Kaffee und ging zu dem Sofa an der Seite.
Agatha schwor sich, Emma loszuwerden, sobald sie wieder allein waren, und fragte: »Was kann ich für Sie tun?«
»Mein Bertie ist schon einen ganzen Tag weg.«
»Wie alt ist Bertie?«
»Sieben.«
»Waren Sie bei der Polizei? Dumme Frage. Natürlich waren Sie schon dort.«
»Die hat das nicht interessiert«, jammerte sie. Sie trug schwarze Leggings und ein ausgeblichenes schwarzes T-Shirt. Ihr Haar war blond mit dunklen Ansätzen am Scheitel. »Ich bin Mrs. Evans.«
»Ich verstehe nicht …«, begann Agatha, als Emma sagte: »Bertie ist Ihr Kater, nicht wahr?«
Mrs. Evans drehte sich zu ihr.
»Oh ja. Und er ist noch nie weggelaufen.«
»Haben Sie ein Foto von ihm?«, fragte Emma.
Mrs. Evans kramte in einer abgewetzten Handtasche und holte einen kleinen Stapel Fotos hervor. »Das hier ist das beste«, sagte sie, stand auf und reichte Emma eine Aufnahme von einem schwarz-weißen Kater. »Das ist in unserem Garten.«
Sie setzte sich neben Emma, die tröstend einen Arm um ihre Schultern legte. »Keine Sorge. Wir finden Ihren Kater.«
»Wie viel wird das kosten?«, fragte Mrs. Evans.
Agatha hatte eine Preisliste für ihre Dienste, in der jedoch das Auffinden von streunenden Katzen nicht vorgesehen war.
»Bei Erfolg fünfzig Pfund plus Ausgaben«, sagte Emma. »Ich bin Mrs. Raisins Sekretärin. Wenn Sie mir nun bitte Ihren vollen Namen, die Adresse und die Telefonnummer geben wollen.«
Perplex reichte Agatha ihr einen Notizblock, und Emma schrieb alles auf.
»Und jetzt gehen Sie nach Hause«, sagte Emma und half Mrs. Evans auf. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn Bertie zu finden ist, finden wir ihn auch.«
Als sich die Tür hinter der dankbaren Mrs. Evans geschlossen hatte, sagte Agatha: »Sie sind ziemlich von sich eingenommen, aber ich biete Ihnen folgenden Deal an: Finden Sie diesen Kater, dann haben Sie einen Job.«
»Sehr gut«, antwortete Emma ruhig und steckte den Notizblock in ihre voluminöse Handtasche. »Danke für den Kaffee.«
Und das wird das Letzte gewesen sein, was ich von ihr höre, dachte Agatha.
Emma Comfrey überprüfte die notierte Adresse. Sie ging in eine Zoohandlung in der Nähe, kaufte eine Transportbox für Katzen und bat um eine Quittung. Mrs. Evans lebte in einer Sozialsiedlung am Stadtrand von Mircester. Emma stieg in ihren kleinen Ford Escort und fuhr zu der Siedlung. Dort stellte sie fest, dass Mrs. Evans in einer Hausreihe wohnte, deren Gärten nach hinten raus an Ackerland grenzten. Die Bauern hatten die Ernte eingefahren, was bedeutete, dass es für Katzen jede Menge Feldmäuse zu jagen gab.
Sie parkte ihren Wagen und machte sich auf zu einem Weg, der in Richtung Felder führte. Sie marschierte auf den ersten Acker, wo ihre vernünftigen Schuhe keinerlei Mühe mit den Stoppeln hatten. Es war ein warmer, angenehmer Tag mit kleinen Federwölkchen an einem blassblauen Himmel. Emma betrachtete das Feld und drehte sich dann zum Garten von Mrs. Evans um. An der Grenze wuchsen Stechginstersträucher und hohes Gras. Emma ging hin, doch plötzlich wurde ihr flau, und sie musste sich hinsetzen. Sie konnte nicht glauben, dass sie es gewagt hatte, um den Job zu bitten, und sie war sicher, dass sie den Kater nicht finden würde.
Emma hatte mit Anfang zwanzig einen Anwalt geheiratet, Joseph Comfrey. Er hatte ein gutes Einkommen gehabt, doch kaum drei Wochen nach ihren Flitterwochen hatte er gesagt, es sei schlecht für Emma, zu Hause herumzusitzen, und sie solle sich Arbeit suchen. Emma war ein Einzelkind und schon von ihren Eltern schikaniert worden, also machte sie brav eine Ausbildung zur Verwaltungsangestellten und hatte seitdem langweilige Sekretariatsarbeit für das Verteidigungsministerium geleistet. Joseph war ein fieser Mann gewesen. Obwohl er recht viel für sich selbst ausgab – den neuesten Jaguar, Oberhemden aus der Jermyn Street und Anzüge aus der Savile Row –, konfiszierte er Emmas Lohn und gab ihr lediglich ein kleines Taschengeld. Als sie in den Ruhestand ging, beschwerte er sich tagein, tagaus über ihre mickrige Pension. Vor zwei Jahren war er an einem Herzinfarkt gestorben, was aus Emma eine sehr vermögende Frau gemacht hatte. Kinder gab es keine, weil Joseph nichts von Kindern gehalten hatte. Nach seinem Tod hatte Emma zuerst lange Tage und Nächte in der großen Villa in Barnes verbracht. Die extreme Sparsamkeit, die er ihr antrainiert hatte, gewöhnte sie sich nur schwer ab, und überall glaubte sie, sein stetes Nörgeln und Schimpfen zu hören.
Schließlich brachte sie den Mut auf, das Haus zu verkaufen. Sie packte die Kleidung ihres Mannes zusammen und spendete sie einer Wohltätigkeitsorganisation; seine Fachliteratur schenkte sie einem angehenden Anwalt. Und dann kaufte sie das Cottage in der Lilac Lane neben Agathas. Zwar waren die Frauen im Dorf freundlich, doch Emma begann sich vor allem für die Geschichten zu interessieren, die sie über ihre Nachbarin hörte. Dann sah sie Agathas Anzeige, und ihr wurde einmal mehr bewusst, dass sie schlicht zu viel Zeit hatte. Es hatte sie eine Menge Überwindung gekostet, in Agathas Büro zu gehen und um den Job zu bitten. Wäre Agatha weniger streitlustig gewesen, hätte die normalerweise schüchterne Emma sich vielleicht entschuldigt und das Ganze wieder vergessen. Doch Agathas Benehmen hatte zu viele Erinnerungen an ihren tyrannischen Ehemann und die abscheulichen Exkollegen geweckt, und da war ihr Trotz erwacht.
Emma seufzte. Ihr kurzer glorreicher Moment war vorbei. Der belämmerte Kater könnte irgendwo sein, vielleicht war er sogar schon eingefangen oder von einem Lastwagen überfahren worden. Sie war als Methodistin aufgewachsen, hatte jedoch nach und nach aufgehört, zu den Gottesdiensten zu gehen. Allerdings glaubte sie immer noch vage an die Macht des Guten im Universum. Lange Zeit hockte sie da, die knochigen Knie an die Brust gezogen, und beobachtete die Wolkenschatten, die über die goldenen Stoppeln jagten. Und auf einmal empfand sie einen tiefen Frieden, als wären die Vergangenheit mit ihrem Elend und die Zukunft mit ihrer Ungewissheit aus ihrem Kopf gewischt worden. Schließlich stand sie auf und streckte sich. Es wurde Zeit, ernsthaft nach dem Kater zu suchen.
Als sie sich gerade abwenden wollte, fiel ein Sonnenstrahl auf das hohe Gras und die Ginsterbüsche, und Emma bemerkte dort etwas. Sie bog das Gras auseinander und sah genauer hin. Zwischen den Halmen lag ein schwarz-weißer Kater und schlief tief und fest.
Leise eilte sie zu ihrem Wagen zurück, holte die Transportbox und hoffte, der Kater wäre immer noch da, wenn sie zurückkam. Das Glück meinte es gut mit ihr. Sie packte den Kater im Nacken und steckte ihn in die Box. Dann blickte sie zu den Häusern, darunter das der Evans. Niemand zu sehen.
»Das erste Mal Glück im Leben«, sagte Emma. »Wart’s ab, bis die Raisin das sieht!«
Agatha blickte hoffnungsvoll auf, als die Bürotür geöffnet wurde, um sogleich enttäuscht zu sein, weil es Emma war. Und dann sah sie die Transportbox. »Du lieber Himmel! Ist das Bertie?«
»Ja, das ist er.«
»Sind Sie sicher?«
»Ich habe ihn in einem Feld hinter seinem Haus gefunden, und ich habe ihn mit den Fotos verglichen. Für die Box habe ich eine Quittung, und ich werde Katzenfutter und ein Katzenklo besorgen müssen.«
»Warum das denn? Ich meine, rufen Sie die Frau an, dass sie ihn abholen soll.«
»Keine gute Idee.«
»Darf ich Sie daran erinnern, wer hier das Sagen hat?«
»Ja, aber wäre es nicht besser, bis heute Abend zu warten? Es soll ja nicht zu leicht aussehen. Sagen Sie ihr, wir haben Bertie an der Schnellstraße gefunden und ihm das Leben gerettet. Danach rufe ich das Mircester Journal an und erzähle ihnen eine hübsche Geschichte über die neue Detektei.«
Agatha, die noch nie in Sachen PR übertrumpft worden war, überkam ein Anflug von Eifersucht. Aber da sie derlei Regungen bei sich konsequent leugnete, schob sie das seltsame Gefühl auf den Genuss von zu viel Kaffee.
»Na gut«, antwortete sie verschnupft.
»Dann habe ich den Job?«
»Ja.«
Emma lächelte glücklich. »Ich besorge alles Nötige für den Kater, dann können wir über mein Gehalt sprechen.«
Beim Mircester Journal wusste man, dass Geschichten mit glücklichem Ende Zeitungen verkauften. Nach einiger Diskussion hatten Emma und Agatha entschieden, den Kater über Nacht im Büro zu lassen und Mrs. Evans gleich morgen früh zu übergeben, damit auch ja Reporter und Fotografen vor Ort waren.
Emma konnte kaum schlafen. Im Geiste sah sie Bertie in der Nacht sterben und eine von Mrs. Evans’ Nachbarinnen aussagen, sie habe tags zuvor gesehen, wie eine Frau den Kater vom Feld hinten entführt hat.
Doch alles lief verblüffend reibungslos. Agatha sehnte sich danach, allein die Lorbeeren für den Fall einzustreichen, aber das konnte sie schlecht, da Emma neben ihr stand. Sie war ziemlich beleidigt, als das Mircester Journal ein Foto von Mrs. Evans, Emma und dem Kater druckte. Aber immerhin erwähnten sie die neue Detektei.