Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Prolog
  7. Kapitel 1
  8. Kapitel 2
  9. Kapitel 3
  10. Kapitel 4
  11. Kapitel 5
  12. Kapitel 6
  13. Kapitel 7
  14. Kapitel 8
  15. Kapitel 9
  16. Kapitel 10
  17. Kapitel 11
  18. Kapitel 12
  19. Kapitel 13
  20. Kapitel 14
  21. Kapitel 15
  22. Kapitel 16
  23. Kapitel 17
  24. Kapitel 18
  25. Kapitel 19
  26. Kapitel 20
  27. Drei Wochen später

Über das Buch

Seitdem Emma Cassandras fabelhaftes Café entdeckt hat, verbringt sie ihre ganze Freizeit in der Backstube. Doch als der Hexenrat zur Walpurgisnacht seinen Besuch ankündigt, ist die Aufregung groß. Die Zauberer wollen sichergehen, dass die magische Bibliothek bei Cassandra in guten Händen ist. Die Hexe hat die Bücher in der Vergangenheit versteckt – aber wo genau, das weiß sie nicht mehr. Emma, Paula und die Hexen springen zurück ins Jahr 1983. Dort beginnt ein wahrer Wettlauf gegen die Zeit …

Über die Autorin

Mona Herbst ist eine erfolgreiche Autorin, die unter anderem Namen bereits mehrere preisgekrönte Bücher veröffentlicht hat. Sie lebt mit ihrer Familie und zahlreichen Tieren auf dem bayerischen Land, wo sie ihre Liebe zu dicken Büchern und süßen Kuchen ungestört ausleben kann.

Cassandra Carpers fabelhaftes Café. Zeitreise mit Zuckerguss ist bereits das zweite Buch der Autorin im Boje Verlag.

Mona Herbst

Cassandra Carpers
fabelhaftes Café

ZEITREISE MIT ZUCKERGUSS

Prolog

Erinnert ihr euch noch? In der Abbey Road gibt es diesen Laden mit der rosa gestrichenen Tür. Den Laden mit dem Raben im Schaufenster und den kleinen Tischchen mit den Etageren, auf denen die köstlichsten Cupcakes auf diejenigen warten, die etwas Magie in ihrem Leben brauchen. Über der Tür hängt ein Schild. „Cassandra Carpers fabelhaftes Café“ steht dort in geschwungenen Lettern. Darunter sieht man das Bild eines Cupcakes. Er sieht köstlich aus, mit einer glänzenden Beere auf der Creme.

Seit die Besitzerin des Ladens das Schild neu gemacht hatte, strömten immer mehr Menschen in die Cupcakery. Manche kamen, weil sie sich einsam fühlten oder traurig und dieses Café so einladend aussah. Wenn sie erst mal Platz genommen und einen Cupcake – oder zwei – verzehrt hatten, kam es vor, dass sie mit anderen Kunden ins Gespräch kamen. Und manchmal passierten daraufhin ganz unglaubliche Dinge.

So geschah es, dass sich eine junge Frau, die vor Liebeskummer wie blind gewesen war, in ihren Nachbarn verliebte, der zufällig auch im Café war und sie auf einen Zitronen-Cupcake mit Minzcreme einlud. Eine alte Dame, die schon seit Jahren alleine in ihrem Haus lebte, traf zwei andere alte Damen. Sie wurden beste Freundinnen und beschlossen nach kurzer Zeit, das Haus zu renovieren, um dort gemeinsam zu wohnen. Kinder kamen vorbei, um auf den Stufen des Cafés zu spielen und sich eine Limonade zu erbetteln, Fremde machten Pause und fanden neue Freunde, und zwischen all diesen Menschen wirbelte Cassandra Carper hin und her. Buk Cupcakes und verströmte bei jedem ihrer Schritte beste Laune.

Kapitel 1

Inzwischen war es vor dem Café Frühling geworden. Die kleine japanische Wildkirsche blühte mit Tausenden von hellrosa Blüten, und die Vögel lärmten in ihren Ästen. Unter dem Baum saß eine ältere Frau und spielte mit den herabfallenden Blüten. Sie hatte zwei lange geflochtene Zöpfe, die ihr über den Rücken baumelten, und trug ein besticktes hellrosa Kleid. Das Kleid hatte sie Paulas Mutter abgeluchst, die es eines Tages aus dem Theaterfundus mit nach Hause gebracht hatte. Nun trug sie es fast jeden Tag. Es war ihr etwas zu klein und reichte nur bis knapp zu den Knien. Im Theater war es das Kleid von Aschenputtel gewesen, doch nun stand dieses Stück nicht mehr auf dem Spielplan, und so hatte Emmas Mutter das Kleid hergeschenkt. War es schmutzig, trug die Frau ein weißes Tutu, aber das mochte sie bei Weitem nicht so gerne.

Jetzt saß sie also unter dem Baum und war ganz vertieft in die Blütenblätter in ihren Händen. Sie lächelte über das ganze Gesicht. Alle Leute, die in Cassandra Carpers Café kamen, nannten sie Missy. Nur Emma, Paula, Ben und die Hexen Cassandra und Molly Parker wussten, wer sie in Wirklichkeit war. In Wirklichkeit war sie die gefürchtete Mume, die seit ihrem letzten Abenteuer alles, einfach alles vergessen hatte. Sie wusste nicht mehr, was Witchcastle war, wer sie einst gewesen war und welch gemeinen Plan sie verfolgt hatte, um an die magische Bibliothek zu kommen und die Macht an sich zu reißen.1

„Beten wir zu unserer dunklen Göttin, dass es so bleibt“, pflegte Molly Parker gern mit einem Kopfschütteln zu sagen.

Im Café duftete es nach Apfelkompott und Kirschkuchen. Der Rabe Peaky hockte wie immer im Schaufenster und ärgerte sich über die Amseln im Kirschbaum. Emma und Paula saßen an einem runden Tischchen vor der Theke und beugten sich über ihre Mathematikhausaufgaben. Vor jedem Mädchen stand ein leerer Teller mit Krümeln.

Hinten im sechseckigen Raum werkelte Cassandra Carper. Sie machte Frühjahrsputz und kehrte mit ihrem Besen den Winter zur Hintertür hinaus. Doch sie war nicht allein. Bei ihr war Mr Tucker, Emmas und Paulas Mathematiklehrer. Er saß zerknirscht auf einem schmalen, wackeligen Hocker und sah Cassandra dabei zu, wie sie sich mit gleichmäßigen Besenstrichen durch den Raum arbeitete.

„Und wie lange halten diese Beschwerden schon an?“, fragte Cassandra Carper streng. Sie hielt im Kehren inne und blieb genau vor Mr Tucker stehen. Dabei reichte sie ihm nur bis zum Haaransatz, obwohl der Lehrer saß und Cassandra stand.

„Nun. Etwa fünf Wochen“, sagte er vorsichtig.

„Und warum sind Sie nicht sofort zu mir gekommen?“, wollte Cassandra wissen. „Das wäre das einzig Richtige gewesen!“

Mr Tucker knetete seine Finger.

„Meine Frau meinte, das ginge nicht“, flüsterte er.

„Was ginge nicht?“ Cassandra stemmte die Hände in die Seiten. Eine Staubwolke wirbelte durch den Raum und wehte zur Hintertür hinaus. Die Hexe liebte den Frühjahrsputz. Sie fand es sehr nützlich, einmal im Jahr sauber zu machen. Vor allem, wenn man eine Hexe ist und so allerlei magische Hilfsmittel zur Hand hat. Sie wedelte einmal mit den Armen, und ein frischer Wind pustete noch einmal gründlich in jede Ecke. Mr Tuckers Haare wurden zerzaust, was ihn ziemlich mitgenommen aussehen ließ.

„Die Cupcakes. Jede Woche Cupcakes.“

Die kleine Hexe zog fragend die Augenbrauen nach oben. „Was soll daran falsch sein?“

„Sehen Sie sich meinen Bauch an!“

Umständlich kramte Cassandra Carper in ihrer Schürzentasche. Sie fand ein Säckchen Puderzucker, etwas Zauberpulver, ein Buch über magische Tränke und einen getrockneten Skarabäus. Schließlich zog sie ihre Brille heraus, die mit dem riesigen, goldenen Gestell, und setzte sie sich auf die Nase.„Was soll mit dem Bauch sein?“, fragte sie ungeduldig.

„Meine Frau meint, ich werde zu dick!“

Darauf antwortete Cassandra Carper nichts. Sie sah Mr Tucker nur weiterhin streng an.

„Vor fünf Wochen habe ich meiner Klasse eine Strafarbeit gegeben“, erzählte er zerknirscht. „Sie waren etwas laut gewesen. Und die Woche darauf ließ ich drei Jungen nachsitzen.“

„Die Clark-Brüder?“, wollte Cassandra wissen.

„Genau die.“ Mr Tucker senkte niedergeschlagen den Blick, und Cassandra verkniff sich auszusprechen, was sie dachte. Sie dachte, dass es wohl nie verkehrt war, die Clark-Brüder nachsitzen zu lassen. Doch sie hielt den Mund.

„Dann ging es Schlag auf Schlag“, erzählte der Mathelehrer weiter. „Ich schrie Matthew McGoyle an, weil er mit dem Stuhl kippelte und nach hinten umfiel. Sie müssen wissen, das tut er jeden Tag. Mehrmals. Und nicht nur er. Jeden Tag fallen mindestens fünf Schüler mit dem Stuhl um, weil sie kippeln. Das zehrt an den Nerven.“

Cassandra nickte verständnisvoll. „Verstehe. Und dann?“

„Dann habe ich die Hausaufgaben verdoppelt. Und einen Test geschrieben, den ich sehr streng benotet habe.“

Der Lehrer raufte sich die Haare und sank in sich zusammen. „Es wurde jeden Tag schlimmer.“

„Trotzdem hätten Sie gleich kommen müssen“, sagte Cassandra sanft.

Dann klopfte sie ihm beruhigend auf die Schulter und begann erneut, in ihrer Schürze zu kramen.

„Mein kluges Buch mit dem ledernen Einband“, kündigte sie an, „es weiß immer einen Rat. Hier. Ich brauche nicht lange zu suchen. Wir benötigen Karamell. Klebriges, süßes Karamell mit einer Note von Steinsalz. Dazu etwas kandierten Ingwer …“ Die Hexe blickte auf.

„Emma!“, rief sie in den Ladenraum hinaus, „bring bitte den Butterscotch-Cupcake für Mr Tucker. Und zwar schnell. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!“

Als Mr Tucker etwa fünfzehn Minuten später zur Tür hinaustrat, hatte er nicht einen, sondern drei Butterscotch-Cupcakes gegessen. Danach hatte er Emma und Paula von den Hausaufgaben befreit und versprochen, sich den Test noch einmal anzusehen und netter zu bewerten.

Cassandra Carper blickte ihm seufzend nach.

„Es gibt schwere Fälle“, sagte sie zu den Mädchen, die neben ihr an der Tür lehnten. „Und diese Menschen brauchen ein Leben lang magische Unterstützung.“

„Aber was ist, wenn du mal nicht da bist?“, fragte Paula entsetzt.

„Wieso sollte ich nicht mehr da sein?“, gab Cassandra zurück. „Nun kommt. Nachdem ihr jetzt mit den Hausaufgaben fertig seid, könnt ihr den Teig schlagen, während ich meinen Frühjahrsputz zu Ende mache. Was man anfängt, muss man zu Ende bringen. Das hat jedenfalls meine Mutter immer gesagt.“

Emmas Mutter sagte so etwas nie. Dafür war sie viel zu selten zu Hause. Immerhin schrieb sie ihrer Tochter regelmäßig Textnachrichten, in denen es von kleinen Herzchen, Kuss-Smileys, Blumen und Sonnen nur so wimmelte. Außerdem hatte sie Emma erlaubt, sie jederzeit im Theater zu besuchen.

Aber Emma war eigentlich viel lieber bei Cassandra im Café. Hier gab es immer etwas zu tun und zu erleben! Nichts war schöner, als zuzusehen, wie Cassandra magischen Teig in Förmchen füllte. Dann blubberte und zischte es, und manchmal sprühten sogar Funken! Was für ein Erlebnis, wenn der Duft von Zimt und Kardamom die Küche erfüllte oder der von Rose und Zirbelkiefer!

Emma und Paula ließen sich nicht zweimal sagen, dass sie mit den Backvorbereitungen beginnen konnten. Sie liefen sofort hinter Cassandra in die gemütliche Küche, die man durch eine Schwingtür hinter dem Tresen des Cafés erreichte.

„Ich denke, wir werden heute Glücks-Blüten-Cupcakes backen. Die hatten wir schon sehr lange nicht mehr im Sortiment. Und heute ist doch eindeutig ein Blüten-Tag!“

Cassandra klatschte vergnügt in die Hände und fasste in ihre Schürze, um ein großes Tuch herauszuholen.

„Oh“, machte sie. „Da fällt mir ein …“ Vorsichtig breitete sie das karierte Küchentuch auf dem ausladenden Holztisch mitten im Raum aus und strich es glatt.

Der cheperer“, murmelte die Hexe und legte etwas glänzend Schwarzes mitten auf das Tuch.

„Was ist das?“, wollte Emma wissen.

„Ein Skarabäus“, erklärte Paula, die wie immer über alles Bescheid wusste.

Emma beugte sich über das Tuch und betrachtete das schwarze Teil. Es war ein Käfer, aber dann auch wieder nicht. Vielleicht war es ein Schmuckstück? Als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass es sich um einen glänzenden Stein handelte. Aber um einen Stein mit Beinen und Augen.

„Ein Skarabäus, ja. Auch bekannt als der heilige Pillendreher“, sagte Cassandra.

„In Ägypten wurde er verehrt“, erklärte Paula weiter, „und zwar als der Urgott. Die Ägypter nahmen nämlich an, dass es den Käfern möglich war, aus dem Nichts Leben zu schaffen.“

Mit einem Lächeln streichelte Cassandra über den glatten Stein. „Das ist meine Geburtstagsüberraschung für Molly. Sie wollte schon immer einen haben, und ich habe dieses versteinerte Exemplar an Samhain beim Hexen-Flohmarkt auf den Isles of Lewis gefunden.“

„Da wird sie sich bestimmt freuen“, sagte Paula. „Darf ich ihn anfassen?“

„Klar“, sagte Cassandra vergnügt. „Ich kann mir schon so richtig vorstellen, wie sie die Augen aufreißt, wenn sie ihn sieht.“

Neugierig beugte sich Emma tief über den Stein auf Paulas Handfläche. Eigentlich konnte sie sich nicht vorstellen, dass Molly Parker davon so begeistert war. So wie sie Molly kannte, konnte die sich nur für etwas Lebendiges begeistern. Mit Vorliebe kümmerte sie sich um kranke und verletzte Tiere. Am liebsten waren ihr dabei die magischen Tiere, die die Menschen nie zu Gesicht bekommen durften. Mit einem Schauern erinnerte sich Emma an den Drachenpfau, der den Battersea Park in Brand gesteckt hatte!

„Aha“, machte Emma deswegen nur. Denn der Skarabäus sah eindeutig eher wie ein Amulett aus und nicht wie ein richtiges Tier.

„Wieso so skeptisch?“, fragte Cassandra, und plötzlich lächelte sie spitzbübisch. „Das wird eine riesige Überraschung! Ich muss ihn nur noch lebendig werden lassen.“

Hastig legte Paula den Stein zurück auf das Küchentuch.

„Was ist, hast du Angst vor Käfern?“, wollte Cassandra wissen und grinste dabei.

„Na ja“, antwortete Paula nur und trat einen Schritt zurück.

„Ich weiß auch schon, wie es geht, ich muss nur …“, fing Cassandra an, aber plötzlich hörten sie die Ladenglocke bimmeln, und eine vergnügte Stimme rief „Hallo, ihr Süßen!“ in den Raum.

„Molly!“, zischten alle drei entsetzt, und Cassandra schlug mit einer hastigen Bewegung das Küchentuch über den Stein.

„Wo seid ihr?“

Als sich Emma zu Cassandra umdrehte, war von dem Küchentuch und dem Skarabäus nichts mehr zu sehen.

„Na, ihr drei!“, rief Molly fröhlich, während sie in die Küche gestürmt kam. Sie trug trotz des schönen Wetters einen riesigen weinroten Umhang, einen schillernden weinroten Schal und einen unförmigen Hut. Ihre Ohrringe waren riesige weinrote Kugeln, in denen sich die Küche spiegelte. „Wieso seht ihr denn so entsetzt aus?“

„Deine Ohrringe“, erklärte Cassandra knapp, wandte sich dann ab und holte unter lautem Klappern Schüsseln und Schneebesen aus den Fächern. „Du siehst aus wie ein entlaufener Christbaum!“

„Und ihr seht aus, als hättet ihr ein großes Geheimnis“, widersprach Molly. Mit einer schwungvollen Bewegung warf sie ihren Hut auf den einzigen Stuhl in der Küche und scheuchte dabei Peaky den Raben auf, der sich dort häuslich niedergelassen hatte.

„Unsinn“, widersprach Cassandra, und Emma musste kichern, weil Molly ohne Hut aussah, als würde sie eine explodierte rote Perücke tragen.

„Hat das etwa mit meinem Geburtstag zu tun?“, fragte Molly neugierig und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Du hast Geburtstag?“, fragte Emma mit unschuldiger Miene und versuchte, ihr Kichern zu unterdrücken.

„Jawohl! Und ich habe mir heute schon das Geschenk besorgt, das ich mir schenken werde.“

„Du kannst dir doch nicht selbst Geschenke besorgen“, sagte Cassandra kopfschüttelnd, während sie Mehl und Zucker aus einem Schrankfach holte.

„Kann ich wohl“, erklärte Molly. „Wollt ihr es sehen?“

„Dann ist es keine Überraschung mehr“, wandte Paula ein.

„Na, IHR habt doch nicht Geburtstag, ihr braucht also an meinem Geburtstag nicht überrascht werden.“

„Und du?“, fragte Emma nach.

„Na ja. Bis zu meinem Geburtstag habe ich es wahrscheinlich schon vergessen. Sind ja noch ein paar Tage …“ Mit einem strahlenden Lächeln öffnete Molly ihr Cape und fasste in eine Innentasche. Auf einmal piepste es vielstimmig, und mit einem Schmerzensschrei zog Molly ihre Hand wieder zurück.

„Uh“, machte sie nur und lächelte verlegen.

„Was ist das, Molly Parker, du verrückte Henne?!“, fragte Cassandra streng. „Sag nicht, es ist schon wieder ein kleiner Drache. Waren wir uns nicht einig, dass du die Finger von Drachen lässt?“

„Es ist natürlich kein Drache!“, stieß Molly hervor und steckte ihren Zeigefinger in den Mund.

Mit großen Augen starrten die Mädchen Molly an.

„Sie sind komplett harmlos.“

„Aber bissig“, stellte Paula fest.

„Ja, aber sie haben nur winzige Zähnchen.“

Vorsichtig öffnete Molly noch einmal ihr Cape, und diesmal flatterte tatsächlich etwas heraus. Es waren zwei kleine Fledermäuse mit riesigen blauen Ohren. Mit einem entsetzten Kreischen flüchtete Peaky auf den Schrank.

„Zwei Saphir-Langohr-Fledermäuse“, sagte Molly stolz. Die zwei segelten aufgeschreckt durch den Raum, streiften fast den Raben und zischten danach an Paula und Emma vorbei.

„Oh“, machte Cassandra hilflos.

„Ihre Ohren leuchten in der Nacht“, erklärte Molly. „Das sieht wunderschön aus. Es ist so hell, dass man sogar dabei lesen kann.“

Alle gingen in Deckung, weil die zwei Fledermäuse weiter aufgeregt kreuz und quer im Zimmer herumschossen.

„Quasi eine Art fliegende Leselampe“, schlussfolgerte Paula, die sich unter den Tisch gerettet hatte.

„Na ja. Ganz so würde ich das nicht sagen“, erwiderte Molly, die auch in die Knie gegangen war.

„Saphir-Langohren sind die bissigsten Fledermäuse, die es gibt“, erklärte Cassandra, die sich auch auf den Boden gekauert hatte und die Augen zusammenkniff. „Sie beißen nicht nur ihre Artgenossen, sondern auch jede Art von …“

Peaky kreischte auf und machte einen Sturzflug zu Boden. Empört schlug er mit den Flügeln und ging hinter Emma in Deckung.

„… Vögeln und Menschen …“, ergänzte Cassandra matt.

„Kein Problem, ihr Süßen!“, sagte Molly und stand auf.

Vorsichtshalber kniff Emma die Augen zu. Eine Weile hörte man nur Fluchen und Quietschen, ein weinrotes Cape segelte durch die Küche, und ein weinroter Hut kullerte an den Mädchen vorbei in die Ecke. Schließlich unterdrückte Molly einen Schrei, und dann war es endlich still.

„Tolles Geburtstagsgeschenk“, murmelte Paula dumpf, die sich unter dem Tisch sicherheitshalber noch in den kleinen Teppich gewickelt hatte, der dort lag. „Ich werde Molly meinen Geburtstag nicht verraten“, flüsterte sie zu Emma rüber. „Du weißt schon, nur zur Sicherheit. Falls sie auf die Idee kommt, auch für mich eine Überraschung zu besorgen.“

Emma musste grinsen.

„Ihr könnt rauskommen“, flötete Molly nun.

Langsam kamen die drei anderen aus der Deckung, während Molly verlegen lächelte. Cassandra schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.

„Wann hast du denn Geburtstag?“, wollte Emma von der Hexe wissen.

„Am dreißigsten April“, erzählte Molly. „Und ich freue mich schon riesig. Seit ein paar Monaten habe ich hier richtig gute Freunde. Früher war das nicht so, da hatte ich nur Hexenfreunde, aber neuerdings …“ Sie klatschte in die Hände vor Begeisterung. „Ich überlege schon die ganze Zeit, wen ich einladen werde! Auf jeden Fall unsere zwei Mädchen hier und ihre Eltern. Und diesen Busfahrer, der immer so lustige Scherze macht. Und diesen griesgrämigen Hausmeister von gegenüber! Das wird einfach großartig! Wir machen einen großen Kessel mit Gemüsesuppe, und dazu gibt es unser knuspriges Weißbrot, das, das einen so glücklich macht. Darüber streuen wir die aromatischen Kürbiskerne und leckere Sonnenblumenkerne …“

Versöhnt über diese leckeren Aussichten, flatterte Peaky auf Mollys Schulter und wetzte seinen Schnabel an einem ihrer Ohrringe. „Gutes Mädchen“, lobte der Rabe seine Hexenfreundin.

„Ich weiß“, erklärte Molly bescheiden. „Ich werde einen langen Tisch unter dem Baum draußen decken, und auf die blütenweiße Tischdecke werde ich Blüten regnen lassen, rosa und weiß, und an den Tischbeinen werden dunkelgrüne Efeuranken wachsen.“

Auch Cassandra lächelte inzwischen wieder. Sie atmete einmal tief durch und wandte sich dann dem Kühlschrank zu, um weitere Backzutaten herauszuholen.

Molly seufzte glückselig und ließ sich auf den Stuhl sinken. Doch im nächsten Moment war die Freude schon wieder vorbei. Als hätte man einen Schalter umgelegt, spritzten auf einmal Tränen aus Mollys Augen.

„Molly!“, stieß Cassandra hervor und ließ die Eier fallen, die sie gerade in der Hand hielt. „Was ist denn auf einmal los?!“

„Es geht nicht! Das ist los!“, schluchzte Molly. „Es ist unmöglich!“

„Aber warum?“ Emma legte Molly einen Arm um die Schultern. „Was geht nicht?“

Molly schlug die Hände vors Gesicht. Zwischen ihren Fingern quollen dicke Tränen hervor. Emma kannte Mollys Ausbrüche mittlerweile, die meist unvermutet und schnell kamen und zum Glück meistens genauso plötzlich und schnell endeten.

„Warum habe ausgerechnet ich in der Walpurgisnacht Geburtstag?!“, hörten sie Molly undeutlich jammern. „Warum kann es nicht einen Tag vorher oder nachher sein?“

„Du solltest stolz sein, an so einem wichtigen Tag geboren zu sein“, meinte Cassandra sanft und tätschelte Mollys Haare.

„Es ist der bescheuertste, unglücklichste, dümmste Tag, um Geburtstag zu haben“, stieß Molly hervor.

Die Mädchen sahen Cassandra fragend an, doch die zuckte nur bedauernd die Schultern.

„Alle Hexen sind in der Walpurgisnacht auf dem Craigh na dun …“, flüsterte sie.

„Du kannst es ruhig laut sagen“, heulte Molly, „niemand ist da. Niemand ist da, um mit mir zu feiern. Weil alle bei diesen bescheuerten Steinen sind und Hexennacht feiern.“

„Aber warum bist du nicht einfach auch dabei, Molly?“ wollte Paula wissen.

Doch das war keine gute Idee gewesen, denn jetzt weinte Molly nur noch lauter.

„Tja“, meinte Cassandra, „das ist eine traurige Geschichte. Molly wurde bis auf Weiteres von den Feierlichkeiten am Craigh na dun ausgeschlossen, nachdem sie drei Jahre in Folge ein verbotenes Tier mit zur Walpurgisnacht gebracht hatte.“

„Oh, welche Tiere waren das?“ Emma war begeistert, denn im Grunde teilten sie und Paula Mollys Tierliebe.

„Einmal war es der Welpe eines schottischen Werwolfes. Ich hatte ihn auf meiner Reise zum Craigh na dun gefunden. Ich musste ihn mitnehmen. Er wäre verhungert…“, schniefte Molly und wischte sich mit einem großen karierten Taschentuch die Tränen aus den Augen.

„Sie hatte ihn in einem Deckelkorb, in dem Gwendolyn Sword die Walpurgisnacht-Muffins vermutete. Und als sie in einem unbemerkten Augenblick den Korb öffnete, erschreckte sie sich fast zu Tode“, kicherte Cassandra, „das war sehr lustig.“

„Das war gar nicht lustig!“, widersprach Molly streng. „Sie zwangen mich, den armen Kerl in die Highlands zu bringen, und ich brauchte nachher Stunden, um ihn wieder aufzuspüren.“

„Was hattest du noch für Tiere dabei?“, fragte Emma aufgeregt. Sie liebte Mollys Geschichten.

„Einen neunköpfigen Zwergdrachen und eine walisische Giftkröte“, sagte Molly kurzangebunden. Dann seufzte sie. „Ich hätte es nicht tun dürfen. Aber das Ganze ist jetzt achtzehn Jahre her …“

„Mach dir nichts draus, Molly! Paula und ich sind ja da. Wir werden mit dir feiern“, versprach Emma. Sie drückte Molly fest und verschwand fast in der Haarwolke der Hexe.

„Da fällt mir ein, Cassandra, wann wirst du eigentlich die Bibliothek zurückholen? Du weißt schon. In der Walpurgisnacht steht ja auch wieder der alljährliche Termin an, an dem diese Spaßbremsen von Hexenvorstand die Bücher auf ihre Unversehrtheit überprüfen wollen.“ Molly schob Emma von sich und drückte ihr mit einem Augenzwinkern noch einen Kuss auf die Wange. In ihrem Umhang fauchte und kratzte es.

Cassandra Carper wurde blass. Sie war schon immer eine etwas schusselige Hexe gewesen. Aber dass sie diesen wichtigen Termin vergessen konnte …

„Die Bibliothek!“, stieß sie jetzt hervor und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Bei all den Leuten, die mit ihren Problemen hierherkommen, habe ich gar nicht mehr daran gedacht, dass ich die Bibliothek noch zurückholen muss.“

„Aber das sollte doch kein Problem sein.“ Molly runzelte die Stirn.

„Das sagst du so! Doch dieses Mal ist es nicht so einfach. Als ich die Bibliothek das letzte Mal verstecken musste, waren die Umstände so besonders …“

„Wegen der Mume“, warf Molly ein, und Cassandra nickte.

Alle vier traten ans Fenster. Von dort aus konnten sie die Mume sehen, die soeben in ihrem rosaroten Aschenputtelkleid den japanischen Wildkirschenbaum umarmte. Sie streckte die Hand aus, und eine Amsel landete auf ihrem Finger. Es war so ein friedliches Bild, doch Emma musste daran denken, was sie in Witchcastle erlebt hatten, als die Mume noch böse war und sie, Paula und deren Bruder Ben hatte töten wollen, um an das magische Buch zu gelangen.

„Ja, genau“, sagte Cassandra. „Ich habe die Mume, so wie sie jetzt ist, sehr ins Herz geschlossen. Doch ich will nicht wissen, was geschieht, wenn ihre Erinnerung zurückkehrt.“

„Sie ist jetzt so ein liebes Mädchen“, fügte Molly hinzu, und Emma und Paula nickten.

Sie alle verbrachten viel Zeit mit der Mume, die inzwischen alle Missy nannten. Sie spielten mit ihr Hexenmemory und buken gemeinsam Plätzchen und Zuckerschnecken. Oft half ihnen die Mume bei den Hausaufgaben. Denn erstaunlicherweise konnte sie sich sehr gut an Lateinvokabeln und Grammatikregeln erinnern. Und auch in Mathematik war sie eine große Hilfe. Allerdings nur, wenn sie dazu Lust hatte. Wenn ihr die Hausaufgaben langweilig wurden, trollte sie sich hinaus auf die Straße oder zu Cassandra in die Backstube. Obwohl sie äußerlich wie eine alte Frau aussah, war sie immer fröhlich wie ein kleines Kind, und es kam nur äußerst selten vor, dass sie still in einer Ecke saß und über irgendetwas zu grübeln schien. Wenn sie aber doch mal in dieser gedrückten Stimmung war, beeilten sich Cassandra, Molly und die zwei Mädchen immer, sie schnell abzulenken. Alle hatten Angst, sie könnte sich an etwas aus ihrem früheren Leben erinnern.

„Aber niemand weiß, ob und wann Missys Erinnerung jemals wiederkommt. Und ob sie dann wieder versucht, mit Hilfe der magischen Bibliothek alle Macht an sich zu reißen. Deswegen habe ich die Bibliothek äußerst sicher versteckt“, berichtete Cassandra den anderen nun von ihrem Dilemma. „Nicht einmal das magische Buch habe ich dieses Mal hierbehalten. Und nachdem ich es versteckt hatte, habe ich vorsichtshalber auch noch einen Vergessenszauber über mich gelegt.“

„Na bravo!“ Jetzt schlug Molly die Hände über den Kopf zusammen. „Du wirst die Bibliothek nie wiederfinden! Weißt du, was das bedeutet? Sie werden dich vernichten. Sie werden dich aus der Hexengemeinschaft ausschließen oder sogar ins Gefängnis werfen. Minimum fünfhundert Jahre. Und dann wird eine andere die Bibliothek beschützen. Wahrscheinlich diese furchtbare Gwendolyn Sword. Na ja, und dann wird es um uns Hexen wirklich schlecht bestellt sein!“

Die Mädchen sahen entsetzt von Cassandra zu Molly. Wie hatte der klugen Cassandra nur so ein Fehler passieren können?

„Ich habe Hinweise verteilt“, verteidigte Cassandra sich jetzt halbherzig.

„Hinweise. Was für Hinweise denn und wo?“, wollte Molly wissen.

„Im Jahr 1983.“

„Du hast in der Vergangenheit Hinweise versteckt?“, staunte Paula. „Bedeutet das, dass du dorthin reisen wirst?“, fragte sie weiter. „Das ist ja fantastisch. Was würde ich darum geben, in die Vergangenheit zu reisen!“

„Ja, genau, ich werde in die Vergangenheit reisen. Genauer gesagt in das Jahr 1983. Den ersten Hinweis habe ich noch im Kopf“, nickte Cassandra.

„Und der wäre?“

„Ein griechischer Philosoph kann dir Antwort geben“, sagte Cassandra stolz.

„Aha. Und was soll das bedeuten?“ Molly zog skeptisch eine Augenbraue nach oben. Wieder fauchte es in ihrem Umhang, und zwei kleine Beulen wanderten über ihre Brust zu ihrer Schulter. Dort schienen sie in Streit zu geraten, denn das Fauchen schwoll zu einem Quietschen an, bis Molly den Fledermäusen sachte mit der Fingerspitze einen Klaps gab.

„Das wird mir dann einfallen“, behauptete Cassandra. „Ich konnte den ersten Hinweis ja nicht zu offensichtlich wählen. Es gibt Hexen, die sind sehr bewandert im Gedankenlesen. Und deshalb musste ich verhindern, dass jemand in meine Gedanken eindringt und dann sofort weiß, wo die Suche beginnt.“

„Ich habe kein gutes Gefühl. Gar kein gutes Gefühl, Cassandra. Die Hexennacht ist schon in drei Tagen.“ Molly kratzte sich in ihrer riesigen Haarwolke.

„Deswegen werde ich mich sofort auf den Weg machen. Ich muss nur noch einige Dinge …“

Doch sie kam nicht dazu, mehr zu sagen, denn auf einmal räusperte sich jemand hinter ihnen. Emma, Paula und die zwei Hexen fuhren entsetzt herum.

In der offenen Tür zur Backstube stand Gwendolyn Sword. Sie hatte einen spitzen Hexenhut auf ihrem schmalen Kopf, und ihr schwarzes Haar lockte sich darunter hervor. In der Hand hielt sie einen Besen mit einem hellen, polierten Stiel, in den Runen eingebrannt waren.

„Ich hätte ihren Namen nicht nennen sollen“, murmelte Molly vergrämt, „das hat sie angezogen.“

„Ich kann gut hören, was du sagst, Molly“, sagte Gwendolyn Sword, „du ungehobeltes Ding.“

„Können wir dir behilflich sein, Gwendolyn?“, fragte Cassandra bemüht freundlich, „darf es etwas Zauberlimonade sein? Ein Cupcake? Oder Hefekringel. Die Mädchen haben leckere Hefekringel gebacken.“

„Ich werde mich hüten, noch einmal irgendetwas anzurühren, an das einer in diesem Haus Hand angelegt hat!“

Emma und Paula kämpften gegen ein Lachen an. Wie oft hatten sie über die Geschichte gekichert, als Gwendolyn Sword und ihre Freunde Mollys Schokoladenkonfekt gegessen hatten und danach einen ganzen Tag lang Gänseeier gelegt hatten!

Die Hexe lehnte mit verkniffener Miene ihren Besen an die Wand und trat in die Backstube. Anscheinend erinnerte sie sich auch noch blendend an das, was damals passiert war.

„Ach ja, Gwen“, grinste Molly, „wie geht es deinen Küken? Sind sie schon flügge? Das wird dir bestimmt das Herz gebrochen haben, als sie davongeflattert sind. Nichts ist doch schöner als Mutterliebe!“

Darauf antwortete Gwendolyn Sword nichts. Sie zog nur geräuschvoll die Luft durch die Nase. Ihr schwarzer Umhang schleifte über den Boden.

Emma fühlte sich unbehaglich. Wie lange hatte die Hexe dort in der Tür gestanden? Was hatte sie gehört? Hatte sie mitbekommen, dass Cassandra in die Vergangenheit reisen würde? In das Jahr 1983? Und hatte sie, im schlimmsten Fall, sogar den Hinweis mitbekommen, den die Hexe sich gemerkt hatte? Daran wollte Emma gar nicht denken.

„Ich bin hier, um nach der Mume zu sehen“, sagte Gwendolyn Sword. „Die Gesellschaft der besten Hexen und Zauberer Englands will wissen, wie sie sich entwickelt.“

„Ach Gottchen, die Mume!“, stieß Molly angestrengt hervor.

„Es geht ihr im Prinzip gut“, erklärte Cassandra und lächelte Gwendolyn beschwichtigend an. „Aber ihr Geisteszustand …“

„Ja?“, fragte Gwendolyn, weil Cassandra nach den richtigen Worten suchte.

Mit einem Kopfnicken bedeutete Cassandra der Hexe, ihr zu folgen. „Sieh selbst.“

Sie drückte die Schwingtür zum Laden auf und schlängelte sich hastig an dem Stapel rosafarbener Kartons vorbei zur Verkaufstheke. Der Stapel schwankte wie ein Schiff im Sturm, doch Emma und Paula retteten ihn, kurz bevor er umstürzte.

„Sie ist geistig irgendwie auf der Ebene einer Dreijährigen stehen geblieben“, flüsterte Cassandra. Nun drängten sich alle hinter ihr ans Fenster und sahen, wie die Mume gerade mit einem Nachbarskind Himmel und Hölle spielte. Sie hatten mit bunten Straßenkreiden Felder auf dem Boden aufgemalt, und die Mume hüpfte so begeistert, dass ihre Zöpfe flogen.

„Oh“, machte Gwendolyn und starrte eine Weile ratlos auf die Szene. Nach einer Weile drängelte sie sich jedoch an Cassandra vorbei, öffnete die Tür und ging nach draußen zur Mume. Emma spürte, wie Molly neben ihr den Atem anhielt.

Kein Wunder! Die Mume hörte sofort mit ihrem Hüpfspiel auf und starrte Gwendolyn an. Ihre Augen waren plötzlich nicht mehr die eines kleinen Mädchens. Auf einmal sah sie wieder aus wie die Mume, die sie von früher kannten!

„Mist“, flüsterte Cassandra. „Mist. Mist. Mist.“

„Meinst du, sie erinnert sich an Gwendolyn?“, wisperte Molly und trat noch näher an die Scheibe der Cupcakery.

„Ich weiß es nicht!“ Mit einem energischen Ruck riss Cassandra die Tür auf und trat nach draußen.

„Na?“, fragte Gwendolyn eben. „Weißt du noch, wer ich bin?“

Noch immer sah die Mume mit gerunzelter Stirn die Hexe an, und Emma war sich plötzlich sicher, dass sie sich erinnerte! Sie hatte eine ganz andere Miene als vorher beim Spielen! Als wäre sie plötzlich wieder so alt, wie sie in Wirklichkeit war. Sollte tatsächlich eingetreten sein, was Molly und Cassandra die ganze Zeit befürchtet hatten? Dass die Mume wieder sie selbst wurde und sie sich wieder an ihre Zeit früher erinnerte?

„Klar“, sagte die Mume tatsächlich, und Emma meinte, ihr Herz bliebe einfach so in ihrer Brust stehen.

„Und?“, bohrte Gwendolyn weiter.

Plötzlich lachte die Mume wieder wie ein kleines Kind.

„Doch, ich kenn dich. Du bist die Tante, die so viel Parfüm verspritzt, weil sie sich nicht waschen will!“, erklärte sie, begeistert darüber, dass sie sich erinnerte.

Mit hochrotem Kopf sog Gwendolyn scharf die Luft ein.

„Schon gut, Missy!“ Cassandra lächelte die Mume angestrengt an. „Willst du nicht hineingehen und dir einen Hefekringel holen? Du hast bestimmt Hunger!“

Schweigend sahen alle zu, wie die Mume auf die Cupcakery zuhüpfte und dabei vergnügt „Kringel, Kringel“ sang.

„Eindeutig nicht richtig im Kopf“, sagte Gwendolyn, noch immer hochrot.

„Eindeutig“, bestätigte Cassandra.

„Vollkommen eindeutig!“, rief Molly viel zu laut.

„Dann sehen wir uns in drei Tagen“, erklärte Gwendolyn hastig, die ganz offensichtlich von der Unterhaltung ablenken wollte.

„Wieso das denn?“, wollte Molly wissen und fügte dann schnell hinzu: „Aber natürlich. Das wird super.“

Emma hätte beinahe losgelacht, so merkwürdig war die ganze Situation.

„Na, zur Walpurgisnacht“, erklärte Gwendolyn.

„Weiß ich doch, natürlich. Ich dachte nur, es sind noch mehr Tage“, versuchte Molly die Kurve zu bekommen, was ihr aber nicht besonders gut gelang.

Schweigend sahen die Kinder, Cassandra und Molly zu, wie Gwendolyn ihren Besen aus dem Laden holte. Mit einem kurzen Nicken in ihre Richtung schwang sie ein Bein über den Stiel. Im nächsten Moment flatterte der schwarze lange Mantel, und Gwendolyn war verschwunden.

„Puh“, machte Molly entkräftet.

„Mist. Mist. Mist“, murmelte Cassandra erneut.

„Kringel!“, schrie die Mume von drinnen.

„Ich komme!“, rief Cassandra und hastete zurück ins Haus. Die anderen folgten ihr schweigend.

„Und was machen wir jetzt?“, wollte Molly wissen, während Cassandra Hefekringel auf einen Teller mit rosa Blümchenrand häufte und ihn der Mume hinknallte.

„Ich muss sofort aufbrechen“, sagte Cassandra. „Jetzt. Sofort.“

„Bist du wahnsinnig?“, fragte Molly, während sie hinter Cassandra in die Küche stürmte. Emma hätte beinahe die Schwingtür auf die Nase bekommen, so eilig waren die zwei Frauen unterwegs.

„Weißt du, wieso Gwendolyn da war?“, fragte Cassandra, während sie sich eines ihrer Umhängetücher schnappte.

„Wegen der Mume. Hat sie doch gesagt“, stellte Molly fest.

„Unsinn. Weil sie alle scharf auf die Bibliothek sind. Deswegen. Vielleicht denkst du, dass nur die Mume vorhatte, die Macht an sich zu reißen. Aber Gwendolyn Sword war damals auf ihrer Seite, und ich bin mir hundertprozentig sicher, dass sie sich als die Nachfolgerin der Mume sieht.“

Alle schwiegen atemlos.

„Hast du nicht bemerkt, dass sie ganz zufrieden über den Geisteszustand von Missy war?“, fragte Cassandra ihre Hexenfreundin.

„Könnte sein“, murmelte Molly nachdenklich.

„Und wenn sie uns eben wirklich belauscht hat, weiß sie jetzt, wo die Bibliothek ist.“

„Nicht einmal du weißt, wo die Bibliothek ist“, stellte Molly richtig.

„Aber sobald ich im Jahr 1983 bin, weiß ich es!“, stieß Cassandra hervor und drehte sich einmal im Kreis, um zu sehen, was sie noch brauchen konnte. „Und wenn Gwendolyn im Jahre 1983 ist, wird sie es auch wissen.“

„Aber wieso?“

„Weil sie jetzt weiß, in welchem Jahr sich die Bibliothek befindet. Und sie hat mitbekommen, dass sie den ersten Hinweis auf den Aufenthaltsort bei dem griechischen Philosophen bekommt.“

„Aber was soll ihr das nützen?“, wandte Molly ein. „Gwendolyn kennt doch gar keine Philosophen. Ich wüsste überhaupt nicht, wo ich zu suchen anfangen sollte! Philosoph! 1983. Da gab es doch in London keine griechischen …“

„Mach mich nicht wahnsinnig!“, unterbrach Cassandra sie.

„Du machst MICH wahnsinnig!“, erklärte Molly sehr bestimmt. „Du kannst jetzt nicht deinen Laden schließen, das geht auf gar keinen Fall!“

„Das stimmt“, wagte Emma zuzustimmen.

„Außerdem kannst du die Mume nicht alleine hier lassen“, fügte Molly hinzu.

„Die Mume“, stieß Cassandra hervor und sank kraftlos auf den einzigen Stuhl in der Küche. Offenbar hatte sie die alte Hexe für den Moment ganz vergessen.

„Und erwarte nicht, dass ich auf Missy aufpasse. Ich kann unmöglich meinen Laden führen und gleichzeitig auf jemanden wie sie aufpassen! Hast du gesehen, was sie gestern gemacht hat? Sie hat das Auto von Mr Pinkerton mit Dreck beschmiert!“

„Auweia“, sagte Paula.

„Sie hat Kaugummi unter die Scheibenwischer geklebt. Und an die Türgriffe!“

„Oje“, sagte Emma und bemühte sich redlich, nicht loszulachen.

„Danach hat sie noch einen Eimer Wasser in sein Auto gegossen.“

„Sie wollte nur sauber machen“, verteidigte Cassandra ihre Tante. „Das war überhaupt nicht böse gemeint.“

„Pinkerton hat mich zur Sau gemacht“, erklärte Molly beleidigt.

„Tut mir leid.“

„Aber siehst du: Wir müssen auf sie aufpassen. Und den Laden kannst du jetzt auch nicht einfach schließen.“

Cassandra hatte beide Zeigefinger an ihre Schläfen gelegt, und so saß sie da, mit geschlossenen Augen und einem konzentrierten Ausdruck im Gesicht.

„Ich muss mich auch um die Tiere kümmern. Bei den Zebrafinken muss schon lange neuer Sand in den Vogelkäfig. Und die Blauohr-Fledermäuse brauchen auch Zuwendung.“ Molly fielen immer neue Gründe ein, warum Cassandra keineswegs ins Jahr 1983 reisen konnte.

„Ok“, sagte Cassandra schließlich mit gerunzelter Stirn. „Lass mich nachdenken. Dann finde ich bestimmt eine Lösung.“

Emma und Paula hielten die Luft an.

„Ich hab’s“, erklärte Cassandra schließlich. „Ich nehme die Mume einfach mit!“, erklärte sie bestimmt und sprang auf. „Das ist kein Problem!“

„Echt?“, fragte Molly. „Meinst du, du kommst damit klar, in London einen griechischen Philosophen zu suchen und gleichzeitig auf die Mume aufzupassen? Ich meine ja nur. Sie sieht irgendetwas, und schon ist sie weg. Erst neulich …“

„Ja ja“, sagte Cassandra.

„… hat sie diesen kleinen nackten Hund von Mistress Baker bis zum Park verfolgt. Mistress Baker hat fast einen Herzinfarkt bekommen. Die Mume sieht nicht besonders vertrauenserweckend aus in ihrem Outfit.“

„Ich weiß. Deshalb nehme ich sie ja auch mit. Das ist doch kein Ding.“

Die Hexen schwiegen einen Moment.

„Aber ihr müsstet mir einen Gefallen tun. Könntet ihr am Wochenende die Cupcakes verkaufen?“, fragte Cassandra kleinlaut in die Runde. „Es dauert bestimmt nicht lange. Ich brauche maximal zwei Tage, dann habe ich die Bibliothek gefunden und schicke sie zurück.“

„Nein. Sorry. Ich kann weder backen noch Cupcakes verkaufen“, widersprach Molly bestimmt.

Wieder schwiegen alle eine Weile. Schließlich räusperte sich Emma. Sie wusste, sie sollte so etwas nicht vorschlagen. Aber manchmal hatte sie sich schon vorgestellt, ganz alleine ein Café zu besitzen, die Cupcakes zu verkaufen und genau wie Cassandra den Kunden mit guter Laune und noch besseren Ratschlägen zu den idealen Cupcakes zu verhelfen. Sicher würden die Leute sie genauso anstrahlen, wie sie sonst Cassandra anstrahlten. Nach dem großen Ansturm in der Früh würde sie in die Backstube gehen und noch einmal Hefekringel backen. Der Duft von frischem Hefeteig würde durch die Backstube ziehen und hinaus auf die Straße, und die Leute würden stehen bleiben und sich wundern, woher dieser wunderbare Duft kam.

„Wir haben doch jetzt Wochenende“, sagte Emma deshalb schüchtern. „Und manche Dinge können Paula und ich doch schon backen. Die Blütenzauber-Cupcakes. Und die Hefekringel.“

„Aber was würden eure Eltern dazu sagen, wenn ihr hier in der Backstube steht und dann auch noch im Café aushelft?“, seufzte Cassandra.

„Außerdem seid ihr Kinder“, fügte Molly hinzu. „Wer weiß, wer in der Zeit vorbeikommt? Da muss nur diese blöde Gwendolyn ihren Schirm bei uns vergessen haben, schon steht sie wieder da und fragt euch aus. Spricht vielleicht noch einen Zauber, und ihr verratet alles, was ihr wisst.“

„Machen wir nicht“, sagte Paula beleidigt.

„Ihr müsstet auch hier schlafen“, seufzte Cassandra weiter. „Und das geht nur, wenn eure Eltern zustimmen.“

So richtig war Cassandra nicht wohl bei der Sache, aber weil ihr auf die Schnelle keine bessere Lösung einfiel, stimmte sie schließlich zu. Und Emma und Paula? Die wären sich am liebsten vor Freude in die Arme gefallen!

1All die aufregenden Dinge, die Emma und Paula schon mit Cassandra Carper erlebt haben, lassen sich im ersten Buch nachlesen: Cassandra Carpers fabelhaftes Café. Magische Cupcakes aller Art