Titel
Zu diesem Buch
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
Epilog
Die Autorin
Die Romane von L. H. Cosway bei LYX
Leseprobe
Impressum
PROMISES OF TOMORROW
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Maike Hallmann
Obwohl Evelyn vor elf Jahren nicht den Mut fand, mit Dylan aus Dublin wegzugehen, wohnen sie heute beide in New York – auch wenn ihre Leben unterschiedlicher nicht sein könnten. Während Evelyn sich als Kellnerin durchschlägt und nie weiß, ob sie die nächste Miete bezahlen kann, lebt Dylan wenige Blocks entfernt in einer ihr völlig fremden Welt. Denn er hat das Unternehmen gegründet, von dem Evelyn und er als Teenager geträumt haben, und ist damit steinreich geworden! Ev ist überwältigt von seinem Erfolg, doch der Schmerz, dass es in seiner Welt keinen Platz für sie gibt, sitzt tief. Aber als Dylan ihr eines Tages in ihrer kleinen Wohnung wieder gegenübersteht, weiß sie augenblicklich, dass sich an ihren Gefühlen füreinander nichts geändert hat. Dylan macht ihr unmissverständlich klar, dass das mit ihnen nicht vorbei ist und er sie zurückgewinnen möchte. Ev muss sich entscheiden, ob sie die Fehler der Vergangenheit noch einmal begehen oder für die Zukunft mit Dylan alles riskieren will …
There is a crack in everything.
That’s how the light gets in.
Leonard Cohen, Anthem
Elf Jahre später
Manhattan, New York City, 2017
»Ms Jackson« von OutKast wummerte mir in den Ohren.
Ich mixte einen Cosmo und nickte im Takt der Musik. Meine Kollegin Danni grinste mir vom anderen Ende der Bar her zu. Auf der Tanzfläche wogte die Menge, und am Tresen winkten mehrere Leute mit zerknitterten Banknoten und wetteiferten um meine Aufmerksamkeit.
Es war ein ganz normaler Samstagabend im FEST, dem Nachtclub, in dem meine Tante Yvonne Managerin war. Ich arbeitete seit zwei Monaten hier, seit ich von Dublin nach New York übergesiedelt war, und ja, es war ein stressiger Job, aber das Trinkgeld war phänomenal. Eine ganz andere Hausnummer als in Irland.
Außer vielleicht, man arbeitete in einem Stripclub.
Und ich rede nicht davon, in einem Stripclub an der Bar zu stehen und Drinks zu mixen.
Auch auf die pulsierende Energie dieser Stadt war ich nicht vorbereitet gewesen. Sie schlief wirklich niemals, immer war irgendwas los. Zu jeder Tages- und Nachtzeit fanden Auftritte von Comedians, interaktive Theater-Shows oder sogar Doga-Unterricht statt. Ja, korrekt, das ist Yoga für Hunde. Was immer dein Herz begehrte, hier warst du richtig.
Nie hätte ich erwartet, jemals in einer solchen Stadt zu landen. Um ehrlich zu sein – ich war überzeugt gewesen, für immer in Dublin zu bleiben. Für immer und bis in alle Ewigkeit. Wenn man sich von einem Gehaltscheck zum nächsten hangelt, denkt man nicht an große Sprünge. Aber dann hatte mir Yvonne angeboten, mir einen Job zu besorgen, und wohnen konnte ich erst mal bei ihr. Wie hätte ich da Nein sagen können?
Als meine Grandma noch am Leben gewesen war, hätte ich rundheraus abgelehnt, aber sie war letztes Jahr gestorben. Es war also nichts mehr übrig, was mich in Dublin hielt, und das war ein seltsames Gefühl. So lange hatte ich eine Ausrede gehabt, um nicht fortzugehen, und auf einmal war da nichts mehr.
Also hatte ich den Sprung gewagt.
»Wie heißt du, Süße?«, fragte mich ein Schlipsträger über den Tresen hinweg. Er hatte die obersten Knöpfe seines Hemds geöffnet und seine Krawatte gelockert, im Gesicht trug er ein keckes Grinsen.
»Ich bin Evelyn. Was trinkst du?« Mein professionelles Lächeln geriet nicht ins Wanken. Ich fand es zwar nicht toll, wenn mich Kunden anbaggerten, aber so war es eben, wenn man an der Bar stand. Manchmal dachte ich darüber nach, jemanden nach Hause mitzunehmen und mir eine Weile das Bett von ihm wärmen zu lassen, aber ich überlegte es mir immer anders. One-Night-Stands und ich, das passte nicht gut zusammen. Vor allem, weil ich mich zu schnell verliebte. Ein charmantes Lächeln und ein gelungenes Kompliment, und schon fielen bei mir alle Schranken.
Einen Großteil meiner Zwanziger hatte mein törichtes, leeres Herz sehnsüchtig nach jemandem Ausschau gehalten, der es flicken konnte. Doch schließlich war mir klargeworden, dass niemand außer mir selbst dazu imstande war. Ich musste das Glück in mir selbst finden, ehe ich es mit jemandem teilen konnte.
So weit war ich noch nicht, aber ich arbeitete dran.
»Dein Akzent ist der Hammer. Ich nehme einen Whiskey Sour, on the Rocks. Dich hab ich hier noch nie gesehen, glaub ich. Bist du neu?«
Ich nickte und mixte ihm seinen Drink. »Ja«, rief ich über die Musik hinweg, »ich bin erst seit ein paar Wochen in der Stadt.«
»Wirklich? Gefällt dir New York?«
»Japp. Hier lässt es sich echt gut leben. Teuer, aber gut.«
»Also … wenn du mal jemanden brauchst, der dir ein bisschen die Gegend zeigt, ruf mich einfach an.« Er reichte mir eine Visitenkarte. Ich steckte sie in die Tasche, ohne einen Blick darauf zu werfen, um sie später zu entsorgen.
»Na klar. Das macht dann elf Dollar.« Ich schob ihm seinen Drink rüber.
Er nippte daran, reichte mir einen Zwanziger und verschwand wieder im Gewimmel.
»Mit deinem Akzent kriegst du so krass viel Trinkgeld«, sagte Danni und verzog missmutig den Mund.
»Nur, weil keiner genau sagen kann, wo ich herkomme. Ich bin zu neunundneunzig Prozent sicher, dass Amerikaner glauben, Iren würden wie Kobolde reden.«
Danni kicherte. »Evelyn, sei nicht so ausländerfeindlich.«
»Wenn hier einer ausländerfeindlich ist, dann ja wohl ihr.«
»Ihr seid verdammt noch mal beide ausländerfeindlich«, sagte Ger, der dritte Barkeeper in dieser Schicht. »Jetzt hopp, zurück an die Arbeit, ich ersauf hier in Bestellungen.«
Ich sah ihn entschuldigend an und machte mich hastig wieder ans Werk. Am Ende meiner Schicht war ich so erledigt, dass ich mich vor lauter Erschöpfung am liebsten auf dem Boden zusammengerollt hätte, wo ich gerade stand, aber im Ernst, ich liebte meinen Job wirklich. Ich liebte die sirrende Elektrizität der Stadt, die ohrenbetäubend laute Musik, die endlos anbrandenden Kunden an der Bar und die völlige Erschöpfung danach.
Mein Vorsatz fürs neue Jahr war, das Leben positiv anzugehen. Was auch immer geschehen mochte, ich war fest entschlossen, das Beste daraus zu machen. Früher war das meine Grundeinstellung gewesen, fast als wäre die Fröhlichkeit mir einfach angeboren, aber dann hatte mir das Leben übel mitgespielt.
Nach dem Verlust von Sam hatte ich die Sonne nicht einmal sehen können, wenn sie mir gleißend hell vom Himmel entgegenstrahlte.
Jetzt hatte ich mir vorgenommen, die Dunkelheit hinter mir zu lassen.
So hätte er es sich für mich gewünscht.
Auf dem Heimweg konnte ich es kaum erwarten, heiß zu duschen und für zehn Stunden im Bett zu verschwinden. Meine Tante und ich wohnten in Brooklyn – auch wenn Yvonne und ich in Manhattan arbeiteten, verdienten wir nicht genug, um uns dort eine Wohnung leisten zu können –, und ich fuhr mit der U-Bahn. Nicht das sicherste Transportmittel, aber ich konnte nicht selbst fahren, hatte also keine Wahl.
Für den Notfall hatte ich Pfefferspray und eine Trillerpfeife dabei. Als ich zu Hause ankam, war es schon fast fünf Uhr morgens. Ich genehmigte mir meine lang ersehnte Dusche und kroch in Slip und T-Shirt ins Bett. Kurz nach ein Uhr am Nachmittag wachte ich wieder auf. Ich hatte wie eine Tote geschlafen und fühlte mich wunderbar ausgeruht.
Aus dem Wohnzimmer drangen die Klänge von Beethoven. Yvonne war also inzwischen zu Hause und genoss ihren freien Tag. Als Managerin hatte meine Tante meist Feierabend, wenn ich gerade zur Arbeit kam, und so sahen wir uns nur selten. Deshalb hatten wir beide oft die Wohnung jeweils ganz für uns, was gut war, denn sie war alles andere als groß.
Wegen unserer versetzten Arbeitszeiten hatten wir uns ein paar Tage lang nicht gesehen. Wir kommunizierten viel über Textnachrichten oder das gute alte Post-it am Kühlschrank. Offenbar hatte sie ein Brathähnchen im Ofen, ihr Spezialrezept, und bei dem Duft lief mir das Wasser im Mund zusammen.
Das war das Problem, wenn man bis drei oder vier Uhr morgens arbeitete – am Ende frühstückte man dauernd ein Mittagessen.
Ich musste aufs Klo, also zog ich mir eine kurze Hose über und machte mich auf den Weg ins Bad. Mitten im Flur hörte ich, dass Yvonne nicht allein war, und blieb stehen. Eine tiefe männliche Stimme antwortete auf etwas, das sie gesagt hatte, und ich runzelte die Stirn. Normalerweise lud Yvonne keine Männer nach Hause ein. Sie war eins jener seltenen Exemplare, die mit dem Single-Dasein sehr zufrieden waren. Ihr Liebhaber war die Arbeit.
Sie hatte anscheinend gehört, dass ich mein Zimmer verlassen hatte, denn sie rief: »Evelyn, bist du wach?«
Normalerweise hätte ich geantwortet und wäre weitergetrottet, aber die Neugier siegte. Rasch fuhr ich mir mit den Fingern durchs schlafzerzauste Haar, ging ins Wohnzimmer und erstarrte auf der Türschwelle zur Salzsäule.
Wie um die Bedeutung dieses Augenblicks zu unterstreichen, erreichte Beethovens siebte Sinfonie genau jetzt ihren Höhepunkt. Als ich in zwei dunkelblaue Augen starrte, die ich fast acht Jahre lang nicht gesehen hatte, war mir, als bräche sich in mir eine riesige Welle, als fluteten Lavaströme über die Flanken eines himmelhohen Vulkans.
Dylan O’Dea.
Sein Anblick verschlug mir den Atem.
Und ja, das meine ich wortwörtlich. Meine Lungen quittierten den Dienst. Dann fiel mir ein, dass ich noch das zerknitterte T-Shirt trug, in dem ich geschlafen hatte, und eine so kurze Hose, dass praktisch nichts der Fantasie überlassen blieb. Dazu eine ganz hinreißende Bettfrisur. Ich wurde sehr verlegen.
Doch dann ging mir auf, dass dieser Mann mich bereits in jedem nur erdenklichen Zustand gesehen hatte, sozusagen in guten und schlechten wie auch in wirklich schlimmen Zeiten, und auf einmal kam mir meine Eitelkeit sehr albern vor.
»Evelyn.« Er stand auf. Er klang so anders, so reif und erwachsen. Letztes Mal, als ich ihn gesehen hatte, war er zweiundzwanzig gewesen, auf Stippvisite in Dublin. Inzwischen musste er um die dreißig sein.
Er schluckte, ich sah seinen Kehlkopf auf und ab hüpfen. Er fuhr sich durchs Haar. Ich fragte mich, ob er auch so durch den Wind war wie ich.
»Oh, Ev«, sagte Yvonne, »wir haben letzte Woche so viel gearbeitet, ich habe ganz vergessen, es dir zu erzählen: Ich bin Dylan neulich zufällig über den Weg gelaufen. Die Welt ist doch wirklich ein Dorf.«
Dylan wandte den Blick nicht von mir ab. Seine klugen, wachen Augen musterten mich von Kopf bis Fuß. Alte Erinnerungen flackerten in mir auf. Erinnerungen an Zeiten, in denen er mich mit einem solchen Blick einfach in Besitz genommen hatte, mit Haut und Haar.
»Er hat jetzt eine eigene Parfümerie in der Innenstadt. Ist das zu fassen?« Yvonne sah Dylan an. »Du hast St. Mary’s Villas weit hinter dir gelassen, das steht mal fest.«
Er führte ein ganzes Parfum-Unternehmen, um genau zu sein, aber ich würde auf gar keinen Fall zugeben, dass ich seine Karriere verfolgt hatte. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich hatte nie an einem seiner Parfums gerochen. Zum Teil einfach aus Angst. Ich wollte nicht an ihn denken, daran, wie nah wir uns einmal gewesen waren. Gerüche haben die seltsame Eigenart, einen am Kragen zu packen und in die Vergangenheit zurückzuversetzen.
Und zum Teil auch, weil ich mich angesichts seines Erfolgs wie eine Versagerin fühlte. Ich wusste, wie albern das war, zumal ich es gewesen war, die ihm vor all den Jahren gesagt hatte, er solle seinen Lebenstraum verwirklichen. Aber trotzdem war ich ganz überwältigt davon, was er alles erreicht hatte.
Wahrscheinlich, weil die Bilanz bei mir erheblich magerer aussah.
»Das haben wir alle«, sagte Dylan und sah mich wieder an. »Yvonne hat mich zum Mittagessen eingeladen. Ich hoffe, das macht dir nichts aus.«
Ich winkte ab. »Kein bisschen. Tut mir leid, dass ich noch nicht angezogen bin. Ich arbeite Nachtschicht. Es ist schön, dich zu sehen.« Die Worte platzten in einem Schwall aus mir heraus, und seine Miene hellte sich auf.
»Es ist auch schön, dich zu sehen, Evelyn.«
Ich lächelte verlegen und fummelte am Saum meines T-Shirts herum. Hitze stieg mir in Gesicht und Brust. Kurz streifte sein aufmerksamer Blick meine nackten Schenkel, dann setzte er sich wieder aufs Sofa, zog ein Bein an und legte den Knöchel auf den Oberschenkel des anderen Beins. »Ich kann kaum erwarten zu hören, wie es dir so ergangen ist.«
Das war fast komisch, denn ich selbst konnte an nichts anderes denken als an unsere gemeinsame Vergangenheit. Ich hatte mich nie wirklich davon gelöst. Dylan war fortgegangen, weil er keine andere Wahl gehabt hatte, aber auch, weil er überzeugt gewesen war, anderen nur Unglück zu bringen. Er fühlte sich schuldig wegen dem, was Sam zugestoßen war, und ich hatte den Verdacht, dass diese Schuld ihn noch immer verfolgte.
Er sah mich an, ich sah ihn an, und lange taten wir beide nichts anderes, als einander … anzusehen.
Dort vor mir saß der Mann, der einst jener Junge gewesen war, der mir das Herz gestohlen hatte und alles für mich gewesen war. Und jetzt waren wir wie Fremde.
Na klar, ich hatte seine Karriere verfolgt, aber er gab ja keine Interviews, und in den sozialen Medien war er auch nicht unterwegs. Für so etwas war Dylan O’Dea viel zu mysteriös. Aber ich hatte über Nachrichtenkanäle Artikel und Berichte gelesen. Keine Schlagzeilen oder Leitartikel, versteht sich, weshalb Yvonne vermutlich keine Ahnung hatte, wie erfolgreich er war, aber wenn man suchte, wurde man fündig.
Und als wäre ich begierig darauf, mir selbst wehzutun, tat ich genau das. Trug sämtliche noch so kleinen Informationsfitzelchen über ihn zusammen. Vollkommen sinnlos, natürlich. Schließlich hatte ich nicht vorgehabt, mich bei ihm zu melden.
»Tja, ich sehe dann wohl mal nach dem Hähnchen und lass euch ein bisschen allein, damit ihr euch gegenseitig auf den neuesten Stand bringen könnt«, sagte meine Tante.
Oh, Yvonne, für einen so aufmerksamen Menschen bis du manchmal verblüffend blind.
Sie verschwand. Ich trat zum Schränkchen mit dem Alkohol. Himmel, wie sehr diese Situation nach einem Drink schrie.
»Was trinkst du?«, fragte ich, nahm einige Flaschen heraus und tat so, als würde ich die Etiketten lesen.
»Whiskey ist gut«, antwortete Dylan, und ich nickte, ohne ihn anzusehen.
Ich schenkte ihm ein, dann mir. Als ich mit dem Drink auf ihn zukam, wanderte sein Blick über meinen Körper. »Die Zeit hat es gut mit dir gemeint, Ev. Du siehst unglaublich aus.«
Ich zog eine Braue hoch. »Ungefähr so, als wäre ich gerade aus dem Bett gefallen.«
Seine Stimme wurde heiser. »Wie ich bereits sagte …«
»Was machst du überhaupt hier?«, fragte ich ihn so leise, dass meine Tante es nicht hörte.
Er runzelte die Stirn. »Yvonne hat mich eingeladen.«
»Du hättest nicht Ja sagen müssen.«
Er bedachte mich mit einem Ach-komm-schon-Blick. »Niemand kann deiner Tante etwas abschlagen, Ev. Das weißt du.«
Er hatte recht. Yvonnes liebenswerte Art war unwiderstehlich, Widerstand zwecklos. Früher war ich genauso gewesen.
Jetzt allerdings war ich ein des Lebens überdrüssiger Griesgram, über dessen Kopf beständig eine dunkle Wolke schwebte. Und ein Gutteil dieses Lebensüberdrusses ging auf Dylans Konto. Halt, stopp, nein – das war ja mein altes Ich. Ich hatte doch beschlossen, mir die positive Weltsicht meiner Jugend zurückzuerobern.
»Stimmt, kaum jemand kann Yvonne etwas abschlagen«, stimmte ich zu und ließ mich auf den Sessel sinken. Zog die Beine, die Dylan ständig anstarrte, unter mich und nippte an meinem Drink.
Urgs. Whiskey auf nüchternen Magen am frühen Morgen – oder am frühen Nachmittag – war keine gute Idee.
Ich stellte das Glas ab und betrachtete Dylan in seinem Designeranzug. Ein gewaltiger Unterschied zu Jeans und Arbeitshemd damals in den Villas. Aber er war jetzt ein erfolgreicher Unternehmer, und dann musste er wohl auch wie einer aussehen.
»Du hast alles erreicht, was du je gewollt hast«, sagte ich.
Er trank einen Schluck Whiskey und zog eine Schulter hoch. »Könnte man sagen.«
»Wie bescheiden. Wenn dein achtzehnjähriges Ich dich jetzt sehen könnte, würde es vor lauter Freude Luftsprünge machen.«
Dylan verlagerte das Gewicht und sah mich unverwandt an. »Meinst du?«
Mir stockte der Atem. Es war weniger die Frage als die Art, wie er es sagte. Wie er mich dabei ansah. Hitze stieg in mir auf.
Yvonnes Rückkehr brach den Bann. »Das Hühnchen sieht fantastiggerisch aus«, verkündete sie.
Ich wandte den Blick von Dylan ab, erschüttert, wie heftig ich auf ihn reagierte. Wir plauderten nur ein bisschen miteinander, und trotzdem war mir, als würde sein Blick meine Kleidung durchdringen, und ich stünde nackt vor ihm. Ich musste hier raus. Rasch stand ich auf und strebte meinem Zimmer zu.
»Könntest du mir, äh, einen Teller warmstellen? Mir ist gerade nicht so gut.«
Besorgt sah Yvonne mich an. »Oh nein, glaubst du, es ist die Grippe? Die soll ja gerade rumgehen.«
»Weiß nicht«, sprudelte ich hervor, »kann sein. Es war schön, dich wiederzusehen, Dylan, aber ich gehe jetzt besser. Ich will dich nicht anstecken.«
Dylan erhob sich, aber ich verschwand, ehe er etwas sagen konnte. Schloss mich in meinem Zimmer ein. Aber ich war viel zu durcheinander, um mich wieder hinzulegen. Eine Runde laufen kam mir vor wie eine gute Idee, also schlüpfte ich schnell in Jogginghose und Hoodie. Normalerweise machte ich nicht oft Sport, aber die angestaute Energie musste irgendwohin, ehe ich platzte.
»Oh, Ev«, sagte Yvonne, als ich wieder auftauchte, »geht es dir besser?«
»Nein, aber ich gehe eine Runde laufen. Mal sehen, ob das hilft, wieder einen klaren Kopf zu kriegen.« Ganz kurz warf ich Dylan einen Blick zu. Seine ernste Miene verriet mir, dass er durchschaute, was los war: Ich wich ihm aus. Aber was hatte er denn erwartet, wenn er einfach aus heiterem Himmel hier auftauchte? Eine kleine Vorwarnung wäre nett gewesen.
Sobald ich das Haus verlassen hatte, bekam ich wieder Luft. Während mein Körper durch Brooklyn raste, raste mein Geist durch meine Erinnerungen. Ich mochte das Viertel sehr. Die Faszination, die die Stadt auf Yvonne ausübte, hatte ich nie ganz verstanden, bis zu dem Tag, als ich aus dem Flieger stieg und in ein gelbes Taxi sprang. Ich liebte die frenetische Energie, die Anonymität, die Möglichkeit zu sein, wer immer ich sein wollte, zu tun, was immer mir einfiel.
Erst als ich die Brooklyn Bridge erreichte, hielt ich an, um ein bisschen zu verschnaufen, und betrachtete Manhattans Skyline. Ich lehnte mich ans Geländer und trank einen Schluck aus meiner Wasserflasche.
Weil ich meine eigenen Träume nur dann klar vor Augen habe, wenn ich dich ansehe.
Wie eine Geisterstimme hallte mir dieser Satz aus einem anderen Leben durch den Kopf. Dylan hatte immer so romantische Dinge zu mir gesagt, Sätze, wie man sie von einem Teenager eigentlich nicht erwartete. Das war einer der Gründe, weshalb ich mich so sehr in ihn verliebt hatte. Er hatte eine uralte Seele, und er war so klug. Seine Art zu reden hatte mein siebzehnjähriges Herz völlig durcheinandergebracht.
»Hey, weißt du, wie spät es ist?«, fragte mich ein anderer Läufer, der gerade vorbeikam.
Ich zog mein Handy aus der Tasche und warf einen Blick darauf. »Kurz vor zwei.«
»Danke.« Er lief weiter.
Eine willkommene Unterbrechung, die mich davor rettete, mich allzu tief in Gedanken zu verlieren. Mehr als Nostalgie war da nicht zu holen, und Nostalgie war ein gefährliches Spiel, wenn das Zentrum, um das sie kreiste, auf einmal wieder aus der Versenkung aufgetaucht war.
Ich lief zurück nach Hause. Inzwischen war Dylan sicher wieder fort. Als ich hereinkam, räumte Yvonne gerade die Küche auf.
»Das war unglaublich unhöflich von dir, Evelyn«, sagte sie, ohne mich anzusehen. Ein sicheres Zeichen, dass sie richtig stinksauer war – dann wurde ihre Stimme sehr streng, aber in die Augen blickte sie einem nicht.
»Yvonne, ich habe Dylan ewig nicht gesehen, und wie es damals zwischen uns geendet hat …« Ich strich mir über den unordentlichen Pferdeschwanz. »Was hast du denn für eine Reaktion erwartet?«
»Ich dachte, du freust dich. Das alles ist schon lange her, Ev.«
»Tu bloß nicht so, als wäre es deshalb null und nichtig«, sagte ich schroff. »Du kannst dir nicht mal ansatzweise vorstellen –«
»Doch, kann ich. Ich war dabei. Wir beide haben nächtelang zusammen geweint.«
Ich hob eine Hand. »Hör zu, ich kann das jetzt gerade nicht. Wir reden später drüber. Vielleicht begreifst du dann, dass ich recht habe.«
Ich wandte mich ab, verzog mich in mein Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu wie ein wütender Teenager. Lustig, denn als Teenager war ich sehr unkompliziert gewesen. Tatsächlich war es damals viel leichter gewesen als heute, gut mit mir auszukommen.
Ich vertrödelte den ganzen Tag in meinem Zimmer: klickte mich durch Facebook, zupfte mir die Augenbrauen, experimentierte mit Nagellack herum. Ich wollte Yvonne nicht sehen. Ich hasste es, mich mit ihr zu streiten, aber sie begriff einfach nicht, was das Wiedersehen mit Dylan in mir anrichtete. Dass man ebenso gut mein Herz in einen laufenden Mixer hätte werfen können.
Welche Wünsche es in mir weckte. Wünsche, die in diesem Leben keinen Platz hatten.
Nicht den allerkleinsten Platz.