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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Liebe Leser*innen

Motto

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Die Autorin

Die Romane von L. H. Cosway bei LYX

Leseprobe

Triggerwarnung

Impressum

L. H. Cosway

DREAMS OF YESTERDAY

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Maike Hallmann

ZU DIESEM BUCH

Als Evelyn Flynn den geheimnisvollen Dylan O’Dea kennenlernt, kann sie ihr Glück kaum fassen. Nicht nur hat sich der attraktivste Junge der Schule in sie verliebt, in ihm scheint sie auch ihren Seelenverwandten gefunden zu haben. Aufgewachsen im selben Außenbezirk von Dublin, haben sie beide schon früh gelernt, dass das Leben alles andere als fair ist und man sein Glück selbst in die Hand nehmen muss. Doch erst mit Dylan hat sie das Gefühl, dass es auch so viel Schönes auf der Welt gibt. Mit ihm kann sie sich plötzlich alles vorstellen, sogar ihren großen Traum zu verwirklichen: eines Tages ein eigenes Unternehmen in New York zu gründen! Doch je konkreter ihre Zukunftspläne werden, desto deutlicher merken sie, dass sie sich doch nicht so ähnlich sind, wie sie dachten. Denn während Dylan alles dafür tut, ihren gemeinsamen Traum zu verwirklichen und seinem alten Leben zu entkommen, merkt Evelyn, dass ihr der Mut fehlt, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Aber als ein schrecklicher Unfall geschieht, muss sie sich entscheiden: für ihre Familie oder ihre Zukunft mit Dylan in New York …

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

»Ich will deinen Geist befreien, Neo. Aber ich kann dir nur die Tür zeigen. Durchgehen musst du ganz allein.«

Morpheus, The Matrix

1. KAPITEL

Innenstadt von Dublin, Irland 2006

Nichts tat ich lieber, als einer Blütenknospe dabei zuzusehen, wie sie sich öffnete. Ganz zu Anfang glich sie einer Pistazie. Am nächsten Tag regten sich die Blütenblätter. Am folgenden Tag spreizten sie sich. Am Tag darauf noch ein wenig mehr, und dann stand die Blume endlich in voller Pracht. Ich wartete darauf, dass sich die Blüten meines rosafarbenen Hibiskus öffneten, aber es würde noch ein paar Tage dauern. Aus einer Plastikflasche goss ich etwas Wasser in den Topf, dann schraubte ich den Deckel wieder zu. Gerade wollte ich sie wieder ins Regal zurückstellen, da hämmerte jemand an meine Tür. Es klang panisch, ein Klopfen, das nach Beachtung schrie. In dieser Gegend war es nicht immer eine gute Idee, bei einem solchen Klopfen die Tür aufzumachen. Ich lugte durch den Spion und sah draußen jemanden aus meiner Schule stehen. Dylan O’Dea hieß er – oder war es O’Toole? Wie auch immer, jedenfalls war ich ziemlich sicher, dass er ein oder zwei Stockwerke unter mir wohnte, ebenfalls hier in St. Mary’s Villas. Von wegen Villas: Darauf darf man nichts geben. Nichts hier hatte mit einer Villa auch nur die allergeringste Ähnlichkeit. St. Mary’s Kriegsbunker wäre ein passenderer Name gewesen. Alles war grau. Durch die Fenster fiel kaum Licht, und sämtliche Wohnungen rochen irgendwie schimmlig, ganz egal, wie gründlich man putzte und lüftete.

Dylan sah verschwitzt und verzweifelt aus, und irgendwas in seinem panischen Blick bewegte mich dazu, die Tür zu entriegeln. Ehe ich ein Wort sagen konnte, schoss er auch schon hindurch und knallte sie hinter sich zu.

»Mann, was soll denn das!«, rief ich und bereute meine Entscheidung schon jetzt. Ich wohnte bei meiner Tante Yvonne, aber sie war arbeiten und würde erst in einigen Stunden nach Hause kommen.

Dylan starrte mich eindringlich an, seine Brust hob und senkte sich unter schweren Atemzügen. Er hob einen Finger an den Mund, was überall dasselbe bedeutete: Sei still.

Ich gab keinen Mucks von mir, und im nächsten Augenblick ertönte draußen Lärm. Irgendwer hämmerte an die Türen, so wie Dylan eben an meine gehämmert hatte. Wieder sahen wir uns an. Er musste wohl gespürt haben, dass ich etwas sagen wollte, denn im nächsten Augenblick war er bei mir, drückte mich rücklings gegen die Wand und legte mir die Hand über den Mund. Er überragte mich ein ganzes Stück. Ich wehrte mich, aber da flüsterte er mir ins Ohr: »Bitte sei still. Da sind ein paar Typen hinter mir her. Ich muss mich nur kurz hier verstecken, dann hau ich wieder ab. Versprochen.«

Ich starrte ihn an. Dann hob ich einen Fuß und trat ihm gegen den Knöchel. Er stieß einen unterdrückten Fluch aus, ließ mich aber nicht los.

»Leck mich«, presste ich gedämpft unter seinen Fingern hervor. »Verzieh dich!« Es klang mehr wie: »Lep mif. Verfie dif.«

»Bitte, Evelyn. Ich brauche deine Hilfe.«

Mein Herz raste. Er kannte meinen Namen. Wobei das so seltsam auch wieder nicht war, hier wusste eigentlich jeder, wie die anderen Leute im Haus hießen. Es war nur irgendwie eigenartig, dass er mich so persönlich anredete, weil wir noch nie zuvor miteinander gesprochen hatten.

Unter dem ernsten Blick seiner dunkelblauen Augen hörte ich auf, gegen seinen Griff anzukämpfen. Für einen langen Augenblick starrten wir einander an, und ich bekam eine Gänsehaut. Seine Brust war breit und kräftig, und er roch nach Nelken.

»Versprichst du, nicht zu schreien, wenn ich meine Hand wegnehme?«, fragte er ganz leise.

Ich nickte langsam, und er nahm die Hand von meinem Mund. »Wer ist hinter dir her?«, flüsterte ich und hatte Angst, dass er mir Ärger an die Tür gebracht hatte.

»Ein paar Typen von der McCarthy-Bande. Sie wollten mich rekrutieren. Ich habe Tommy McCarthy gesagt, er soll sich verpissen, und jetzt wollen sie mir eine Abreibung verpassen.«

»Ach du Kacke«, hauchte ich.

Der Lärm draußen kam näher. Wer auch immer da war, donnerte jetzt mit den Fäusten an die Tür der Nachbarwohnung. Ich hielt ganz still, atmete kaum. Mein Blick wanderte über Dylans angespanntes Gesicht, seine umwerfenden Augen, das markante Kinn. Er trug eine graue Jeans, schwarze Stiefel und eine marineblaue Steppjacke. Sein Haar war irgendwas zwischen blond und braun und ganz leicht gelockt. Allerdings war es so kurz geschnitten, dass die Locken nicht viel Gelegenheit hatten, sich zu … locken. Er war sehr attraktiv, aber das änderte nichts daran, dass er praktisch bei mir eingebrochen war. Während mein Nachbar drüben die Tür öffnete und mit den Typen redete, die Dylan suchten, flüsterte ich: »Warum versteckst du dich ausgerechnet hier?«

Er runzelte die Stirn, es ließ ihn aussehen wie einen mürrischen Bären. »Was?«

»Du hättest genauso gut woanders klopfen können. Warum bei mir?«

Einen Herzschlag lang herrschte Schweigen, dann antwortete er endlich, ebenfalls flüsternd: »Weil du hier im Haus die Einzige bist, die mich nicht den Wölfen zum Fraß vorwerfen würde.«

Ich zog eine Braue hoch. »Woher willst du das wissen? Du kennst mich doch gar nicht.«

Ehe er antworten konnte, ging das Gehämmere wieder los, diesmal an meiner Tür. Vor Angst stockte mir der Atem, mein Brustkorb krampfte sich zusammen, denn ich kannte die Sorte Burschen, die dort draußen waren. Arm. Hartgesotten. Brutal.

Im gleichen Augenblick drängte Dylan mich wieder gegen die Wand und presste mir die Hand auf den Mund, ich konnte mich nicht rühren. Diesmal wehrte ich mich nicht, sondern hielt still und gab keinen Mucks von mir. Seine Nähe jagte mir ein Kribbeln durchs Rückgrat. So nah kamen mir praktisch Fremde nur selten.

»Mach die verdammte Tür auf«, brüllte draußen eine Männerstimme, »sonst trete ich sie ein.«

»Vielleicht sollte ich aufmachen und ihnen sagen, dass du nicht hier bist«, flüsterte ich unter Dylans Hand.

Er sah zu mir herunter, vermutlich spürte er die Bewegung meiner Lippen an seiner Haut. Legte den Kopf schief, als fände er das Gefühl irgendwie interessant, dann sagte er: »Nein, dann kommen sie rein und schlagen hier alles kurz und klein.«

Angespannt stieß ich die Luft aus. Er hatte recht. Und das konnte ich Yvonne nicht antun. Ich durfte nicht zulassen, dass sie nach ihrer Schicht in der Bar eine völlig demolierte Wohnung vorfand.

Wieder hämmerte jemand gegen die Tür. Als am Fenster ein Gesicht auftauchte, zuckte ich zusammen, aber zum Glück verbargen uns Yvonnes Gardinen. »Da drinnen ist er nicht«, sagte jemand. »Wahrscheinlich ist er zu den Willows rübergerannt.«

Die Willows waren ein abbruchreifer Wohnblock, ungefähr fünf Minuten entfernt. Wer sich besaufen oder Drogen einwerfen wollte, ging dorthin. Wer obdachlos war, fand dort einen Schlafplatz.

»Na los«, sagte die erste Stimme, und der Typ, der durchs Fenster hereinsah, verschwand.

Dylan ließ mich los, durchquerte mit drei Schritten das Zimmer und spähte zwischen den Vorhängen hindurch nach draußen. »Sie sind weg«, sagte er und atmete auf, vor Erleichterung sanken seine Schultern herab.

»Na, dann solltest du jetzt auch besser gehen«, sagte ich, plötzlich wieder auf der Hut. Es machte mich nervös, dass ein fremder Junge, mit dem ich noch nie zuvor ein Wort gewechselt hatte, mitten in unserer Wohnung stand. Wobei Junge nicht ganz das richtige Wort war. Dylan war vermutlich etwa ein Jahr älter als ich, ungefähr achtzehn, hatte aber die Statur eines erwachsenen Mannes. Schon bald würden seine Schultern sogar noch breiter werden, das Gesicht markanter. Er würde ein echter Hingucker werden, da war ich sicher.

Er drehte sich wieder zu mir um und starrte mich an, eine Braue hochgezogen. Eine ganze Weile rührte er sich nicht, dann ließ er den Blick durchs Wohnzimmer schweifen. Seine Anspannung wich so etwas wie Freundlichkeit oder vielleicht auch Belustigung. »Großer New-York-Fan, hm?«, fragte er trocken angesichts all der Poster und Souvenirs.

Ich räusperte mich. »Ich nicht, aber meine Tante Yvonne. Seit sie Harry und Sally gesehen hat, ist sie von der Stadt ganz besessen. Sie spart darauf, in ein paar Jahren nach New York umzuziehen.«

Dylans Mund verzog sich nachdenklich. Es stand ihm. »Und was ist mit dir?«

»Was soll mit mir sein?«

»Gehst du dann mit?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht. Nein, wahrscheinlich nicht. Meine Grandma wohnt in diesem Seniorenwohnheim drüben in Broadstone. Wir sind alles, was sie noch hat. Ich könnte sie nicht einfach alleinlassen.«

Dylan dachte eine Weile darüber nach. Der Blick seiner dunklen Augen wurde sanfter. Dann ging er auf die Tür zu. »Danke, dass ich mich hier verstecken durfte.« Er warf einen raschen Blick hinaus, um zu sehen, ob die Luft rein war.

»Na klar«, sagte ich, weil mir nicht einfiel, was ich sonst sagen sollte.

Er warf mir einen letzten Blick zu. »Ich schulde dir was. Man sieht sich, Evelyn.« Und im nächsten Moment war er fort.

»Tut mir ja leid, aber für eine Nacht mit Jared würde ich meine eigene Mutter verkaufen, das steht mal fest«, sagte Sam am Montag auf dem Weg zur Englischstunde.

»Meinst du 30 Seconds to Mars-Jared-Leto oder Jordan-Catalano-Jared?«, fragte ich. »Das sind nämlich zwei total unterschiedliche Hausnummern.«

»30 Seconds natürlich. Du weißt doch, einem Mann mit Eyeliner kann ich nicht widerstehen.« Er zwinkerte mir zu. Wir erreichten gerade unsere Spinde, da tauchte ein sandbrauner Schopf in der Menge auf. Dylan. Er musste meinen Blick gespürt haben, denn er sah mich an. Bei seinem Anblick rang ich nach Luft. Unter einem Auge hatte er eine dunkelviolette Prellung, und sein Gesicht war mit Platzwunden und Schrammen übersät. Lieber Gott.

Sam war meinem Blick gefolgt und kommentierte taktlos: »Sieht ganz so aus, als ob Dylan O’Dea auf die harte Tour abfährt.«

O’Dea also. »Ich würde mal drauf tippen, dass er sich die Prügel eher auf der Straße eingefangen hat als bei einem Mädchen«, sagte ich und kaute betroffen auf meiner Unterlippe herum. Diese McCarthy-Typen mussten ihn gestern doch noch erwischt haben.

»Was du nicht sagst.« Sam lachte leise in sich hinein, aber ich fand es nicht so witzig wie er. Vor Besorgnis verspürte ich einen Stich mitten in der Brust, und ehe ich wusste, was ich tat, hatte ich mich auch schon in Bewegung gesetzt und ließ Sam bei seinem Spind stehen.

Dylan sah mich näher kommen und blieb wie angewurzelt stehen. Warf sich die Tasche über die Schulter und stieß die Luft aus. »Was?«, fragte er.

»Sie haben dich erwischt, oder?«

Er verlagerte das Gewicht aufs andere Bein, meine Sorge schien ihm unangenehm zu sein. »Nee, bin gegen eine Mauer gerannt.«

»Sei nicht albern.«

Wieder ein Seufzer. »Ja, Blondie. Sie haben mich erwischt. War wohl eh besser, es hinter mich zu bringen. Jetzt lassen sie mich vielleicht in Ruhe.«

Ich nickte langsam und wusste nicht, wie ich auf den Kosenamen reagieren sollte. Besonders originell war er zwar nicht, aber trotzdem kribbelte es auf einmal in meinem ganzen Brustkorb. »Meinst du?«

»Ich hoffe es, aber wer weiß das schon?«

»Wollten deine Lehrer wissen, woher du deine Verletzungen hast?«

Er sah mich ungläubig an. »Was meinst du denn, wo wir hier sind? Das interessiert niemanden auch nur einen Scheißdreck.«

Es fuchste mich, dass er damit leider recht hatte. Die Lehrer an dieser Schule waren entweder zu fies oder zu fertig, um sich groß darum zu scheren, wie es den Schülern zu Hause erging. Irgendwie konnte ich es ihnen nicht mal übel nehmen. Sogar die netten Lehrer hatten irgendwann die Schnauze so voll davon, schikaniert und beleidigt zu werden, dass sie emotional einfach dichtmachten. Das hier war keine freundliche Ecke, um aufzuwachsen, aber ich dachte gern über mich selbst, dass ich trotzdem noch ein Herz hatte. Ehe ich über meine nächsten Worte nachdenken konnte, waren sie schon über meine Lippen: »Aber mich kümmert es nicht nur einen Scheißdreck.«

Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. »Warum?«

»Weil ich kein gefühlloser Klotz bin, deshalb.«

Dylan richtete den Blick über meinen Kopf hinweg in die Ferne und schob die Hände in die Taschen. »Wäre aber wahrscheinlich besser für dich«, sagte er, und dann marschierte er an mir vorbei und verschwand im Gewühl.

Uff.

»Oh Blondie, schaff mal deinen Hintern hier rüber«, rief Sam, und ich wandte mich zu meinem Freund um.

»Was denn?«, fragte ich.

»Ich wusste ja gar nicht, dass ihr euch kennt, du und Dylan O’Dea.«

Ich runzelte die Stirn. »Tun wir auch nicht. Nicht so richtig.«

Er verschränkte die Arme vor der Brust und schürzte die Lippen. »Klang aber ganz danach.«

»Da waren gestern so ein paar Typen hinter ihm her und wollten ihn zusammenschlagen, und er hat sich bei mir in der Wohnung vor ihnen versteckt. Das ist alles.«

»Oh, krasse Geschichte. Hat er sich vielleicht ganz zufällig in deinem Schlafzimmer versteckt? Und habt ihr noch ein bisschen rumgemacht, als die Luft rein war? Wie hat er sich denn bei dir bedankt?«

Wenn es darum ging, den Alltag zu einer abenteuerlichen Seifenoper umzudichten, war auf Sam Verlass. Aber bei der Erinnerung daran, wie Dylan mir den Mund zugehalten hatte, kribbelte es mit einem Mal tatsächlich in meinem Bauch. »Er hat nur gesagt, dass er mir was schuldet.« Ich zuckte mit den Schultern.

Sams Augen funkelten. »Das heißt, er schuldet dir, dich mal ordentlich durchzuvögeln.«

»Sam!«

»Was denn?«

»Sei nicht so widerlich.«

»An Sex mit so einem Kerl ist überhaupt nichts widerlich, Ev. Außerdem wird es Zeit, dass du die Blüte deiner Jungfräulichkeit mal loswirst, ehe sie schrumpelt und dahinwelkt.«

»Bitte sag nicht Blüte dazu. Und außerdem bin ich hier nicht die Einzige, die die loswerden müsste, also tu nicht so, als wüsstest du total Bescheid.«

Er sah mich frech an. »Wenn ich so hetero und so hübsch wäre wie du, dann wäre ich schon vor Jahren so weit gewesen. Aber hier in der Gegend ist es nicht gerade ein Kinderspiel, andere Schwule aufzutreiben.«

»Andere Schwule, die sich schon geoutet haben, willst du wohl sagen. Warte einfach, bis dir der nächste Typ irgendeinen homophoben Mist an den Kopf knallt – die Chancen stehen gut, dass er auch vom anderen Ufer ist.«

»Hmmm, Shane Huntley umgibt manchmal so eine Aura aggressiver Sexualität. Vielleicht liegst du da gar nicht ganz falsch.«

Wenn man vom Teufel sprach … im nächsten Augenblick kam Shane auf uns zu, mit gerümpfter Nase und seinem üblichen Arschgeigengefolge. Ich fragte mich, weshalb die ätzendsten Leute anscheinend immer die meisten Freunde hatten. Ich selbst hatte nicht die allerleiseste fiese Ader in mir, und der einzige richtige Freund, den ich hatte, war Sam.

Shane marschierte an uns vorbei und beachtete uns nicht weiter, vom Naserümpfen mal abgesehen, und ich drehte mich um und räumte in meinem Spind herum. »Ich habe in Yvonnes Büchersammlung eins von Freud gefunden. Er hatte da diese Theorie, dass wir Sachen, die wir an uns selbst nicht leiden können, an anderen regelrecht hassen.«

»Hmmm«, machte Sam. »Könnte was dran sein. Aber wie auch immer, zurück zum sinnlichen Mr O’Dea … wann willst du denn deinen Schuldschein bei ihm einlösen?«

Ich lachte leise. »Weiß ich noch nicht. Vielleicht nächstes Mal, wenn ich Hilfe beim Möbelschleppen brauche. Der Kerl hat ganz schön breite Schultern.«

»Sehr gut geeignet, um dich ein bisschen durchs Schlafzimmer zu werfen.«

Ich warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Du hast wohl nicht vor, das Thema bald mal gut sein zu lassen, richtig?«

Er zwinkerte mir zu und machte ein boshaftes Gesicht. »Jedenfalls nicht in diesem Leben, Blondie.«