DR. REINHARD POHANKA ist Archäologe am Historischen Museum der Stadt Wien. Er ist Dozent zahlreicher Veranstaltungen mit den Schwerpunkten Mittelalter und Römische Zeit und hat bisher über 15 Bücher zu diesen Themen veröffentlicht.
»Die Türken sind zwar sterblich, doch unbesiegbar.«
NAPOLEON BONAPARTE
Einst war das Osmanische Reich die stärkste Macht im östlichen Mittelmeerraum. Nach der ersten erfolgreichen Schlacht unter der Führung Osmans I. gegen Byzanz wuchs das Osmanische Reich trotz einiger Rückschläge kontinuierlich; 1683 stand seine Armee sogar vor Wien. Die Kultur der Osmanen beeinflusste nahezu alle Gesellschaften der eingenommenen und es umgebenden Länder.
Reinhard Pohanka geht in diesem marixwissen-Band auf die Kriegsführung der Osmanen ein und gibt einen Überblick über die Kultur, Religion und Gesellschaftsstruktur dieses sagenumwobenen Volkes.
Reinhard Pohanka
Das Osmanische Reich
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ISBN: 978-3-8438-0538-4
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Die Türken haben schöne Töchter,
Und diese scharfe Keuschheitswächter,
Wer will, kann mehr als eine frein:
Ich möchte schon ein Türke sein
Wie wollt ich mich der Lieb ergeben!
Wie wollt ich liebend ruhig leben,
Und – doch sie trinken keinen Wein;
Nein, nein, ich mag kein Türke sein.
(Gotthold Ephraim Lessing, Lieder: Die Türken)
Nichts bessers weiß ich mir an Sonn- und Feyertagen,
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrey,
Wenn hinten, weit, in der Türkey,
Die Völker auf einander schlagen.
(Bürger in Goethe, Faust I ,862/63)
Vorwort
Der Schauplatz: Europa, Asien und Afrika
Der Ursprungsmythos der Türken
Die frühe Geschichte der Türken
Der Vorstoß der Seldschuken nach Kleinasien
Das Sultanat von Rum
Seldschukische Kunst und Architektur
Der Aufstieg der beyliks
Die frühen Sultane der Osmanen – Osman I. und Orhan 1281?–1359
Militär und Verwaltung
Erste osmanische Feldzüge auf dem Balkan – Murad I. 1359–1389
Das mongolische Intermezzo – Bayezid I. 1389–1402
Der Kampf um Bayezids I. Nachfolge 1402–1421
Die Eroberung von Konstantinopel 1453 – Mehmed der Eroberer
Das Osmanische Reich am Weg zur Großmacht: Von Bayezid II. bis Selim I. 1481–1512
Die Eroberung von Ägypten und Syrien – Selim I. 1512–1520
Die frühe Wirtschaft der Osmanen
Der Höhepunkt des Osmanischen Reichs – Süleyman I., der Prächtige 1520–1566
Die osmanische Kunst zur Zeit Süleymans des Prächtigen
Das Heerwesen der Osmanen
Die osmanische Flotte
Die Verwaltung des Reichs
Der Beginn des Niederganges – Selim II. bis Murad III.
Die Macht des Harems
Der wirtschaftliche Niedergang unter Sultan Murad III.
Der Niedergang der Armee
Das 17. Jahrhundert. Ahmed I. bis Ahmed III. 1603–1730
Konsolidierungsversuche – Die Köprülüs
Die Belagerung von Wien 1683
Der große Türkenkrieg 1683–1699
Die Tulpenzeit (1700–1730)
Das Leben der Frauen im Osmanischen Reich
Der Verlust der Großmachtstellung – Mahmud I. bis Abdülhamid I. 1730–1789
Weiterer wirtschaftlicher Niedergang
Erste Reformen – Selim III. 1789–1807
Napoleon in Ägypten 1798–1799
Aufstände auf dem Balkan und in Griechenland 1804–1821
Die Entmachtung der Janitscharen 1826
Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts
Syrien und Ägypten
Reformen unter Mahmud II.
Tanzimat – Die Neuordnung 1839
Der Krimkrieg 1853–1856
Das Edikt von 1856
Fortsetzung des wirtschaftlichen und politischen Niedergangs
Nationalistische Bewegungen auf dem Balkan
Die dynastischen Entwicklungen von 1876 bis 1909 und der Staatsbankrott
Die osmanische Verfassung von 1876
Der Russisch-Osmanische Krieg von 1877–1878
Der Kongress von Berlin 1878 und seine Folgen
Der Kranke Mann am Bosporus 1850–1900
Deutsche Beziehungen zum Osmanischen Reich
Die Jungtürken 1889–1913
Der Italienisch-Türkische Krieg 1911–1912
Die Balkankriege 1912–1913
Der Zweite Balkankrieg 1913
Der Erste Weltkrieg 1914–1918
Der Beginn des Krieges
Die Vernichtung der Armenier
Die Schlacht von Gallipoli (Çanakkale) 1915/16
Der Krieg im Irak und in Palästina
Die Türkei nach 1918 bis zur Republik 1923
Die Regierungszeiten der osmanischen Sultane
Zeittafel Turkstämme, Seldschuken und Osmanisches Reich
Weiterführende Literatur
Betrachtet man die Geschichte von großen Reichen, Imperien und Dynastien auf dieser Welt, so war das Osmanische Reich eines der am längsten überdauernden Staatsgebilde. Seine Herrscherfamilie, die Osmanen, regierte mehr als 600 Jahre ununterbrochen, eine Leistung, die in Europa nur noch die Habsburger vollbrachten. Zunächst am Rande der islamischen Welt gelegen, wurde das Reich, das sich auf dem Höhepunkt seiner Macht von der Donau bis zum Nil erstreckte, zu deren Mittelpunkt und zum Sitz des Kalifates. Das Osmanische Reich und seine Hauptstadt Konstantiniyye1 waren von der Religion des Islam durchdrungen und beeinflusst.
Die osmanische Kultur entstand im Hochmittelalter, als ein zunächst unbedeutender, lokaler Emir namens Osman 1299 ein Gebiet in Anatolien eroberte, zu dem er und seine Nachfahren innerhalb weniger Jahrhunderte Stadt um Stadt und Land um Land hinzufügten. Auf dem Höhepunkt des Reichs herrschten die osmanischen Sultane vom Topkapi-Palast an den Ufern des Bosporus über Länder in Asien, Afrika und Europa und ihre Armeen waren gefürchtet auf den Schlachtfeldern von Kosovo Polje, Mohaçs und Nikopolis. Erst 1923 fiel das Reich endgültig seiner Unfähigkeit zum Opfer, sich selbst zu reformieren und weil es technologisch nicht mehr mit den übrigen europäischen Großmächten Schritt halten konnte. Seine Soldaten mussten besiegt die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges verlassen. Was aber bis heute bleibt, sind die Leistungen der Osmanen in Kunst und Kultur und ein demokratischer Nachfolgestaat, die Republik Türkei.
Wer waren die Osmanen, die in Europa als Türken bezeichnet wurden und die für Jahrhunderte die Politik Europas mitbestimmten? Es gibt zahlreiche Reisebeschreibungen des Osmanischen Reichs von Europäern, die vom Luxus und den Ausschweifungen der Türken berichten, von Festen in mit Lampions und Tulpen geschmückten Gärten, von Palästen mit geheimnisvollen Serails und einem Harem mit den schönsten Frauen aus Abendland und Morgenland. Es gibt aber auch Berichte von der Grausamkeit der Sultane, die, nachdem sie auf den Thron gekommen waren, ihre Brüder und deren Familien zu ermorden pflegten, um keine Rivalen zuzulassen.
Geht man in der Geschichte zurück, so stößt man auf ein turkstämmiges Steppenvolk aus dem Inneren Asiens, das auf dem Rücken seiner Pferde nach Westen wanderte, dabei die Länder Vorderasiens durchquerte, Persien eroberte und sich dann in Anatolien im Sultanat von Rum niederließ. Hier gelang es einem kleinen türkischen Stamm unter seinem Anführer Osman sich im Gefolge der Rum-Seldschuken festzusetzen, dem Byzantinischen Reich die Stirn zu bieten und eine dauerhafte Herrschaft zu etablieren. In zahlreichen Feldzügen wurde von den Osmanen das Byzantinische Reich bezwungen und seine Hauptstadt Konstantinopel erobert, sie überquerten den Bosporus und die Dardanellen nach Europa, besetzten den Balkan und trugen zweimal Angriffe bis an die Mauern Wiens vor. Der Nahe Osten, die Arabische Halbinsel, Ägypten und fast der gesamte Südrand des Mittelmeers wurden erobert und auf dem Höhepunkt seiner Macht umfasste das Osmanische Reich etwa die selbe Fläche, die einst das Römische Reich besessen hatte und war damit einer der größten Flächenstaaten der frühen Neuzeit geworden.
Der Erfolg des Reichs beruhte auf Expansion. Solange sie anhielt konnten seine Soldaten, die gefürchteten Reiter der Sipahis und die Janitscharen mit ihren hohen Turbanen und ihrer wilden Musik, bezahlt werden. Daneben blühte aber auch die Kultur. Baumeister wie Sinan erdachten großartige Moscheen, deren Minarette in den Himmel ragten, geschickte Handwerker schufen Teppiche, Keramiken und Textilien von unvergleichlicher Farbenpracht. Dichter wie Yunus Emre schrieben Bücher zu Ehren des Sultans.
Das Osmanische Reich war am Höhepunkt seiner Macht ein Vielvölkerstaat, aber keine Kolonialmacht. Alle Untertanen wurden gleich behandelt, ob sie in Kostantiniyye, dem heutigen Istanbul2, oder an der osmanischen Militärgrenze in Europa lebten. Der Staat war religiös und dennoch tolerant, nichtmuslimische Religionen konnten ihre Synagogen, Kirchen und Klöster behalten und ihrem Kultus nachgehen, wenn sie eine geringe Kopfsteuer (Dschizya) bezahlten. Die Nicht-Muslime lebten unter ihren eigenen Kirchenfürsten und das Osmanische Reich nahm auch verfolgte Minderheiten wie die sephardischen Juden aus Spanien in seine Länder auf.
Das Osmanische Reich konnte sich über sechs Jahrhunderte als Großmacht behaupten und seine Nachbarn in Angst und Schrecken versetzen. Dennoch ging es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugrunde und wurde durch die moderne türkische Republik ersetzt. Die Gründe dafür waren vielfältig. Zum einen die Hybris seiner Sultane, die es lange Zeit nicht erlaubte, andere Herrscher als gleichwertig anzusehen, dazu ein Landverteilungssystem (timar-System), das nur solange funktionieren konnte, wie das Reich expandierte und am Ende der Verlust jedes Fortschrittsgedankens. Während die Länder des Westens die Zeiten der Renaissance, der Aufklärung und des Merkantilismus bis zur industriellen Revolution durchlebten, blieb das Osmanische Reich in seinen mittelalterlichen Traditionen verhaftet und geriet so immer weiter ins Hintertreffen gegenüber den christlichen europäischen Staaten. Innerhalb von drei Jahrhunderten, vom Beginn des 17. Jahrhunderts bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, wurde aus einer der stärksten Militärmächte der Welt und aus einem wirtschaftlich autonomen Staatswesen der »kranke Mann am Bosporus«, der zum Spielball der europäischen Mächte herabsank3. Zwar gab es hin und wieder den Willen zu Reformen, diese wurden aber meist zu spät oder nur halbherzig durchgeführt. Dennoch bleiben uns viele Dinge, die von den Türken auf uns gekommen sind, die Tulpen etwa, die Nationalblume der Osmanen, der Flieder, die »Türkenmanie« des Rokoko, für ewig festgehalten in Mozarts »Entführung aus dem Serail«, aber auch die zahlreichen Kunstwerke und Schriften der Antike, die in den Bibliotheken des Osmanischen Reichs durch die Toleranz der Sultane erhalten geblieben sind und über diesen Weg nach Europa gelangten.
Und dennoch bleibt das Osmanische Reich in vielerlei Hinsicht ein Rätsel. Es kontrollierte die Handelswege zwischen Europa und Asien, war aber selbst kaum am Handel interessiert und beteiligt. Es war ein Reich der Türken, aber dennoch kamen seine hohen Offiziere und Beamten zumeist vom Balkan wie auch seine Elitetruppen, die Janitscharen. Man pflegte das byzantinische Hofzeremoniell, die Literatur war persisch beeinflusst, der Reichtum kam aus Ägypten und man schrieb mit arabischen Buchstaben. Die Landwirtschaft blieb die längste Zeit auf einem primitiven Stand, blühte aber in den vom Reich eroberten Ländern auf. Die Osmanen waren keine fanatischen Muslime und folgten der moderaten Sunni-Schule der Hanafiten mit einer maßvollen Interpretation des Korans. So war das Osmanische Reich ein islamischer Staat, auch wenn die Mehrzahl seiner Untertanen oft keine Muslime waren und man nicht versuchte, sie zum Übertritt zum Islam zu bewegen.
Ihre Sultane wurden über das Leben von Alexander dem Großen unterrichtet, hatten aber sonst kaum Interesse an der Geschichte mit Ausnahme der ihrer eigenen Vorfahren. Dennoch waren sie Vorbilder. Der junge russische Zar Iwan IV. der Schreckliche studierte das Leben von Mehmed II. dem Eroberer und die Venezianer bewunderten ihr Regierungssystem. Die Osmanen waren große Baumeister und Architekten und einer ihrer Großwesire rühmte sich, dass er mehr Moscheen gebaut habe als Kaiser Justinian Kirchen.
Das osmanische Imperium überlebte seine Größe. Als Napoleon 1798 unter den Pyramiden stand und verkündete, dass 40 Jahrhunderte auf seine Soldaten herabblickten, war das Reich schon schwach und im Verfall begriffen. Wenige Türken konnten sich noch aufraffen um den Versuch zu wagen, zur alten Größe zurückzukehren. Daher kamen die besten Seeleute des Reichs am Ende aus Griechenland, die geschicktesten Händler waren Armenier und Juden. Die Soldaten aus allen Teilen des Reichs waren schlecht geführt, aber bekannt für ihre Tapferkeit und Hingabe an den Staat. Die Staatsmänner, besonders die Großwesire, lebten in ständiger Furcht vor dem Sultan und seinem Henker und unter dem Dauerverdacht der Korruption. Das Reich war geographisch nach allen Seiten offen und hatte keine natürlichen Verteidigungslinien, es gab keine gemeinsame Sprache und keine religiöse Einheit. Die Osmanen hatten niemals nach dem Gold anderer Erdteile gegriffen und besaßen am weltweiten Handel keinen Anteil. Lange Zeit verweigerten sie sich neuartigen Erfindungen wie der Dampfkraft oder der Telegraphie und der Staat war zur »orientalischen Frage« herabgesunken. In den letzten Jahren ihrer Herrschaft stand der Name der Osmanen für Verfall, für langwierige Verhandlungen ohne Ergebnisse statt Entscheidungen, für Bankrott und Korruption und die Welt ging über das Reich hinweg und reduzierte es auf einen anatolischen Rest und einen kleinen Teil, der die heutige Türkei auch zu einem europäischen Staat macht.
Dennoch hat das türkische Element in der Gesellschaft auch im 20. Jahrhundert seine Kraft bewahrt. Mustafa Kemal, genannt Atatürk schuf nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs den Staat neu. Dieser passte sich den modernen Zeiten an, warf jahrhundertealte kulturelle Traditionen über Bord und wurde zum geachteten Partner in wirtschaftlicher, politischer und militärischer Hinsicht. Wenn man heute sagt: »Die Türken kommen«, so ist das kein Warnruf mehr, sondern Ausdruck der Partnerschaft mit einem weltoffenen modernen Staat, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die alte Brückenfunktion, die er für Jahrhunderte zwischen Europa und Asien hatte, wieder einzunehmen.
Das Theater, in dem sich das Drama vom Aufstieg und Niedergang der Osmanen entfaltet, umfasst drei Kontinente: Asien, Europa und Afrika. Am Beginn steht die Herkunft der Türken aus Innerasien, dann ihre Wanderung in den Südwesten Asiens. Noch heute stellen die Nachkommen dieser Einwanderer in den Staaten Turkmenistan, Usbekistan, Kasachstan und Kirgisien die Mehrheit der Bevölkerung. Von dort gelangten die Vorfahren der Osmanen mit den Seldschuken über Transoxanien in den Iran, der aber für sie ein Durchzugsland blieb. Nur einzelne Stämme wie die Kaschgai4 im Süden des Iran können heute noch auf türkische Vorfahren zurückgeführt werden. Reste einer turkstämmigen Bevölkerung gibt es im Iran auch noch in Südaserbeidschan. Turk-Stämme finden sich heute aber auch noch im Nordwesten von China, wo sie politisch im Gegensatz zur chinesischen Mehrheitsbevölkerung stehen.
Der Großteil der Türken lebt heute im modernen Staat Türkei, aber auch in Polen, Rumänien, Bulgarien, Bosnien, Griechenland, auf Zypern, in Syrien, im Irak und in Afghanistan gibt es noch türkisch sprechende Minderheiten. Zu den Turkvölkern sind auch die Krimtartaren im Süden der Ukraine zu rechnen, wie überhaupt das Schwarze Meer zeitweise ein osmanisches Binnenmeer war.
Das Osmanische Reich umfasste auf seinem Höhepunkt und im Laufe der Zeiten auch Gebiete, die nicht von Türken besiedelt waren, wie Ägypten, Nubien und den nördlichen Sudan, die Ränder der Arabischen Halbinsel bis hinunter in den Jemen und nach Kuwait sowie den Südrand des Mittelmeeres mit den heutigen Staaten Libyen, Tunesien und Algerien. In Europa waren dies neben dem Balkan auch Ungarn und der Südteil von Polen und Weißrussland. Zeitweise war der gesamte Ostteil des Mittelmeeres mit den großen Inseln Zypern, Rhodos und Kreta in türkischer Hand, die ihr Herrschaftsgebiet bis in die Adria und an die dalmatinische Küste ausdehnen konnten. Griechenland und der Peloponnes waren türkisch, wie auch die Inseln des Dodekanes. Im Kaukasus waren Georgien und Armenien bis an das Kaspische Meer im Besitz der Osmanen, manchmal aber auch nur tributpflichtig. Im Iran reichte die osmanische Herrschaft zeitweise bis nach Hamadän und an den Schatt-al-Arab. Es sei aber hier angemerkt, dass die europäische Bezeichnungen »Türkei« oder »Türkisches Reich« in der Vergangenheit für das Osmanische Reich nicht gebräuchlich waren, erst der moderne Nationalstaat der Republik Türkei verwendet diese Bezeichnung für sich.
Die Mythologie vom Ursprung der Welt und der Türken5 geht auf jene Zeiten zurück, in der die Vorfahren der Türken als Steppenbewohner in Innerasien lebten und ein nomadisches Leben führten.
Es gibt unter den Turkvölkern mehrere unterschiedliche Sagen über die Schöpfung. Die verbreitetste ist die vom Gott Kaira Khan: Am Anfang gab es nichts außer einem riesigen Meer, genannt »Talay«. Es gab kein Land, weder Himmel, Sonne, Mond noch Sterne. Eines Tages flogen Kaira Khan und ein Mensch über das Meer. Der Mensch hielt sich für etwas Besseres als der Gott, er neckt ihn mit kleinen Späßen, spritzte ihm das Wasser des Meeres ins Gesicht und tauchte in den Ozean, um seinen Mut zu beweisen, wobei er aber fast ertrank. Der Gott rettete ihn aus dem Wasser und ließ einen Felsen aus dem Meer auftauchen. Mensch und Gott setzten sich darauf und Kaira Khan beschloss, das Land zu erschaffen. Er befahl dem Menschen ins Wasser zu tauchen und Sand vom Grund des Meeres zu holen. Der Mensch aber war listig und undankbar, er ahnte das Vorhaben des Gottes und versteckte beim Auftauchen Sand in seinem Mund, um sich sein eigenes Land zu erschaffen. Er folgte einem erneuten Befehl des Gottes und verstreute den Sand auf dem Wasser. Plötzlich entstanden Inseln, die rasch anwuchsen und zu einem lieblichen Land mit endlosen Steppen wurden. Aber auch der Sand im Mund des Menschen begann sich zu mehren. Seine Backen wurden immer dicker, er drohte zu ersticken und zu sterben. Kaira Khan befahl ihm den Sand auszuspucken. Aus dem Sand des Menschen entstanden hässliche Berge auf dem Land des Gottes, das vorher nur weite, ebene Steppe war. Kaira Khan sprach zum Menschen: Du hast gesündigt und wolltest mich betrügen. Die Gedanken der Völker, die mich verehren, werden rein sein, und sie werden sich am Sonnenlicht erfreuen. Die Menschen, die Sünde begehen, sollen dein Volk werden. Kaira Khan ließ einen riesigen Baum mit neun Ästen auf einem Hügel wachsen und unter diesem Baum vereinigten sich Törüngey und Eje, die Urahnen aller Menschen.
Ebenso weit verbreitet unter den Turkvölkern war die Ergenekon-Sage. Sie handelt von einer Krise des türkischen Volkes zwischen dem ersten und dem zweiten Reich der Göktürken6. Danach sollen sich die Türken nach einer katastrophalen Niederlage in dem nur schwer zugänglichen Tal Ergenekon niedergelassen haben. Erst nach vielen Generationen wurde dieses Tal zu eng für das Volk, und die Menschen suchten nach Wegen, um es zu verlassen. Die Schmiede schmolzen dazu einen Berg aus Eisenerz. Das Volk kam mit seiner alten Stärke zurück in die Steppe und verkündete bei allen Völkern, dass die Göktürken wieder ihren Platz eingenommen haben.
Einen wichtigen Stellenwert in der türkischen Mythologie nimmt der Wolf ein, der sich bis heute als Symbol des nationalen Türkentums7 gehalten hat8.
Der Wolf wurde als heilig verehrt, weil er seinen Kopf beim Heulen zum Himmel erhebt. Als heiligstes und höchstes Totem-Tier spielt er in fast allen Sagen und Mythen der Türken eine wichtige Rolle und er wird als der Urahn der Türken angesehen. Wahrscheinlich hat sich die ursprüngliche Legende vom Ahnen-Wolf bei den Hsiung-nu, den möglichen Vorläufern der Hunnen, entwickelt, und zwar bereits zu einer sehr frühen Zeit. Die bekannteste Legende ist die der Wölfin Asena beim Stamm der T’ue-chüe. Diese bildeten einen eigenen Klan, wurden aber später von einem Nachbarstamm im Kampf besiegt, der alle ihre Krieger, Frauen und Kinder mit Ausnahme eines kleinen Jungen von zehn Jahren auslöschte. Keiner der feindlichen Soldaten hatte den Mut, ihn zu töten. Schließlich hackten sie ihm die Füße ab und warfen ihn in einen Sumpf. Dort fand ihn eine Wölfin, die ihn mit Fleisch nährte. So wuchs er heran und vereinigte sich mit der Wölfin, die bald trächtig wurde. Als der feindliche König erfuhr, dass das Kind noch lebte, sandte er seine Krieger aus, um es töten zu lassen. Als diese eine Wölfin an seiner Seite sahen, wollten sie diese nicht mit dem Kind zusammen töten. Die Wölfin floh mit dem Kind auf einen Berg im Turfan-Gebirge nordwestlich von Kao-Tschang. Hier gab es eine Höhle und darin eine flache Ebene, die einen Umfang von mehreren hundert Li9 hatte und an allen Seiten von Bergen umgeben war. Die Wölfin brachte hier zehn Jungen zur Welt. Als diese groß geworden waren, nahmen sie sich draußen in der Welt Frauen, die bald Mütter wurden, ihre Nachkommen bildeten die Turkstämme.
Die Geschichte der Turkvölker und der Volksname »Türken« lässt bis in das sechste Jahrhundert n. Chr. zurückverfolgen. Wenn es so etwas wie eine gemeinsame Urheimat gab, so ist diese am ehesten in Mittelasien anzusiedeln, vermutlich im Bereich der Gebirge des Altai und des Sajan, ein Gebiet, das heute in der Grenzregion zwischen Sibirien und der Mongolei liegt. Zu dieser Region gehören auch der Tienschan an der russischchinesischen Grenze, der Altyn-Dag an der Nordwestgrenze Tibets und der Chingan in Nordostchina. Von hier aus sollen sich später die verschiedenen Turk-Stämme ausgebreitet haben.
Die Volksbezeichnung Türk kann erstmals in chinesischen Quellen des sechsten Jahrhunderts n. Chr. ausgemacht werden. Als einer dieser türkischen Stämme wird der nach heutiger Aussprache genannte T’ue chüeh erwähnt, woraus die spätere Volksbezeichnung Türk oder Türküt hervorgegangen sein soll10.
Die Wissenschaft hat versucht, das Volk der Hsiung-Nu, die man später im Westen mit den Hunnen gleichgesetzt hat, zu den Turkvölkern zu zählen, ebenso die Juan-Juan als die Vorläufer der chinesischen und europäischen Awaren. Diese Hypothesen werden in der gegenwärtigen Forschung jedoch überwiegend zurückgewiesen, da es weder schriftliche Belege noch materielle Überreste gibt, die diese stützen würden.
Das erste turkmenische Staatswesen dürfte um 552 gegründet worden sein. Es war ein loser Verband von mehr oder weniger unabhängigen Nomadenstämmen in Innerasien, der aber schon bald nach seiner Gründung in zwei Teile zerfiel, einen westlichen, der bis zum heutigen Amur Daja, dem antiken Oxus und vielleicht bis zum Kaspischen Meer reichte, und einem östlichen, der im Gebiet der heutigen Mongolei liegt11. Beide Staaten, die einen regen Fernhandel und diplomatische Beziehungen mit Byzanz unterhielten, kamen im siebten Jahrhundert unter die Oberherrschaft der Chinesen. 682 gelang es den östlichen Turkstämmen, den sogenannten Göktürken oder »himmlischen« Türken, die Herrschaft der Chinesen abzuschütteln und ein neues Reich zu gründen, das aber kulturell und politisch chinesisch beeinflusst blieb. Der Mittelpunkt dieses Reichs lag im Nordteil der Mongolei am Orchon, einem Nebenfluss der Selenga. Dieser Staat florierte bis in die Mitte des achten Jahrhunderts, als er von einer Koalition mittelasiatischer Turkvölker vernichtet wurde. An seine Stelle traten ab 744 die Uiguren, ebenfalls ein Turkvolk, das um 762 den Manichäismus12 als Religion annahm. Dieser Staat bestand etwa ein Jahrhundert lang bis um 840, als die Uiguren von einem weiteren Turkvolk, den Kirgisen, aus ihrer Heimat vertrieben wurden und sich später im Tarim-Becken und jenseits der Wüste Gobi im Grenzgebiet zu China niederließen, wo sie zwei Staaten bildeten. Der westlich gelegene Staat in Ostturkestan mit Turfan als Hauptstadt wurde 1028 von den tibetischen Tanguten vernichtet. In China ließen sich die Uiguren nieder, gaben ihre nomadische Lebensweise auf und wurden zu Ackerbauern. Ein Teil von ihnen nahm den Buddhismus als Religion an, ein weiterer konvertierte zum nestorianischen Christentum, der größte Teil blieb aber dem Manichäismus verbunden. Als die Uiguren im 13. Jahrhundert von den Mongolen überrannt wurden, gingen sie ein Vasallenverhältnis zu diesen ein und teilten sich in kleine Fürstentümer auf, die mit der Zeit verschwanden.
Ein weiteres Turkvolk waren die Chasaren, die vom 6. bis zum 11. Jahrhundert in Südrussland ein bedeutendes Reich errichteten, das für die Handelsbeziehungen zwischen Europa und Asien eine wichtige Rolle spielte. In Fragen der Religion war man tolerant. Judentum, Christentum und später der Islam waren hier gleichberechtigt vertreten.
Zu erwähnen unter den Turkvölkern sind auch die Karachaniden, das erste Turkvolk, das in seiner Gesamtheit den Islam annahm. Ursprünglich siedelte dieses Volk am Fluss Talas in Innerasien, nahm im 10. Jahrhundert den Islam an und wanderte nach Süden, wo es ihnen 999 gelang Buchara, die Hauptstadt der iranischen Samaniden, zu erobern. Die Karachaniden passten sich in der Folge schnell der Kultur der Samaniden an. Das älteste erhaltene islamische-türkische Sprachdenkmal, ein Fürstenspiegel mit dem Namen Kutadgu Bilig (Glücklichmachendes Wissen) und ein Diwan, ein Lexikon des Karachaniden Kaschgari, sind hier entstanden. Die Karachaniden gerieten jedoch mit ihren südlichen Nachbarn, den iranischen Ghaznaviden, ursprünglich ebenfalls ein türkischer Stamm, aber nun iranisiert, unter ihrem Sultan Mahmud (997–1030) in Konflikt. Den Ghaznaviden gelang es solange sich gegen die Karachaniden zu verteidigen, bis diese in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts von den aus China stammenden mongolischen Kara Kitai unterworfen wurden.
Jene türkische Dynastie, die als erste nach Anatolien vordringen sollte, waren die Seldschuken13. Diese waren Ohgusen vom Stamm der Kinik und wanderten im achten Jahrhundert nach Transoxanien ein. Im folgenden Jahrhundert konnten sie eine Herrschaft in der Region um Samarkand und Buchara errichten. Der Stamm wurde nach seinem sagenhaften Gründer Seldschuk (um 1000) benannt, der am Ende des 10. Jahrhunderts den gesamten Stammesverband zum Islam konvertieren ließ. Niedergeschrieben war die frühe Geschichte der Seldschuken im Malik-Nameh, einem heute verschollenem Werk aus der Mitte des ii. Jahrhunderts14. Nach dieser Quelle konnten die Söhne Seldschuks, Israil und Mikail, die Herrschaft des Stammes über Samarkand und Buchara konsolidieren und bis nach Khurasan ausweiten. 1040 begann Mikails Sohn Tuğrul mit seinen Brüdern Çagri und Ibrahim Inal einen Krieg mit den Ghaznaviden, die zu dieser Zeit ein Reich beherrschten, das von Nordpakistan über Afghanistan, Tadschikistan, Kirgisistan bis nach Usbekistan und Turkmenistan reichte und auch Teile des Iran umfasste. In der Schlacht von Dandarqan bei Merv besiegten die Seldschuken 1034 die Ghaznaviden entscheidend, wodurch sie Zugang zum iranischen Hochland erhielten.
In Zukunft sollten diese drei Brüder getrennte Wege gehen mit dem Bestreben, sich selbst eine Herrschaft und ein Herrschaftsgebiet anzueignen. Der Erfolgreichste unter ihnen war Tuğrul, der den Nordosten des Iran und einen Teil Aserbeidschans eroberte, 1055 in Bagdad einmarschierte und sich selbst zum Schutzherren des abbasidischen Kalifen al-Mustansir (1029–1094) ernannte. Dazu führte er auch den Titel eines Sultans und bezeichnete sich selbst als Herrscher von Ost und West.
Ibrahim eroberte Teile des nordwestlichen Iran, fiel 1045 in Armenien und Georgien ein und stieß bis nach Anatolien vor. Çagri hingegen konnte das Land, das sich östlich des Tigris befand, besetzen.
Als Tuğrul 1063 starb, folgte ihm sein Neffe Alp Arslan (etwa 1030–1072), ein Sohn Çagris, auf dem Thron nach. Tuğrul und Alp Arslan gelten als die ersten Sultane der Großseldschuken des Iran, eine Dynastie, die von der des späteren seldschukischen Sultanats von Rum in Anatolien unterschieden wird.
Die ersten türkischen Einfälle nach Anatolien erfolgten um 1016–1017, als türkische Stämme das Armenische Königreich von Vaspuracan attackierten. Noch nahm man in Byzanz den Einfall der Seldschuken nicht ernst und Kaiser Basileios II. Bulgaroktonos (963–1025) nutzte die Gelegenheit, dass der armenische Prinz Senecherim sein Land im Ansturm der Invasoren aufgeben musste, um es 1021 der byzantinischen Herrschaft zu unterstellen15. Ob die Angreifer Seldschuken oder Turkmenen waren, ist nicht klar entschieden. Allerdings verwendeten sie bei ihrem Vorstoß eine türkische Taktik, die auch von anderen Steppenvölkern bekannt ist. Auf einen schnellen Reiterangriff mit Pfeilsalven folgte ein Scheinrückzug um den Feind aus der Defensive zu locken und ihn anschließend wieder mit Bogensalven anzugreifen. Der byzantinische Geschichtsschreiber Michael Attalaiates (um 1020–1085) beschreibt diese Taktik so: »Diese Barbaren sind geübt im Kampf aus der Ferne, sie konnten so viele Römer verwunden ohne selbst getroffen zu werden […] diejenigen die am Ufer des Flusses standen feuerten weiterhin auf die Römer und verursachten große Verlust und zwangen diese zu fliehen«16.
Unter Alp Arslan hielt der militärische Erfolg der Großseldschuken an. So wurden Aleppo und die heiligen Stätten Mekka und Medina erobert. In dieser Zeit stießen kleinere seldschukische Verbände auch weiter nach Anatolien vor. 1046 konnte Alp Arslan die armenische Hauptstadt Ani am Van-See erobern. Er soll danach 50 000 Einwohner der Stadt versklavt und den Rest massakriert haben, sodass man durch die Straßen von Ani über Leichen gehen konnte, ohne dabei den Boden zu berühren. Im darauffolgenden Jahr sandte Alp Arslan eine Armee nach Anatolien, die bis zu den byzantinischen Städten Kaisareia (Kayseri), Sebaste (Sivas) und Ikonion (Konya) vorstieß. Anatolien lag in dieser Zeit mehr oder weniger schutzlos vor den türkischen Armeen, da sich die byzantinischen Kaiser Konstantin X. Dukas (1059–1067), Michael VII. Dukas (1071–1078) und Kaiserin Eudokia Makrembolitissa (1067–1081) mit den Normannen in Unteritalien und mit militärischen Unternehmungen auf dem Balkan auseinandersetzen mussten. Erst ab 1069 konnte Kaiser Romanos IV. Diogenes (1067–1071) in Anatolien in die Offensive gehen. Dazu stellte er 1071 ein Heer auf, dessen Stärke angeblich um die 100 000 Mann betragen haben soll17 und sich aus Söldnern sowie Kontingenten aus dem gesamten Byzantinischen Reich zusammensetzte. Dennoch unterlag er am 26. August 1071 Alp Arslan in der Schlacht von Manzikert/Malazgırt18. In der Folge führten diese Niederlage und die sich daran anschließenden Ereignisse zum Ende der byzantinischen Herrschaft in Mittel- und Ostanatolien. Kaiser Romanos IV. wurde gefangen genommen und vor Alp Arslan gebracht, der ihn aber behandelte wie es einem Kaiser gebührte und mit ihm einen Friedensvertrag schloss. Gegen Zahlung eines Lösegelds wurde der Kaiser schließlich aus der Gefangenschaft entlassen. Allerdings betrachteten die Seldschuken den geschlossen Vertrag kurz darauf als gebrochen, da Kaiser Romanos auf Grund seiner Niederlage in Konstantinopel für abgesetzt erklärt wurde. Ein militärisches Vorgehen gegen den neuen Kaiser Michael VII. Dukas scheiterte. Romanos IV. wurde in Konstantinopel geblendet, gefangengesetzt und nach Proti verbannt19. Im folgenden Jahr fand Alp Arslan sein Ende, als er am 25. November 1072 bei der Eroberung einer Burg durch einen Attentäter sein Leben verlor. Dennoch hatte sein Sieg in der Schlacht von Manzikert den Türken den Weg nach Anatolien geöffnet und die endgültige Eroberung Kleinasiens durch die Seldschuken vorbereitet.
Das Wort »Rum« meint eigentlich Rom und wurde von den in Kleinasien einwandernden Turkvölkern als Bezeichnung für das Byzantinische Reich verwendet, dessen Bewohner sich nicht als Byzantiner, sondern als »Rhomaier«, als Römer in der Tradition des antiken Reichs, verstanden. Anatolien war seit der Antike ein Teil des Römischen Reichs gewesen, galt als eine der fruchtbarsten sowie politisch, militärisch und finanziell wertvollsten Provinzen und bildete ab dem siebten Jahrhundert n. Chr. das Kernland der Byzantiner. Der Verlust dieser Region, die wir heute als Kleinasien bezeichnen, sollte das byzantinische Imperium wesentlich schwächen und den Beginn seines Unterganges ankündigen. Dabei war diese Region keineswegs durchgehend urbanisiert und romanisiert. Die bedeutenden Städte lagen an der Küste und dienten dem Handel mit Waren aus dem Landesinneren und anderen Teilen des Mittelmeers. Im Hochland von Anatolien war durch das raue Klima und die geographischen Gegebenheiten nicht überall Landwirtschaft möglich. Jene Gebiete aber, die sich dafür eigneten, waren dicht besiedelt. Die christliche Einwohnerschaft war ein Gemenge aus den verschiedensten Völkerschaften: Griechen siedelten hier neben Armeniern und aus dem Balkan umgesiedelten slawischen Völkern. Daneben gab es noch Reste der keltischen Galater, die bereits im dritten Jahrhundert v. Chr. eingewandert waren. Armenische Siedlungsgebiete lagen vor allem im Osten Anatoliens zwischen Schwarzem Meer und dem Van-See sowie in Kilikien an der Südküste im Südosten Anatoliens, im sogenannten Kleinarmenien.
Nach dem Tode Alp Arslans übernahm sein Sohn Malik Schah (1055–1092) die Herrschaft. Mit Mühe gelang es ihm ein geeintes Großseldschukisches Reich aufrecht zu erhalten. Bereits kurz nach seinem Tod 1092 zeigten sich allerdings erste deutliche Zerfallserscheinungen, die aber zunächst noch von Malik Schahs Sohn Muhammad (1105–1118) überwunden werden konnten. Unter dessen Sohn Sandschar (1118–1157) erodierte das Großseldschukische Reich schließlich und Sandschar konnte seine Herrschaft nur mehr in Khorasan im Iran aufrechterhalten, das aber nach seinem Tod ebenfalls aufgegeben werden musste. Das Reich der Großseldschuken zerfiel aufgrund der niemals aufgegebenen Stammesstruktur in kleinere Fürstentümer, die sich beständig bekriegten. Es gab die Machtbereiche der Khorasanseldschuken, der Kermanseldschuken, der syrischen, irakischen und anatolischen Seldschuken.
Nach der Schlacht von Manzikert 1071 strömten in das Gebiet Zentralanatoliens vermehrt türkische Stämme und ließen sich hier nieder, ohne aber die eingesessene Bevölkerung zu vertreiben oder zum Islam zu bekehren. Diese Türken stellen die direkten Vorfahren der heutigen türkischstämmigen Bevölkerung der Türkei dar. Mehrere kleine seldschukische Fürstentümer oder Emirate entstanden im Laufe der Zeit auf anatolischem Boden: Der Staat der Danischmeniden lag in der Region um Malatya, die Megzutschekiden wohnten am Oberlauf des Euphrat, um Erzurum siedelten die Saltukiden und die Ortokiden in der Gegend von Mardin.
1075 eroberte Süleyman, der Sohn eines abtrünnigen Prinzen der Großseldschuken, die byzantinischen Städte Nikäa (Iznik) und Nikomedia (Izmit) und nahm 1077 den Titel eines Sultans an20. 1078 machte Süleyman Nikäa zur Hauptstadt des Sultanats der Rum-Seldschuken. Der Name des Sultanats Rum (bilâd al-Rûm) leitet sich von Rom/Rhomaioi ab und es heißt somit das »Römische Sultanat«, bezugnehmend auf das oströmisch-byzantinische Kaiserreich.
Süleyman war der erste der türkischen lokalen Fürsten, der seine Unabhängigkeit gegenüber den Großseldschuken erklärte. Das Herrschaftsgebiet Süleymans hatte zunächst eine ungünstige Lage. Im Westen und Norden wurde es von den Byzantinern und im Osten von den türkischen Danischmeniden bedroht. Süleyman schloss daher Frieden mit den Byzantinern und konnte sein Reich danach stetig nach Osten erweitern. 1176 brachte einer seiner Nachfolger, Sultan Quilitsch Arslan II. (1156–1192), den Byzantinern bei Myriokephalon eine vernichtende Niederlage bei. Zwei Jahre später konnte dieser das Reich der Danischmeniden erobern und seinem Sultanat anschließen. Bei der Vergrößerung des Sultanats spielte den Rum-Seldschuken auch der Lauf der Geschichte in die Hände: 1204 eroberten die Kreuzfahrer des vierten Kreuzzug21 Konstantinopel und errichteten das Lateinische Kaiserreich von Konstantinopel, das schon auf Grund seiner internen Schwäche nicht offensiv gegen die Rum-Seldschuken vorgehen konnte. Im westlichen Kleinasien etablierte sich nach dem Fall von Konstantinopel ein neues griechisches Staatswesen, das byzantinische Kaiserreich von Nikaia22, das seit 1205 von Theodor I. Laskaris angeführt wurde. Ebenfalls im Zusammenhang mit dem Vierten Kreuzzug entstand ein zweiter byzantinischer Staat in direkter Nachbarschaft zu den Rum-Seldschuken mit der Hauptstadt Trapezunt im Nordosten Anatoliens. Von äußeren Feinden kaum gehindert, konnte sich daher das Reich der Rum-Seldschuken unter der Herrschaft von Alaeddin Keykubad I. (1192–1237) zu größter Blüte entfalten. Von der Hauptstadt Konya aus erreichte es seine größte Ausdehnung von Ostanatolien bis in den Westen Kleinasiens. Zugleich kam es auf dem Gebiet der Künste und der Wissenschaften zu bedeutsamen Leistungen.
Dazu trug auch die interne Politik der Rum-Seldschuken gegenüber ihren neuen Untertanen bei. Die ansässigen Bauern mit ihrer griechischen, slawischen und armenischen Herkunft wurden nicht gezwungen ihren Besitz zu verlassen, sondern konnten ihre traditionelle Landwirtschaft mit Obstanbau, Weizen- und Gersteproduktion wie auch die dazu nötigen Bewässerungsanlagen weiter betreiben. Die Steuerbelastung unter den Seldschuken scheint im Vergleich zur byzantinischen Zeit sogar gesunken zu sein. Auch im Bereich der Religionsausübung änderte sich zunächst kaum etwas. Nicht-Muslime wurden nicht gezwungen zu konvertieren, sondern mussten nur die Dschizya, die Kopfsteuer, an ihre neuen Herren entrichten. Verließen allerdings die byzantinischen Großgrundbesitzer, die oft über weite Landstriche mit Hunderten von Dörfern und Tausenden von Bauern geboten, ihren Besitz, so fielen die Eigentumsrechte an die Seldschuken und wurden vom Sultan an eine neue seldschukische Oberschichte vergeben. Diese hatte aber kaum Grund an den bestehenden Verhältnissen etwas zu ändern, da eine geordnete Landwirtschaft die Grundlage ihrer regelmäßigen Einkünfte aus der Steuerleistung der Bauern war. Dennoch scheint es nur wenig Privateigentum gegeben zu haben. Der Großteil der freigewordenen Besitzrechte fiel an den Staat, der sie in ikta, in Pfründe, aufteilte und diese als Besoldung zur Nutznießung bis zum Widerruf an Beamte und Militärs vergab. Anders als im mittelalterlichen Lehnswesen des Westens waren aber mit den ikta keine Hoheitsrechte gegenüber der Bevölkerung verbunden. Diese verblieben beim Staat, der so darauf achten konnte, dass die Macht der Inhaber der Pfründe nicht allzu sehr anstieg.
Zu einem weiteren Wirtschaftsfaktor wurden die Herden der zu diesem Zeitpunkt noch immer der nomadischen Lebensweise anhängenden Türken. Es waren dies vor allem große Schaf- und Ziegenherden, die nicht nur der Fleischversorgung dienten, sondern durch ihre Felle und besonders durch ihre Wolle die Grundlage für die Teppichproduktion bildeten.
In den großen Städten spielten Handel und Handwerk eine bedeutsame Rolle. Im Handwerk wurden die überlieferten Traditionen der Antike mit der nomadisch beeinflussten und der persischen Handwerkskunst der Neuankömmlinge verbunden und brachten Produkte hervor, die bis ins Abendland, nach Persien und China gehandelt wurden. Grundlage des Handels waren die Handelsstraßen und Karawanenrouten, die einen Teil der Seidenstraße vom Mittelmeer nach China bildeten und an denen man in regelmäßigen Abständen Karawanserails errichtete, in denen Reisende Schutz und Unterkunft finden konnten.
Die Architektur der Rum-Seldschuken zeigt deutliche persische Einflüsse, was unter anderem in der Verwendung dekorativer Verzierungen zum Ausdruck kommt, wozu kufische Schriftzeichen23 und Steinschnittarbeiten gehören. Als erste islamische Macht in Kleinasien verknüpften die Rum-Seldschuken die Architektur des Mittelmeerraumes mit der türkisch-nomadischen Tradition und der persischen Architektur.
In der Literatur blieb das Persische die vorherrschende Sprache, die auch am Hof der Rum-Seldschuken in Anatolien gesprochen wurde, da man das traditionelle Türkisch der Nomaden als primitiv und barbarisch ansah. Der wesentliche Vertreter der seldschukischen Literatur, Mevlana Jalal ad-Din al-Rumi, schrieb seine Werke zumeist in Persisch, nur wenige sind in seiner türkischer Muttersprache oder in einer türkisch-persischen Mischsprache überliefert.
Die Blütezeit des anatolischen Reichs der Rum-Seldschuken währte indessen nur kurz. 1243, nur sechs Jahre nach dem Tod Keykubads I., wurde das seldschukische Heer am Köse Dağ bei Sivas von den Mongolen unter Baijun vernichtend geschlagen. Mit der Gründung der Dynastie der Ilchane 1256 durch den mongolischen Khan Hülegü wurde das Sultanat von Rum endgültig zu einem tributpflichtigen Vasallenstaat herabgestuft24. Hier rächte es sich, dass der innere Zusammenhalt des anatolisch-seldschukischen Reichs immer nur durch starke Herrscherpersönlichkeiten gewährleistet worden war, niemals aber die Bevölkerung durchdrungen hatte. Das Sultanat von Rum zerfiel von da ab in einen westlichen Teil, der sich mit dem Byzantinischen Kaiserreich von Nikäa verständigte und einem östlichen Teil, der sich den Mongolen zuwandte. Die Grenze zwischen beiden Reichen bildete der Fluss Kizil Irmak. Nach einem kurzzeitigen Zusammenschluss beider Reiche und dem Einfall des Mamelukensultans Baibar 1277 in Kleinasien nahmen die Mongolen die Rum-Seldschuken stärker unter ihre Herrschaft, was es kleineren Fürstentümern an den Rändern des Staates ermöglichte, vom Sultanat abzufallen und eigene Emirate zu bilden. Endgültig aufgelöst wurde das Sultanat der Rum-Seldschuken in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts, als die Mongolen den vakanten rum-seldschukischen Thron nicht mehr nachbesetzten, sondern die Verwaltung des Reichs der Rum-Seldschuken unmittelbar in eigener Herrschaft übernahmen.
Die Zeit der Rum-Seldschuken in Anatolien brachte dem Land einen enormen Aufschwung in Literatur, Architektur und Religion. Poeten und Gelehrte fanden Förderer und Geldgeber, Dichtkunst und Wissenschaften blühten auf. Die rum-seldschukische Kunst ist dabei von einer Zusammenführung von zentralasiatischen, islamischen und anatolischen Einflüssen gekennzeichnet.
Unter den Großseldschuken und den Rum-Seldschuken in Anatolien war Arabisch die Sprache der Gelehrten, Persisch war die Staatssprache und der einfache Mann sprach Türkisch. Zu den bedeutenden Künstlern der Zeit zählten der große Mathematiker und Poet Omar Khayyam (1048–1131) wie auch der muslimische Mystiker, Theologe und Dichter Mevlana Jalal ad-Din al-Rumi (1207–1273). Er wirkte am Hof von Sultan Alaeddin Keykubad I. und gründete den Sufi-Orden der tanzenden Derwische25.
, Spitäler und Karawansereien errichtet werden.