G E F E S S E L T
(EIN RILEY PAIGE KRIMI - BAND #2)
B L A K E P I E R C E
Blake Pierce
Blake Pierce ist die Autorin der Bestseller Riley Paige Krimi Serie, die bisher die spannenden Thriller VERSCHWUNDEN (Band #1), GEFESSELT (Band #2) und ERSEHNT (Band #3) umfasst.
Blake Pierce ist eine begeisterte Leserin und schon ihr ganzes Leben lang ein Fan des Krimi und Thriller Genres. Blake liebt es von Ihnen zu hören, also besuchen Sie www.blakepierceauthor.com und bleiben Sie in Kontakt!
Copyright © 2016 Blake Pierce
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BÜCHER VON BLAKE PIERCE
RILEY PAIGE KRIMI SERIE
VERSCHWUNDEN (Band #1)
GEFESSELT (Band #2)
ERSEHNT (Band #3)
Inhalt
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Prolog
Kapitän Jimmy Cole hatte gerade seinen Passagieren eine alte Hudson Geistergeschichte erzählt. Es war eine Gute, über einen Axtmörder in einem langen, dunklen Mantel, perfekt für eine nebelige Nacht wie diese. Er setzte sich in seinen Stuhl und ruhte seine Knie einen Moment aus, die durch zu viele Operationen zu sehr knirschten. Zum Tausendsten Mal dachte er daran sich zur Ruhe zu setzen. Er hatte so gut wie jeden Weiler des Hudson gesehen und eines Tages würde selbst so ein kleines Fischerboot wie die Suzy zu viel für ihn werden.
Fertig für die Nacht steuerte er auf das Ufer zu und als das Boot stetig in Richtung der Docks von Reedsport tuckerte, wurde er von dem Ruf eines Passagiers aus seinem Grübeln gerissen.
“Hey, Käpt'n – ist das nicht ihr Geist da drüben?”
Jimmy machte sich nicht die Mühe hinzusehen. Alle vier Passagiere - zwei junge Urlauberpärchen – waren ziemlich betrunken. Zweifellos versuchte einer der Männer die Frauen zu erschrecken.
Aber dann sagte eine der Frauen: “Ich sehe es auch. Ist das nicht seltsam?”
Jimmy drehte sich zu seinen Passagieren. Verdammte Betrunkene. Das war das letzte Mal, dass er das Boot bis spät in die Nacht vermietete.
Der zweite Mann zeigte ins Dunkel.
“Da drüben”, sagte er.
Seine Frau bedeckte die Augen.
“Oh, ich kann nicht hinsehen!” erwiderte sie mit einem nervösen Lachen.
Jimmy, wurde missmutig klar, dass sie keine Ruhe geben würden, also sah er in die Richtung, in die der Mann zeigte.
In der Lücke zwischen den Bäumen am Ufer sah er tatsächlich etwas. Es glänzte und hatte eine annähernd menschliche Form. Was auch immer es war, es schien über dem Boden zu schweben. Aber es war zu weit weg, um es klar erkennen zu können.
Bevor Jimmy zu seinem Fernglas greifen konnte, verschwand es hinter den Bäumen.
In Wahrheit hatte auch Jimmy ein paar Bier intus. Das war kein Problem soweit es ihn betraf. Er kannte den Fluss gut. Und er mochte seinen Job. Vor allem gefiel es ihm in der Nacht auf dem Fluss zu sein, wenn das Wasser so ruhig und friedlich war. Wenige Dinge hier konnten ihn in seiner Ruhe erschüttern.
Er verlangsamte die Fahrt und steuerte die Suzy vorsichtig gegen die Stoßfänger am Dock. Stolz auf das sanfte Anlegen, stellte er den Motor aus und befestigte die Taue am Steg.
Die Passagiere stolperten kichernd und lachend von Bord. Sie torkelten den Steg entlang auf dem Weg zu ihrem B&B. Jimmy war froh, dass sie ihn im Voraus bezahlt hatten.
Aber er konnte nicht aufhören an die seltsame Erscheinung zwischen den Bäumen zu denken. Es war ein ganzes Stück weiter unten am Ufer gewesen und von hier aus unmöglich zu sehen. Wer oder was könnte es gewesen sein?
Genervt wurde ihm klar, dass er keine Ruhe finden würde, bis er es herausgefunden hatte. So war er einfach.
Jimmy seufzte laut, noch genervter als vorher, und machte sich zu Fuß auf den Weg, um dem Flussufer und den Bahnschienen zu folgen, die neben dem Fluss entlangliefen. Diese Schienen waren vor hundert Jahren in Betrieb gewesen, als Reedsport hauptsächlich aus Bordellen und Spielhöllen bestanden hatte. Jetzt waren sie nur ein weiteres Relikt aus einer vergangenen Zeit.
Jimmy kam um eine Kurve auf ein altes Lagerhaus zu, das neben den Schienen lag. Ein paar Sicherheitslampen auf dem Gebäude warfen ein schwaches Licht und dort sah er sie: eine glänzende menschliche Form, die in der Luft zu schweben schien. Die Figur hing von einem der Querträger eines Strommastes.
Als er näher kam und besser sehen konnte, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Die Form war wirklich menschlich – aber zeigte keinerlei Anzeichen von Leben. Der Körper hing mit dem Rücken zu ihm, rundherum in eine Art Stoff gewickelt und mit schweren Ketten behangen, die weit über das bloße Festhalten eines Gefangenen hinausgingen. Die Ketten glänzten im Licht.
Oh Gott, nicht noch einmal.
Jimmy konnte nicht verhindern, dass ihm der grausame Mord in den Sinn kam, der die Gegend vor einigen Jahren in Aufruhr versetzt hatte.
Mit wackeligen Knien ging Jimmy auf die andere Seite des Körpers. Er ging nah genug heran, um das Gesicht zu sehen - und fiel vor lauter Schreck beinahe auf die Schienen. Er erkannte sie. Es war eine Frau aus der Stadt, eine Krankenschwester, und eine langjährige Freundin. Ihre Kehle war durchgeschnitten und ihr toter Mund durch eine Kette geknebelt, die um ihren Kopf gewunden war.
Jimmy keuchte vor Trauer und Entsetzen.
Der Mörder war zurück.
Spezialagentin Riley Paige stand festgefroren und geschockt vor ihrem Bett. Die Handvoll Kieselsteine auf ihrem Bett hätten nicht da sein dürfen. Jemand war in ihr Haus eingebrochen und hatte sie dort hingelegt - jemand, der sie verletzen wollte.
Sie wusste sofort, dass die Steine eine Nachricht waren und zwar eine von einem alten Feind. Er sagte ihr, dass sie ihn nicht hatte töten können.
Peterson lebt.
Ihr Körper zitterte bei dem Gedanken.
Sie hatte es seit langem vermutet und jetzt war sie sich absolut sicher. Schlimmer noch, er war in ihrem Haus gewesen. Der Gedanke verursachte ihr Übelkeit. War er immer noch hier?
Ihr Atem wurde schneller. Riley wusste, dass ihre physischen Kräfte begrenzt waren. Gerade heute hatte sie eine tödliche Begegnung mit einem Serienmörder gehabt. Ihr Kopf war mit einer Bandage umwickelt und ihr Körper grün und blau. Würde sie bereit sein ihm gegenüber zu treten, falls er noch in ihrem Haus war.
Riley zog sofort die Waffe aus ihrem Holster. Mit zitternden Händen ging sie vorsichtig zu ihrem Schrank und riss ihn auf. Niemand versteckte sich im Schrank. Sie sah unter ihr Bett. Auch dort fand sich niemand.
Riley stand auf und zwang sich klar zu denken. War sie in ihrem Schlafzimmer gewesen, seit sie nach Hause gekommen war? Ja, denn sie hatte ihr Waffenholster auf die Kommode neben der Tür gelegt. Aber sie hatte weder das Licht angemacht, noch sich die Mühe gemacht sich in dem Zimmer umzusehen. Sie hatte nur ihre Waffe abgelegt und war wieder gegangen. Sie hatte sich ihr Nachthemd im Badezimmer angezogen.
Konnte ihr Erzfeind sich die ganze Zeit in ihrem Haus versteckt haben? Nachdem sie und April nach Hause gekommen waren, hatten sie geredet und bis spät in die Nacht Fern gesehen. Dann war April zu Bett gegangen. In so einem kleinen Haus unbemerkt zu bleiben, würde eine erstaunliche Leichtfüßigkeit erfordern. Aber sie konnte die Möglichkeit nicht ausschließen.
Dann wurde sie von einer neuen Angst gepackt.
April!
Riley schnappte sich ihre Taschenlampe, die sie immer auf dem Nachttisch liegen hatte. Mit ihrer Waffe in der rechten Hand und der Taschenlampe in der Linken, trat sie aus ihrem Schlafzimmer und betätigte den Lichtschalter im Flur. Als sie nichts Verdächtiges hörte, eilte sie so schnell sie konnte zu Aprils Zimmer und warf die Tür auf. Das Zimmer war stockduster. Riley schaltete das Licht ein.
Ihre Tochter lag bereits im Bett.
“Was ist los, Mom?” fragte April und kniff überrascht die Augen zusammen.
Riley kam vorsichtig in den Raum.
“Steh' nicht auf”, sagte sie. “Bleib genau wo du bist.”
“Mom, du machst mir Angst”, sagte April mit zitternder Stimme.
Soweit es Riley betraf, war das genau die richtige Reaktion. Sie war selber verängstigt und ihre Tochter hatte jeden Grund sich ebenso zu fürchten. Sie ging zu Aprils Schrank, leuchtete mit der Taschenlampe hinein und sah erleichtert, dass sich niemand dort versteckte. Auch unter Aprils Bett fand sich niemand.
Was sollte sie als nächstes tun? Sie musste jeden Schrank, jede Ecke im Rest des Hauses durchsuchen.
Riley wusste, was ihr ehemaliger Partner Bill Jeffreys sagen würde.
Verdammt, Riley, ruf Hilfe.
Ihre starrköpfige Angewohnheit alles alleine machen zu wollen, hatte Bill immer verärgert. Aber diesmal würde sie auf seinen Rat hören. Mit April im Haus würde Riley kein Risiko eingehen.
“Zieh dir deinen Bademantel an und ein Paar Schuhe”, sagte sie zu ihrer Tochter. “Aber bleib in deinem Zimmer - vorerst.”
Riley ging zurück in ihr Schlafzimmer und nahm ihr Handy vom Nachttisch. Sie nutzte die Kurzwahltaste für das BAU. Sobald sie eine Stimme in der Leitung hörte, zischte sie, “Spezialagentin Riley Paige. Jemand ist bei mir zu Hause eingebrochen. Er könnte immer noch hier sein. Ich brauche sofort jemanden hier.” Sie dachte kurz nach und fügte dann hinzu, “Und schickt die Spurensicherung.”
“Wird sofort erledigt”, kam die Antwort.
Riley beendete den Anruf und ging zurück in den Flur. Außer den beiden Schlafzimmern und dem Flur lag das Haus immer Dunkeln. Er konnte überall sein, darauf warten sich auf sie zu stürzen. Dieser Mann hatte sie schon einmal unvorbereitet getroffen und sie war beinahe dabei umgekommen.
Riley bewegte sich vorsichtig und mit gezogener Waffe durchs Haus und schaltete das Licht ein, sobald sie an einem Schalter vorbeikam. Sie leuchtete mit ihrer Taschenlampe in jeden Schrank und jede dunkle Ecke.
Schließlich warf sie einen zögerlichen Blick an die Decke im Flur. Die Tür über ihr führte auf den Speicher. Würde sie es wagen die Ausziehleiter hochzuklettern und dort nachzusehen?
In dem Moment hörte Riley Polizeisirenen. Sie atmete erleichtert auf. Ihr wurde klar, dass die Agentur die örtliche Polizei verständigt hatte, da das Hauptquartier des BAU mehr als eine halbe Stunde entfernt lag.
Sie ging in ihr Schlafzimmer, zog sich ihren Bademantel und ein Paar Schuhe an und lief zurück zu Aprils Zimmer.
“Komm mit”, sagte sie. “Bleib nah bei mir.”
Immer noch die Waffe in der Hand, legte Riley ihren Arm fest um Aprils Schultern. Das arme Mädchen zitterte vor Angst. Riley führte April zur Haustür und öffnete sie in dem Moment, in dem mehrere uniformierte Polizisten über den Bürgersteig auf sie zu rannten.
Der leitende Polizist kam mit gezogener Waffe ins Haus gestürmt.
“Wo liegt das Problem?” fragte er.
“Jemand war im Haus”, sagte Riley. “Er könnte immer noch hier sein.”
Der Polizist warf einen beunruhigten Blick auf die Waffe in ihrer Hand.
“FBI”, erklärte Riley kurz angebunden. “BAU Agenten werden bald hier sein. Ich habe bereits das Haus durchsucht, bis auf den Speicher.” Sie zeigte ins Haus. “Da ist eine Tür in der Decke, drüben im Flur.”
Der Polizist rief, “Bowers, Wright, überprüft den Speicher. Der Rest übernimmt den Garten, Vorder- und Rückseite.”
Bowers und Wright liefen sofort den Flur hinunter und zogen die Leiter nach unten. Beide nahmen ihre Waffen aus den Holstern. Einer wartete unten an der Leiter, während der andere nach oben kletterte und mit der Taschenlampe durch den Speicher leuchtete. Dann war der Mann auf dem Speicher verschwunden.
Kurz danach war seine Stimme zu hören, “Niemand hier.”
Riley wollte erleichtert sein. Aber wenn sie ehrlich war, hatte sie halb gehofft Peterson wäre dort oben. Dann wäre er sofort verhaftet worden - oder noch besser, erschossen. Sie war sich sicher, dass er auch nirgendwo sonst auftauchen würde.
“Haben Sie einen Keller?” fragte der Polizist.
“Nein, nur einen Kriechkeller”, erwiderte Riley.
“Benson, Pratt, seht unter dem Haus nach.”
April klammerte sich immer noch an ihre Mutter, als würde ihr Leben davon abhängen.
“Was ist los, Mom?” fragte sie.
Riley zögerte. Jahrelang hatte sie es vermieden April die hässliche Wahrheit über ihre Arbeit zu erzählen. Aber sie hatte erst kürzlich gemerkt, dass sie überfürsorglich gewesen war. Sie hatte April von ihrer traumatischen Gefangenschaft durch Peterson erzählt - oder zumindest so viel, wie sie dachte, dass April verkraften konnte. Sie hatte ihr auch gestanden, dass sie Zweifel an dem Tod des Mannes hatte.
Aber was sollte sie April jetzt sagen? Sie war sich nicht sicher.
Bevor Riley sich entscheiden konnte, sagte April, “Es ist Peterson, oder?”
Riley umarmte ihre Tochter fest. Sie nickte und versuchte das Zittern zu verstecken, das durch ihren ganzen Körper lief.
“Er lebt.”
Eine Stunde später war Rileys Haus gefüllt mit Leuten, die FBI Uniformen trugen. Schwerbewaffnete Agenten und Leute von der Spurensicherung arbeiteten mit der Polizei.
“Nimm die Kieselsteine auf dem Bett mit”, rief Craig Huang. “Wir brauchen sie um nach Fingerabdrücken und DNA zu suchen.”
Zuerst war Riley nicht sehr erfreut gewesen, dass Huang die Leitung hatte. Er war sehr jung und ihre frühere Erfahrung mit seiner Arbeit war nicht sehr gut verlaufen. Aber jetzt sah sie, dass er sinnvolle Befehle gab und die Leute effizient organisierte. Huang schien sich in seinem Job einzugewöhnen.
Die Spurensicherung arbeitete bereits daran jeden Zentimeter des Hauses nach Fingerabdrücken zu durchsuchen. Andere Agenten waren in die Dunkelheit hinter dem Haus verschwunden, auf der Suche nach Reifenspuren und sonstigen Hinweisen im Wald. Nachdem alles reibungslos zu laufen schien, führte Huang Riley weg von den anderen in die Küche. Er und Riley setzten sich an den Tisch. April gesellte sich dazu, immer noch zitternd.
“Also, was denken Sie?” fragte Huang Riley. “Wie stehen die Chancen, dass wir ihn finden?”
Riley seufzte entmutigt.
“Nicht gut, ich fürchte er ist längst über alle Berge. Er muss hier gewesen sein, bevor meine Tochter und ich nach Hause gekommen sind.”
In dem Moment kam eine Agentin in schutzsicherer Weste durch die Hintertür. Sie hatte dunkle Haare, dunkle Augen, gebräunte Haut und sie sah sogar noch jünger aus als Huang.
“Agent Huang, ich habe etwas gefunden”, sagte die Frau. “Kratzer am Schloss der Hintertür. Jemand hat das Schloss geknackt.”
“Gute Arbeit, Vargas”, sagte Huang. “Jetzt wissen wir, wie er in das Haus gekommen ist. Können Sie für eine Weile bei Riley und ihrer Tochter bleiben?”
Das Gesicht der jungen Frau leuchtete auf.
“Mit Vergnügen”, sagte sie.
Sie setzte sich an den Tisch und Huang verließ die Küche, um sich den anderen wieder anzuschließen.
“Agentin Paige, Ich bin Agentin María de la Luz Vargas Ramírez.” Dann grinste sie. “Ich weiß, ist ein langer Name. Ist eine mexikanische Sache. Die meisten nennen mich Lucy Vargas.”
“Ich bin froh, dass Sie hier sind, Agentin Vargas”, sagte Riley
“Einfach Lucy, bitte.”
Die junge Frau schwieg einen Moment und sah Riley einfach nur an. Schließlich sagte sie, “Agentin Paige, Ich hoffe, dass ich mir nicht zu viel herausnehme, aber … es ist mir eine Ehre Sie kennenzulernen. Seit ich mit dem Training angefangen habe, verfolge ich Ihre Arbeit. Ihre Akte ist einfach so beeindruckend.”
“Vielen Dank”, sagte Riley.
Lucy lächelte sie bewundernd an. “Ich meine, die Art, wie sie den Peterson Fall gelöst haben - die ganze Geschichte ist beeindruckend.”
Riley schüttelte den Kopf.
“Ich wünschte die Dinge wären so einfach”, sagte sie. “Er ist nicht tot. Er ist derjenige, der hier eingedrungen ist.”
Lucy starrte sie verblüfft an.
“Aber alle sagen---” fing Lucy an.
Riley unterbrach sie.
“Noch jemand hat geglaubt, dass er nicht tot ist. Marie, die Frau, die ich gerettet habe. Sie war sich sicher, dass er noch da draußen ist, sie verhöhnt. Sie …”
Riley hielt inne, schmerzlich an den Anblick von Maries Leiche erinnert, die in ihrem Schlafzimmer hing.
“Sie hat Selbstmord begangen”, sagte Riley.
Lucy sah gleichzeitig entsetzt und überrascht aus. “Das tut mir leid”, sagte sie.
Da hörte Riley eine vertraute Stimme ihren Namen rufen.
“Riley? Bist du okay?”
Sie drehte sich um und sah Bill Jeffreys besorgt in ihrem Kücheneingang stehen. Das BAU musste ihn von den Problemen berichtet haben, sodass er von sich aus hergekommen war.
“Ich bin okay, Bill”, sagte sie. “April auch. Setz' dich.”
Bill setzte sich zu Riley, April und Lucy an den Tisch. Lucy starrte ihn ehrfürchtig an, offensichtlich begeistert Rileys alten Partner zu treffen, selber eine FBI Legende.
Huang kam zurück in die Küche.
“Es ist niemand im Haus oder außerhalb”, informierte er Riley. “Meine Leute haben alles eingesammelt, was sie an Beweisen finden konnten. Leider vermutlich nicht genug, um etwas herauszufinden. Es wird an den Labormitarbeitern liegen, ob sie etwas Konkretes finden können.”
“Das hatte ich befürchtet”, sagte Riley.
“Sieht aus, als wäre es Zeit hier für heute Schluss zu machen”, sagte Huang. Dann verließ er die Küche und gab den Agenten die letzten Anweisungen.
Riley wandte sich an ihre Tochter.
“April, du bleibst heute Nacht bei deinem Vater.”
Aprils Augen wurden groß.
“Ich lasse dich hier nicht alleine”, widersetzte sie sich. “Und ich will definitiv nicht zu Dad.”
“Du musst”, ließ Riley sich nicht abbringen. “Wenn du hier bleibst, bist du vielleicht nicht sicher.”
“Aber Mom---”
Riley unterbrach sie. “April, es gibt Dinge, die ich dir nicht über diesen Mann erzählt habe. Schreckliche Dinge. Du bist sicherer bei deinem Vater. Ich hole dich morgen nach der Schule ab.”
Bevor April weiter protestieren konnte, sprach Lucy.
“Deine Mutter hat Recht, April. Glaub mir. Sieh es als Befehl von mir an. Ich werde persönlich zwei Agenten aussuchen, die dich hinbringen können. Agentin Paige, mit Ihrer Erlaubnis werde ich Ihren Ex-Mann anrufen und ihn über die Ereignisse informieren.”
Riley war von Lucys Angebot überrascht. Und sie freute sich darüber. Lucy schien intuitiv zu verstehen, dass es für sie schwer wäre den Anruf zu tätigen. Ryan würde die Nachrichten zweifellos ernster nehmen, wenn sie von einem anderen Agenten als Riley kamen. Lucy war außerdem gut mit April umgegangen.
Lucy hatte nicht nur das aufgebrochene Schloss gefunden, sie hatte auch Mitgefühl gezeigt. Mitgefühl war eine ausgezeichnete Eigenschaft für einen BAU Agenten, zu oft wurde es durch den Stress des Jobs abgenutzt.
Die Frau ist gut, dachte Riley.
“Komm”, sagte Lucy zu April. “Lass uns deinen Vater anrufen.”
April warf Riley einen bösen Blick zu. Trotzdem erhob sie sich vom Tisch und folgte Lucy in das Wohnzimmer, wo sie ihren Vater anriefen.
Riley und Bill blieben alleine am Küchentisch sitzen. Obwohl es nichts weiter zu tun gab, fühlte es sich für Riley richtig an, dass Bill bei ihr war. Sie hatten jahrelang zusammengearbeitet und sie hatte immer gedacht, dass sie das perfekte Paar waren - sie beide waren Mitte Vierzig und graue Haare zeigten sich mittlerweile deutlich. Beide waren ihrem Job verschrieben und hatten Probleme in ihren Ehen. Bill war solide, sowohl in seiner Körperform, als auch seinem Temperament.
“Es war Peterson”, sagte Riley. “Er war hier.”
Bill sagte nichts. Er sah nicht überzeugt aus.
“Du glaubst mir nicht?” fragte Riley. “Da waren Kieselsteine auf meinem Bett. Er muss sie dort hingelegt haben. Es gibt keine andere Möglichkeit.”
Bill schüttelte den Kopf.
“Riley, ich bin mir sicher, dass jemand eingedrungen ist”, sagte er langsam. “Das hast du dir nicht ausgedacht. Aber Peterson? Das bezweifle ich sehr.”
Ärger stieg in Riley auf.
“Bill, hör mir zu. Ich habe vor ein paar Nächten ein Klackern vor der Tür gehört und bin gucken gegangen. Vor meiner Tür lagen Kieselsteine. Marie hat gehört, wie jemand Kieselsteine an ihr Schlafzimmerfenster geworfen hat. Wer sollte es sonst sein?”
Bill seufzte und schüttelte wieder den Kopf.
“Riley, du bist müde”, sagte er. “Und wenn du müde bist und dir etwas in den Kopf setzt, dann ist es einfach alles zu glauben. Das kann jedem passieren.”
Es viel ihr schwer Tränen zurückzuhalten. Früher gab es eine Zeit, in der Bill ihren Instinkten ohne Fragen vertraut hätte. Aber diese Zeit war vorbei. Und sie wusste warum. Vor ein paar Tagen hatte sie ihn betrunken angerufen und angedeutet, dass sie ihre gegenseitige Anziehung zugeben und eine Affäre beginnen sollten. Es war mehr als falsch von ihr gewesen, und sie wusste es. Sie hatte seit dieser Nacht keinen Alkohol mehr angerührt. Trotzdem war es zwischen ihr und Bill danach nicht mehr so wie vorher.
“Ich weiß, worum es hier geht, Bill”, sagte sie. “Diesen dummen Anruf von mir. Du vertraust mir nicht mehr.”
Jetzt war der Ärger auch in Bills Stimme deutlich zu hören.
“Verdammt, Riley, ich versuche nur realistisch zu sein.”
Riley brodelte. “Geh einfach, Bill.”
“Aber Riley---”
“Glaub mir oder lass es. Entscheide dich. Aber jetzt gerade will ich, dass du gehst.”
Resigniert erhob sich Bill vom Tisch und ging.
Durch den Kücheneingang konnte sie sehen, dass fast jeder das Haus verlassen hatte, April eingeschlossen. Lucy kam zurück in die Küche.
“Agent Huang lässt ein paar Agenten hier”, sagte sie. “Sie werden das Haus vom Wagen aus für den Rest der Nacht observieren. Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee wäre alleine im Haus zu bleiben. Es wäre mir ein Vergnügen zu bleiben.”
Riley dachte für einen Moment nach. Was sie wollte - was sie gerade brauchte - war jemand, der ihr glaubte, dass Peterson nicht tot war. Sie bezweifelte, dass sie Lucy davon würde überzeugen können. Die ganze Sache schien hoffnungslos zu sein.
“Das ist schon okay, Lucy”, sagte Riley.
Lucy nickte und verließ die Küche. Riley hörte wie der letzte Agent das Haus verließ und die Tür hinter sich schloss. Riley erhob sich und stellte dann sicher, dass sowohl die Haustür, als auch die Hintertür abgeschlossen waren. Dann stellte sie zwei Stühle vor die Hintertür. Das würde genug Lärm machen, falls jemand noch einmal versuchen sollte einzubrechen.
Dann stand sie im Wohnzimmer und sah sich um. Das Haus war seltsam hell mit jedem Licht eingeschaltet.
Ich sollte sie ausmachen, dachte sie.
Aber als sie ihre Hand nach dem Lichtschalter im Wohnzimmer ausstreckte, erstarrte sie. Sie konnte es einfach nicht tun. Sie war erstarrt vor Angst.
Peterson würde wieder versuchen zu ihr zu kommen.
Riley zögerte einen Augenblick, bevor sie das BAU Gebäude betrat, unsicher, ob sie bereit war jemandem gegenüber zu treten. Sie hatte nicht geschlafen und war erschöpft bis auf die Knochen. Die Angst hatte sie wach gehalten und Adrenalin durch ihre Venen gepumpt, bis nichts mehr übrig geblieben war. Jetzt fühlte sie sich einfach leer.
Riley atmete tief durch.
Es hilft nichts, da muss ich durch.
Sie holte noch einmal tief Luft und ging dann entschlossen durch das geschäftige Gewirr aus FBI Agenten, Spezialisten und anderen Mitarbeitern. Während sie durch das Großraumbüro lief, sahen vertraute Gesichter von ihren Computerbildschirmen auf. Die meisten lächelten, als sie sie sahen, andere gaben ihr ein Daumen-hoch-Zeichen. Langsam war sie froh, dass sie gekommen war. Sie hatte etwas gebraucht, um ihre Stimmung zu heben.
“Gute Arbeit mit dem Puppen-Mörder”, sagte ein junger Agent.
Riley brauchte einen Moment, bis sie verstand, was er meinte. “Puppen-Mörder” musste der neue Spitzname für Dirk Monroe sein, den Psychopathen, den sie gerade festgenommen hatte. Der Name ergab Sinn.
Riley bemerkte außerdem, dass einige Gesichter sie wachsamer beobachteten. Zweifellos hatten sie von dem Zwischenfall des Vorabends in ihrem Haus gehört, da das ganze Team nach ihrem panischen Anruf zur Verstärkung gekommen war.
Die fragen sich wahrscheinlich, ob ich wirklich bei Verstand bin, dachte sie. Soweit sie wusste, glaubte absolut niemand in der Agentur, dass Peterson noch lebte.
Riley hielt vor dem Schreibtisch von Sam Flores, einem Laborttechniker mit einer dunklen Brille, der an seinem Computer saß.
“Haben Sie etwas Neues für mich, Sam?” fragte Riley.
Sam sah von seinem Bildschirm auf.
“Sie meinen den Einbruch, richtig? Ich habe mir gerade die vorläufigen Berichte angesehen. Ich fürchte wir haben nicht viel. Das Labor hat nichts an den Kieselsteinen gefunden - keine DNA oder Fasern. Auch keine Fingerabdrücke.”
Riley seufzte entmutigt.
“Lassen Sie mich wissen, wenn sich etwas ändert”, sagte sie und klopfte Flores auf die Schulter.
“Ich würde mich nicht darauf verlassen”, sagte Flores.
Riley ging weiter zu dem Bereich der von den Senior-Agenten geteilt wurde. Als sie an den kleinen, verglasten Büros vorbeiging, sah sie, dass Bill noch nicht da war. Das war eine kleine Erleichterung, aber sie wusste, dass sie früher oder später über die Spannungen zwischen ihnen reden mussten.
Sie kam in ihr eigenes, ordentliches und gut organisiertes Büro und bemerkte sofort, dass sie eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hatte. Sie war von Mike Nevins, dem forensischen Psychiater aus D.C., der von Zeit zu Zeit bei BAU Fällen als Berater tätig war. Über die Jahre war er eine Quelle außergewöhnlicher Einsichten geworden, nicht nur bei ihren Fällen. Mike hatte Riley durch ihre Posttraumatischen Störungen geholfen, nachdem sie von Peterson gefangen und gefoltert worden war. Sie wusste, dass er nachhorchen wollte, ob es ihr gut ging, wie er es so oft tat.
Sie wollte ihn gerade zurückrufen, als die breite Form von Spezialagent Brent Meredith in ihrem Türrahmen erschien. Die kantigen Gesichtszüge des Teamleiters, deuteten seine geradlinige Persönlichkeit an. Sein Anblick und seine Anwesenheit beruhigten sie immer.
“Willkommen zurück, Agentin Paige”, sagte er.
Riley stand auf und schüttelte ihm die Hand. “Danke, Agent Meredith.”
“Wie ich höre, hatten Sie ein kleines Abenteuer letzte Nacht. Ich hoffe es ist alles in Ordnung.”
“Es geht mir gut, danke.”
Meredith sah sie freundlich besorgt an und Riley wusste, dass er sich fragte wie bereit sie für die Arbeit war.
“Würden Sie mich für einen Kaffee in den Pausenraum begleiten?” fragte er.
“Danke, aber es gibt einige Akten, die ich dringend überprüfen muss. Ein andermal.”
Meredith nickte und sagte nichts. Riley wartete darauf, dass er sprach. Er hatte zweifellos gehört, dass sie Peterson als den Eindringling genannt hatte. Er wollte ihr die Möglichkeit geben ihre Meinung zu sagen. Aber sie wusste auch, dass Meredith nicht dazu geneigt sein würde ihr bezüglich Peterson zu glauben.
“Nun, dann gehe ich wohl besser”, sagte er. “Lassen Sie mich wissen, wenn Sie Zeit für einen Kaffee oder Mittagessen haben.”
“Das mache ich.”
Meredith hielt inne und drehte sich noch einmal zu Riley.
Langsam und betont sagte er, “Seien Sie vorsichtig, Agentin Paige.”
Riley verstand die Bedeutung hinter diesen Worten. Erst kürzlich hatte ein anderer Agent, weiter oben auf der Karriereleiter, sie wegen Ungehorsams suspendiert. Die Beurlaubung war aufgehoben worden, aber ihre Position könnte immer noch heikel sein. Riley spürte, dass Meredith ihr eine freundliche Warnung gab. Er wollte nicht, dass sie etwas tat, was sie in Schwierigkeiten bringen würde. Lautstark zu verkünden, dass Peterson noch lebte und in ihr Haus eingebrochen war, könnte Probleme mit den Agenten geben, die den Fall als abgeschlossen deklariert hatten.
Sobald sie alleine war, ging Riley zu ihrem Aktenschrank und zog die dicke Akte über Peterson heraus. Sie legte sie offen auf ihren Schreibtisch und blätterte durch die Seiten, um ihre Erinnerungen an ihren Erzfeind aufzufrischen. Sie fand keine hilfreichen Informationen.
Der Mann blieb ein Rätsel. Es hatte nicht einmal Nachweise seiner Existenz gegeben, bis Bill und Riley ihn schließlich gefunden hatten. Es war möglich, dass Peterson nicht einmal sein richtiger Name gewesen war und sie hatten verschiedene Namen gefunden, die mit ihm in Verbindung gebracht werden konnten.
Während Riley durch die Notizen blätterte, fand sie Fotos von seinen Opfern - Frauen, die in einem flachen Grab gefunden worden waren. Sie alle hatten Brandmale, die Todesursache war manuelle Strangulation. Riley erschauderte bei der Erinnerung an die großen, kräftigen Hände, die sie gefangen und wie ein Tier eingesperrt hatten.
Niemand wusste wie viele Frauen er wirklich getötet hatte. Es könnten noch weitaus mehr unentdeckte Leichen geben. Da Marie und Riley die ersten waren, die die Gefangenschaft überlebt hatten, war bis zu dem Zeitpunkt auch nicht bekannt gewesen, dass er Frauen in der Dunkelheit mit einer Propangasfackel folterte. Und niemand war bereit zu glauben, dass Peterson noch lebte.
Die ganze Sache zog sie runter. Riley war dafür bekannt in den Verstand der Mörder blicken zu können - eine Fähigkeit, die ihr manchmal Angst machte. Trotzdem war sie nie in der Lage gewesen sich in Peterson hineinzuversetzen. Sie hatte das Gefühl ihn noch weniger zu verstehen als je zuvor.
Er war Riley nie wie ein organisierter Psychopath vorgekommen. Die Tatsache, dass er seine Opfer in flachen Gräbern platzierte, deutete auf das Gegenteil hin. Er war kein Perfektionist. Trotzdem war er sorgfältig genug, um keine Spuren zurückzulassen. Der Mann war wirklich paradox.
Sie erinnerte sich an etwas, das Marie kurz vor ihrem Selbstmord gesagt hatte.
“Vielleicht ist er wie ein Geist, Riley. Vielleicht ist das passiert, als du ihn in die Luft gejagt hast. Du hast seinen Körper getötet, aber nicht seinen bösen Geist.”
Er war kein Geist und Riley wusste es. Sie war sich sicher - sicherer als je zuvor - dass er dort draußen war und sie sein nächstes Ziel. Trotzdem hätte er ein Geist sein können, soweit es sie anging. Niemand sonst schien an seine Existenz zu glauben.
“Wo bist du, Bastard?” wisperte sie laut.
Sie wusste es nicht und hatte keinen Weg es herauszufinden. Es gab nichts, was sie tun konnte. Sie hatte keine andere Wahl, als es vorerst ruhen zu lassen. Sie schloss die Akte und ordnete sie wieder in ihrem Aktenschrank ein.
Da klingelte ihr Telefon. Sie sah, dass der Anruf durch eine Leitung kam, die sich die Spezialagenten teilten. Es war die Leitung, die von der BAU Zentrale genutzt wurde, um Anrufe an die passenden Agenten weiterzuleiten. In der Regel übernahm der Agent den Fall, der zuerst den Hörer abnahm.
Riley sah zu den anderen Büros. Niemand sonst schien gerade in seinem Büro zu sein. Die anderen Agenten waren entweder im Pausenraum oder arbeiteten an einem Fall. Riley nahm den Hörer ab.
“Spezialagentin Riley Paige. Was kann ich für Sie tun?”
Die Stimme am anderen Ende klang gequält.
“Agentin Paige, hier ist Raymond Alford, Polizeichef in Reedsport, New York. Wir haben hier ein wirkliches Problem. Wäre es in Ordnung, wenn wir das über einen Video-Anruf besprechen würden? Ich denke, das würde bei der Erklärung helfen. Und ich habe einige Fotos, die sie besser selber sehen sollten.”
Rileys Neugier war geweckt. “Natürlich”, sagte sie. Sie gab Alford ihre Kontaktinformationen. Einige Augenblicke später sprach sie mit ihm von Angesicht zu Angesicht. Er war ein schlanker Mann, der älter als sie zu sein schien. Er sah müde und angespannt aus.
“Wir hatten hier einen Mord letzte Nacht”, erklärte Alford. “Einen wirklich hässlichen. Lassen Sie mich ein paar Bilder zeigen.”
Ein Foto erschien auf Rileys Bildschirm. Es zeigte etwas, das die Leiche einer Frau zu sein schien, die an einer Kette über Bahngleisen hing. Die Leiche war in mehrere Ketten gewickelt und schien seltsam gekleidet zu sein.
“Was hat das Opfer an?” fragte Riley.
“Eine Zwangsjacke”, sagte Alford.
Das überraschte Riley. Sie sah sich das Foto genauer an und fand die Aussage bestätigt. Dann verschwand das Foto und Riley sah sich wieder Alford gegenüber.
“Chief Alford, Ich weiß ihren Anruf zu schätzen. Aber warum denken Sie, dass das ein Fall für das BAU ist?”
“Das gleiche ist vor fünf Jahren schon einmal passiert”, sagte Alford.
Das Bild einer anderen Leiche erschien. Sie war ebenfalls eingekettet und trug eine Zwangsjacke.
“Damals war es eine Teilzeit-Mitarbeiterin im Gefängnis, Marla Blainey. Die MO war identisch – außer, dass sie am Flussufer deponiert wurde, nicht aufgehängt.”
Alfords Gesicht tauchte wieder auf.
“Diesmal ist es Rosemary Pickens, eine örtliche Krankenschwester”, sagte er. “Niemand kann sich ein Motiv denken, für keine der Frauen. Sie waren beide bei allen beliebt.”
Alford lehnte sich resigniert in seinem Stuhl zurück und schüttelte den Kopf.
“Agentin Paige, meine Leute und ich sind überfordert. Dieser neue Mord muss eine Nachahmung sein, oder es handelt sich um einen Serienmörder. Das Problem ist, beides ergibt keinen Sinn. Wir haben diese Art von Problem nicht in Reedsport. Reedsport ist eine kleine Touristenstadt am Hudson und wir haben nur etwa siebentausend Einwohner. Manchmal müssen wir einen Streit schlichten oder einen Touristen aus dem Fluss fischen. Aber schlimmer wird es hier normalerweise nicht.”
Riley dachte darüber nach. Das hörte sich tatsächlich nach einem Fall für das BAU an. Sie sollte Alford direkt an Meredith weiterleiten.
Aber Riley schielte zu Merediths Büro und sah, dass er noch nicht zurück war. Sie würde ihn später darüber informieren müssen. In der Zwischenzeit konnte sie ihm vielleicht helfen.
“Was waren die Todesursachen?” fragte sie.
“Kehle durchgeschnitten, bei beiden.”
Riley versuchte ihre Überraschung nicht zu zeigen. Strangulation und stumpfe Gewalteinwirkung waren weitaus üblicher.
Das schien ein äußerst ungewöhnlicher Mörder zu sein. Trotzdem war es die Art von Psychopath, die Riley gut kannte. Sie war auf diese Fälle spezialisiert. Es war bedauerlich, dass sie ihre Fähigkeiten bei diesem Fall nicht würde einbringen können. Ihr noch frisches Trauma würde dafür sorgen, dass sie den Fall nicht zugeteilt bekam.
“Haben sie die Leiche abgenommen?” fragte Riley.
“Noch nicht”, sagte Alford. “Sie hängt noch dort.”
“Dann tun Sie es nicht. Lassen Sie sie dort. Warten Sie, bis unsere Agenten da sind.”
Alford sah nicht glücklich darüber aus.
“Agentin Paige, das wird nicht einfach werden. Sie ist direkt neben den Bahnlinien und kann vom Fluss aus gesehen werden. Und die Stadt kann diese Art von Publicity wirklich nicht gebrauchen. Ich stehe unter enormem Druck.”
“Lassen Sie sie dort”, beharrte Riley. “Ich weiß, dass es nicht einfach ist, aber es ist wichtig. Es wird nicht lange dauern. Wir werden noch heute Nachmittag Agenten schicken.”
Alford nickte in stummer Zustimmung.
“Haben Sie mehr Fotos von den letzten Opfern?” fragte Riley. “Irgendwelche Detailaufnahmen?”
“Sicher, ich schicke sie Ihnen.”
Riley betrachtete eine Serie von Nahaufnahmen der Leiche. Die örtlichen Polizisten hatten einen guten Job gemacht. Die Fotos zeigten wie eng und aufwendig die Ketten um die Leiche gewickelt waren.
Schließlich kam sie zu dem Gesicht des Opfers.
Riley spürte wie ihr Herz ihr bis zum Hals schlug. Die Augen des Opfers waren hervorgetreten, ihr Mund durch eine Kette geknebelt. Aber das war nicht, was Riley erschreckte.
Die Frau sah aus wie Marie. Sie war älter und schwerer, aber trotzdem hätte Marie ihr wahrscheinlich sehr ähnlich gesehen, hätte sie noch zehn Jahre länger gelebt. Das Bild traf Riley wie ein emotionaler Schlag in den Magen. Es war, als würde Marie aus dem Grab heraus verlangen, dass sie diesen Mörder fasste.
Sie wusste, dass sie diesen Fall übernehmen musste.
Peterson fuhr die Straße entlang, nicht zu schnell, nicht zu langsam, zufrieden, dass er das Mädchen endlich wieder in Sichtweite hatte. Endlich hatte er sie gefunden. Da war sie, Rileys Tochter, alleine, auf dem Weg zur Schule, keine Ahnung, dass er sie verfolgte; dass er kurz davor war ihr Leben zu beenden.
Während er sie betrachtete, hielt sie plötzlich an und drehte sich um, als würde sie vermuten, dass sie beobachtete wurde. Sie blieb einen Moment unsicher stehen. Ein paar andere Studenten gingen an ihr vorbei in das Gebäude.
Er hielt am Bordstein, um zu sehen, was sie tun würde.
Nicht, dass das Mädchen an sich für ihn wichtig gewesen wäre. Ihre Mutter war sein eigentliches Ziel. Ihre Mutter hatte seine Pläne durchkreuzt und dafür musste sie bezahlen. Das hatte sie schon, zumindest teilweise - schließlich hatte er Marie Sayles zum Selbstmord getrieben. Aber jetzt würde er ihr das Mädchen nehmen, das ihr am meisten bedeutete.
Mit größtem Vergnügen sah er zu, wie sie sich umdrehte und in die entgegengesetzte Richtung ging. Offensichtlich hatte sie entschieden heute nicht zum Unterricht zu gehen. Sein Herz schlug schneller - er wollte sie sofort packen. Aber er konnte nicht. Noch nicht. Er musste sich selber dazu anhalten geduldig zu sein. Es waren zu viele Leute unterwegs.
Peterson fuhr weiter, einmal um den Block, und zwang sich geduldig zu sein. Er musste ein Lächeln der Vorfreude unterdrücken. Durch das, was er für ihre Tochter geplant hatte, würde Riley auf mehr Weisen leiden, als sie sich vorstellen konnte. Obwohl das Mädchen noch ungelenk und schlaksig aussah, ähnelte sie ihrer Mutter sehr. Das würde es besonders befriedigend machen.
Das Mädchen kam wieder in Sicht, während sie eilig die Straße entlang ging. Er hielt wieder und beobachtete sie für ein paar Minuten, bevor er bemerkte, dass sie die Straße nahm, die aus der Stadt führte. Falls sie alleine nach Hause gehen wollte, dann würde das der perfekte Moment sein, um sie zu schnappen.
Mit klopfendem Herzen fuhr Peterson noch einmal um den Block, um die Vorfreude auszukosten.
Die Leute mussten lernen bestimmte Vergnügen hinauszuzögern. Peterson wusste, wie er genau bis zum richtigen Zeitpunkt warten musste. Verzögerte Befriedigung machte alles noch angenehmer. Er hatte das durch Jahre voller köstlicher, andauernder Grausamkeit gelernt.
So viel, auf das man sich freuen kann, dachte er zufrieden.
Als das Mädchen wieder in Sichtweite kam, lachte Peterson laut auf. Sie versuchte per Anhalter zu fahren. Gott meinte es offenbar heute gut mit ihm. Er schien dazu bestimmt zu sein ihr Leben zu nehmen.
Mit dem freundlichsten Lächeln, das er zu Stande bringen konnte, hielt er neben ihr an.
“Kann ich dich irgendwo hin mitnehmen?”
Das Mädchen lächelte ihn breit an. “Danke. Das wäre super.”
“Wo soll es denn hingehen?” fragte er.
“Ich lebe außerhalb der Stadt.”
Das Mädchen gab ihm die Adresse.
Er sagte, “Da komme ich dran vorbei. Spring rein.”
Das Mädchen setzte sich auf den Beifahrersitz. Mit zunehmender Befriedigung sah er, dass sie sogar die Haselnussbraunen Augen ihrer Mutter hatte.
Peterson drückte den automatischen Knopf, um die Fenster und Türen zu verriegeln. Durch das leise Summen der Klimaanlage bemerkte das Mädchen es nicht einmal.
*
April fühlte ein angenehmes Rauschen von Adrenalin, als sie den Sicherheitsgurt anlegte. Sie war noch nie per Anhalter gefahren. Ihre Mutter würde einen Anfall bekommen, sollte sie es herausfinden.