Winterschlaf im Waldhotel
Draußen vor dem Waldhotel rieselte leise der Schnee. Es war schläfriger Schnee, der nur ganz langsam seinen Weg zum Boden fand. Mona Maus sah, an den Stiel ihres Löwenzahnbesens gelehnt, durch ein kleines Fensterchen des Ballsaals hinaus.
Es war so still, dass sie beinahe hören konnte, wie die Schneeflocken auf die Erde sanken.
Der Sankt-Schlummer-Schmaus war nun vorüber. Alles Essen war gegessen, die Lieder gesungen, und Herr von Walde hatte die Geschenke verteilt: winzige, süß duftende Kissen, die mit Kräutern und Lavendel gefüllt waren. Sie sollten den Winterschlafgästen helfen, bis zum Frühling tief und fest zu schlummern.
Nun waren sie alle in ihren Zimmern verschwunden – das Murmeltier, einige Kröten, Schildkröten, Marienkäfer und so viele Streifenhörnchen, dass niemand sie im Auge behalten konnte.
Sogar die beiden Igel, Herr und Frau Busch, hielten Winterschlaf. Herr Busch war der Gärtner und Frau Busch die Haushälterin des Waldhotels. Sie wurden in den Wintermonaten nicht gebraucht, da sich nur wenige Gäste angekündigt hatten. Die meisten Tiere des Farnholzwaldes, ob sie nun Winterschlaf hielten oder nicht, blieben in der kalten Jahreszeit lieber zu Hause.
Das kleine Waldhotel war jetzt Monas Zuhause, und sie liebte es, von dem geschnitzten Herz auf der Eingangstür bis hinauf zu der Sternengucker-Terrasse. Auch alle ihre neuen Freunde mochte sie sehr, dazu gehörten Tilda, das rote Eichhörnchen und Chef-Zimmermädchen, und die Schwalbe Kybele, Sängerin des Waldhotels.
Tilda hatte ihr erzählt, dass die Wintersaison ziemlich langweilig sei, aber das machte Mona nichts aus. Sie war erst vor ein paar Monaten im Herbst pitschnass und verängstigt im Waldhotel angekommen und hatte dort Arbeit als Zimmermädchen gefunden.
Aber in dieser kurzen Zeit war bereits viel passiert. So hatte sie dabei geholfen, das Hotel vor einem Rudel Wölfe zu bewahren, und dazu beigetragen, eine sehr gute Hotelkritik im Tannenzapfen Tageblatt zu bekommen. Auch wenn sie stolz auf das Erreichte war, freute sie sich nun darauf, den Winter über ein wenig ausruhen zu können und Eicheln über dem Feuer zu rösten.
Da stieg ihr auch schon der Duft gerösteter Eicheln in die Nase, der von der Küche zu ihr heraufzog. Für die Hotelangestellten gab es später ein eigenes Festessen, und Mona konnte es kaum erwarten.
Ihr Magen knurrte, aber sie konzentrierte sich wieder auf ihre Aufgabe und schwang noch einmal den Besen. Dann warf sie die letzten Reste der Schnüre, die vom Geschenkeauspacken übrig geblieben waren, in einen Korb. Da man die Schnüre wiederverwenden konnte, wollte sie den Korb noch schnell in die Abstellkammer bringen. Aber er war zu schwer, sie musste wohl Tilda um Hilfe bitten.
Mona verließ gerade den Ballsaal, um sich auf die Suche nach dem Eichhörnchen zu machen, als sie plötzlich eine Stimme auf dem Flur hörte.
»Oh Schatten, was sagst du da? Ein Trinkspruch auf dich? Ja, natürlich! Ein Trinkspruch.« Pause … Dann ein rülpsender, schmatzender Laut, auf den ein zufriedenes Seufzen folgte.
Mona erkannte die Stimme sofort. Es war Herr Gilbertsen, das Murmeltier. Er sollte doch eigentlich im Bett sein!
Herr Gilbertsen stand jedoch vor dem Ballsaal und starrte seinen Schatten an der Wand an.
»Kann ich Ihnen helfen, Herr Gilbertsen?«, fragte Mona.
»Oh, ist das Fest schon vorbei?« Das Murmeltier drehte sich um. Es hielt ein kleines, duftendes Kissen in der einen Pfote und eine Tasse in der anderen. Seine Schnauze glänzte klebrig vom Honig.
»Ja«, antwortete Mona. »Schon eine ganze Weile. Aber wenn Sie noch hungrig sind, kann ich Ihnen natürlich etwas bringen.«
Sie wusste, wie wichtig es war, dass die Tiere vor ihrem Winterschlaf genug gegessen hatten.
»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Die Angestellten des Waldhotels sind immer so aufmerksam. Sogar Geschenke haben wir bekommen.« Er schüttelte das Lavendelkissen. »Aber das ist wirklich nicht nötig, ich bin satt«, sagte er und strich sich über den Bauch. »Sogar mein Schatten ist voll.« Er kicherte und gähnte dann ausgiebig. Ehe Mona sichs versah, war er bereits im Stehen eingeschlafen!
Mona lächelte und lehnte ihren Besen gegen die Wand. »Kommen Sie«, sagte sie und weckte ihn sacht. »Ich bringe Sie zurück ins Bett.«
»Sie sind so freundlich, so freundlich«, antwortete Herr Gilbertsen.
Das Murmeltier stolperte schlaftrunken hinter Mona den Flur entlang, durch die Eingangshalle hindurch auf die Treppen zu. Er murmelte dabei zu sich selbst. »Du auch, Schatten, komm mit mir. Wir gehören beide ins Bett.«
Sein Schatten wie auch Monas folgten ihnen im Lichterschein auf und ab hüpfend die Treppen hinab. Mona und Herr Gilbertsen liefen immer weiter die Treppen hinunter, vorbei an Küche, Wäscherei und den Zimmern der Hotelmitarbeiter, bis ganz nach unten zu den Überwinterungssuiten, die zwischen den Wurzeln des Waldhotels lagen.
Der Flur hier unten war dunkler, erdig und kühl. Es gab spezielle Luftschächte, damit die Zimmer immer die richtige Temperatur behielten. War es zu kalt, konnten die Gäste nicht schlafen. War es zu warm, würden sie denken, es sei bereits Frühling, und aufwachen.
Im Moment schienen jedoch alle tief und fest zu schlafen. Ein vielstimmiges Schnarchkonzert – von leisem Pfeifen bis hin zu rumpelndem Grunzen – hallte durch den Flur. Mona führte Herrn Gilbertsen den Gang hinab, an der Vorratskammer und an kleinen und größeren Türen vorbei, die alle verschlossen waren. Daran hingen Schilder mit der Aufschrift: BITTE NICHT STÖREN. ERST BEI TAUWETTER WECKEN.
Nur an Herrn Gilbertsens Tür war das Schildchen umgedreht, und darauf stand: ICH BIN WACH. BITTE ZIMMER AUFRÄUMEN.
Mona brachte ihn hinein.
Eine Laterne tauchte das spärlich dekorierte Zimmer, in dem nur einige Bilder von schlafenden Tieren hingen, in warmes Licht. Wie auch in den anderen Überwinterungssuiten nahm das Bett den Großteil des Raums ein. Dieses hier war extra für das Murmeltier aus süßlich duftenden getrockneten Gräsern angefertigt worden.
»Ich danke Ihnen«, sagte Herr Gilbertsen und gähnte erneut, als er seine Krawatte abstreifte. Er legte sich aufs Bett und war dem Anschein nach sofort eingeschlafen.
»Gern«, flüsterte Mona, »einen angenehmen Winterschlaf, Herr Gilbertsen. Erholen Sie sich gut.«
Sie wollte gerade gehen und die Laterne mitnehmen, als sich das Murmeltier plötzlich kerzengerade im Bett aufrichtete.
»SCHATTEN!«, rief es.
Mona zuckte erschrocken zurück.
Die Ohren des Murmeltiers waren gespitzt, und es starrte mit weit aufgerissenen Augen in ihre Richtung.
»Herr Gilbertsen, ist alles in Ordnung?«
Er schien sie jedoch nicht zu hören. »Schatten!«, rief er noch einmal und wedelte mit seiner Pfote in der Luft. Nirgendwo war ein Schatten zu sehen, doch Herr Gilbertsen rief ein ums andere Mal: »Oh nein, Schatten, Schatten. Das ist kein gutes Zeichen, das ist nicht gut, gar nicht gut …«
»Wovon reden Sie, Herr Gilbertsen? Was ist nicht gut?« Mona versuchte, ruhig zu bleiben, aber ihr Herz pochte laut.
»Unheil!«, rief das Murmeltier nun. Mona wusste nicht, ob Herr Gilbertsen ihr antwortete oder mit seinem unsichtbaren Schatten sprach. »Unheil droht«, fuhr er fort. »Es braut sich dort draußen zusammen und kriecht herein.«
»Wovon reden Sie?«, fragte Mona noch einmal, ihr Herz klopfte immer schneller.
Aber Herr Gilbertsen antwortete nicht.
Stattdessen fiel er, nach einem nicht enden wollenden Moment, wieder zurück auf sein Bett. »Schatten, Schatten, Schatten«, murmelte er nun weniger heftig. Er gähnte ausgiebig, zog sich die Decke über, schloss die Augen und begann zu schnarchen.
Monas Schwanz zitterte, als sie auf Pfotenspitzen das Zimmer verließ, die Tür sanft hinter sich zuzog und das Schild umdrehte. Herrn Gilbertsens Schild war das Einzige, auf dem stand: BITTE ZUR SCHATTENJAGD WECKEN.
Zurück im Flur, atmete Mona tief durch. Vermutlich hatte sie überreagiert. Was sollte es schon für ein Unheil geben? »Schlafen Sie sorglos, speisen Sie königlich und seien Sie glücklich im Waldhotel« war einer der vielen Wahlsprüche des Hotels.
Trotzdem eilte Mona nach oben, um Herrn von Walde von der ernsten und seltsamen Prophezeiung des Murmeltiers zu berichten.