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Prof. Dr. Andreas Mayer, Sprachheilpädagoge, Inhaber des Lehrstuhls für Sprachheilpädagogik (Förderschwerpunkt Sprache und Sprachtherapie) an der LMU München.

Außerdem im Ernst Reinhardt Verlag erschienen:

Mayer, A.: Lese-Rechtschreibstörungen (LRS) (2016, ISBN 978-3-8252-8662-0)

Mayer, A.: Test zur Erfassung der phonologischen Bewusstheit und der Benennungsgeschwindigkeit (TEPHOBE).

Manual (3. Aufl. 2016, ISBN 978-3-497-02600-5)

Testheft Vorschulalter und 1. Klasse (3. Aufl. 2016, ISBN 978-3-497-02601-2), 2. Klasse (3. Aufl. 2017, ISBN 978-3-497-02703-3)

Mayer, A., Ulrich, T. (Hrsg.): Sprachtherapie mit Kindern (2017, ISBN 978-3-8252-8714-6)

Coverbild unter Verwendung eines Fotos von
© PantherMedia.net / Meseritsch Herby

Abb. 32, 33, 35, 36, 37 und 43: A. Mayer, Blitzschnelle Worterkennung (BliWo), © 2009 BORGMANN Media Dortmund

Abb. 53: Isabelle Dinter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02753-8 (Print)

ISBN 978-3-497-60467-8 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61003-7 (EPUB)

ISSN 1868-3959

3., überarbeitete Auflage

© 2018 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Reihenkonzeption Umschlag: Oliver Linke, Augsburg

Satz: Sabine Ufer, Leipzig

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort

1       Schriftsprache und Lautsprache

1.1    (Un-)Spezifität der Lese-Rechtschreib-Störung

1.2    Zusammenhänge zwischen Laut- und Schriftsprache

1.3    Lautsprachliche Kompetenzen als Korrelat der Lese-Rechtschreib-Fähigkeit

1.4    Sprachentwicklungsgestörte Kinder als Risikogruppe für die Ausbildung von Schriftspracherwerbsstörungen

1.5    Zusammenhänge zwischen lautsprachlichen Fähigkeiten, Worterkennung und Leseverständnis

1.6    Klassifizierung von Lesestörungen auf der Basis sprachlicher Defizite

1.7    Praktische Implikationen

2       Der ungestörte Schriftspracherwerb

2.1    Allgemeines

2.2    Präliterale Vorläuferfähigkeiten

2.3    Logographemische Strategie

2.4    Alphabetische Strategie

2.5    Orthographische Strategie

2.6    Integrativ-automatisierte Strategie

3       Die Bedeutung der phonologischen Informationsverarbeitung für den Schriftspracherwerb

3.1    Die phonologische Informationsverarbeitung

3.2    Das Arbeitsgedächtnis

3.3    Die phonologische Bewusstheit

3.4    Die Benennungsgeschwindigkeit

4       Diagnostik

5       Förderung

5.1    Förderung phonologischer Basisfähigkeiten

5.2    Förderung beim Erwerb der Phonem-Graphem-Korrespondenzen

5.3    Förderung beim Erlernen des phonologischen Rekodierens

5.4    Förderung der automatisierten Worterkennung

5.5    Förderung des Leseverständnisses

5.6    Förderung des orthographisch korrekten Schreibens

5.7    Förderung des schriftsprachlichen Ausdrucks

Literatur

Sachregister

Hinweise zur Verwendung der Icons

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Informationsquellen print und online

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Praxis- oder Arbeitsmaterial

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Fallbeispiel / Beispiel

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Tipp

Vorwort

Spätestens seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 sind die weit verbreiteten Schwierigkeiten deutscher Kinder und Jugendlicher bei schriftsprachlichen Anforderungen einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Trotz der positiven Entwicklungen in den Folgejahren, die durch die Ergebnisse der letzten PISA-Studien bestätigt wurden, gehören Lese-Rechtschreibschwierigkeiten nach wie vor zu den häufigsten Entwicklungsstörungen im Kindes- und Jugendalter.

Um langfristigen Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben präventiv zu begegnen, kommt dem schriftsprachlichen Anfangsunterricht in Grund- und Förderschulen eine zentrale Rolle zu. Kinder, denen es in den ersten beiden Schuljahren nicht gelingt, Lesen und Schreiben in ausreichendem Maße zu erlernen, fallen überproportional häufig auch im Jugend- und Erwachsenenalter durch orthographische Defizite, beeinträchtigte automatisierte Leseprozesse, Schwierigkeiten beim Leseverständnis und im schriftsprachlichen Ausdruck auf.

Um als Lehrkraft effektiv handeln und eine auf die individuellen Bedürfnisse einzelner Kinder ausgerichtete Förderung realisieren zu können, reicht es nicht aus, die im Handel erhältlichen Materialien unreflektiert einzusetzen. Vielmehr ist es notwendig, sich mit möglichen Ursachen und den damit assoziierten spezifischen Defiziten zu beschäftigen, um darauf aufbauend individuell zugeschnittene Fördermaßnahmen entwickeln zu können.

Diesen Anspruch verfolgt das vorliegende Buch. Nachdem im ersten Teil des Buches die am besten erforschten grundlegenden sprachlich-kognitiven Beeinträchtigungen der Lese-Rechtschreib-Störung und die damit assoziierten Defizite in einzelnen Teilkompetenzen beim Lesen- und Schreibenlernen beschrieben wurden, werden im zweiten Teil darauf aufbauend zahlreiche praxiserprobte Vorschläge gemacht, die im schulischen Alltag unmittelbar umgesetzt werden können. Es handelt sich um Ideen, die aus meiner 20-jährigen Beschäftigung mit Lese-Rechtschreib-Störungen resultieren, wobei die wesentliche Motivation stets darin bestand, wissenschaftliche Erkenntnisse mit der Arbeit in der Praxis sinnvoll zu verknüpfen.

In der Hoffnung, dass insbesondere die zahlreichen praktischen Anregungen eine weite schulische Verbreitung finden.

München, im Oktober 2017 Andreas Mayer

1      Schriftsprache und Lautsprache

1.1   (Un-)Spezifität der Lese-Rechtschreib-Störung

Etwa vier bis acht Prozent deutschsprachiger Schulkinder entwickeln während ihrer Grundschulzeit massive Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen. Während einige Kinder bereits in den ersten Schulwochen auffallen, weil sie sich die Buchstaben-Laut-Zuordnungen nur schwer einprägen können und Buchstabenfolgen nicht synthetisierend erlesen können, haben andere Kinder vor allem Probleme mit der Automatisierung des Leseprozesses und daraus resultierend mit dem Leseverständnis. Viele Kinder entwickeln Schwierigkeiten mit dem Schriftspracherwerb trotz durchschnittlicher nonverbaler Intelligenz, bei anderen Kindern treten derartige Probleme aufgrund von lautsprachlichen Defiziten auf, und wieder andere Kinder zeigen Auffälligkeiten im Schriftspracherwerb in Folge kognitiver Beeinträchtigungen.

Dieses Buch verfolgt das Ziel, auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse zu Zusammenhängen zwischen zugrunde liegenden Beeinträchtigungen und unterschiedlich gelagerten Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb Vorschläge für eine möglichst umfassende schulische und therapeutische Beeinflussung schriftsprachlicher Kompetenzen zu liefern.

Es wendet sich an alle Berufsgruppen, die sich in der Praxis der Diagnostik, der Förderung und der Therapie Kindern mit spezifischen oder unspezifischen Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen widmen.

Der Begriff „spezifische Lese-Rechtschreib-Störung“ drückt aus, dass es sich um Kinder handelt, die Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen haben, während ihre nonverbalen kognitiven Fähigkeiten und die Leistungen in anderen Fächern weitgehend unauffällig sind.

Da zwischen leseschwachen Kindern mit durchschnittlicher und niedriger Intelligenz aber kaum Unterschiede im sprachlich-kognitiven Profil nachgewiesen werden konnten, werden in den folgenden Ausführungen auch Kinder mit allgemeinen Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten eingeschlossen und der Arbeit folgende Definition zugrunde gelegt:

Definition

„Unter der Lese-Rechtschreibstörung wird eine Lernstörung verstanden, die sich durch Probleme beim Erwerb und der Anwendung der indirekten Lesestrategie (= phonologisches Rekodieren) und/oder der automatisierten Worterkennung sowie beeinträchtigter Rechtschreibung charakterisieren lässt. Sie kann aus Defiziten in der phonologischen Informationsverarbeitung infolge neurobiologischer Fehlentwicklungen resultieren und geht oft mit Spracherwerbsstörungen einher. Die Lernstörung tritt unabhängig von kognitiven Fähigkeiten auf und ist nicht die Folge unangemessenen Unterrichts. Sie kann sich negativ auf das Leseverständnis, die kognitive, die sprachliche sowie die sozio-emotionale Entwicklung auswirken“ (Mayer 2016a, 45).

Schriftsprache als spezifisch sprachliche Funktion

In den 1970er Jahren wurde ein enger Zusammenhang zwischen dem Schriftspracherwerb und der Fähigkeit, sprachliche, insbesondere phonologische Informationen zu verarbeiten, postuliert und empirisch belegt (Brady/Shankweiler 1991). Seitdem herrscht weitgehend Konsens, dass die Schriftsprache eine spezifische sprachliche Funktion darstellt, deren Erwerb einen Teil der gesamten sprachlichen und kognitiven Entwicklung darstellt (Crämer et al. 1996).

Schriftsprache und Phonologie

Der Zusammenhang mit der phonologischen Informationsverarbeitung (Kap. 3) liegt nahe, da eine alphabetische Schrift die Phonologie abbildet und ihre Entschlüsselung deshalb an die Fähigkeit geknüpft ist, die Phonemstruktur der Lautsprache zu durchschauen. Ein Vergleich zwischen piktographischen und alphabetischen Schriftsystemen kann dies illustrieren: Während die Bedeutung des Zeichens Images unmittelbar ersichtlich ist, ohne dass das Symbol Auskunft über die Aussprache des Wortes liefert, bildet die Graphemfolge <Fisch> die Aussprache ab, gibt aber keinen Hinweis auf die Bedeutung des Wortes.

1.2   Zusammenhänge zwischen Laut- und Schriftsprache

Das grundlegende phonologische Prinzip der deutschen Orthographie besagt, dass in der Schriftsprache die phonologische Struktur der Lautsprache abgebildet werden soll, dass ein Phonem durch einen bestimmten Buchstaben symbolisiert (Phonem-Graphem-Korrespondenz) und ein bestimmter Buchstabe durch das damit assoziierte Phonem lautsprachlich realisiert wird (Graphem-Phonem-Korrespondenz).

Komplexität der PGK und GPK

Auch wenn sich alphabetische Orthographien hinsichtlich der Transparenz der Phonem-Graphem-Korrespondenz (PGK) unterscheiden, stimmen sie dahingehend überein, dass Buchstaben Laute abbilden, wobei in den meisten Fällen ein Buchstabe einem Laut entspricht (z. B. <t> = [t] ). Zum Teil wird aber auch einem Laut eine Buchstabenverbindung (z. B. [∫] = <sch>, [ç] = <ch>) oder einem Buchstaben eine Lautkombination (z. B. <z> = [ts], <x> = [ks] ) zugeordnet.

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Abb. 1: Problematik in der Graphem-Phonem-Korrespondenz (GPK)

Für Leseanfänger kann es ein Problem darstellen, dass ein Buchstabe zum Teil einen Laut abbildet, im Kontext mit anderen Buchstaben aber eine Verbindung eingeht (z. B.: <s> = [z], aber <sch> = [∫] ). Welcher Fall zutrifft, kann in Einzelfällen erst durch den Zugriff auf die Wortbedeutung entschieden werden (z. B. <Röschen> vs. <Rüschen>, <Buchseite> vs. <Fuchs>). Verkompliziert wird der Zusammenhang dadurch, dass ein Buchstabe mehrere Laute symbolisiert und ein Laut durch unterschiedliche Buchstaben wiedergegeben wird (Abb. 2 und 3). Insbesondere bei Vokalen findet keine 1:1-Zuordnung statt.

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Abb. 2: Komplexität der Graphem-Phonem-Korrespondenz

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Abb. 3: Komplexität der Phonem-Graphem-Korrespondenz

Die Komplexität des Schriftspracherwerbs – insbesondere beim Erwerb der korrekten Orthographie – wird deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass dieses ohnehin uneindeutige phonologische Prinzip durch andere Prinzipien überlagert wird (Tab. 1).

morphematisches Prinzip

Das morphematische Prinzip verlangt, dass der Wortstamm auch in der Schreibung von gebeugten und abgeleiteten Formen wiedererkannt werden soll. So werden die Adjektive „hell“ und „kalt“ zu „Helligkeit“ und „Kälte“, nicht aber zu *„Hälligkeit“ oder *„Kelte“ nominalisiert, obgleich das phonologische Prinzip jeweils beide Schreibweisen zuließe, da die beiden Vokale der ersten Silbe durch denselben Laut [ε] realisiert werden.

Tab. 1: Prinzipien der deutschen Orthographie

Das phonetisch-phonologische Prinzip

Faustregel: „Schreibe, wie du sprichst.“

Das Prinzip der Worttreue (Schemakonstanz oder morphematisches Prinzip)

Faustregel: Man soll auch in den gebeugten und abgeleiteten Formen den Wortstamm in der Schreibung wiedererkennen, so kann man sehen, welche Wortformen und Wortbildungen zu einem Wortstamm gehören (z. B.: Maus Mäuse, Stange Stängel).

Das historische Prinzip

Bei einigen Wörtern hat sich in geschichtlicher Zeit eine bestimmte Schreibweise durchgesetzt und diese hat sich erhalten, auch wenn sich die Lautung der Wörter geändert hat (z. B.: Dehnungs-h).

Das grammatische Prinzip

Dieses Prinzip regelt die Rechtschreibung nach grammatischen Gesichtspunkten (z. B. Großschreibung am Satzanfang und bei Substantivierungen).

Das Unterscheidungsprinzip (Semantisches Prinzip)

Gleich klingende Wörter mit unterschiedlicher Bedeutung sollen durch die Schrift differenziert werden können (Lid vs. Lied, Seite vs. Saite).

historisches Prinzip

Das historische Prinzip meint, dass bestimmte Schreibweisen tradiert wurden, obwohl sich die Aussprache der Wörter geändert hat. So wurde der heute meist als Dehnungs-h bezeichnete Buchstabe in früheren Zeiten als palataler oder velarer Frikativ (wie in „ich“ oder „ach“) mitartikuliert (z. B. sehen = [zeçn] ). Diese Schreibweise wurde als Längenzeichen übernommen und analog auch auf andere Wörter übertragen (Bünting 1996).

semantisches Prinzip

Das semantische Prinzip schließlich besagt, dass homophone Wörter mit unterschiedlicher Bedeutung orthographisch unterschiedlich realisiert werden (z. B. Lid vs. Lied, Wahl vs. Wal). Über diese Prinzipien hinaus erschweren weitere Besonderheiten den Erwerb der Schriftsprache.

Sprache ohne Gesprächspartner

Die Schriftsprache ist eine Sprache ohne Gesprächspartner. Aus diesem Grund ist der Schreiber auch in einem höheren Maß für das Gelingen der Kommunikation verantwortlich. Er muss den Informationsstand, das Vorwissen des Lesers berücksichtigen, während in der lautsprachlichen Kommunikation der Hörer beispielsweise durch Nachfragen auch selber steuernd eingreifen kann. Schriftliche Texte müssen deshalb in semantischer und grammatikalischer Hinsicht bewusster und sorgfältiger geplant werden als lautsprachliche Sprechakte. Diese Problematik muss in der Förderpraxis im Rahmen des schriftsprachlichen Ausdrucks in der Aufsatzerziehung besonders berücksichtigt werden.

Fehlen wichtiger Informationsträger

In der lautsprachlichen Kommunikation sind nonverbale Bestandteile (Mimik, Gestik, Prosodie) wichtige Informationsträger, die in schriftsprachlicher Form fehlen. Da sich Kinder mit beeinträchtigtem Sprachverständnis in der lautsprachlichen Kommunikation stark an nonverbalen Bestandteilen orientieren, um die Bedeutung zu entschlüsseln, ist das Leseverständnis dieser Kinder oft noch stärker beeinträchtigt als das Hörverständnis.

1.3   Lautsprachliche Kompetenzen als Korrelat der Lese-Rechtschreib-Fähigkeit

Der Stellenwert des phonologischen Prinzips legt nahe, dass der Verarbeitung phonologischer Informationen beim Erwerb der Schriftsprache eine zentrale Rolle zukommt.

Definition

Unter der phonologischen Informationsverarbeitung versteht man die Fähigkeit, bei der Verarbeitung von gesprochener und geschriebener Sprache Informationen über die Lautstruktur wahrzunehmen, bewusst damit umzugehen, sie zu speichern und zu verarbeiten bzw. phonologische Informationen im Langzeitgedächtnis automatisiert zu aktivieren (Wagner/Torgesen 1987).

Die Definition drückt aus, dass sowohl in der schriftsprachlichen als auch in der lautsprachlichen Modalität Informationen über die Phonemstruktur eines Wortes verarbeitet werden, wobei ein wesentlicher Unterschied zu konstatieren ist. Wenn Kinder das phonologische Regelsystem ihrer Muttersprache erwerben, wenn sie lernen, welche Laute bedeutungsunterscheidende Funktion haben, müssen Unterschiede auf Phonemebene verarbeitet werden. Dies geschieht aber unbewusst. Ganz anders beim Schreiben: Um Wörter, die in der schriftsprachlichen Modalität unvertraut sind, aufzuschreiben, müssen diese bewusst in Einzellaute zerlegt werden. Beim Lesen müssen die in Laute umgewandelten Buchstaben zu Wörtern synthetisiert werden. So muss ein Leseanfänger, der das Wort „Rose“ aufschreiben will, dieses bewusst in seine lautlichen Bestandteile [r] [o] [z] [Images] segmentieren und diese Laute den entsprechenden Graphemen zuordnen. Diese bewusste Verarbeitung phonologischer Informationen stellt Kinder zu Schulbeginn deshalb vor Probleme, weil es ein wesentliches Charakteristikum der lautsprachlichen Kommunikation darstellt, dass einzelne Laute nicht isoliert aneinandergereiht, sondern koartikulatorisch miteinander verschmolzen werden. Das Wort „Tisch“ bspw. wird nicht durch die Aneinanderreihung der drei diskreten Einheiten [t] [I] [∫] realisiert, sondern es handelt sich um ein einziges Schallereignis mit fließenden Übergängen. Die Leistungen, die Kinder beim Aufschreiben und Erlesen unbekannter Wörter erbringen müssen, kann das Sonagramm in Abb. 4 illustrieren. Das Lautkontinuum der gesprochenen Sprache (rechte Seite) muss in einzelne Elemente (linke Seite) segmentiert werden. Beim Lesen müssen die einzelnen Elemente zu einem Lautkontinuum verschmolzen werden. Damit ist die bewusste Verarbeitung phonologischer Informationen insbesondere beim Erwerb des synthetisierenden Lesens und lautgetreuen Aufschreibens von Bedeutung.

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Abb. 4: Sonagramm: Das Wort „sona“ im normalen Sprechfluss artikuliert (rechts) und in Einzellaute segmentiert (links) (Machelett 1996)

Die Fähigkeit, phonologische Informationen bewusst zu verarbeiten, spielt vor allem für Leseanfänger eine wichtige Rolle. Der kontinuierliche Lautstrom muss in diskrete Elemente segmentiert werden, damit einzelne Wörter aufgeschrieben werden können. Um auch unbekannte Wörter erlesen zu können, müssen Einzellaute zu größeren Einheiten synthetisiert werden.

Doch darf der Schriftspracherwerb natürlich nicht auf den Aspekt der Lesetechnik reduziert werden. Ziel des Leseunterrichts ist es, Kinder beim sinnentnehmenden Lesen zu unterstützen.

Bedeutung semantischer Fähigkeiten

Während für das Erlernen der Lese- und Schreibtechnik primär phonologische Fähigkeiten von Bedeutung sind, sind für das Leseverständnis sprachliche Kompetenzen höherer Ebene zentral, wobei eine angemessene Lesefertigkeit natürlich eine notwendige Voraussetzung für die Sinnentnahme darstellt. Ein Zugriff auf die Bedeutung des Wortes ist aber erst dann möglich, wenn dem Kind ein entsprechender Eintrag im mentalen Lexikon zur Verfügung steht, also wenn das Wort zu seinem Wortschatz gehört. Auch wenn der Leser die Aussprache der Graphemfolge <Kolophonium> ohne Schwierigkeiten realisieren kann, ist dadurch noch kein Verständnis gewährleistet. Der Wortschatz eines Kindes gehört zu einem der besten Prädiktoren des Leseverständnisses.

Seigneuric/Ehrlich (2005) konnten zeigen, dass der Beitrag semantisch-lexikalischer Fähigkeiten zur Erklärung von Unterschieden im Leseverständnis von der ersten bis zur dritten Klasse kontinuierlich zunimmt. So konnte der Wortschatz der Kinder 21 % der Unterschiede im Leseverständnis der dritten Klasse erklären.

Bedeutung grammatikalischer Fähigkeiten

Auch die Fähigkeit, syntaktische und morphologische Informationen korrekt zu dekodieren, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Leseverständnis. Subtile Veränderungen der syntaktischen oder morphologischen Struktur können die Bedeutung eines Satzes wesentlich verändern („Dem Opa schenkt Thomas eine neue Tasse.“ vs. „Der Opa schenkt Thomas eine neue Tasse.“). Aufgrund der bereits genannten Tatsache, dass in der Schriftsprache wesentliche nonverbale Informationsträger nicht zur Verfügung stehen und die Gliederung eines Satzes in einzelne Satzteile nicht durch die Intonation oder durch Pausen unterstützt wird, kommt einem exakten Verständnis grammatikalischer Strukturen beim Lesen noch größere Bedeutung zu als in der lautsprachlichen Kommunikation.

Da der Wortschatz in Geschichten wesentlich abwechslungsreicher ist, seltenere Wörter als in der lautsprachlichen Kommunikation verwendet werden und auch die Syntax häufig komplexer ist, dürften sich Defizite bei der Sprachverarbeitung beim Lesen noch gravierender auswirken als in der Alltagskommunikation.

kognitiv-linguistische Kompetenzen

Die Dekodierung syntaktischer und semantischer Informationen stellt das Verständnis eines Textes aber noch nicht sicher. Mit zunehmender Komplexität der Lesetexte werden für das Leseverständnis kognitiv-linguistische Kompetenzen bedeutsam. Um sich ein Bild von einem Text zu machen, müssen sich die Kinder aktiv damit auseinandersetzen, sie müssen Informationen auf Satz-, Abschnitts- und Textebene miteinander und mit dem eigenen Vorwissen in Beziehung setzen (Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995). Um die Inhalte des ganzen Textes erfassen zu können, müssen die in Form von Propositionen abstrahierten Informationen einzelner Sätze (= Mikrostruktur) zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden Das Resultat der dabei ablaufenden Prozesse der Verdichtung des Textinhalts auf das Wesentliche wird auch als Makrostruktur bezeichnet (= globale Kohärenzbildung).

Inferenzbildung

Schließlich sei noch die Fähigkeit zum inferenziellen Lesen genannt. Darunter versteht man die Fähigkeit, implizite, im Text nicht genannte Informationen zu integrieren, zwischen den Zeilen zu lesen, Schlussfolgerungen aus dem Gelesenen zu ziehen, Vorhersagen über den Inhalt zu machen, zweideutige Wörter durch den Kontext richtig zu interpretieren und Kohäsionen korrekt zu verarbeiten. Kohäsionen drücken Beziehungen zwischen Sätzen aus und bewirken, dass Sätze als zusammenhängend betrachtet werden können. Zu den Kohäsionen gehören u. a. Konjunktionen, um z. B. temporale oder kausale Beziehungen auszudrücken, Pronomen, die auf ein Nomen in einem vorangegangenen Satz(teil) verweisen, Instantiationen, mit deren Hilfe ein allgemeiner Ausdruck („das wilde Tier“) ein bereits vorher explizit genanntes Lebewesen („Löwe“) bezeichnet (Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995) und die Verwendung unterschiedlicher Tempora, um die zeitliche Abfolge einer Handlung abzubilden.

„‚Hier rein!‘ rief Sprotte und riss die Abteiltür auf. ‚Schnell, beeilt euch.‘ Sie warf ihre Reisetasche auf einen Sitz, die Jacke auf den nächsten und ließ sich selbst auf den Platz am Fenster plumpsen“ (Funke 1996, 9).

Ohne dass es im Text explizit erwähnt wird, gelingt es dem Leser zu erfassen, dass sich das Thema um die Platzsuche bei einer Zugfahrt (Signalwort: „Abteiltür“) handelt. Ein Verständnis für Kohäsionen ermöglicht es dem Leser zu verstehen, dass mit „sie“ die Sprecherin und mit „nächsten“ ein Sitz und keine der anderen anwesenden Personen gemeint sind.

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Weitere Informationen und Beispiele zu Kohäsionen finden sich unter: www.teachsam.de/deutsch/d_lingu/txtlin/txtlin_2_1.htm (07.09.2017)

1.4   Sprachentwicklungsgestörte Kinder als Risikogruppe für die Ausbildung von Schriftspracherwerbsstörungen

Was versteht man unter Sprachentwicklungsstörungen?

Aufgrund der Bedeutung der Verarbeitung phonologischer, semantischer und grammatischer Informationen für das Leseverständnis ist anzunehmen, dass sprachlich beeinträchtigte Kinder als Risikogruppe für die Ausbildung von Störungen beim Schriftspracherwerb gelten. Die in diesem Zusammenhang am intensivsten erforschte sprachliche Beeinträchtigung ist die spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES).

Definition

„Unter einer Spezifischen Sprachentwicklungsstörung versteht man eine gravierende und überdauernde Beeinträchtigung im Erwerb und der Anwendung linguistischen Wissens, ohne dass diese durch geistige Retardierung, Einschränkung des Hörens, neurologische Schädigung oder extreme Milieuumstände zu erklären ist“ (Dannenbauer 2007, 292).

Defizite auf unterschiedlichen Sprachebenen

Hat man in den Anfangsjahren der Erforschung dieses Störungsbildes die sprachliche Symptomatik dieser Kinder auf deren grammatikalische Schwierigkeiten reduziert, weiß man heute, dass ein Kind mit einer SSES neben grammatikalischen Schwierigkeiten üblicherweise auch Probleme auf der phonetisch-phonologischen und der semantisch-lexikalischen Ebene hat. Das Erscheinungsbild ist vielfältig und wandelt sich im Laufe der Entwicklung. So treten die ersten Wörter deutlich verspätet auf, der Wortschatz nimmt nur langsam an Umfang zu und bleibt üblicherweise bis ins Jugend- und Erwachsenenalter gering. Im Vorschulalter ist die Aussprache der Kinder aufgrund instabiler phonologischer Strukturen und hartnäckiger Vereinfachungsprozesse für Außenstehende oft unverständlich. Im späten Vorschul- und frühen Grundschulalter dominieren üblicherweise die Symptome auf syntaktisch-morphologischer Ebene. Wenn die lautsprachlichen Fähigkeiten im späteren Kindesalter für Laien auch mehr oder weniger unauffällig sind, können weiterhin subtile morphologische Defizite, Schwierigkeiten mit der Organisation von Erzählungen, ein reduziertes Textverständnis etc. nachgewiesen werden.

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Zum Weiterlesen: Motsch (2017; 2016); Dannenbauer (2007).

Prävalenz von Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb bei SSES-Kindern

Seit Ende der 1980er Jahre ist bekannt, dass sprachentwicklungsgestörte Kinder häufig Schwierigkeiten beim Erwerb der Schriftsprache entwickeln.

Spracherwerbs-gestörte Kinder als Risikogruppe

Catts/Fey (1999) konnten bei 70 % der Kinder, die in der zweiten Klasse Leseschwierigkeiten zeigten, bereits im Vorschulalter sprachliche Defizite identifizieren. Etwa die Hälfte der im Vorschulalter als spracherwerbsgestört diagnostizierten Kinder entwickelte in der zweiten bzw. vierten Klasse Schwierigkeiten mit dem Schriftspracherwerb. Die Werte für sprachnormale Kinder lagen bei etwa 8 % (Catts et al. 2002).

Kinder mit SSES gelten als Risikogruppe für die Entwicklung von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten. Sie entwickeln etwa sechsmal so häufig Probleme beim Schriftspracherwerb wie ihre sprachlich unauffälligen Altersgenossen.

Bedeutung einer frühen Sprach-therapie

Kinder, die im Vorschulalter als sprachentwicklungsgestört diagnostiziert wurden, ihre sprachlichen Defizite aber gegen Ende der Kindergartenzeit überwunden hatten, zeigten in Untersuchungen als Gruppe zwar signifikant schlechtere Lesefähigkeiten als eine Kontrollgruppe, aber signifikant bessere Leistungen als die Kinder, deren sprachliche Schwierigkeiten bis zur zweiten Klasse persistierten. Diese Tatsache hat eine praktische Relevanz von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Eine frühzeitig einsetzende vorschulische Sprachtherapie mit dem Schwerpunkt der Weiterentwicklung lexikalischer und grammatikalischer Fähigkeiten kann neben der Überwindung lautsprachlicher Defizite auch präventiv gegen Lese-Rechtschreib-Störungen wirksam werden (Catts 1993). Dies ist von umso größerer Bedeutung, wenn man bedenkt, dass die Komorbidität von laut- und schriftsprachlichen Defiziten die schulische Entwicklung eines Kindes massiv gefährden kann. Schulische Lerninhalte, die zu einem großen Teil laut- und schriftsprachlich vermittelt werden, müssen zunächst sprachlich verarbeitet werden, bevor sie kognitiv verstanden und in das eigene Wissen integriert werden können. Aufgrund der häufig anzutreffenden Beeinträchtigung in beiden Teilbereichen ist die Gefahr groß, dass betroffene Kinder im schulischen Lernen und in der allgemeinen kognitiven Entwicklung sukzessive den Anschluss an Gleichaltrige verlieren.

1.5   Zusammenhänge zwischen lautsprachlichen Fähigkeiten, Worterkennung und Leseverständnis

Es wurde bereits beschrieben, dass die Fähigkeit, phonologische Informationen zu verarbeiten, primär mit der Entwicklung der Worterkennung korreliert, während die semantischen und grammatischen Kompetenzen eher mit dem Leseverständnis assoziiert sind. Die genauen Zusammenhänge stellen sich als relativ komplex dar und unterliegen einem Wandel im Laufe der Entwicklung. Zu Beginn des Schriftspracherwerbs lassen sich nur marginale Einflüsse des Wortschatzes und der Grammatik auf das Leseverständnis nachweisen, da der semantische und grammatikalische Anspruch der Texte zu diesem Zeitpunkt noch gering ist und die Texte auch von Kindern mit sprachlichen Beeinträchtigungen ohne Mühen sinnentnehmend verarbeitet werden können. Zu diesem Zeitpunkt hängt das Leseverständnis primär von der Worterkennung ab, die wiederum von den phonologischen Fähigkeiten beeinflusst wird. Wenn sich die Worterkennung im Laufe der Grundschuljahre weitgehend automatisiert hat und die sprachliche Komplexität von Leseaufgaben zunimmt, stellen dagegen die grammatikalischen und semantischen Fähigkeiten den primären Prognoseindikator für das Leseverständnis dar (Seigneuric/Ehrlich 2005; Catts et al. 2006).

„Demnach scheinen Schwierigkeiten im Worterkennen bei Leseanfängern der Hauptgrund für Schwierigkeiten beim Leseverstehen zu sein. Mit zunehmend besseren Fertigkeiten zum Worterkennen bildet das Fertigkeitsniveau des Hörverstehens die obere Leistungsgrenze im Leseverstehen“ (Marx/Jungmann 2000, 83).

Eine deutliche Bestätigung dieser Annahmen findet sich bei Catts et al. (2006), die die Lesefähigkeit von Kindern in der achten Klasse mit deren sprachlichen Kompetenzen im Vorschulalter in Beziehung gesetzt haben. Die Ergebnisse zeigen, dass bei Kindern mit durchschnittlichen Dekodierfähigkeiten und beeinträchtigtem Leseverständnis vor allem Defizite im Wortschatz und dem Sprachverständnis nachweisbar waren, während bei Jugendlichen mit Schwierigkeiten in der Worterkennung primär Beeinträchtigungen in der phonologischen Informationsverarbeitung festgestellt wurden. Interessanterweise ließen sich diese Muster in den meisten Fällen bereits bei den Überprüfungen im Kindergarten, der zweiten und der vierten Klasse nachweisen.

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Für die Praxis bedeutet das, dass bei Kindern mit phonologischen Defiziten in der Förderung primär der Erwerb der Lesetechnik, bei Kindern mit semantisch-lexikalischen und/oder grammatischen Beeinträchtigungen das Leseverständnis fokussiert werden sollte.

Phonologische Defizite beeinträchtigen primär die Entwicklung der Worterkennung, während Defizite auf syntaktisch-morphologischer bzw. semantisch-lexikalischer Ebene vor allem mit Schwierigkeiten beim Leseverständnis assoziiert sind.

1.6   Klassifizierung von Lesestörungen auf der Basis sprachlicher Defizite

„simple-view-of-reading“

Integriert man die Ergebnisse des letzten Kapitels in den Ansatz des „simple-view-of-reading“ (Hoover/Gough 1990) besteht die Möglichkeit einer Subgruppenklassifizierung leseschwacher Kinder.

Leseverständnis = Hörverstehen × Dekodierfähigkeit

Nach dem Modell des „simple-view-of-reading“ setzt sich das Leseverständnis aus den Komponenten „Worterkennung“ und „Hörverstehen“ zusammen. Nur wenn beide Komponenten intakt sind, kann sich das Leseverständnis normal entwickeln. Ist aber eine dieser Komponenten beeinträchtigt, muss auch das Leseverständnis betroffen sein. Damit können sowohl semantische und/oder grammatische Defizite als auch eine beeinträchtigte Worterkennung für Schwierigkeiten im Leseverständnis verantwortlich sein.

Subgruppen-klassifizierung

Auf der Grundlage des „simple-view-of-reading“ und der nachgewiesenen Zusammenhänge zwischen der phonologischen Informationsverarbeitung und der Worterkennung einerseits und den sprachlichen Kompetenzen und dem Leseverständnis andererseits lassen sich leseschwache Kinder in unterschiedliche Gruppen klassifizieren.

Images  Kinder mit phonologischen Defiziten und durchschnittlichen lautsprachlichen Fähigkeiten fallen vor allem durch ihre Defizite in der Worterkennung auf. Schwierigkeiten im Leseverständnis lassen sich bei diesen Kindern als Konsequenz der beeinträchtigten Dekodierfähigkeit interpretieren.

Images  Kinder mit durchschnittlichen phonologischen Fähigkeiten und semantischen und/oder grammatikalischen Defiziten lassen sich durch eine angemessene Worterkennung und ein beeinträchtigtes Leseverständnis in der Folge ihrer lautsprachlichen Defizite charakterisieren.

Images  Kinder mit umfassenden sprachlichen Defiziten weisen sowohl bei der Worterkennung als auch, unabhängig davon, im Leseverständnis Schwierigkeiten auf. Sie gehören üblicherweise zu den schwächsten Lesern

1.7   Praktische Implikationen

Bedeutung unterschiedlicher sprachlicher Fähigkeiten

Der Erwerb der Schriftsprache ist eng an lautsprachliche Fähigkeiten gekoppelt. Von besonderer Bedeutung sind die Auswirkungen unterschiedlicher sprachlicher Beeinträchtigungen auf die Worterkennung und das Leseverständnis.

Konsequenzen für die Diagnostik

Die vorangegangenen Ausführungen legen Konsequenzen für die Diagnostik und Förderung sowie die Praxis der Identifizierung von Risikokindern nahe. Was den zuletzt genannten Punkt angeht, ist im deutschsprachigen Raum derzeit eine starke Fokussierung auf die phonologische Bewusstheit zu konstatieren (Jansen et al. 2002; Hartmann/Dolenc 2005). Aufgrund der bedeutenden Rolle des Wortschatzes und der Grammatik für das Leseverständnis könnte durch die Integration von Überprüfungen der grammatischen und semantischen Fähigkeiten (z. B. Fox 2006) vermutlich eine zuverlässigere Prognose schriftsprachlicher Kompetenzen bzw. eine zuverlässigere Identifizierung von Kindern mit drohenden Schriftspracherwerbsstörungen erreicht werden. Dies ist von besonderer Bedeutung, da diese Defizite bei leseschwachen Kindern häufiger nachweisbar sind als Defizite in der phonologischen Informationsverarbeitung.

So konnten in der Arbeit von Catts/Fey (1999) bei 22 % der leseschwachen Kinder Defizite im Bereich Grammatik, Wortschatz und Sprachverständnis nachgewiesen werden, während „nur“ bei 14,3 % der Kinder ausschließlich Defizite in der phonologischen Informationsverarbeitung festgestellt wurden (37 % der Kinder hatten in beiden Bereichen Schwierigkeiten).

Konsequenzen für die Förderung

Was die Förderpraxis angeht, kann eine differenziertere Diagnostik in effektivere auf das einzelne Kind bezogene Maßnahmen münden. Kinder mit beeinträchtigter phonologischer Informationsverarbeitung benötigen Maßnahmen, die die phonologische Bewusstheit sowie die Genauigkeit und Geschwindigkeit der isolierten Worterkennung fokussieren. Diese Maßnahmen stellen eine notwendige, für Kinder mit durchschnittlichen semantischen und grammatischen Fähigkeiten evtl. sogar ausreichende Voraussetzung für die Entwicklung des Leseverständnisses dar. Für Kinder mit Defiziten in den Bereichen Sprachverständnis, Grammatik und Wortschatz ist diese Förderung aber nicht ausreichend. Sie benötigen Fördermaßnahmen, die lautsprachliche Kompetenzen weiterentwickeln und Strategien vermitteln, die das Leseverständnis positiv beeinflussen.

Aufgrund der häufigen Koexistenz von Förderbedarf in mehreren Bereichen muss die Förderung im Erstleseunterricht möglichst umfassend ausgerichtet sein. Ein Training basaler kognitiver Voraussetzungen (insbesondere der phonologischen Informationsverarbeitung) und lautsprachlicher Kompetenzen, Maßnahmen zur Verbesserung der Worterkennung und ein spezifisches Training des Leseverständnisses müssen im Unterricht neben der Förderung der orthographischen Fähigkeiten und des schriftsprachlichen Ausdrucks unter einem Dach integriert werden. Entsprechende Möglichkeiten werden in Kap. 5 skizziert.

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Stothart/Hulme (1992) betonen, dass sich die Förderung dieser Kinder nicht ausschließlich auf schriftsprachliches Material reduzieren darf, sondern dass es einer Intervention bedarf, die Wortschatzfähigkeiten, Hörverstehen und expressive lautsprachliche Kompetenzen fokussiert. In diesem Sinn stellt eine frühe Intervention im Bereich Grammatik und Lexikon eine effektive Präventionsmaßnahme gegen die Ausbildung von Schwierigkeiten mit dem Leseverständnis dar.

Kinder mit einer spezifischen Lese-Rechtschreibstörung haben in der Schule einen Anspruch auf die Gewährung eines Nachteilsausgleichs. Dieser beinhaltet die zurückhaltende Gewichtung der Lese-Rechtschreibnote auch in den Zeugnissen, die Begrenzung des Umfangs einer schriftlichen Aufgabenstellung, die Gewährung von mehr Zeit für die Bearbeitung schriftlicher Aufgaben u.v.m. Da sich die Regelungen in den einzelnen Bundesländern der BRD stark unterscheiden, würde eine detaillierte Darstellung der rechtlichen Situation den Rahmen dieses Buches sprengen. Informationen zu den Regelungen in den einzelnen Bundesländern finden sich unter: www.legakids.net/eltern-lehrer/hilfe-vor-ort/lrs-erlasse-der-laender/ (07.03.2017).

2      Der ungestörte Schriftspracherwerb

2.1   Allgemeines

Schriftspracherwerb als Entwicklungsprozess

Frith (1986)