Karoline Mayer lebt seit 1968 in Santiago de Chile bei und mit den Menschen in den Armenvierteln. Vor Jahrzehnten hat die deutsche Ordensfrau die Fundación Cristo Vive ins Leben gerufen und leitet sie bis heute. So ist in Chile, Bolivien und Peru ein riesiges Sozialwerk entstanden ist, weshalb Karoline Mayer oft auch die „Mutter Theresa Lateinamerikas“ genannt wird. Für ihr Lebenswerk wurde sie vielfach in Europa und Lateinamerika ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Bundesverdienstkreuz, dem Edith-Stein-Preis dem goldenen Herz für Kinder und vielem anderem mehr. Zudem ist Karoline Mayer die chilenische Staatsbürgerschaft ehrenhalber verliehen worden.
Angela Krumpen, ist freie Radiojournalistin, Autorin und Moderatorin. Sie konzipierte und moderiert bis heute u. a. die Sendung „Menschen“ beim Domradio Köln. Zudem veröffentlichte sie zahlreiche Bücher, die sie nach Südamerika, Afrika und Asien brachten. In ihrer Arbeit zeigt Angela Krumpen Wege, wie Menschen auf der ganzen Welt solidarisch, gerecht und friedlich zusammenleben. Ihr zentrales Anliegen: ermutigen und die große Verantwortung aufzeigen, die jede*r Einzelne von uns für das Ganze hat.
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Neuausgabe 2020
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2006, 2010
Alle Rechte vorbehalten
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Umschlaggestaltung: © Verlag Herder
Umschlagmotiv: © Guy Wolf
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN E-Book 978-3-451-82117-2
ISBN Print 978-3-451-03265-3
Einmal Chile und zurück
Der Traum ist ausgeträumt – Im Altmühltal – Steyl – Intermezzo: Tanzen – Am Ziel und alle Fragen offen – Ich gelobe Gehorsam – Enttäuschung – „Grüne Weiden“ – Meine Fassade bricht zusammen – Maruja und die Kinder – Die Hoffnung zieht Kreise – Keine halben Sachen mehr – Chiles politischer Frühling – Die größere Liebe – Explosive Krise – Mein Platz – Gott wird mich nie verlassen – Weihnachten
Chiles dunkle Nacht
Misstrauen, Angst und Schrecken: die Saat der Diktatur geht schnell auf – Ricardo – Im Morgengrauen am Kanal El Carmen – Contra Spionage – Frau Pinochet in unserer Suppenküche – Der „rote Kardinal“: Raul Silva Henríquez – Befreit: durch die Festnahme – Sie holen die anderen und meinen mich
Die Farben der Sonne – Leben mit den Armen
Im Campamento Angela Davis – Abschied vom Medizinstudium – Die große Not – Prisma de los Andes: mit den Frauen arbeiten – Wir brauchen den Schutz der Kirche: die Fundación Missio – Als die Liebe fast an ihre Grenze kam
Wir suchten das Leben selbst
Verfolgung, Unterdrückung und Hunger: kein Ende in Sicht – Widerstand im Untergrund: El movimiento Sebastián Acevedo – Singen – Mein guter Hirte: Bischof Jorge Hourton – Johannes Paul II.: Die Armen können nicht warten – Der Kardinal und der Kaiser: Joseph Ratzinger und Heinrich II. – Scheitern und Rückzug – Schlimmer als in der Diktatur: die Macht der Medien
Wieder Demokratie – die Menschen hungern nach Leben
Zermürbt von der Diktatur – Wir mögen es nicht, wenn du mit uns schimpfst – Drogen, Taubendreck und Kriminalität – Alte Macht in neuen Schläuchen – Unsere Kinder
Unser Weg befreit
Der neue Bischof mag keine Befreiungstheologen – Ich bin keine Sozialarbeiterin – Endlich in Indien: bei Mutter Teresa in Kalkutta – So weit mein kleines Sein reicht
Freundschaft reicht in alle sozialen Schichten und über den großen Teich
Eine neue Stiftung: die Fundación Cristo Vive – Freundschaften: Netze, die tragen – Teilen und reicher werden – Chile vergisst seine Armen immer noch – Ich brauche 400 Mark – Chiles arme Geschwister in Lateinamerika: Cristo Vive in Bolivien und Peru – Ein Samenkorn des Reiches Gottes: Cristo Vive in Europa – Ich bin Chilenin
Der Sinn meines Lebens ist es, die Liebe zu leben
Epilog
März 1973. Ich sitze im Flugzeug und Chile bleibt hinter mir zurück. Es ist ein schrecklicher Moment. Am chilenischen Himmel sind schwere Wolken aufgezogen. Das ganze Land ist in Aufruhr. Die politischen Unruhen sind schon bis in die Armenviertel gedrungen. Es liegt in der Luft: etwas ganz Schlimmes wird passieren.
Schon auf dem Flughafen konnte ich mein Weinen nicht in den Griff bekommen. Ich habe immer weiter geweint: bei den Schwestern, bei der Gepäckabgabe, immer weiter. Maruja sagte mir: „Nun wein’ doch nicht mehr. Du kannst im Flugzeug weiter weinen.“ Was sie nicht wusste, was niemand wissen durfte, weil ich im Gehorsam stand: Ich reiste nicht in einen Heimaturlaub, so wie ich es den Mitschwestern, meinen Freunden und allen Menschen in den Armenvierteln sagen musste. Niemand durfte wissen, dass ich für immer das Land verließ. Damals war das im Orden so.
Schon im November hatte ich Nachricht bekommen, dass irgendetwas nicht stimmte. Mit zwei Schwestern lebte ich in einem Armenviertel in Santiago. Die übrigen Schwestern lebten in einem Konvent in einem Viertel der Oberschicht. Ich hatte mehrmals an bestimmten Versammlungen der Ordensgemeinschaft oder auch an manchen Aktivitäten des Ordenslebens nicht teilgenommen. Einige Male war ich nachts über den Zaun des Klosters gestiegen, wenn ich die Türe nicht öffnen konnte, weil jemand den Riegel vorgeschoben hatte. Immer, wenn so etwas passiert war, hatte ich meine Entschuldigungen abgegeben und geglaubt, dass meine Begründungen angenommen wurden. Bis ich die ernüchternde Ansage der Provinzoberin erhielt, dass ich nicht mehr zum Orden in Chile passte.
Tausende Male hatte ich den Armen in meinem Wohnviertelversprochen, sie nie zu verlassen. Ihre Zweifel aber waren immer geblieben: ob wir, die wir aus der Oberschicht kamen, die wir Ausländerinnen waren, ob wir es bei ihnen aushalten würden. Immer wieder hatten sie mir vorgehalten, wie unwahrscheinlich das sei. Menschen aus unseren Schichten hätten sich noch nie für die Armen engagiert. Dreieinhalb Jahre lang hatte ich versucht, ihnen klarzumachen, dass wir als Kirche bei ihnen bleiben und im Auftrag Jesu unser Leben mit ihnen teilen würden.
Nun aber sitze ich endgültig im Flugzeug und schreie vor Schmerz so laut wie die Turbinen. Eine der Stewardessen denkt, ich sei durchgedreht. Aber ich kann nicht aufhören zu schreien: vor Ohnmacht, vor Wut, vor Angst. Und immer wieder frage ich mich, ob ich in Chile nicht doch alles verkehrt gemacht habe. Es ist unfasslich für mich, dass ich von meinem Orden einfach ausgewiesen wurde. Ich habe die Menschen in den Armenvierteln im Stich gelassen. Alles ist zu Ende.
Pietenfeld. Ein kleines Dorf mit damals 600 Einwohnern. Wenn man über den Berg vom Altmühltal her kommt, liegt das Dorf in einer kleinen Mulde, umgeben von Wäldern und Feldern. In der Mitte des Dorfes ist die Kirche. Neubarock, nicht elegant, sondern fest gebaut. Rund um den Dorfplatz stehen die Bauernhäuser. Und genau gegenüber der Kirche, am anderen Ende des Dorfplatzes, liegt das Großelternhaus: ein altes Jurasteinhaus aus dem 17./18. Jahrhundert. Über dem großen Hauseingang, einer grünen Eichentür, steht „mane nobiscum Domine“. Als Kind habe ich mir das immer angeschaut: „Bleibe bei uns Herr.“ In dieser Zeit war alles unter einem Dach, vorne das große Wohnhaus und gleich anschließend der Pferde- und der Kuhstall. Über den Ställen waren sogar noch Wohnungen.
Dort habe ich gewohnt, zusammen mit den Großeltern – der Vater meiner Mutter war der ehemalige Bürgermeister von Pietenfeld –, meiner Großmutter, einem Onkel, zwei Tanten, einem Knecht, einer Magd und meiner Familie, bis ich zehn Jahre alt war.
Mein Großvater war für mich ein Patriarch. Eine große Persönlichkeit, die ich sehr achtete. Er dachte viel nach. Ein großer Sekretär stand in seinem Zimmer, der mich immer faszinierte: darin waren viele Dokumente über das Dorf.
Ich hörte oft, wie politisch diskutiert wurde. Sehr leise. Die Nazizeit steckte allen noch in den Gliedern. Genauso wie mein Urgroßvater vor ihm, wurde mein Großvater als Bürgermeister geschätzt: Er kümmerte sich um die Leute.
Manchmal hatte er auch für Menschen in Not gebürgt und dabei Geld verloren. Darüber gab es im Haus einige Diskussionen. Bis 1933 war er Bürgermeister gewesen: Die Kommunalwahlen 1933 hatte er auch gewonnen. Von den Nazis wurde ihm aber ein Verwalter zugeordnet und später wurde er ganz abgesetzt. Mein Großvater war ein ganz offener Nazigegner. Nur wenige Familien im Dorf waren Nazis. Weil sie so in der Minderheit waren, wurden sie später natürlich enorm stigmatisiert. Einmal ist Hitler durchs Dorf marschiert. Die meisten hatten, wie meine Großeltern, keine Fahnen gehisst. Meine Tanten, meine Mutter, meine Onkel waren nicht in der HJ oder beim BDM. Das war ihre Form des Widerstandes, die Form, die sie leisten konnten. Ich selbst habe später, mit zehn oder elf Jahren, ein Buch über Dachau gesehen. Einen Bildband mit großen Fotos. Mit all den Gräueln, den ausgehungerten Menschen, mit den Gasöfen und den Bergen von Toten. Das Buch muss von Amerikanern gemacht worden sein; diese Bilder haben mich für immer geprägt. Da habe ich gefragt: „Warum habt ihr nicht mehr gemacht? Ihr wusstet, dass es Dachau gab.“ Ein Taufpate meines Großvaters war im KZ in Dachau gewesen. Als er zurückkam, ist er direkt zu meinem Großvater gegangen und hat ihm von den Gräueln erzählt. Meine Mutter hat mir damals gesagt: „Kind, das verstehst du nicht. Wir waren acht Geschwister. Wir konnten nicht mehr tun.“ Der Großvater hat mir geantwortet: „Ja, das war eine harte Zeit. Wir standen unter Verdacht. Mehr ging nicht.“
Mein Großvater mochte mich, weil ich sehr lustig war und mich für das interessierte, was er zu erzählen hatte. So lud er mich ab und zu ein, mit dem Karrella, der kleinen Pferdekutsche, durch Felder und Wiesen zu fahren. Was mich vor allem faszinierte, waren die Wälder, die er gepflanzt hatte. Da waren die eigenen wie auch der Gemeindewald, für den er zu sorgen hatte. Er erklärte mir, warum manchmal Mischwald und manchmal Fichtenwald gepflanzt wurde. Er nahm mich ernst als kleines Mädchen. Er starb im selben Jahr, in dem wir ausgezogen sind. Ich war zehn Jahre alt. Am Abend zuvor war ich noch bei ihm gewesen und hatte ihm erzählt, wie viel Sack Weizen an dem Tag gedroschen worden war: Ich wollte ihn immer über alles genau informieren.
Mein Vater, Josef Mayer, stammte aus Grösdorf, war also ein Eingeheirateter in Pietenfeld. Außerdem hatte er als Arbeiter nicht denselben Stand wie meine Mutter. Das spürte ich als Kind sehr deutlich. Aber ich spürte auch sein Selbstbewusstsein. Jeden Morgen ging er in den Steinbruch, wo er als Sprengmeister arbeitete.
Karolina Hofbeck, meine Mutter, war die Frau seines Herzens. Aber mein Vater hatte es sehr schwer gehabt, sie zu erobern. Er lernte sie kennen, als sie mit 19 auf dem Hof ihrer Schwester war. „Auswarten“ nannte man das damals. Die Schwester meiner Mutter bekam ein Baby – und meine Mutter half deshalb auf ihrem Hof aus. Mein Vater arbeitete zur selben Zeit als Knecht auf dem Hof. Er verliebte sich sofort in sie. Aber ihm war auch klar, dass er als Knecht kaum Aussichten hatte, diese Bauerntochter zu heiraten. Er befürchtete, sie niemals heiraten zu dürfen. Deshalb beschloss er, sie zu „verführen“ und so eine Heirat zu erzwingen. Dieser Plan funktionierte nur zum Teil: Meine Mutter wurde schwanger. Aber an Heiraten war trotzdem nicht zu denken.
Daraufhin riss mein Vater mit meiner Mutter nach Würzburg aus. Er brachte sie dort in einer Familie unter und arbeitete selber in der Nähe. Aber meinem Großvater gelang es durch seine Beziehungen, die immer noch minderjährige Karolina aufzuspüren und wieder nach Hause zu bringen. Sie musste dann weit weg bei einer Tante ihre Schwangerschaft austragen und das Kind zur Welt bringen. Doch mein Vater gewann das Herz dieser Tante: Sie erlaubte ihm, seine Geliebte jedes Wochenende ein paar Stunden zu besuchen. Er fuhr dafür 100 Kilometer weit mit dem Fahrrad. Deshalb nannten wir unseren erstgeborenen Bruder Josef immer „das Liebeskind“.
Die beiden haben auf die Heirat lange warten müssen. Geheiratet haben sie schließlich im Dezember 1941, als mein Vater als Sanitäter an die Ostfront verpflichtet worden war. Ich vermute, dass sie nur aus diesem Grund überhaupt die Erlaubnis bekamen, zu heiraten. Bis zur Hochzeit durfte unser Bruder auch nicht bei der Mutter leben. Ein „lediges Kind“ schädigte den Ruf der Familie sehr und brachte viel Leid über sie. Für unsere Familie war das damals alles sehr schwer zu akzeptieren. Aus dem Gefühl, dieses Leid, das sie der Familie zugefügt hatte, wiedergutmachen zu müssen, hat meine Mutter später noch einmal einen sehr hohen Preis bezahlt: Als wir aus dem Haus der Großeltern auszogen, hat meine Mutter meinen Bruder bei den Großeltern als Hilfe auf dem Hof gelassen. Unser Bruder kam natürlich häufig zu uns, aber wir haben ihn alle sehr vermisst.
Innerhalb der Ehe war ich dann das erste Kind. Vater war so verliebt in seine Frau Karolina, dass auch seine erste Tochter Karolina heißen musste. Mama bestimmte den zweiten Namen: Maria.
Von meiner Geburt erfuhr mein Vater im Krieg in Russland, 70 Kilometer vor Moskau.
Ich war schon groß, als er mir von diesem Tag in einem Brief zum Geburtstag erzählte:
„Mein geliebtes Töchterchen!
(…) Ich feierte die Nachricht, dass du auf die Welt gekommen warst, zusammen mit einem Freund. Jeder von uns, der Vater geworden war, bekam damals frei, dazu eine Flasche Schnaps und einen Extraproviant. Die Sonne schien, wir hatten die Uniformen ausgezogen und saßen in einem Unterstand. Obwohl ich deiner Mutter fast täglich per Feldpost schrieb, wollte ich diesmal besonders schöne Glückwünsche zu Papier bringen. Auf einmal hörte ich ganz deutlich ihre Stimme. Oder war es deine? Das weiß ich bis heute nicht. Ich wusste nur, dass ich diese innere Stimme hörte, die mir voller Angst und Dringlichkeit zurief: ‚Du musst da raus, sofort. Geh raus!‘ Mein Freund lachte mich aus. Aber ich hatte diese Stimme so klar gehört. Ich schrie nur: ‚Komm raus!‘ Zum Glück ließ er sich mitziehen! In dem Moment, als wir aus dem Unterstand raus waren, schlug hinter uns eine Granate ein. Alles, was wir besaßen, unsere ganze Ausrüstung als Sanitäter, ging in Flammen auf.
Wir aber lebten! Ihr habt uns gerettet. Niemals habe ich diesen Moment vergessen. Für mich war es immer so, dass wir drei zusammen in diesem Moment das Leben neu geschenkt bekommen haben. (…)“
Meine Schwester Hilde ist 1944 geboren, ein Jahr nach mir, 1950 bekamen wir das dritte Schwesterchen, Maria. 1953 war meine Mutter wieder schwanger. Diese Schwangerschaft war sehr schwierig. Meine Mutter hatte damals eine schwere Herzkrankheit. Monatelang musste sie liegen, dann starb das Kind bei der Geburt. Meine Mutter selbst ist dabei fast gestorben und war noch viele Monate schwer krank. Diese Zeit hat mich sehr geprägt. Ich war zehn Jahre alt. Während meine Mutter im Krankenhaus lag, zogen wir auch noch aus dem Haus der Großeltern weg und ins eigene Haus ein. Mein Vater hatte es unbedingt für meine Mutter bauen wollen, damit sie, wenn sie ihn schon unter ihrem Stand geheiratet hatte, wenigstens standesgemäß wohnen konnte. Dafür hat er direkt nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft unglaubliche Mühen auf sich genommen. Wir Kinder mussten alle mitarbeiten, das war selbstverständlich. Der Hausbau und dann auch noch der Umzug gingen weiter, während meine Mutter im Krankenhaus lag. Jeden Morgen fuhr mein Vater um sechs Uhr ins Krankenhaus, um wenigstens eine Stunde bei ihr zu sein. Dann ging er zur Arbeit und kam nachmittags noch mal für eine Stunde. Die Ärzte sagten immer, dass meine Mutter nur durch diesen liebevollen Beistand meines Vaters am Leben geblieben sei. Sie hatte wirklich wenig Aussicht, zu überleben.
Die Zeit des Bangens um das Leben meiner Mutter hat mich enorm geprägt: Mir war meine Verantwortung als Älteste der drei Mädchen sehr bewusst. Mir war Mamas Leben damals wichtiger als mein eigenes. Ich erfuhr, wie sehr man um das Leben kämpfen, bitten und beten muss. Diese Not, diese Angst, Mama zu verlieren, hieß für mich, alles, alles zu tun, damit das nicht passiert. Ich verstand, wie sehr wir alle zusammenhalten mussten. Nur durch diesen Zusammenhalt hatten wir Kraft. Und nur wenn wir Kraft hatten, konnte Mama Kraft haben, damit sie um ihr Leben kämpfen konnte. Und sie hat es ja auch geschafft. Es war wichtig für mich, meinen Vater zu erleben, der nur für sie lebte. Als meine Mutter dann aus dem Krankenhaus kam, haben wir sie alle gepflegt, gehütet, haben das neue Haus versorgt, in dem es ihr nur gut gehen sollte. Kein Leid sollte ihr geschehen. Wir waren ganz brav.
Die schreckliche Angst um Mama aber blieb noch eine ganze Weile. Jeden Tag lief ich in jeder Pause von der Schule nach Hause. Vor lauter Angst betete ich den ganzen Weg unentwegt: „Bitte, lieber Gott, lass meine Mama noch am Leben sein.“ Erst wenn ich sie durchs Fenster lebendig im Bett sah, konnte ich mich ein wenig beruhigen.
Dieses Bangen und Ringen ging den ganzen Herbst bis in den Winter hinein. Aber dann haben wir auch das Glück erlebt, dass sie gesund wurde. In unseren Kinderherzen aber hat die Angst noch lange nachgebebt.
Mein Vater blieb sein ganzes Leben lang in meine Mutter verliebt. Freitagabend kam er immer mit einer Überraschung von der Arbeit. Gab es die ersten Kirschen, brachte er ihr ein Tütchen roter Kirschen mit. Er steckte sie ihr vorne in den Ausschnitt: dicke, rote Herzkirschen. Wir wussten: Diese Kirschen waren nur für sie, die Frau seines Herzens. (Aber wir wussten auch: Wir waren auch wichtig und wir bekamen auch jeder eine Kirsche.)
In der Nähe meines Vaters fühlte ich mich immer sehr, sehr ernst genommen. Wir konnten alles miteinander besprechen. Schon als Kind habe ich mit ihm über seine Arbeit, Politik, das Dorf, oder Bücher, die ich gelesen hatte, oder was mich sonst im Herzen bewegte, gesprochen.
An manchen Augenblicken spürte ich, dass ich ganz und gar sein Vertrauen besaß. Wie an jenem Heiligabend: Die Eltern waren nach Eichstätt gefahren, um die letzten Einkäufe zu besorgen. Ich war mit dem Hausputz fertig. Alles war gebohnert und sauber. Da klopfte, wie damals noch öfters, ein Bettler an die Tür. Ich war alleine zu Hause, hatte kein Geld und wusste auch nicht, was ich ihm schenken sollte. Da sah ich den großen Korb mit ganz normalen Straßenäpfeln auf dem Tisch. Ob er die mochte? Ich nahm den Korb und fragte ihn. Er war so erfreut, dass ich den halben Korb in seinen Sack schüttete. Weil er sich so freute, wollte ich ihm am liebsten den ganzen Korb schenken, tat das aber nicht. Dann kamen meine Eltern nach Hause: „Papa, ich wusste nicht, ob ich das darf, aber ich habe den halben Korb Äpfel einem Bettler geschenkt. Er war so glücklich, dass ich ihm eigentlich alle Äpfel schenken wollte.“ – „Und warum hast du das nicht getan?“, lachte mein Vater mich an. Seit diesem Moment weiß ich, dass ich immer meinem Herzen folgen kann, wenn ein innerer Impuls mich drängt, etwas zu tun oder zu verschenken.
Mein Vater hat in der ganzen Nachkriegszeit das Dorf als Sanitäter versorgt. Er hat häufig die Kranken besucht, Spritzen gegeben, Krebspatienten Morphium gespritzt. Es war eine Zeit, in der viele Familien nicht genug hatten. Nun war es so, dass meine Mutter als Bauerntochter immer viele Konserven im Haus hatte. Im Keller standen Hunderte Gläser mit eingemachtem Obst, Gemüse und Fleisch. Bei Großmutter war es so – und die Mutter machte es auch so. Irgendwann hat dann mein Vater angefangen, Konservengläser zu seinen Besuchen mitzunehmen und zu verschenken. Meine Mutter hätte es nie gemerkt, wenn die Leute nicht so freundlich gewesen wären und die schön gewaschenen Gläser zurückgebracht hätten. Da gab es dann irgendwann einen ordentlichen Krach.
Meine Mutter hat viel mit uns gespielt. Sie war dann wie ein Kind. Und sie war unglaublich begabt im Rechnen. Mein Vater sang und schrieb gerne. Er schrieb Aufsätze für die Zeitung und später auch für die Gewerkschaft.
Es war mein Vater, dem ich als Erstem und Einzigem mit elf Jahren erzählte, dass ich Missionarin werden wollte. Er kannte die große Welt, war in jungen Jahren viel gereist. Und ich spürte: ich wollte in die weite Welt. Im Dorf hatte ich immer schon die Hefte „Weltmission“ ausgetragen und viel darin gelesen. Mein Vater hat sich sehr gefreut – und bald bekam ich von ihm die Adresse vom Steyler Missionsorden in Holland.
Klopfenden Herzens habe ich meinen Bewerbungsbrief für das dortige Internat geschrieben. Ich sehe den Brief noch vor mir, über und über mit Blumenranken verziert. (Die Schwestern sollten auf jeden Fall verstehen können, wie wichtig es mir war!) Schnell war die Antwort da: Ich sei zu jung. Mindestens 14 Jahre müsste ich alt sein. Oh, wie war ich enttäuscht und böse! In meiner kindlichen Vorstellung lagen die drei Jahre in unendlicher Ferne. Aber irgendwann rückte dieser Geburtstag doch näher. Mit 13 Jahren habe ich also wieder geschrieben. Und wieder war die Antwort „Du musst erst 14 Jahre alt sein, um aufgenommen zu werden.“ Diesmal habe ich auch meiner Mutter verkündet, dass ich in die Mission gehen werde. Was hat sie sich erschrocken: „So weit weg von zu Hause, weg in ein anderes Land? Unmöglich für so ein kleines Mädchen. Dort gehst du verloren.“
Fieberhaft sann Mutter nach einem Ausweg, damit ich nicht so weit weg müsste. Endlich fiel ihr eine Tante ein, die in Mallersdorf bei Regenburg im Kloster lebte: „Dort ist eine Klosterschule, das ist die Lösung.“ Über Ostern sind wir zu dieser Großtante gefahren und wurden liebevoll aufgenommen. Meine Tante freute sich sehr, dass ich diesen Weg gehen wollte.
Ich konnte alles anschauen. Nachforschen wollte ich vor allem ganz genau, wo der Orden seine Missionen hatte. Die Mallersdorfer waren hauptsächlich ein Schulorden, der auch in Afrika tätig war. Aber das war nicht in aller Welt und auch nicht China, wohin ich unbedingt wollte. Mir war klar, das ist nicht der Ort für mich – obwohl sich meine Tante so sehr gefreut hätte und nun traurig sein würde.
Ostermontag habe ich es meiner Mutter mitgeteilt: „Das ist kein richtiger Missionsorden hier. Ich muss nach Steyl, die gehen in die ganze Welt.“ Ärgerlich hat meine Mutter die Sachen gepackt, und noch am gleichen Tag sind wir abgereist.
Ich wollte zu einem richtigen Missionsorden, und nichts konnte mich davon abhalten. Auch nicht der Kampf, der jetzt mit meiner Mutter begann.
Sie war dagegen. Es war für sie ganz schlimm, ein Kind zu verlieren. Der Kampf dauerte bis Juni. Ich schrieb weiter nach Steyl, aber meine Mutter unterschrieb nicht die nötige Erlaubnis, dass ich dort auch hingehen dürfte. Mein Vater unterschrieb zwar, stellte aber zugleich klar: „Ich werde nicht für Mama unterschreiben. Wenn du gehen willst, musst du sie davon überzeugen. Das ist deine Aufgabe.“ Meine Mutter war schrecklich wütend auf meinen Vater: „Du willst Lina abschieben.“ Sie fühlte sich so verbunden, so existenziell verbunden. Es war ein unendlicher Schmerz für sie, mich zu verlieren, mich abzugeben. Ich fühlte mich bedrängt von der Situation. Ich wollte nicht, dass meine Mama leidet, aber ich wusste auch nicht, wie ich ihr Leid hätte wegnehmen können. Ich musste meiner Berufung folgen.
Gleichzeitig liefen die Vorbereitungen. Mein Vater kaufte einen großen Lederkoffer, um alle Dinge zu verstauen, die für das Internat gekauft werden mussten: vom Federbett bis hin zu Damastbezügen. Die Schneiderin kam, ich brauchte ein schwarzes Kleid, die Nummer 1211 musste auf alle Wäsche- und Kleidungsstücke genäht werden.
Die große Auseinandersetzung gab es bei Tisch, sonntags, bevor die Reise losgehen sollte. Meine Mutter warf meinem Vater vor, er sei Schuld, dass ich wegging. „Nein, das ist nicht wahr. Papa ist nicht Schuld“, verteidigte ich ihn. Aber mein Vater verließ schon weinend erst den Tisch und dann das Haus. Jetzt fing auch meine Mutter an zu weinen. Meine Geschwister hatten sich schon irgendwie versteckt.
Ich war ganz alleine mit meiner Mutter. Sie hatte mehrere Kilo abgenommen, ich sah, ich fühlte mit jeder Faser, wie schlecht es ihr ging. Der Moment wurde zu einer Zerreißprobe für mich. Schließlich habe ich mich durchgerungen: „Wenn es wirklich so schlimm ist für dich, dann gehe ich halt nicht.“ Sie schaute mich lange an: „Geh. Geh, auch wenn ich nicht einverstanden bin. Aber eins sage ich dir: Ich werde dir nicht schreiben.“
Tatsächlich hat sie mir in den ersten Jahren nicht geschrieben und keinen meiner Briefe beantwortet.
Wir fuhren in aller Herrgottsfrühe los. Mein Vater begleitete mich im Zug nach Köln. Dort mussten wir übernachten. Am nächsten Tag ging es weiter nach Venlo. Wir haben unsere Koffer untergestellt und sind die ganze Nacht durch Köln gelaufen: ich an seiner Seite, das große Mädchen, das sich traut, in die weite Welt zu gehen.
Wenige Kilometer hinter der holländischen Grenze in der Nähe von Venlo liegt das kleine Klosterdorf Steyl wie eine eigene Welt. In den Auen der Maas, nahe der Fähre nach Baarlo, sind die Klostergebäude eingebettet in große Parkanlagen. Vom Kloster sieht und hört man die schweren Lastkähne auf dem breiten Fluss.
Seit über 50 Jahren stehen die Gebäude hier: Zuerst gab es das Kloster für die Steyler Patres, dann wurde, etwas entfernt, das Kloster für die Blue Sisters, die Missionsschwestern in der blauen Tracht, gebaut. Dem neugotischen roten Backsteinbau mit vielen Hunderten kleinen Türmchen auf dem Dach hat der Architekt die Form einer Taube gegeben. Auf diese Weise wollte er schon im Grundriss des Gebäudes den „heiligen Geist“ sinnlich erfahrbar machen: Die Schwestern nennen sich „Dienerinnen des Heiligen Geistes“. In der Gebäudemitte die Kirche der Blue Sisters, im linken Flügel die Noviziatskirche – die Kirche für die jungen Frauen, die noch in den Vorbereitungen auf das Schwesternleben sind –, und als rechten Flügel der „Taube“ die Kirche für die Besucher. Das Kloster der „Rosa Schwestern“, die auch die Schwestern der ewigen Anbetung genannt werden, befindet sich auf der anderen Seite der engen Gasse. Die Rosa Schwestern widmen ihr ganzes Leben der Kontemplation und verlassen ihr Kloster nie.
Wie eine Burg sind alle Gebäude zueinander geschlossen gebaut. Endlose Gänge unter unzähligen neugotischen Spitzbögen führen über kunstvolle Bodenmuster aus Mettlacher Fliesen durch die verschiedenen Teile der Klosterwelt.
Im sogenannten Erinnerungsraum und an vielen Stellen in den Fluren stehen Vitrinen, in denen Edelsteine, Stoffe, Kerzen, Musikinstrumente oder auch Gegenstände anderer Religionen aus der ganzen Welt ausgestellt sind. Eben von überall dort, wohin Steyler Patres und Schwestern in die Mission aufgebrochen sind: zunächst nach China und dann in alle Erdteile.
Heute würde die niederländische Regierung das Klosterdorf Steyl gerne stärker touristisch nutzen, was die Klosterleitung aber zurückweist.
Später habe ich das Kloster geliebt. Aber als ich als Kind dort ankam, war es schrecklich für mich: Diese hohen Räume! Riesige Speisesäle, dreimal so hoch, wie ich groß war… wie habe ich mich im Winter an den Heizungen entlang gedrückt, um ein bisschen Wärme zu bekommen. Das war wirklich schrecklich: Ich kam doch aus einer Familie mit vielen Umarmungen, es war so heimelig bei uns. Außerdem hingen hier an den hohen Wänden so ernste Bilder. Die waren mir fast unerträglich. Ich wollte gar nicht hochgucken. Für uns Kinder – und wir waren noch ganz kindlich – gab es damals keine Räume, in denen wir uns hätten „daheim“ fühlen können.
Ganz gespannt war ich auf neue Freundinnen. Aber schnell musste ich lernen, dass im Internat „Privatfreundschaften“ streng verboten waren. Zu zweit im Garten spazieren gehen oder auf einer Bank sitzen – schon das war verboten. Warum, wusste ich nicht. Heute denke ich, die Schwestern hatten Angst vor Liebesbeziehungen unter uns Mädchen. Aber damals hatte ich keine Ahnung, warum es diese Regel gab.
So musste ich mich in der Gruppe zurechtfinden. Wir waren um die 110 Mädchen zwischen 14 und 20 Jahren. Bald habe ich mich trotz meines bayerischen Dialektes wohl gefühlt mit den Mädchen: Die Spiele, zusammen lernen, die Schule – das war alles so, wie ich es mir gewünscht hatte. Unsere Lehrerinnen, alles Schwestern, waren sehr kompetente Frauen. Der Klostergarten war wunderschön, mit vielen Sträuchern und Bäumen. Gewöhnen musste ich mich an das Flachland. Oft saß ich im vierten Stock, schaute mir den Sonnenuntergang an und träumte vom Meer…
Meine erste Leiterin war Schwester Ingonda. Sie war als Professorin von der Universität in Peking zurückgekehrt, nachdem die kommunistische Regierung alle Missionare ausgewiesen hatte. Schwester Ingonda, eine große Mathematikerin, faszinierte mich sehr. Sie war sehr schweigsam und streng, hörte aber gerne zu.
Aber nicht nur Schwester Ingonda war streng – die ganze Führung des Internats war sehr, sehr streng. Das wurde erst anders, als wir einige Jahre später eine neue Leitung bekamen: Schwester Bonegardia.
Wir mussten einen strammen Tag bewältigen: Jeder Tag fing früh an mit dem Morgengebet und dem Gottesdienst. Dann gab es Frühstück, danach Unterricht bis um halb eins. Es folgten Mittagessen und eine Zeit zur Erholung. Den ganzen Nachmittag Studium, Kaffeepause, wieder lernen bis sieben Uhr, Abendessen, kurze Pause, Abendgebet und Bettruhe. Die Älteren durften abends noch mal zum Lernen gehen. Dazu kamen noch die „Ämtchen“: Wir mussten im Haus mithelfen, auch am Samstag: putzen und waschen, in der Küche spülen helfen, im Garten bei der Ernte mitarbeiten, Beeren und Obst pflücken, Gemüse einholen – was auch immer anfiel.
Aber von uns wurde nicht nur Leistung erwartet. Wir sollten umfassend ausgebildet werden. Wir hatten viel Sport, Kunst und Musik. Ich habe immer im Chor gesungen und durfte malen. Den Schwestern lag sehr viel daran, dass wir eine gute Bildung, eine solide Grundlage für unser Leben und unseren späteren Beruf bekamen.
Innerhalb dieses Tagesablaufes gab es viele Regeln einzuhalten. Zwischen den Mahlzeiten durften wir zum Beispiel nichts essen, nicht mal einen Brotkrümel. Auch dann nicht, wenn wir Kekse oder Ähnliches im eigenen Fach hatten. Das war verboten und galt fast als Sünde. Es gab Zeiten am Tag, in denen wir nicht sprechen durften. Wir wurden angewiesen, still und ohne Aufhebens, „Liebesdienste“ zu tun: Wenn jemand seine Haare im Waschbecken hinterlassen hatte, jemandem etwas heruntergefallen war, dann sollten wir uns verantwortlich fühlen: die Haare entfernen, den heruntergefallenen Gegenstand aufheben und so weiter. Ich habe das alles so bitter ernst genommen: Ich nahm alles wörtlich und versuchte in allem, was getan werden musste, vorbildlich zu sein. Alle Regeln zu erfüllen – das war mein höchstes Ziel. Weil ich mich selbst so anstrengte, wurde ich ärgerlich auf die, die sich einfach nicht an die Regeln hielten. Ich wurde richtig „pharisäisch“, wie wir sagten, hielt mich für besser als die meisten anderen. Als mir eine Mitschülerin dazu einmal ihre Meinung sagte, dachte ich nur: „Ist die aber schlimm!“
Erst mit dem Tag, an dem Schwester Bonegardia, die „gute Hüterin“, unsere Leiterin wurde, konnte ich langsam von meinem hohen Ross absteigen.
Schwester Bonegardia brachte Leben mit – sie überraschte uns mit Blumen, Liedern, Poesie und Spielen. Plötzlich überstrahlte etwas Neues die Schule: Sie setzte auf eine Erziehung zur Freiheit der Einzelnen. Sie ging mit uns durch den Klostergarten auf Entdeckungsreisen oder nachts in die Kirche zu innigem Gebet und tiefer Kontemplation. Und sie hatte immer Zeit für uns. Wir konnten zu ihr gehen, wann immer wir etwas auf dem Herzen hatten. Ich klopfte oft an ihre Tür, um ihr mein Herz auszuschütten.
Wenn ich ihr „Ave“ hörte, durfte ich eintreten.
„Das geht doch nicht, dass sich die meisten nicht an die Regeln halten. Es wird immer schlimmer: Plötzlich halten sich viele nicht mehr an das Schweigen. Manche essen sogar zwischen den Mahlzeiten!“ Ich habe angeklagt und angeklagt. Alles durfte ich sagen, ich spürte das Wohlwollen, mit dem Schwester Bonegardia mich anhörte. Dann antwortete sie mir… nichts! Hinterher war ich wütend: Sie redete mit niemandem. Sie wies niemanden zurecht, dass sich alle an die Regeln zu halten hätten. In meinen Augen ging es bergab mit der guten Ordnung.
Irgendwann begriff ich Schwester Bonegardias Lehre: Alle diese strengen Regeln, die wir vorher hatten, waren schlicht überflüssig. Im Gegenteil: Das Leben wurde so viel besser, wenn der Zwang wegfiel! Ich musste die Haare im Waschbeckennicht mehr schweigend rausholen – aber ich konnte. Es gab keinen Zwang mehr gut zu sein, Regeln zu erfüllen und dem lieben Gott gefallen zu wollen, sondern ich konnte in eigener Freiheit und Verantwortung entscheiden. Damals habe ich einen Vorgeschmack bekommen, wie wunderbar es ist, frei aus Liebe zu handeln.
Sechseinhalb Jahre war ich im Internat, dann hatte ich das Abitur glücklich hinter mir. Vor allem in den letzten drei Jahren habe ich tiefe Freundschaften geschlossen und viel Fröhlichkeit, Geschwisterlichkeit, Vertrauen erlebt. Begeistert habe ich die Berichte und Erfahrungen vieler heimgekehrter Missionarinnen gehört.
Immer noch wollte ich in den Orden aufgenommen werden. Ich bat um Aufnahme – und wieder musste ich warten: Ich war noch keine 21 Jahre alt, also wieder einmal zu jung. Und so musste ich erst einmal dahin zurück, wo ich hergekommen war – nach Pietenfeld ins Altmühltal.
Zu Hause habe ich viele Nächte getanzt, bis die Musik aufhörte. Ausgegangen bin ich meist mit meinem Bruder Josef. Wenn ich nicht tanzte, habe ich Bier und Wein in der Gaststätte meiner Tante Mathilde serviert.
Eine große Frage beherrschte in dieser Zeit mein Denken und Fühlen: Kann ich ins Kloster gehen, wenn ich mich noch nie richtig verliebt habe? Wie soll ich wissen, ob ich einer Liebe, einer plötzlichen Verliebtheit würde widerstehen können, wenn ich das noch niemals erfahren hatte?
„Du kennst die Welt nicht, wie kannst du ins Kloster gehen?“, warf mir nicht nur, aber vor allem meine Mutter vor. Sie hatte sich immer noch nicht mit dem Gedanken angefreundet, dass ich nun wirklich eintreten wollte. Die Leute hatten ja Recht – ich kannte die Welt nicht. Wie auch, nach so vielen Jahren im Internat, im schwarzen Kleid und mit strengsten Regeln.
Deswegen tanzte ich ja, soviel ich nur konnte. Ich hatte viele gute Freunde, ließ es aber nicht zu einer Liebschaft kommen. Für Monate wurde es zu einer inneren Frage für mich: Was wird, wenn die Liebe in mein Leben einbrechen wird? Könnte ich dann widerstehen? Wäre dann meine Liebe zu Gott stark genug? Ich konnte die Frage nicht beantworten, ich musste sie offen lassen.
Erst viele Jahre später, als ich schon lange Schwester war, wurde aus der theoretischen Frage eine Frage, die vom Leben an mich gestellt wurde. Durch einen Mann, der mich und den ich sehr liebte. Dann erst sollte ich die schwere Antwort auf diese Frage finden. Bis dahin musste ich mit der Unsicherheit leben und mit ihr meine Entscheidung treffen.
Mein Vater hatte alles vorbereitet, sodass ich in diesen Monaten des Wartens und des Prüfens neben der Arbeit das machen konnte, was ich mir wünschte: Führerschein, Schwimmkurs, Schreibmaschinenkurs, Urlaub mit der Familie in den Alpen.
Meine Zweifel wurden nicht kleiner, als ich auch noch überraschend die Gelegenheit bekam, in München mit dem Medizinstudium anzufangen. Ärztin zu werden war mein Herzenswunsch. Ich entschied mich dann doch dagegen.
Während ich also zweifelte und tanzte, füllte sich meine schöne Brautkiste aus Holz mit dem, was meine Aussteuer hätte werden sollen: Ein Federbett, eine Wolldecke, Handtücher, Damastbettwäsche, die ein Leben lang halten würde und die ich wie so viele bayerische Mädels über die Jahre zum Geburtstag und zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, meine Schreibmaschine, der Dualplattenspieler, meine Bücher – alles wanderte in die Kiste.
Am 6. September 1964, einen Tag vor der Abreise, war die Kiste fertig gepackt. Meine Eltern hatten mir einen kleinen Teil des Erbes übergeben. Es war ernst, wenn sich jemand entschied, in einen Orden einzutreten.
Meine Mutter klappte den Deckel zu: „So, meine Liebe. Das schicken wir jetzt alles nach Bombay zu den Schwestern, die du so gerne hast. Und morgen gehst du nach München und studierst Medizin.“
„Mama, der Jesus braucht nicht meine Sachen. Der Jesus braucht mich. Das spür’ ich einfach. Das ist mein Ruf – und ich muss ihm folgen“, war alles, was ich so viel mütterlichem Unglück entgegenzusetzen vermochte.
Die Zugverbindung hatte sich in den Jahren seit meinem 14. Lebensjahr verbessert. Am nächsten Tag konnte ich mit meinem Vater direkt bis nach Venlo reisen. Er war glücklich über meinen Entschluss, Schwester zu werden, und blieb noch ein paar Tage bei mir. Für ihn war es wichtig, sehr wichtig, dass ich es wagte, diesen Weg zu gehen. Das Zweite Vatikanische Konzil mit seiner Aufbruchs- und Freiheitsstimmung hatte ihn beflügelt. Als Kind war ich immer mit den Großeltern und der Mutter zur Kirche gegangen. Vater fehlte beim Kirchgang. Aber seit einigen Jahren nahm er begeistert an den Erneuerungen teil, die das Konzil bewirkt hatte, und an einer Bewegung, die sich „geistliche Zelle“ nannte. Mein Vater war ganz verändert, froher und glücklicher in der Kirche. In vielen, langen und innigen Gesprächen erzählte er mir von seiner Suche, aber auch von seinen Gotteserfahrungen. So kannte ich meinen Vater nicht – und sein Glück machte mich glücklich.
Ich war eine der Letzten, die nach dem Einkleidungsgottesdienst aus der Kirche kamen. Im Festsaal warteten ein paar hundert Besucher auf uns. Verwandte und Freunde wollten unseren Eintritt in das sogenannte Noviziat, einer weiteren Zeit der Vorbereitung auf das Ordensleben, mit uns feiern.
Fast ein Jahr war vergangen, seit ich mit meinem Vater und meiner „Brautkiste“ zurück ins Kloster gereist war. Es war geschehen, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte: Die ganze Begeisterung, die ich all die Jahre immer mitgebracht hatte, innerhalb weniger Wochen war sie weg. Einfach verschwunden.
nes