WARUM DU NICHT ALLES GLAUBEN SOLLTEST, WAS DU ÜBER JOHN OF US GEHÖRT HAST!
(Gänsehaut garantiert!)
Noch nie hat Aisha ein Mitglied der Präsidentengarde lächeln sehen. Wahrscheinlich wird ihnen das während ihrer Ausbildung abtrainiert. Mit ausdruckslosen Gesichtern saßen die beiden Männer neben ihr in der Drohne, und mit ausdruckslosen Gesichtern warten sie jetzt neben ihr im Hauptquartier des Cyber-Security-Corps von QualityLand. Die beiden Männer schützen natürlich nicht Aisha. Sie schützen Tony Parteichef, den amtierenden Präsidenten QualityLands.
Tony und Aisha stehen in der CSC-Lobby auf einem großen CSC-Logo und beobachten eine sehr junge Latina, die demonstrativ Kaugummi kaut, während sie auf sie zuschlurft.
»Das soll die neue Chefin unseres Cyber-Security-Corps sein?«, fragt Aisha. »Die sieht aus, als wäre sie gerade mal achtzehn.«
»Sie ist siebzehn«, sagt Tony.
»Hey, Präs«, sagt die Teenagerin zur Begrüßung.
»Lucia Clickworkerin«, sagt Tony, »das ist Aisha Ärztin. Sie ist meine Strategieberaterin. Und sie schreibt meine Reden.«
Lucia nickt und fragt: »Na, was geht?«
Aisha mustert die Teenagerin von oben bis unten, ihre Kleidung, ihre Pose, ihre Frisur. »Offensichtlich eine Neunziger-Jahre-Motto-Party«, sagt Aisha. »Nur hat mir leider keiner Bescheid gegeben, dass ich verkleidet kommen soll.«
»Hören Sie, Missy. Ich hab echt übelst viel Arbeit auf meinem Holopult, aber wenn Ihr Ego das braucht, nehme ich mir gerne die Zeit, Ihre verbitterten alten Sarkasmen anzuhören.«
Aisha lächelt. »Ich denke, wir beide werden gut miteinander klarkommen, Mädchen.«
»Nennen Sie mich nicht Mädchen.«
»Nenn mich nicht Missy.«
»Deal«, sagt Lucia und hält Aisha ihre Faust hin.
»Soll ich auch eine Faust machen?«, fragt Aisha. »Ist das die Idee?«
»Jetzt tun Sie mal nicht so posh«, sagt Lucia. »Ihre Eltern waren Flüchtlinge! Sie sind auch nicht auf QualityIsland groß geworden. Sie werden doch wohl wissen, was eine Ghettofaust ist!«
»Als ich in deinem Alter war, Mädchen, da haben die Jugendlichen gerade ein anderes Jahrzehnt recycelt.«
Trotzdem schlägt sie ihre Faust gegen Lucias.
»Na also, geht doch, Missy. Coolio!«
Lucia dreht sich um und winkt den beiden, ihr zu folgen.
»Dann kommen Sie mal mit. Ihre Wachhunde können Sie hierlassen. Ich pass auf Sie auf, solange Sie hier sind.«
In Lucias Büro flackern zahlreiche Diagramme über dem Holopult. Alle Wände sind großzügig mit Bildschirmfolie beklebt. Überall poppen Informationen auf, werden Karten, Nachrichten und Statistiken eingeblendet.
»Epileptikerin bist du offensichtlich nicht«, sagt Aisha.
»Ich weiß gerne Bescheid.«
Aisha überfliegt einen Bericht über fundamentalistische Neoliberalisten in QuantityLand 8. Eine Terrororganisation namens »Die Schwarze Null« hat dort mit schweren Geschützen das Kartellamt angegriffen und dessen Chef auf dem Marktplatz der Unsichtbaren Hand geopfert. Wobei man eigentlich nicht davon sprechen kann, dass die Neolibs selbst irgendwen angegriffen haben. Ihre Terroranschläge haben sie selbstverständlich outgesourct. In vielen Ländern schließen sie dafür einfach Verträge mit der örtlichen Armee.
Aisha setzt sich neben Tony.
»Ich möchte wissen …«, beginnt sie, und Lucia ergänzt: »Sie möchten wissen, was aus Ihrem Loverboy geworden ist.«
»Er war nicht mein Loverboy …«
»Ja, ja. Schon gut. Ihr Ex …«, Lucia lächelt, »… Ihr Ex-Boss.«
Aisha blickt sie nur finster an.
»Hey. Bescheidwissen ist mein Job«, sagt Lucia. »Alles Gute zum Geburtstag übrigens.«
Aisha nickt kurz.
»Sie haben Geburtstag?«, fragt Tony.
Aisha winkt ab. »Nicht so wichtig.«
»Na, na«, sagt Lucia. »Vierzig, das ist doch ein stolzes Alter. So lange leben nicht alle.«
»Pass bloß auf, Mädchen.«
»Das tue ich, Missy.«
»Also gut«, sagt Aisha. »Ja, wir wollen wissen, was aus John of Us geworden ist. Draußen laufen allerhand Spinner herum …«
»Erzählen Sie mir was Neues«, sagt Lucia seufzend.
»… Spinner, die behaupten, dass sich John im Augenblick des Attentats ins Netz hochgeladen hätte, dass sie Kontakt zu John hätten, dass John ihnen bei diesem oder jenem Punkt auf ihrer To-do-Liste geholfen hätte, dass John …«
»Okay, ja, ja«, sagt Lucia. »Kurzfassung: Diese Leute sind tatsächlich Spinner. Wir haben keinerlei Beweise dafür finden können, dass John noch im Netz rumspukt. Das ist reine Panikmache.« Amüsiert blickt sie Aisha an. »Oder Wunschdenken. Je nachdem, auf welcher Seite man steht.«
»Und deine Leute haben gründlich gesucht?«
Lucia lässt eine Kaugummiblase platzen. »Klar haben wir gründlich gesucht. Eine freigesetzte starke K.I. … Das ist so ziemlich das Letzte, was ich als CSC-Chefin in meinem Hinterhof haben möchte.«
»Das ist … gut.«
Lucia deutet auf Tony. »Redet er eigentlich auch von alleine oder nur, wenn Sie Text für ihn geschrieben haben?«
»Er redet auch von alleine«, sagt Aisha. »Dann ist es aber meistens nichts Brauchbares.«
»Vorsicht«, sagt Tony. »Witzigkeit kennt keine Grenzen. Aber sie kann auch zu weit gehen.«
Lucia lächelt Aisha an. »Ich verstehe, was Sie meinen.«
»Aber wenn John of Us wirklich tot ist«, rafft sich Tony zu einem Gesprächsbeitrag auf, »warum glauben dann plötzlich so viele Leute, dass er noch am Leben ist?«
»Was weiß ich?«, sagt Lucia. »Es gibt Leute, die sind sich sicher, dass die Erde hohl ist, dabei sind sie es nur selber. Andere glauben fest daran, dass eine Jungfrau schwanger wurde, ohne Sex gehabt zu haben, obwohl das doch ganz offensichtlich nur eine Ausrede für einen Seitensprung gewesen ist – eine nicht mal sonderlich glaubwürdige, wenn Sie mich fragen, aber hey, Männer waren wohl noch nie die Hellsten – und wieder andere beten eben den freien Markt an. Die Leute glauben allerhand wirres Zeug. Das heißt noch lange nicht, dass auch nur ein Funken davon wahr ist.«
»Aber …«, beginnt Tony.
»Ganz ernsthaft, Präs«, sagt Lucia. »Wenn eine allgegenwärtige, allwissende, allmächtige Superintelligenz sich des Internets bemächtigt hätte, dann hätten wir das schon bemerkt.« Lucia macht eine Pause. »Auf die eine oder andere Weise.«
Aisha nickt.
»Es gibt übrigens auch ein paar«, Lucia macht mit ihren Fingern Anführungszeichen, eine Geste, die offenbar nie aus der Mode kommt, »›Wahrheitssucher‹, die behaupten, dass John in ›Wahrheit‹ nur ein Stellvertreter war. Eine Art Sprachrohr, eine Sockenpuppe. Und dass es deswegen irrelevant ist, dass er in die Luft gejagt wurde. Und wissen Sie, wer laut diesen Leuten wirklich die künstliche, die ›artifizielle‹ Intelligenz ist?«
»Ich«, sagt Aisha.
»Ja. Sie. Und der Beweis ist – Achtung – Ihr Name: A.I.sha.«
»A.I.sha?«, fragt Tony. »Wäre das nicht ein wirklich idiotischer Deckname? Wie wenn sich eine Geheimagentin zur Tarnung Jane Bond nennen würde.«
»Aber man sieht doch auf vielen Fotos und Videos eindeutig, dass A.I.sha häufig hinter John of Us stand«, sagt Lucia. »Und nun steht sie dauernd hinter Ihnen, Präs. Das kann doch kein Zufall sein!«
»Nein. Zufall ist das nicht«, sagt Aisha. »Schließlich habe ich für beide gearbeitet. Im Übrigen weiß ich von dem ganzen Schwachsinn schon.«
»Aber was Sie vielleicht noch nicht wussten«, sagt Lucia, »ist, dass Sie in Wirklichkeit aus dem Weltall kommen! Ja! Sie sind nämlich nicht nur eine künstliche Intelligenz, Sie wurden auch noch von außerirdischen Echsenmenschen, sogenannten Reptiloiden, erschaffen, die mit Ihrer Hilfe eine pangalaktische Diktatur errichten wollen, nämlich die NGO, die Neue Galaxis-Ordnung. Jetzt sind Sie baff, was?«
»Das war mir tatsächlich entgangen.«
»Anderen Schlaubergern ist aufgefallen, dass die Lieblingsfrau des Propheten Mohammed Aisha hieß. Und das …«
»… kann doch kein Zufall sein.«
»Nein! Das passt alles viel zu gut zusammen! John of Us war also wenn schon nicht der neu erschaffene Messias, dann doch mindestens der letzte Prophet unseres kommenden A.I.-Overlords!« Lucia lässt eine Kaugummiblase platzen. »Mir ist übrigens immer noch unklar, ob diese Leute deswegen für oder gegen Sie sind. Wahrscheinlich teils-teils.«
»Mit anderen Worten«, sagt Aisha, »statt deinen Job zu erledigen, Mädchen, machst du dir eine lustige Zeit mit dem Lesen der Pamphlete verschrobener Dummköpfe.«
»Diese verschrobenen Dummköpfe sind so lange lustig, Missy, bis sie sich ein Maschinengewehr nehmen und damit eine Synagoge betreten. Dass Sie in ›Wahrheit‹ eigentlich Jüdin sind, ist Ihnen doch hoffentlich klar, oder?«
Aisha stöhnt. »Ich bin also eine von außerirdischen Echsenmenschen erschaffene, nach der islamischen Mutter der Gläubigen benannte, jüdische Maschine?«
»Soweit ich das verstanden habe, ja«, sagt Lucia.
»Oft beneide ich meine Vorgänger«, sagt Tony. »Vor dem Internet musste man sich nicht die ganze Zeit mit so einem Schwachsinn abgeben.«
»Wirklich?«, fragt Aisha. »Den Juden zum Beispiel wurde auch vorher schon manches in die Schuhe geschoben.«
»Ja, das Netz ist nicht der Samen des Schwachsinns«, sagt Lucia.
»Es ist nur sein Gewächshaus«, sagt Aisha.
»Aber das müsste nicht so sein«, sagt Lucia. »Das Netz könnte auch anders sein. Doch solange man die meisten Werbeeinnahmen durch das Verbreiten von Schwachsinn einfährt, Sie wissen schon, ›Dumm klickt gut‹, und solange die Plattformen dadurch selbst Geld scheffeln, wird sich wohl nichts ändern. Da müsste der Gesetzgeber eingreifen. Nur so ein Gedanke, falls Sie mal jemanden treffen, der einen Politiker mit Rückgrat kennt.«
»Ich kannte einen«, murmelt Aisha.7
Anmerkungen zum Kapitel
7 Ich möchte nur kurz darauf hinweisen, dass es im ganzen Kapitel keine einzige Fußnote gab!