Impressum

Herbert Friedrich

Das Wassermärchen

 

ISBN 978-3-96521-569-6 (E-Book)

 

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

 

Das Buch erschien 1962 in Der Kinderbuchverlag Berlin (Die kleinen Trompeterbücher, Band 12).

Für Leser von 6 Jahren an

 

2021 EDITION digital

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DAS WASSERMÄRCHEN

Vor vielen, vielen Jahren durchzog der arme Hirt Kerim die ungeheure Steppe. Er war müde und hungrig und durstig, am meisten aber sorgte er sich um seine Tiere. Das Pferd Wie-der-Wind trug Zelt und Geräte, die Ziege Spring-ins-Feld hatte ihm noch heute Morgen einen Trunk Milch gereicht, und das Schaf Wolle hatte ihm für den Winter einen Pelz versprochen. Das war Kerims ganze Herde. Musste da Kerim nicht besorgt sein, wenn er den Tieren für ihre Dienste nicht einmal genug zu essen und zu trinken beschaffen konnte? Denn ringsumher gediehen nur Dornensträucher, der Weg war mit Geröll besät, und am grellen Himmel schwebte ein Geier.

Oho, was schwebte Geier Allesfraß am wolkenlosen Himmel? Kerim erkannte mit seinen scharfen Augen, dass der Räuber einen Hasen in seinen Fängen hielt, und bald vernahm er auch, wie der Hase mit schwacher Stimme flehte:

„Menschen, Tiere, groß und klein,

wer hilft mir in meiner Pein?“

„Was ist das?“, schrie Kerim zornig. „Fängt der Geier schon lebendes Getier? Warte, du Räuber!“ Er packte einen scharfkantigen Stein und schleuderte ihn nach dem Raubvogel. Mit einem schrillen Schrei ließ der Geier die Beute fahren und flatterte wütend über die Weißen Felsen davon. Der Hase aber stürzte vom Himmel herunter.

Kerim erschrak. „Wolle, mein Schaf“, bat er, „lauf, was du kannst, und hilf dem Hasen.“ Da trabte das Schäflein los und fing den Hasen mit seinem weichen Fell auf. Kerim nahm den Geretteten auf den Arm. Mit einer Salbe bestrich er die Wunden, die die Raubvogelkrallen gerissen hatten. „So, mein Freund, jetzt kannst du wieder hoppeln und springen.“

Der Hase war noch ganz benommen, rief aber dankbar: „Du hast mich nicht meinem Schicksal überlassen. Du willst mich nicht an deinem Lagerfeuer braten. Deshalb möchte ich dir eine Freude bereiten. Gib mir deinen Becher.“ Kerim nestelte verwundert den kleinen Becher los, der ihm um den Hals hing.

Kaum hatte der Hase das Gefäß gefasst, sprang er zwischen die Felsblöcke, und der Hirt und seine Tiere rannten hinterher. Der Hase verschwand in einem Loch. Die anderen ließen sich im Schatten des Felsens nieder, denn wo ein Hase hineinschlüpfen konnte, kamen Hirt, Pferd, Ziege und Schaf nicht hindurch. Als der Hase wieder aus dem Loch herausschoss, waren die Tiere eingeschlafen. Dabei brachte doch der Hase den Becher mit köstlichem Wasser zurück! „Danke, gutes Häslein“, rief Kerim vergnügt.

„Jetzt kann ich meinen Tieren die Lippen benetzen.“

Der Hase sagte entschuldigend: „Der Gang ist eng und schmal, sonst hätte ich für dich ein größeres Gefäß Wasser herausgebracht. Aber es wird auch so genügen.“

Kerim bedankte sich freudig bei dem Hasen, der alsbald über Stein und Strauch davonhoppelte. Dann ging er daran, die Tiere zu wecken. „Wolle, mein Schaf, hier hast du Wasser!“ Kerim spritzte dem Schaf einen Tropfen auf die Nase, so dass es erwachte und behaglich zu bähen begann. Durstig trank es aus dem Becher als erstes der Tiere, da es den Hasen aufgefangen hatte und das kleinste war. Kerim brummte: „Lass noch Spring-ins-Feld und Wie-der-Wind etwas übrig.“

Bei diesen Worten erwachten auch Ziege und Pferd und schnupperten begehrlich nach dem Wasser. Wolle ließ gehorsam vom Becher ab.

Das Zieglein hatte einen riesigen Durst. Es trank, als wollte es gar nicht wieder aufhören. Kerim brummte: „Spring-ins-Feld, meine Ziege, denk an deinen Kameraden Wie-der-Wind.“ Beschämt senkte die Ziege den Kopf, dass ihr Bart die Steine berührte.

„Wie-der-Wind, mein Ross, trinke den Rest“, sprach Kerim mit trockenem Munde. Das Pferd schnob und gluckerte und schloss zufrieden die Augen. Mit einem Male hielt es inne. „Aber Kerim, was hast du getrunken?“ Nicht einen Schluck wollte es mehr zu sich nehmen.

Zaghaft nahm Kerim den Becher entgegen, um den guten Wie-der-Wind nicht zu kränken und weil er so durstig war. Aber siehe da, der Becher war bis zum Rand gefüllt, als hätten die Tiere gar nicht getrunken. Er war gerade so voll, wie ihn der Hase gebracht hatte. Verwundert und sehr, sehr nachdenklich trank Kerim Schluck für Schluck, allein er konnte sich nicht erklären, was das für sonderbares Wasser war. Ei, das müssen wir einmal ausprobieren, dachte er. Aufmerksam besah er den Becher, in dem sich jetzt nur noch ein Schluck Wasser befand. Da begann das Wasser im Becher zu steigen, bis es den Rand erreichte.

„Ein Wunderwasser!'', rief Kerim erfreut. „Der Becher ist wieder voll. Das Wasser wird nicht alle. Wir brauchen nie mehr zu dursten!“ Die Tiere wieherten, meckerten und bähten vergnügt und begannen sogar zu tanzen. „Ach“, blökte das Schaf, „wenn das Wasser kein Ende nimmt, möchte ich gern noch etwas trinken.“

„Ist genug, ist genug!“, warnte das Pferd.

„Lass es doch, lass es doch!“, meckerte die Ziege.

Und Kerim reichte gutmütig Wolle den Becher. Das Schaf freilich konnte nicht widerstehen. Es trank das Gefäß auf einmal leer.

„Mir auch, mir auch!“, meckerte Spring-ins-Feld. Aber da konnte sie noch so lange meckern, da konnte Kerim noch so finster in den Becher blicken: Nicht der geringste Tropfen rann mehr heraus. Da waren die Tiere traurig und Kerim auch, nur die Ziege schimpfte auf das arme Schäflein. Das verteidigte sich ratlos: „Erst reichte es doch für alle.“

Kerim half ihm: „Lass gut sein. Wir haben nicht gewusst, was wir jetzt wissen. Das Wasser füllt nur dann immer wieder den Becher, solange man ihn nicht austrinkt.“

Inzwischen war die Sonne hinter die Weißen Felsen gewandert, der Abend nahte und in seinem Gefolge die Nacht. Da beschlossen sie, das Zelt aufzuschlagen und den Tag abzuwarten und zu sehen, ob sie das Wunderwasser schöpfen könnten. Ach, wie gern wollten sie sorgsamer damit umgehen!